Sie, die ihm das Schicksal vor gar noch nicht so langer Zeit ausgesucht hatte, weil sie seiner Vorstellung von einer Göttin gleichkam, war ihm abhanden gekommen. Und damit war er orientierungslos geworden. Sein Kompaß war entschwunden, war zurückgekehrt zu den Eltern. Die boten mehr Sicherheit als er, der nie so genau wußte, wohin er wollte, aber dennoch immer bestimmte, welche Richtung einzuschlagen war. Sehr nahe am Wasser gebaut hatte er wegen des Verlusts seiner Lebensmitte. So packte er sein sicheres Automobil aus Schweden voll mit Überlebensmitteln wie Federbett und Kopfkissen aus Daunen, in das er nächtens weich auf dem Liegesitz würde weinen können, und begab sich auf Route gen Westen. Den Norden kannte er zu gut, dort hatte er genug lange Zeit verbracht, den vernachlässigte er lieber, da wären überdies zu viele Erinnerungen an Gemeinsamkeit aufgekommen. Das Wasser im Westen zog ihn deshalb eher an. Es bot einen anderen Rückblick, erweiterte auch den Horizont, hinter dem möglicherweise Hoffnung aufschimmerte wie das Polarlicht im Norden. In ihn würde er haltloser in sich selbst hineinschluchzen und melancholieren können.
Wasser hatte für ihn seit je eine magische Anziehungskraft. Landschaften und Städte ohne zumindest Flüsse oder Seen in der Nähe hatten für ihn nie Bedeutung. Fast mied er sie. Am wohlsten war ihm am Meer. Dorthin zog es ihn. Ins flache Land zum Beispiel. In das von Jacques Brel, den alle für einen Pariser hielten. In dieses Land:
»Wanneer de lage lucht vlak over het water scheert
Wanneer de lage lucht ons nederigheid leert
Wanneer de lage lucht er grijs als leisteen is
Wanneer de lage lucht er vaal als keileem is
Wanneer de noordenwind de vlakte vierendeelt
Wanneer de noordenwind er onze adem steelt
Dan kraakt mijn land, mijn vlakke land.«
Mit einem Himmel, so tief hängend, daß Kanäle sich verlieren, mit einem Himmel, so grau, daß sich Kanäle erhängen. Brel würde ihm in seiner Heimat die richtigen Ratschläge erteilen. Er kannte sich aus mit Frauen. Marieke besang er:
»Zonder liefde warme liefde
Lijdt het licht het donk're licht
En schuurt het zand over mijn land
Mijn platte land mijn Vlaanderland.«
Brel war zwar eher Margaux zugetan, aber mit der blonden Frida kannte er sich sicherlich ebenso gut aus. Das gab ihm Orientierung. Er würde sich nach einer neuen blonden Frida umschauen, ähnlich der, die den sicheren Hafen Eltern ihm vorgezogen hatte. Brel würde ihm helfen, eine flämische Ruhe zu finden. Er würde den vlaamsen Teil des Landes aufsuchen, wo es Wasser gab, in das er hemmungslos hineinweinen könnte. So würde er wieder ins Lot kommen, wenn eine Frida feenhaft neben ihm auftauchte an den Gestaden der bewegten und ihn bewegenden Nordsee, die sich neben ihn setzte wie eine Melusine. Es mußte ja nicht diese Undine aus Ingeborg Bachmanns Buch Das dreißigste Jahr sein, in dem sie geht und in dem am Ende alle Hans heißen und in dem sie zu ihm als Stellvertreter aller Hansen sagt:
»Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war – ich habe euch gesagt: Es ist der Tod darin. Und: Es ist die Zeit daran. Und zugleich: Geh Tod! Und: Steh still, Zeit! Das habe ich euch gesagt. Und du hast geredet, mein Geliebter, mit einer verlangsamten Stimme, vollkommen wahr und gerettet, von allem dazwischen frei, hast deinen traurigen Geist hervorgekehrt, den traurigen, großen, der wie der Geist aller Männer ist und von der Art, die zu keinem Gebrauch bestimmt ist. Weil ich zu keinem Gebrauch bestimmt bin und ihr euch nicht zu einem Gebrauch bestimmt wußtet, war alles gut zwischen uns. Wir liebten einander. Wir waren vom gleichen Geist.«
Auch noch keinen Fouquè, der keinen Zweifel daran gelassen hat, daß diese Meerfrau ihrem Ehemann überlegen ist, oder Giraudoux, bei dem es keine Zeit gibt für sie und keine Ewigkeit. Für eine solche Zeit wäre später Zeit. Er war ja noch so jung und hatte alle diese Bücher zwar gelesen, aber deren Anliegen, ein Begriff, von dem er allerdings an der Universität via Theodor W. Adorno belehrt wurde, es sei ein Unwort, ebenso nicht verstanden wie diesen goethischen Werther. Er sehnte sich nach einer gegenwärtigen meerischen Jungfer, die keinen Fischschwanz hatte und die nicht gleich wieder ins Wasser entschwand, wenn er mal wieder nicht wußte, wo sie gemeinsam entlangschwimmen sollten und er dennoch darauf bestand, über die Direktionshohheit zu verfügen.
Elias legte die Kassette mit Brel ein, die ihm ein belgischer Kommilitone aus einem winzigen Städtchen namens Bettenberge zusammengestellt und auf den Weg mitgegeben hatte. Liebe, so seine begleitenden Worte bei der Übergabe in der Kneipe am Rand des Kreuzberger Rathauses, die von zwei liebenswerten abgewrackten Tunten geführt wurde, in die er mal während seiner regelmäßigen Ausflüge mit Sozialwaisen geraten war, ausgelöst nicht etwa durch gesellschaftlichen Edelmut, sondern durch eine zierliche Blondkurzhaarige, die Liebe also werde von diesem Troubadour in Vlaams sehr viel gefühlvoller herübergebracht, sie dringe zärtlicher in ihn ein als in dieser schlappschwänzigen Sprache Französisch. Liebe habe schließlich etwas mit Härte zu tun, durch die man hindurch müsse, deren Unbilden überwunden werden müßten. Französisch, das sei wie Mittelmeer, alles perle wie das Wasser einer Badewanne die milden Strände rauf und runter und letztlich an einem ab. Flämisch, das sei Nordsee. Wer sie besiege, der sei auch Herr über die Liebe.
Elias überlegte, den direkten Weg über die Landstraße nach Lauenburg zu nehmen, da die Strecke ihn direkter an die Nordsee führte. Aber er wollte ja nicht nach Hamburg. Bei diesen Pfeffersäcken, sinnierte er noch ein wenig trauerumflort in sich hinein, gebe es mit Sicherheit keine Liebe, es sei denn käuflich erwerbbare, weil es in der Hansestadt grundsätzlich um Ware geht. Über Helmstedt käme er trotz aller eigens für bundesdeutsche Freizeitpiloten sorgsam angefertigten Schlaglöcher ohnedies schneller aus der sozialistischen Trauer hinaus, vor allem aber wäre er näher am Breitengrad das flachen Landes, dessen nachtrauhe Stimme ihn auf dem nächtlichen Weg in ihre Heimat begleitete. Er war am Abend losgefahren, da er nicht im Dunklen in der Freiheit ankommen wollte, die ihm an den Stränden des Westens voller Hoffnung auf Bindung zuwinkte. Binden wollte er sich zwar nicht, aber gegen etwas Enge hatte er nichts einzuwenden, zumal sich ohnehin alles wieder voneinander löse. Als Lösung hatte er die Liebe kennengelernt.
Liebe macht man, hatte ihn seine dem Französischen geradezu verfallene Mutter gelehrt. Ob er selbst mit Liebe gemacht worden war, darüber gab sie keine Auskunft, auch nicht darüber, ob der französische Gastprofessor an seiner Produktion beteiligt gewesen war, der im mütterlichen Zuhause in Turku am Lehrstuhl für finno-ugristische Sprache das finnische Nationalepos Kalevala erforschen durfte und seinen Landsleuten zugänglich machen sollte. Sie schwieg sich darüber aus. Über die Liebe, lehnte sie sich an Wittgenstein an, über den sie an derselben Universität dozierte, könne sie nicht sprechen, solange sie sie noch nicht erforscht habe. Was sie mit dieser Andeutung gemeint haben konnte, erfuhr er erst sehr viel später, als er auf seinem Marsch durch die Fakultäten weit vorangekommen war, er in der fünften Etappe der Reise durch garantiert brotlose Künste von Erziehungswissenschaft über Sinologie bei der Liebe zur Weisheit angekommen war und über einen Landsmann den österreichischen Philosophicus näher kennenlernen durfte. Der Forscher der ihm doch wohl etwas zu enggewordenen Mythologie war mit Beendigung seiner Vertragslaufzeit wieder zu seiner eigentlichen Geliebten Sorbonne zurückhinentschwunden. Hätte ihm die Universität Turku ein Zeugnis ausstellen müssen, wäre sicherlich darin vermerkt worden, er habe sich mit hoher Intensität vor allem vieler Nebenfächer gewidmet.
Zurückgebliebener aus der gemachten oder ungemachten Liebe war vermutlich er, Elias, der, wie er doch noch aus seiner Mutter herauskitzeln konnte bei seinem Abschied nach Berlin, zu dessen Anlaß sie mehrere Gläser Champagner einer kleinen, dem Unkalkulierbaren, dem reinen Echten zugetanen Winzerei trank, dem sie so ergeben war wie eben dem Land, aus dem er gekommen und in das er alsbald wieder abgetaucht war, eigentlich Jean heißen sollte. Hans hießen alle Männer dieser Welt, hatte er über Ingeborg Bachmann erfahren, nachdem er in seiner Entscheidungsunfreudigkeit auch noch die Germanistik hinzugenommen hatte. Doch Jean, also Hans in der französischen Schreibung, schlußfolgerte er, schien seiner Mutter zu verräterisch, wohl allzu leicht hätten die auf ihre protestantisch-moralischen Grenzwerte bedachten Kollegen Schlüsse ziehen können auf ihre Schwäche für Fehltritte ins katholische Ausland. Da es ihr Geheimnis bleiben sollte, gab sie ihm den Namen Elias, da sie den anderen für andere ungeahnt in ihrem nach wie vor schwülen Herzen tragen konnte und dabei ihren Landsleuten auch noch Ehrerbietung erwies, indem sie der phonetischen Namensähnlichkeit zum großen Sammler und Dichter des Kalevala ihm auch noch dessen Vornamen hinzufügte.
Elias Rönnrot, mit diesem Namen würde ihr Sohn, mag sie sich gedacht haben, besonders in dem Teil Finnlands gut vorankommen, in dem die meisten Finnen Finnisch nur selten beherrschten und sich der einstigen Herrschersprache Schwedisch zu bedienen gezwungen waren. Sie hatte wohl nicht bedacht, daß sie ihren Bastard in ein im Osten gelegenenes Internat würde stecken müssen, in dem ihm endgültig die richtigen Flötentöne beigebracht werden sollten, die ihm beizubringen sie nicht beherrschte, da er früh eigene Musikvorstellungen entwickelt hatte und sich den ihren ständig verweigerte, die sich aus höfisch-rituellen zusammensetzten, wie sie an des Sonnenkönigs goldenen Käfigen von Versailles musiziert wurden. Dort brachte man sie ihm tatsächlich bei, wenn auch in abschätziger Form durch Lehrer und Mitschüler, die sich über ihn lustig machten allein wegen seiner miserablen Leistungen in der Sprache seines Heimatlandes, auf das man gefälligst sehr stolz zu sein hatte. So nahm er zwar mit erheblichen Schwierigkeiten die sprachlichen Hürden seiner Nation, um schließlich doch noch zu einer Hochschulreife zu gelangen, aber er ward durch seine gesammelten Erfahrungen darin geübt, nicht zu wissen, welchen Weg er nehmen sollte.
Nachdem ihn die Volksgendarmen nahezu grenzenlos durchgewunken hatten, wobei er meinte, von der amtsausführenden uniformierten Frau wiedererkannt worden zu sein, der er permanenter Grenzüberschreiter gegenüber einmal anläßlich einer etwas zu ausgiebigen Kontrolle geäußert habe, sie sei nicht nur gewissenhaft, sondern trotz ihrer grauen Gewandung sichtbar wohlgestaltet, hielt er im Land der Bundesdeutschen zunächst an und ließ den picabiaschen Prozeß freien Lauf, nach dem der Kopf rund sei, um den Gedanken Gelegenheit zu geben, ständig die Richtung zu ändern. Bei ihm drückte sich das als Orientierungslosigkeit aus. Die seiner Orientierung nächstgelegene Richtung wäre die alte Reichsautobahn nach Braunschweig und Hannover und von dort aus direkt weiter in den freien Westen gewesen. Doch gleichzeitig rührte ihn der Gedanke auf, die Gelegenheit zu nutzen und den weiter südlich gelegenen alten neuen Wohnort der Frau aufzusuchen, die den gemeinsamen kürzlich verlassen und zu ihren Eltern zurückgekehrt war.
Wütend war sie geworden, als er sich geweigert hatte, ihr, wie sie es nannte, ein Kind zu machen, und zwar mit Liebe. Denn dies, hatte sie noch angefügt, könne ihre Ehe retten. Das mit Liebe machen hatte er noch verstanden, darüber konnte er Faktisches aus seiner Kindheit abrufen, aber ob ein solcher Rettungsanker namens Kind auch Halt geben könnte in diesem flachen Wasser, in den sie ihn auswerfen wolle und dann auch noch unter Berufung auf einen lieben Gott, dem ihre Erzeuger huldigen würden, diese Frage zu stellen hatte er dann sich erlaubt. Daraufhin hatte sie sich in deren Hort, unter die Fittiche ihrer gottesfürchtigen Eltern zurückgezogen. Der Gottesfurcht war sie zuvor eher weniger zugeneigt gewesen, aber sie muß sie sich offensichtlich zugelegt haben, nachdem er mal wieder ein paar Flaschen Korn nach Suomi gebracht hatte, im Land ein probates Zahlungsmittel für verlängerte Mitsommernächte, und sie während seiner Abwesenheit einigen Zeugen Jehovahs oder ähnlich gelagerten Verfechtern des Kindes als soziales Klebemittel die Tür nicht nur geöffnet hatte. Vielleicht würde sie ihm das erklären können, das mit dem Bindemittel aus gemachter Liebe, wenn er in friedlicher Absicht vor ihrer Tür stünde. Doch dann entschied er sich gegen die südliche Orientierung. Der Drang dorthin, wo das Dunkel herkommt, wo nicht nur der Liebe Sonne untergeht, in den Untergang all dessen, was ihn das Leben bislang gelehrt hatte, hatte verloren, die Helligkeit hatte obsiegt. Er nahm die Autobahn gen Westen, er würde nach Belgien fahren.
Die Sonne ging dort auf, wohin Elias nicht mehr zurückwollte, jedenfalls nicht in nächster Zeit. Seine zuletzt gegenüber dem Studieren bevorzugten häufigen Dienstbarkeiten als sich tänzerisch bewegender Kellner zur Aushilfe in einem überwiegend von gut und manchmal auch seltsam bis komisch betuchten Männern frequentierten Lokal am Wittenbergplatz hatten ihm mehr als höfliche Trinkgelder eingebracht und ihn die Miete für drei Monate in der nun verwaisten Wohnung hinterlegen lassen. Denn hinzugekommen war auch der mehrfache Verdienst, entstanden aus dem von nichts als Heiterkeit bestimmten, ungezwungenen Einschenken meist hochprozentiger und mit exquisiten Limonaden gemischten polnischen, in Automobilen mit Kennzeichen des diplomatischen Corps nach Westberlin eingeschmuggelten Vodkas aus Flaschen mit darin enthaltenen Grashalmen auf Gesellschaften solcher Auftraggeber, die sich durchweg aus den Gästen der sonntäglichen Frühschoppenkneipe quasi rekrutierten, die in ihn ihre körperlichen Sehnsüchte projizierten. Zwar erfuhren sie bald Ernüchterung oder gar Entttäuschung, verstand Elias es doch immer wieder geschickt, ihre Annäherungen bei gleichbleibendem Lächeln abzuwehren. Doch sie zeigten den sichtbar wohlgestalteten jungen Mann offenbar gerne auf ihren immer häufigeren Festivitäten her, die meist in ehemaligen Werkstätten von Handwerkern stattfanden, die ihre Betriebe in Hinterhöfen aufgegeben hatten, hatten aufgeben müssen, da die sich selbst zumindest ökonomisch in zunehmendem Maß aufklärende Gesellschaft immer weniger Interesse an schlichteren Tätigkeiten zeigte.
Dieser Teil der Gesellschaft, der die von Studenten sowie deren Mitläufer erzeugten Unruhen allenfalls am Rande wahrnahm, auch Tote wie die eines jungen Mannes namens Benno Ohnesorg waren allenfalls von Kommentaren wie verdient oder selber schuld begleitet, begann, sich dem Fertigen zuzuwenden, das beispielsweise im Mobilaren immer häufiger aus Skandinavien kam und keine Reparateure des Alten mehr benötigte, da bei Defekten oder Nichtmehrgefallen immerfort gleich zu Neuem gegriffen wurde. Man war auf bundesrepublikanischen Steuermitteln sanft gebettet nahezu durchweg aus den westdeutschen Provinzen in die Stadt gekommen, um fiskalbegünstigt sowie überhaupt höher honoriert abseits kleinstädtischer oder gar dörflicher Langeweile Spaß zu haben in den dann Lofts geheißenen ehemaligen Werkstätten, die als Mitbringsel von wenigen tatsächlich Weitgereisten die Freude am Leben immer weiter hinaufsteigen ließen. Diese paar Botschaftsüberbringer brachten auch Zeichen der Veränderungen mit wie etwa Neudeutungen der Liebe, anfänglich am Rande wahrgenommene, aber bald um so intensiver übernommene Errungenschaften aus ferner, sich bisweilen als kurios darstellenden Lebensauffassungen einer anderen Welt. Love and Peace* ward diese magische Erkenntnis genannt, uneingeschränkte freie Liebe, hier geschlechtsspezifisch umgesetzt in den oberen Etagen der Hinterhöfe, wohin Hüter einer gesetzlich sanktionierten christlichen, oftmals besonders verkniffenen, sich reformatorisch gerierenden Moral höchst selten, in jedem Fall unwirksamen Zutritt hatten. Schwul nannten sich in der preußischen, protestantischen Stadt nur ein paar wenige Forsche, die sich gleichwohl auf ihren geradezu esoterischen Maskenbällen produzierten. Homosexualität, soweit reichte der Bildungsstand des größten Teils der Gesellschaft nicht zurück, galt nicht als historisch weit hinter die Antike reichendes gleichwertiges Mitwachsen, sondern als Krankheit, die ausgemerzt gehörte, also beseitigt wie das unnütze, weil wirtschaftlich untaugliche Vieh einst im März.
Ein solches untaugliches Stück Vieh war Elias begegnet, als er während einer weiteren studentischen Nebentätigkeit als Vertreter eines Leasinggebers einem honorigen Herrn aus einem für Bildung zuständigen westdeutschen Ministerium mit berlinischem Zweitwohnsitz eine hochwertige Stereoanlage anzubieten hatte, deren Tonabnehmer des Plattenspielers alleine in etwa den gleichen Betrag kostete wie eine der Waschmaschinen, die er ansonsten im Programm hatte; dieses Angebot galt vorwiegend denjenigen, die auf der ganz weit hinten liegenden und für viele nicht sichtbaren Seite dieser Hinterhofmedaille lebte, von der Zille einst schrieb, dort würde die Miete mit dem Revolver kassiert. Den zu Wochenenden aus Bonn nach Berlin entweichenden Ministerialdirigenten einer höchsten Besoldungsgruppe hatte ihm sein Maurer anempfohlen.
Der war zu dem jungen Ehepaar ins Haus gekommen, als er auf Weisung der Vermieter letzte Arbeiten an der in vier Wohnungen aufgeteilten Jugendstilvilla vornahm, deren Eigentümer, zugleich Betreiber einer gehobenen Würstchenbude am Wannsee, es über sogenannte gute Beziehungen gelungen war, sie in einen sogenannten weißen Kreis hineinzukomplimentieren, der die Mieten aus der ansonsten üblichen Preisbindung herausnahm. Mit ihm, dem Handwerker, war Elias ins vertiefte Gespräch gekommen, in erster Linie wohl deshalb, da sich dessen außerordentliches kunsthistorisches Wissen herausstellte, das ihm das eine und andere Mal weiterhalf bei seinem noch hinzugenommenen Nebenfach. Fast so etwas wie eine Freundschaft hatte sich schließlich daraus entwickelt.
Dieser Maurer, der sich als schlichter Geselle etwas abgabenfrei hinzuverdiente, war auch tätig geworden bei dem in ein anderes, ebenso den Wurst- und Kaffeefürfamilienbudenbetreibern gehörendes Haus in diesem unverfänglichen, weil gediegen-bürgerlichen Stadtteil am westlichen Rande West-Berlins, in das der hochrangige Beamte zweitwohnsitzend eingezogen war. An einem lauen Junisonnabend war Elias seriös, aber dennoch leicht bekleidet vorstellig geworden in der Hoffnung, einmal höherwertig als im Maß von Dreckwäsche in die Kasse anderer greifen zu können. Der Herr griff auch sofort zu, vermutlich, weil er in diesem Finanzierungsmodell Zukunft sah, vielleicht aber auch in der Hoffnung, Elias zukünftig fest in die Wäsche greifen zu können.
Zuletzt getan hatte das ein um einige Jahre älterer Cousin, dem er mütterlicherseits vertrauensvoll ans Herz gegeben worden war anläßlich eines Lagers während der Feierlichkeiten zur Mitsommernacht in einer abgelegenen Nähe zum Polarkreis, der drittletzten Ferienfestivität vor seinem Ylioppilastutkinto, wie das Abitur in seinem Land heißt. Das ihm gegebene Vertrauen war sicherlich auch aus der Tatsache entstanden, daß der Verwandte obendrein als erzieherischer Leiter einer streng protestantischen Gemeinde tätig war, deren Leitlinien zwar nicht unbedingt mit denen seiner eher von freiem Geist beseelten Mutter übereinstimmten, die den Sohn jedoch von Fehltritten abhalten sollten.
Verfrühte Sexualität beispielsweise gehörte dazu. Daß er längst Erfahrung darin hatte, seit ihn Dreizehnjährigen die wundersam weiche und zärtliche Schwedin polnischer Herkunft zu umsorgen begann, die zu internatsfreien Wochenenden von Kapellskär übersetzend als sich unausgelastet fühlende gereifte Dame eines freudigen schwedischen Hauses auch das der ansonsten zweisam lebenden aliasen Rönnrots bediente oder vielleicht einen ihre andere Nothelferinnentätigkeit überdeckenden Nachweis benötigte, sich, wie auch immer, aber eben irgendwann auch seiner angenommen und ihm endlich das und etwas mehr gegeben hatte, wonach er sich seit Kleinkindzeiten sehnte. Zärtlichkeit ihm gegenüber entzog sich der Mutter Kenntnis, war sie doch immerfort beruflich mit diesem Herrn Wittgenstein zugange, dessen Nichtwissen um das Nichts sie unbeirrt und beharrlich erforschte und betrieb wie das Auffüllen eines im All endenden Lochs, in dem sie als Universum schließlich verschwinden würde.
Dieses gefühlvoll Zärtliche war für ihn auch das Maß aller Dinge geworden, ihm allein wollte er sich fortan hingeben. Doch im Ferienlager waren die Geschlechter streng getrennt, woran sich zwar nicht alle hielten, allen voran die Schüler und offenbar besonders gerne die Schülerinnen der gymnasialen Oberstufe, aber die wohlgestaltet üppige Ainniki, die ursprünglich Tuulika, kleiner Wind, heißen sollte, dann aber doch nach Kullervos Schwester den Vorzug bekam, weil die nationale epische Kraft Einzug halten sollte in die Familie, die ihre rotblonden Zöpfe fortwährend und geradezu frivol zu flechten schien, dieser von ersten Annäherungen Träumenden umschwärmte kleine Wind, Töchterlein einer Kollegin seiner Mutter, deren Gatte vor ihrem ständigen Verlangen geflüchtet und in die befreiende Platonik konvertiert war, der er ab nachmittags in den Tanzlokalen des lange vor Mauri Antero Numminen für seine Züchtigkeit legendären finnischen Tangos huldigte.
»Der Nachmittagstanz im Maestro paßte uns bestens. Die Band war die von Kai Gideon, dem Mann, den ich aus der 1997er Tango-Dynastie am meisten schätze. Er ist, wenn man so sagen kann, geistig den übrigen voraus, und seine innere Ausgeglichenheit kommt auch in seiner nuancenreichen, teils sogar mystischen Stimme zum Ausdruck. Hat vermutlich damit zu tun, daß er im Kloster Valamo am Ladogasee war und heute als orthodoxer Religionslehrer arbeitet. Gideons Stimme hat alles, was ein guter Tangosänger braucht, find ich. Er hat kein Problem mit der Artikulation irgendwelcher Buchstaben – l, r und s bereiten auch einigen der berühmtesten Sänger Schwierigkeiten –, und sein weicher Bariton hat selbst in den höheren Tonlagen ein erstaunliches Volumen. Vielleicht trat er im Wettbewerb zu anspruchslos auf – Stichwort Gesamteindruck. Auf Band habe ich seinen Haaveetango/ Traumtango von Raimo Kero und Kari Tapio, auf den ich jetzt wartete.
Das Programm war ganz nach meinem Geschmack. Wenn er keinen Tango sang, dann brachte Kai Gideon Musik zum Zuhören so, wie ich sie liebe. Anja und ich tanzten die Tangos. Sie wollte mit keinem anderen tanzen, auch keine NichtTangos, obwohl ich ihr das gern gestattet hätte. Ich hätte am Tisch gesessen und ihr zugesehen: So was von einer Superfrau, was ich da habe.
Es folgte Haaretango. Wir wetzten aufs Parkett und preßten uns aneinander. Kai Gideon sang:
Du zündetest mein verloschnes Licht wieder an;
Traumtango, der nicht enden kann.«
Mauri Antero Numminen: Tango ist meine Leidenschaft, S. 250
Doch Ainniki schien ihm gegenüber nicht die gleiche Leidenschaft zu entwickeln, möglicherweise, weil ihm die erforderliche kalevalheroische Kampfesbereitschaft abging, wie sie die anderen Jünglinge an den Tag bis hinein in die Nacht legten. Elias fühlte sich unbeachtet; daß er sich später deshalb einmal als geschlechtlich würde diskriminiert fühlen dürfen, dessen konnte er sich noch nicht gewahr werden, schließlich befand man sich im Finnland der fünziger Jahre.
Dem beruflich als Erzieher tätigen Vetter war sein schmachtendes Begehren gleichwohl nicht verborgen geblieben. Um ihn von entschieden zu frühen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht fernzuhalten, nahm er ihn in einem Duschzelt beiseite und bemühte sich, ihm das eigene nicht nur in voller Pracht darzubieten, sondern bedeutete dem jungen Elias darüber hinaus, es auch bewegend zu ergreifen, sowie er ihn in weitere Techniken dessen einzuführen gedachte, was er wohl unter Liebe verstand. Jedoch alles, was an ihm währenddessen festmachte, waren die Gedanken an die zärtliche Fürsorgerin seines Wohlbefindens, die er imanigativ in ein sanftfarbenes Aquarell übertrug, das dabei Ainnikis Formen angenommen hatte.
Ob es in Belgien eine Ainniki geben würde, die ihm dann wohlgesonnen wäre, darüber war er sich im Unklaren. Fest stand jedoch ein für alle Male, kein noch so standhafter Mann würde fortan in der Lage sein, sich ihm körperlich allzu nah zu nähern.
Als er kurz hinter Aachens Europaplatz in eine Tankstelle einbog, lächelte ihn beim Aussteigen aus einem bunt bemalten Auto eine heiter wirkende, wohlansehnlich geformte, Ainniki nicht unähnliche Frau an, stellte sich als Hanneke vor und fragte ihn, ob er nicht Lust verspüre. Errötend bejahte Elias. Sie meinte damit allerdings, wie sich im Verlauf des dann in Gang kommenden Gespräches herausstellte, ihn als Begleiter zu einer Festlichkeit in Heerlen zu benötigen, das das Minnesängerische des Mittelalters thematisierte und zu dem sie als Hofdame einen Chevalier an ihrer Seite wünschte.
Heerlen, das wußte er von seinem letzten Besuch in der Stadt am Dreiländereck, liegt nicht in Belgien, sondern in den direkt daneben liegenden Niederlanden. Hanneke fuhr voraus. Nun denn, die Niederlande haben auch eine Nordsee.
* Dieser Text wird, wie auch der von Oskar Loerke über das Kalevala, im Buch als Anmerkung angehängt.
Das finnische Nationalepos Kalevala
Ob es vor diesem Gedicht nicht schon vielen gegangen ist wie mir? Als ich es vor zehn Jahren kennenlernte, eines Morgens es anblätternd, da hielt es mich den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht fast ohne Unterbrechung im Zauber, bis wieder Morgen war und die dreiundzwanzigtausend Verse ausgesungen verklangen!
Der finnische Doktor Elias Lönnrot hatte 1849 diese dreiundzwanzigtausend Verse zum ersten Male beisammen. Er glaubte als Sammler der Volkslieder seines Stammes, wie sie als epische und magische Runen unter den Bauern lebten und von den Laulajat, den Vorsängern, wachgehalten und zu den mannigfaltigsten Einheiten verbunden wurden, — er glaubte endlich auf die Vorgestalt des unzersplitterten Nationalepos gestoßen zu sein, und der Glaube half ihm. Aus Glauben wurde Anschauen. Und Lönnrot wurde etwas wie ein letzter Homer.
Vielleicht ist die Zeit des Kalevala bei uns jetzt gekommen. Viele von uns haben die physischen-allzuphysischen Holzereien in den bekannteren Heldenliedern anderer Völker satt; wir sind gegen kriegerisches Wesen und gegen die sogenannte Jugendkraft, die darin besonders deutlich faßbar werden soll, skeptisch geworden. Auch im Kalevala fehlt es an dumpfer Grausamkeit nicht, aber sie dient nur zum höheren Ruhme des Sänger-Wortes. Man könnte dieses Epos überschreiben: Kalevala oder die Allmacht des Wortes. Das Wort schafft die Unterscheidung der Dinge und damit in einem höheren Sinne die Dinge selbst, es ist der Träger aller Vorstellungen und Einbildungen und damit der Schöpfer der Geister, Dämonen und Götter. Sie sind nur letzte Exponenten des Wortes, ohne Gewalt außerhalb seines Bereiches, sie umwirbeln es leicht wie Blätterstreu. Der eigentliche Gott ist der erste und oberste Sänger: Väinämöinen. Seine Mutter, die Tochter der Luft, vom Winde geschwängert und zur Wassermutter geworden, hat ihn siebenhundert Jahre getragen, bevor sie ihn gebar. «Alt und wahrhaft» geht er über die Erde. Ihm ist gegeben, das Nordlandsvolk in Schlaf oder gar ganz fort zu singen, die Gestirne vom Himmel zu spielen. Alle lebenden Wesen kommen, ihm zuhorchen, und ihm selber quellen die Tränen der Entzückung bei seiner Musik, «voller als des Sumpfes Beeren, runder als des Feldhuhns Eier, größer als die Schwalbenköpfe». Die Tränen wandern an seinem Körper hinab wie an einem Gebirge und bergen sich nach weiterer Wanderung über die Erde als Perlen im Meere. Er kann, was der Schöpfer singen können würde, denn er ist der Schöpfer: der «säng' des Meeres Flut zu Honig, Meeres Sand zu schönen Erbsen, Meeres Schlamm zu gutem Malze, säng' zu Salz den Kies des Meeres, säng' zu Kornland breite Haine, Laubwald rasch zu Weizenfluren, Berge bald zu süßen Kuchen, Steine schnell zu Hühnereiern». Das «Wort» ist das Herrlichste. Durch das Wort wird im Kalevala die Weltentstehung und Weltgeschichte ein Weltbegreifen. Wenn das Gedicht anhebt, sind alle Dinge zwar schon da, aber es wird so getan, als wären sie noch nicht da, und die zweite Schöpfung der Erklärung, der Überlegung allen Zusammenhanges scheint älter, ernster und gewaltiger als die erste. Eine Ente baut auf dem Knie der Wassermutter ihr Nest, legt Eier hinein, die Eier fallen ins Meer, zerplatzen und entlassen Erde, Himmel und Gestirne, — es schadet nichts, daß die Ente früher da ist als der Kosmos, zu dem sie als ein kleiner Teil gehören wird.
Anton Schiefner hat das wundervolle Buch 1852 zuerst ins Deutsche übertragen, Martin Buber hat es vor einem Jahrzehnt verbessert und jetzt ein Drittel der Schiefnerschen Verse durch bessere, genauere, getreuere aus Eigenem ersetzt.
Oskar Loerke (1923)
Aus: Trajekt 1.1991, S. 142f.
Kalevala — Dritte Rune (kolmas runo)
«Soll ich selbst Verstand nicht haben,
Werd' ich ihn beim Schwerte suchen;
Nun du alter Väinämöinen,
Sänger mit dem breiten Maule,
Laß du uns die Schwerter messen,
Laß die Klingen uns beschauen!»
Sprach der alte Väinämöinen:
«Nimmer fällt's mir ein zu fürchten
Deine Waffen, deine Weisheit,
Deine Schneide, deinen Scharfsinn;
Doch dem sei nun, wie ihm wolle,
Mit dir, der du so erbärmlich,
Werd' das Schwert ich nimmer messen,
nie mit dir, dem armen Wichte.»
Doch der junge Joukahainen
Zieht gar schief den Mund und schüttelt
Samt dem Haupt die schwarzen Haare,
Selber spricht er diese Worte:
«Wer sich scheut das Schwert zu messen
Und die Klinge zu beschauen,
Den werd' ich zum Schweine singen,
Ihn zum Rüsselträger zaubern,
Stecke Helden solchen Schlages
Diesen hierhin, jenen dorthin,
Drück' ihn in den Düngerhaufen,
Stoß' ihn in die Eck' des Viehstalls.»
Unwirsch ward da Väinämöinen,
Unwirsch ward er und ergrimmte,
Fing nun selber an zu singen,
Hob nun selber an zu sprechen;
Keine Kinderlieder sang er,
Kinderkram und Weiberwitze,
Sondern Sang des bärt'gen Helden,
Den die Kinder nimmer können,
Auch die Knaben nicht zur Hälfte,
Freiersleute nicht ein Drittel,
Jetzt in diesen schlimmen Zeiten,
Bei dem sinkenden Geschlechte.
Sang der alte Väinämöinen,
Seen schwankten, Länder bebten,
Kupferberge selbst erdröhnten,
Starre Steine selbst erschraken,
Felsen flogen voneinander,
Klippen an dem Strand zerschellten.
Sang auf Joukahainens Krummholz
Zaubernd junge Baumessprossen,
Weidenbuschwerk auf das Kummet,
Weiden an des Riemens Ende,
Sang den schöngeschmückten Schlitten
In den See als schlechtes Strauchwerk,
Bannt' die perlenreiche Peitsche
An den Meeresstrand als Schilfrohr,
Sang das Roß mit weißer Stirne
An den Wasserfall als Steinblock.
Sang das Schwert mit goldnem Schafte
Dann als Blitzstrahl an den Himmel,
Bannt' des Bogens bunte Wölbung
Auf die Flut als Regenbogen,
Wandelte die flücht'gen Pfeile
Um zu Habichten, die kreisen,
Dann den Hund mit krummer Schnauze
Um zum Felsblock auf dem Boden.
[...]
Sang den Joukahainen selber
Bis zum Gurt in tiefe Sümpfe,
Bis zur Hüft' in Wasserweisen,
Bis zum Arm in Sandestiefen.
Jetzt wohl mußte Joukahainen,
Mußt' er merken und begreifen,
Daß er diesen Weg gegangen,
Diese Fahrt er unternommen,
Um zu streiten und zu singen
Mit dem alten Wäinämoinen.
Wollte seinen Fuß bewegen,
Nicht vermocht' er ihn zu heben,
Wollt' den andern darauf wenden,
Doch er war mit Stein beschuhet.
Schon gerät jetzt Joukahainen
In gar große Angst und Sorge
Und versinkt in starkem Jammer;
Redet Worte solcher Weise:
«Oh du weiser Väinämöinen,
Zaubersprecher aller Zeiten,
Wende deinen starken Bannspruch,
Nimm zurück die Zauberworte,
Laß mich aus dem Schreckensloche,
Aus der unbequemen Enge,
Gute Zahlung will ich geben,
Ich gelob ein kräftig Lösgeld!» [...]
Zitiert nach: Kalevala, das National-Epos der Finnen; Übertragung von Anton Schiefner; bearbeitet und durch Anmerkungen und eine Einführung ergänzt von Martin Buber, Meyer & Jessen Verlag, München 1922 (1852), S. 14-15; das Original ist nachzulesen bei Suomalaisen Kirjallisuuden Seura (Finnische Literatur-Gesellschaft, SKS).
Die ins Deutsche übersetzte Schreibweise Wäinämoinen ist hier wieder ins originale Väinämöinen rückübertragen worden; ebenso bei Loerke Kalewala in Kalevala.
Einige Abschnitte aus dem Kalevala in Ton-Bilder umgesetzt hat der finnische National-Komponist Jean Sibelius.
Und so hört sich Väinämöinen an, wenn John Soininen ihm die Stimme leiht (mp3). Finnische Lieder, unter anderem aus dem Kalevala; Aufnahmen aus den dreißiger Jahren (collected by Sidney Robertson Cowell in Berkeley, California).
1967 — Der lange, harte Sommer der Liebe
Nachts kann es ganz schön kalt werden in San Francisco. Häufig zieht schon am frühen Abend der Nebel vom Meer her in die Stadt, erst durch den Golden Gate Park mit den riesigen Eukalyptus- und Redwoodbäumen, dann weiter durch die Haight Street und die umliegenden Straßen mit den hundert Jahre alten Holzhäusern hinüber zur Bucht. Die Gegend hatte Anfang der sechziger Jahre noch nicht mal einen Namen. Später nannte man sie einfach nach einer Straßenkreuzung: Haight/Ashbury.
Am 15. Oktober 1967 warteten die Beamten des San Francisco Police Department, bis zum Nebel die Dunkelheit kam, ehe sie in breiter Kette die Haight Street vom Park her aufrollten. Jeder, der nicht schnell genug abhauen konnte, wurde mit Gummiknüppeln zusammengeschlagen und in den mitfahrenden Polizeibus geschleppt. Um Mitternacht war der Spuk vorbei, die Haight Street lag wie ausgestorben da, keiner traute sich mehr aus den Häusern. Der Sommer der Liebe war zu Ende.
Der Sommer der Liebe fing am 16. April 1943 in Basel an. Dort, im pharmazeutischen Labor der Chemiefirma Sandoz, spürte erstmals ein Mensch die Wirkung von LSD: Dr. Albert Hofmann, der nach Arzneimitteln auf der Basis von Mutterkorn forschte, bekam versehentlich eine winzige Menge Lysergsäure-diäthylamid an eine Fingerkuppe. Danach wurde dem Doktor sehr seltsam zumute, und er beschloß, für heute mit der Arbeit Schluß zu machen. Auf dem Heimweg setzte die volle Dröhnung ein: Der erste LSD-Reisende war mit dem Fahrrad unterwegs.
Der Sommer der Liebe fing aber auch in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg an. Da fand sich ein Freundeskreis von Dichtern und Schriftstellern in New York und San Francisco, Leute, die noch keine Zeile veröffentlicht, aber viel geschrieben hatten, und dem amerikanischen Traum von der Erlösung durch materiellen Wohlstand äußerst skeptisch gegenüberstanden. Statt dessen suchten sie den Rausch und die Ekstase in ständigem Unterwegssein, wochenlangen Autofahrten und beim Jazz in den Nachtlubs von North Beach und Greenwich Village. Frühzeitig machte Marihuana die Runde und wurde für gut befunden. Später kamen noch Experimente mit den magischen Pilzen Mexikos und dein Peyote-Kaktus der Indianer hinzu. Darüber wurde viel diskutiert und geschrieben, und weil dieser Lebensstil so gar nichts mit den Zwängen der amerikanischen Gesellschaft zu tun haben wollte, wurden die Medien auf die Dichter aufmerksam. Ein Zeitungskolumnist in San Francisco kam auf den Namen Beatniks, und der blieb hängen. Manche aus der Gruppe wurden berühmt, andere starben früh, andere wurden vergessen. Zwei veröffentlichten Gedichte: Gary Snyder wurde zum poetisch-grünen Gewissen der Welt, Allen Ginsberg zum berühmtesten Dichter Amerikas (wohl auch, weil sein Gedichtband ‹Howl› 1956 vom US-Zoll beschlagnahmt wurde). Michael McClure schrieb erfolgreiche Theaterstücke. Zwei andere, William S. Burroughs und Jack Kerouac, schrieben vielbeachtete Romane. Und einer verbrachte drei Jahre im Gefängnis, weil er durch einen Roman seines Freundes Kerouac nicht nur in Literaturkreisen berühmt geworden war: An Neal Cassady wollte die Polizei offenbar ein Exempel statuieren. Der Kerl machte, was er wollte, und hatte auch noch jede Menge Spaß dabei.
Die Beatniks wohnten hauptsächlich im Stadtteil North Beach, wo sie eine Art Pariser Existentialismus auf amerikanisch zelebrierten. Als die Beat-Dichter von der Presse zum Kulturereignis hochgesehrieben wurden und immer mehr Trittbrettfahrer in North Beach rumhingen, wich ein Teil der alten Garde nach Süden aus. In der Gegend östlich des Golden Gate Parks, beiderseits der Haight Street, nicht weit von der State University, gab es einige Blocks mit wunderbar guterhaltenen Holzhäusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende (Photographie: shelleyannleedahl). Und weil immer mehr schwarze Familien aus dem Fillmore-Ghetto dorthin zogen, waren die Mieten für riesige Sechs-Zimmer-Wohnungen auch für Studenten und arme Dichter erschwinglich: Schwarze in der Nachbarschaft, da fällt der Mietpreis. Bei den Künstlern und Freigeistern der Stadt sprach sich herum, daß es sich im ‹Haight› gut und billig leben ließ, mit frischer Luft und dem größten und schönsten Stadtpark der Westküste vor der Tür. Und dahinter rollte das Meer auf den Strand, der Pazifik, das Ende Amerikas.
Zu den Leuten, die ab 1964 in die Nachbarschaft zogen, gehörten eine Menge Musiker. Kein Wunder: In San Francisco konkurrierten vierhundert Bands und ungezählte Folkies um den Platz auf den Bühnen der Clubs und Caféhäuser. Einige der Musiker hatten die Zeichen der Zeit erkannt, und die Zeichen standen auf Folkrock. Bob Dylan selbst hatte das Signal gegeben, als er beim Newport Festival mit einer E-Gitarre vor das teilweise entsetzte Publikum getreten war. Folkmusik hat auf unverstärkten Instrumenten stattzufinden, hieß das ungesehriebene Gesetz, gegen das Dylan verstoßen hatte. Er trat eine Lawine los. Die Byrds in Los Angeles beschlossen, gleich eine ganze LP mit Dylan-Songs mit zwei E-Gitarren, Bass, Schlagzeug und vier Singstimmen aufzunehmen, im Stil der britischen ‹vocal groups› (zu denen auch die Beatles gehörten). Die Botschaft kam auch in San Francisco an.
Marty Balin wollte eine Folkrock-Band, mit ihm selbst als Leadsänger. Die Stimme hatte er, den Platz zum Auftreten baute er gerade um: Matrix hieß der Laden, eine Art Folk-Club, in dem er dann mit Spencer Dryden als Drummer, Paul Kantner und Jorma Kaukonen als Gitarristen und Jack Cassidy als Bassisten unter dem Bandnamen Jefferson Airplane auftrat. Später kam als Sängerin noch Grace Slick dazu, die neben Janis Joplin zu den weiblichen Stars der San Francisco-Szene gehören sollte. Ein anderer Musikerzirkel hing einen Straßenblock von der Haight Street entfernt im Haus mit der Nummer 710 Ashbury Street (Photographie links: Promotion) herum. Jerry Garcia, ein ruhiger Banjo-Spieler, der früher in verschiedenen Bluegrass-Bands gespielt hatte, war ein paar Monate vorher auf Gitarre, elektrisch, umgestiegen und wollte ebenfalls eine Band gründen. Mitmachen sollten Phil Lesh, ein Musikstudent, der Komposition belegt hatte und den E-Baß zupfte, ein Rockdrummer mit Namen Bill Kreutzman, ein milchgesichtiger Teenie namens Bob Weir, der gerade Rhythmusgitarre lernte, und Pigpen, ein Bluesmann in Nietenlederjacke, der singen konnte und Orgel und Mundharmonika spielte. Sie zogen alle in eines der geräumigsten Häuser im Viertel und nannten sich die Warlocks, bis sie in einem Buch über ägyptische Kunst den Satz fanden: In Zeiten der Dunkelheit tragen die dankbaren Toten das Licht. (Das ging ihnen schon deshalb auf, weil der geniale Chemiker Owsley Stanley, Hersteller des besten LSD in Amerika, auch noch Soundmann der Band war). Von da an einigten sie sich auf den Namen Grateful Dead. In ihrem Bestreben, nicht einfach Musik nachzuspielen, die schon da war, sondern mit allseitiger Improvisation auszuprobieren, was neu entstehen könnte, legten sie den Grundstein zum beständigsten aller Hippiestämme von San Francisco. Anfang der neunziger Jahre gehörten sie zu den reichsten Bands in Amerika und schafften es mit einer LP sogar in die Top Ten. Erst mit Jerry Garcias Tod im Sommer 1995 löste sich die Band auf.
1965 traf Garcia einen kraftstrotzenden Schriftsteller mit Namen Ken Kesey. Der hatte sich selbst zur Kultfigur stilisiert, nachdem er mit dem Psychiatrieroman Einer flog übers Kuckucksnest reich und berühmt geworden war. Kesey fuhr mit einer Gruppe von Clowns, Jongleuren, Musikern, Tänzern, Malern durch die Lande, alle in einem psychedelisch höchst grellfarben bemalten Bus (Photographie: Quelque Chose) Baujahr 1937, auf dem als Bestimmungsort oberhalb der Windschutzscheibe das Wort ‹Further› (Weiter) stand. Am Steuer saß Kerouacs alter Spezi Neal Cassady, und wo der Bus hielt, wurden Parties veranstaltet, die alle einen Zweck hatten: Den Acid-Test. Ken Kesey hatte bei den Recherchen für seinen Roman einen Arzt getroffen, der LSD in klinisch überwachten Tests zur Behandlung von sogenannten Geisteskranken einsetzte. Nach einem ersten Selbstversuch war Kesey fest davon überzeugt, daß die Menschheit wesentlich besser dran wäre, wenn jeder mal Albert Hofmanns Tropfen zu sich nehmen würde. Zu diesem Zweck verteilte Kesey landauf landab LSD, wozu er die Acid-Tests veranstaltete, ausufernde Bacchanale, bei denen die Grateful Dead unter dem Einfluß der Droge sechs Stunden lang mit elektrischen Tönen experimentierten und die berüchtigte Motorradgang Hell's Angels sich, vom LSD gezähmt, der allgemeinen Stimmung von Liebe und Frieden anschloß. Zu dieser Zeit war Hofmanns «Sorgenkind», wie er selbst seine Entdeckung nannte, keineswegs eine illegale Droge. Man konnte in Kalifornien für den Besitz eines einzigen Joints ins Gefängnis kommen, während bis zum Juni 1966 am Sunset Strip von Los Angeles und an jeder Ecke der Haight Street ausgezeichnetes LSD für 50 Pfennig pro Trip verkauft wurde. Das fand mit der Aufnahme ins Betäubungsmittelgesetz ein Ende, und daß das passierte, ist mit, wenn auch nicht allein, das Verdienst von Professor Timothy Leary.
Leary hatte, im Gefolge des britischen Wissenschaftlers und Autors Aldous Huxley und parallel zu Ken Kesey, die Überzeugung gewonnen, LSD sei ein wirksames Mittel gegen die Übel dieser Welt. Um die Verbreitung zu fördern, ließ Leary kein Interview aus, hielt Vorträge im ganzen Land und gründete in Milbrook im Staat New York ein Institut im Grünen, wo jeder, der wollte, in angenehmer Umgebung auf den Trip gehen konnte: LSD war Immer noch legal. Legal, illegal, scheißegal: Die Zahl der Leute, die in San Francisco auf den Trip gegangen und verändert wieder im Alltag gelandet waren, nahm zu. Wie viele es waren, wurde allen im Herbst 1966 beim ersten ‹Trips Festival› bewußt: Da spielten die Dead, die Airplane und Quicksilver Messenger Service in der Longshoreman Hall, und dreitausend Menschen feierten weniger die Bands als sich selbst bei einer gigantischen Tanzparty: Jeder ist ein Star, hieß die Botschaft, und die Zeiten, in denen Musik sitzend auf dem Stuhl empfangen wurde, waren erst mal vorbei. Dafür sorgte der Rock in Folkrock. Und auch für den Rock-Kommerz wurde das Trips-Festival Ausgangspunkt: Ein bis dato unbekannter Manager einer Theatertruppe, Bill Graham, kümmerte sich um die Organisation und darum, daß alle Eintritt bezahlten. Dabei lernte er auch Ken Kesey kennen: Der machte nämlich zum Entsetzen von Graham die Seitentüren des Saals auf und ließ jeden, der wollte, umsonst rein. Graham, ein unter Hippie-Musiker verschlagenes Geschäftsgenie, wurde später mit seinen beiden Hallen Fillmore West und Winterland zum größten Konzertveranstalter der Stadt (und der USA).
Langsam sprach es sich herum, daß in der Nähe des Golden Gate Park ein Klima der Toleranz herrschte, das mit dem Rest der USA wenig gemeinsam hatte. Den Auslöser zu dem, was dann als ‹Summer of Love› in die Geschichte einging, organisierten die Beat-Dichter für den 14. Januar 1967: Das erste ‹Human Be-In› (abgeleitet von den ‹Sit-Ins›, den Sitzprotesten der Bürgerrechtsbewegung). Das Treffen, im Untertitel «Eine Versammlung der Stämme» genannt, zog zwanzigtausend Menschen zum Polofeld im Golden Gate Park. Auf dem Podium: Die notorischen Bands, dazu Timothy Leary, Allen Ginsberg, Gary Snyder, Michael McClure und, als Vertreter der radikalen Anarchos aus Berkeley, Jerry Rubin. Der hatte sich an der University of California beim Free Speech Movement 1965 hervorgetan und stand für die Leute, die wütend, phantasievoll und vorwiegend gewaltfrei gegen den Krieg in Vietnam protestierten.
Ob die Hippies allgemein als politische Bewegung zu sehen waren, darüber ließ es sich schon damals trefflich streiten. Was sich im Lebensstil ausdrückte, hatte aber unstreitig politische Aspekte: Zusammenleben in Kommunen, mit Hanf, Pilzen, LSD, Meskalin zur Erweiterung des Bewußtseins; drastische Beschränkung des privaten Eigentums; Kreativität statt Konsum; Freiheit statt Autorität. Selbstbestimmte Stämme sorgen dafür, daß Regierung und herkömmliche Machtstrukturen überflüssig werden. Clinic Die Speerspitze der Bewegung, eine Art führerlose Kerntruppe der Blumenkinder, waren die Diggers. Bei aller scheinbaren Unbekümmertheit hatten sie eine radikal-utopische Grundhaltung. Sie organisierten das Gemeinschaftsleben in Haight/Ashbury so, als sei die Revolution bereits erfolgreich gelaufen: Jeden Tag verteilten sie umsonst Essen und Kleidung im Park, gründeten die (auch heute noch bestehende) Haight-Ashbury Free Clinic für kostenlose Gesundheitsfürsorge, dazu gab es gratis juristische Hilfe für alle Konflikte mit der Staatsmacht. Finanziert wurden diese Aktivitäten durch Benefizkonzerte, bei denen Spenden gesammelt wurden. Die Diggers verachteten die herkömmlichen politischen Institutionen — der Staat wurde, solange er sich nicht einmischte, einfach ignoriert. Finanzielle Unterstützung von den Behörden hätte Verrat bedeutet. Was sich zwischen 1964 und 1967 am Golden Gate Park abspielte, ist durchaus vergleichbar mit der Pariser Kommune oder den Gemeinschaften der Anarchosyndikalisten im Katalonien des Spanischen Bürgerkriegs. Daß in allen Fällen die Staatsmacht den Sieg davontrug, ändert nichts an der Gültigkeit des Strebens nach einer selbstbestimmten, humanitären Gesellschaft. Der «Summer of Love» war sicher nicht der letzte Versuch in diese Richtung.
Ganz im Sinne des Prinzips der Gewaltlosigkeit blieb auch am 14. Januar auf dem Polofeld alles friedlich — was ja zu beweisen war. Gary Snyder blies erst einmal auf einem Muschelhom und verband in seiner Lesung die Weisheit des Fernen Ostens mit dem Weltbild der Indianer, die Hell's Angels bewachten den Generator, der den Strom für die Musik machte, Tim Leary erklärte seine Devise «Tum on, tune in, drop out!» (Törn dich an, stimm dich ein, laß die alte Welt hinter dir), Ginsberg sang Oooommm und forderte alle Anwesenden am Schluß auf, doch noch etwas «Küchen-Yoga» zu betreiben, nach der Indlanerdevise: Hinterlaßt keine Spuren an einem Versammlungsort. Zum höchsten Erstaunen der bürgerlichen Presse verließ das «langhaarige Hippievolk» das Polofeld mustergültig aufgeräumt und vom Abfall befreit (oh, Love Parade, oh Tiergarten!).
Das Human Be-In war für viele der Anfang, für die alteingesessenen Hippies in der Gegend von Haight und Ashbury Street allerdings der Anfang vom Ende ihres Wohnviertels. Über einen Stadtteil mit 15.000 Einwohnern brachen in den folgenden Monaten, angeheizt durch Zeitungs- und Fernsehberichte über Drogen, freie Liebe und Rock'n'Roll («San Francisco Sound») 300.000 Menschen herein. (Das wäre in etwa vergleichbar mit dem Versuch, die Hälfte der Love Parade-Teilnehmer im Bezirk Prenzlauer Berg anzusiedeln.) Sie kamen aus allen Teilen der USA, vor allem junge Menschen, Kriegsdienstgegner, Teenager, die von zu Hause weggelaufen waren, Musiker, die ihren Teil vom Kuchen wollten, Sinnsucher, Neugierige und solche, die vom Drogenüberfluß, dem billigen Leben und den Möglichkeiten im Freiraum am Park angezogen worden waren. Im Radio dudelten Eric Burdon mit «San Francisco Nights» und Scott MacKenzie mit seinem sirupsüßen «If You Go To San Francisco»: Trag Blumen im Haar!
Aber auch einige Mitbegründer der Szene kamen endlich zum Zug: Die Jefferson Airplane. Sie hatten Im Sommer 1967 mit «Somebody to Love» und «White Rabbit» gleich zwei Songs in den Hitparaden. Nach ihrem starken Auftritt beim Monterey Pop-Festival im Juni wurden die Karten im Rock-Business neu gemischt. Die neuen Stars waren jetzt The Who, Jimi Hendrix, Janis Joplin und eben Jefferson Airplane. Die kauften sich teure Autos und eine Villa an der Fulton Street, auf der anderen Seite des Golden Gate Park.
Doch im ‹Haight› kam es, wie es kommen mußte: Die alte Gesellschaft schlug zurück. Mit der Illegalität von LSD hatte man jetzt noch ein Mittel, um die Exponenten der Szene zu kriminalisieren. Den Grateful Dead wurde allerdings eine Tüte Marihuana zum Verhängnis. Die stand Im Küchenregal, als im September eine Hausdurchsuchung stattfand. Ausgerechnet die beiden Nichtkiffer der Band, Gitarrist Bob Weir und der Sänger und Organist Ron «Pigpen» McKernan, wurden neben drei anderen Kommunebewohnern verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt. Jerry Garcia, der mit seiner damaligen Lebensgefährtin Mountain Girl gerade aus dem Park zurückkam, wurde von Nachbarn gewarnt und blieb weg, bis die Luft rein war.
Am 6. Oktober 1967 trugen die Diggers in einem Trauermarsch einen Sarg durch die Straße. Darin lag «Hippie, Sohn der Medien», und der wurde symbolisch im Park beigesetzt. Wiedergeboren werden sollte er als «Free Man».
Im Haight waren die Voraussetzungen nach dem Oktober 1967 für weitere gesellschaftliche Experimente nicht mehr gegeben. Die Hippie-Ureinwohner aus den frühen sechziger Jahren wichen aufs Land aus, nach Norden, in die Countys von Marin, Mendocino und Humboldt, oder nach Süden in die Gegend von San José. Und wenn sie nicht gestorben sind, bauen sie im Norden immer noch das legendäre Sinsemilla-Gras an. Im Süden dagegen befaßten sie sich eher mit der gerade aufregend neuen Computertechnik und erprobten in umgebauten Garagen ihr psychedelisch erweitertes Bewußtsein beim Programmieren von Software. Die Gegend, in der das passierte, hatte Anfang der siebziger Jahre noch nicht mal einen Namen. Später nannte man sie einfach nach dem chemischen Element Silizium, dem Grundbestandteil der Mikroechips: Silicon Valley.
Hans Pfitzinger
Der 1945 geborene und 2010 gestorbene Autor studierte bis Mitte der 1970er Jahre unter anderem an der Universität von Berkeley politische Wisenschaften.
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Akseli Gallen-Kallela, Kullervos Fluch, Illustration zu Kalevala; Wikipedia Commons, gemeinfrei
Texte: Verlag: BookRix GmbH & Co,. KG Sonnenstraße 23, 80331 München. © Thierry Portulac
Bildmaterialien: Coverphotographie: © Thierry Portulac; Buchrückseite: © Akseli Gallen-Kallela, Kullervos Fluch, Wikimedia Commons, gemeinfrei; siehe auch: http://www.gallen-kallela.fi/
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2016
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