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Ja, das hat es wirklich gegeben – von Schülern, die zu spät in den Unterricht gekommen sind oder gleich gar nicht, war und ist oft die Rede. Streber, die allezeit pünktlich waren und zur Freude der Lehrer ihre Pflicht und noch einiges darüber hinaus taten, hat es auch schon immer gegeben. Aber dass jemand so pflichtbewusst war, dass er nach dem vermeintlichen Ende der Ferien schlicht einen ganzen Tag zu früh zur Schule marschierte, hat es wahrscheinlich so häufig nicht gegeben. Übrigens – ein klassischer Streber war ich wohl kaum: Ich hatte bereits im ersten Jahr in der Freiherr-vom-Stein-Schule in Frankfurt-Sachsenhausen gewaltige Schwierigkeiten mit der Mathematik, die sich binnen kurzem von gemütlichen Rechenaufgaben in der Volksschule zum monströsen „magischen Quadrat“ entwickelte. Das war, meiner Erinnerung nach, eine entsetzlich komplizierte Rechenaufgabe, die in Form eines Quadrates dargestellt, irgendwelche Zahlen aufwies, die sich durch einen „magischen Trick“ zu anderen Zahlen in Beziehung setzen lassen sollten. Und das wurde uns auch noch von unserem Mathe-Lehrer als entspannende Erholung nach der „richtigen“ Mathematik verkauft!

Um es kurz zu machen: Ich hab’ überhaupt nicht kapiert, worum es da eigentlich ging. Und zum ersten Mal tauchte in mir eine Ahnung auf, die später immer wieder von meinen Mathematiklehrern bestätigt worden ist: „Dieder – des werd nix mehr mit de Maddemaddik – des werd nie was!“

In den Anfangsjahren ging es ja noch. War ich im ersten Jahr – der „Sexta“, wie man das damals nannte, zwar nur ein wenig tiefer gelegt worden, von einer Drei in Rechnen auf immerhin noch eine Vier in „Mathe“ – der negative Trend wurde bereits sichtbar und sollte auf Jahre hinaus bestehen bleiben.

Jedenfalls ging ich nach diesem Schuljahr nun daran, am Tag vor Wiederbeginn des neuen Schuljahres (das war 1965 und deshalb nicht etwa im Herbst wie seit über 40 Jahren der Fall, sondern irgendwann nach Ende der Osterferien) meinen „Ranzen“ zu packen, um wirklich alles mitzunehmen, was ein pflichtgetreuer Schüler so brauchte: sämtliche Schulhefte, fast alle Schulbücher samt dem schweren Diercke-Weltatlas – von dem uns übrigens gesagt wurde, wir könnten ihn am Ende unserer Schulzeit behalten und mit nach Hause nehmen; dann überlegten sich die Bildungspolitiker die Sache wieder anders, weil sie damals gerade wieder einmal beschlossen hatten, an der Bildung zu sparen und uns aus diesem Grunde aufforderten, diesen Atlas abzugeben. Da war er bei mir aber „irgendwann“ (und noch bei einigen meiner Klassenkameraden) verloren gegangen – und nimmt heute einen Ehrenplatz in meinen Bücherregalen ein. Und schweren Herzens packte ich den Turnbeutel – weil ich Turnen hasste und die diversen Freiübungen und Ballspiele schlichtweg für vergeudete Zeit hielt. Aber mich davor zu drücken, wagte ich seinerzeit noch nicht.

Meine Mutter steckte einmal kurz den Kopf in das gemeinsame Zimmer von meinem Bruder und mir und rief erstaunt: „Was machst’n du da, Bub? Packste schon dei Ränzje für übbermorje? Fleißisch, fleißisch – awwer des hat hat doch eintlich noch Zeit. Die Schul fängt doch erst mittwochs an, un mir hawwe erst Mondaach.“ Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen: „Nee, Muddi, ich weiß es genau: Morje, am Diensdaach fängt se an. Ich hab merr’s doch uffgeschriwwe.“ Meine Mutter nahm mir das Aufgabenheft, das ich aus der Schultasche hervor gekramt hatte, aus der Hand und studierte es aufmerksam. Dann schüttelte sie den Kopf. „Richdisch: Hier steht Diensdaaach. Awwer vielleicht haste widder ma de letzte Feriedaach mit em erste Schuldaach verwechselt? Des wär ja net es ersde Maa ...“

Nun war ich wirklich beleidigt. „Also, Muddi, des is doch werklisch net wahr. Nur weil mir des einmal bassiert ist im letzde Jahr ... Isch hab ganz genau uffgebasst un hab unsern Lehrer auch noch extra gefraacht – diensdaachs hat err gesacht. Diensdaachs.“

Meine Mutter zuckte mit den Achseln. „No ja. Vielleischt haste ja doch recht, Bub. Wann fängt die Schul dann an, morje?“ Jetzt zuckte ich mit den Achseln. „Ei, es neue Schuljahr fängt doch an. Mer hawwe doch noch kaan Stundeplan. Desweesche nemm ich doch sicherheitshalber alles mit. No ja, wahrscheinlich pinktlisch um acht.“
„Gut, Bub“, entschied meine Mutter. Dann weck ich dich wie immer zur erste Stund um verrdel vor siwwe.“

Das Ritual am nächsten Morgen war wie gewohnt: Geweckt werden (der übliche Ruf meiner Mutter: „Noch fünf Minütchen!“), dann aufstehen, Waschen, Zähne putzen, Anziehen, Frühstücken. Griff nach der Schultasche, den Turnbeutel geschultert und ab ging’s.

Der Verkehr an diesem Morgen war wie sonst auch: Autos, Leute, die zu Fuß auf dem Weg zur Arbeit waren – nur Schüler waren keine unterwegs. Das hätte mir eigentlich zu denken geben müssen. Es fiel mir aber nicht auf. Ich legte den viertelstündigen Weg zur Freiherr-vom Stein-Schule wie so oft, höchst verträumt zurück, wurde deshalb beinahe von einem Lieferwagen überfahren („Laafe Sie immer so?“) und kam gegen sieben Minuten vor acht Uhr am Schultor an. Da stutzte ich zum ersten Mal. Das schmiedeeiserne Tor war nicht einladend geöffnet, um die Schüler aufzunehmen – es war zu. Ich probierte an der schweren, schmiedeeisernen Klinke – es war verschlossen. Ich rüttelte ein verzweifelt am Tor – es war nicht etwa nur verklemmt, es war wirklich fest verschlossen. Die Freiherr-vom-Stein-Schule ließ einen ihrer bedeutendsten Schüler nicht rein. Das konnte nur eines bedeuten, und allmählich kam auch mir die Erleuchtung: Ich hatte wohl wirklich wieder den letzten Ferientag mit dem ersten Schultag verwechselt und stand nun ausgesprochen dumm da.

Den Heimweg trat ich schnellen Schritts an, drückte mich an den Häuserwänden entlang und hoffte, dass ich keinem meiner Schulkameraden begegnen würde. Aber die schliefen am letzten Ferientag wahrscheinlich sehr, sehr lange und ahnten nicht, dass einer ihrer Mitschüler offenbar so sehr an der Schule hing, dass er einen ganzen Tag zu früh dorthin aufgebrochen war.

Nur meine Familie, die kriegte es natürlich mit. Mein Vater reagierte ganz unpädagogisch und lachte schallend, als er am Abend davon hörte. „Dess merr des net noch emaa vorkommt“, meinte er dann abschließend und lachte immer noch. Mein Bruder, der in diesem Jahr gerade sein Abitur gemacht hatte, hat mein Erlebnis in seine Anekdotensammlung aufgenommen und gibt es zu vorgerückter Stunde, nach über vierzig Jahren noch immer gerne zum Besten.

Meine Mutter musste zwar lachen, als ich ihr mit zerknirschter Miene davon berichtete, strich mir jedoch sogleich tröstend übers Haar und meinte: „Mach derr nix draus, Bub! Des werd derr bestimmt net noch emaa bassiern!“

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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2009

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