„Ich habe dir doch gesagt, dass das so nicht funktionieren wird“, sagte Stephan, der Dispatcher über Funk nun schon zum dritten Mal. Ich hob verärgert die Augenbrauen.
„Was du nicht sagst. Was sollte ich deiner Meinung nach sonst machen?“
Keine Antwort.
Wie auch, unsere Station sendete nicht mehr. Seit einer Stunde!
Im Kontrollraum sah es aus wie in einer Diskothek um die Jahrtausendwende und die Alarmsirene raubte mir noch immer den letzten Nerv. Ich hatte es aufgegeben, nach dem Schalter für das verdammte Ding zu suchen. Fast jede dieser verdammten Anzeigen war von Grün auf Rot umgesprungen. Der Zentralcomputer war ausgefallen und die Terminals zeigten entweder Blue-Screens oder waren völlig schwarz.
Ich war keine vier Stunden auf dem Mond, die Besatzung befand sich zu Wartungsarbeiten zwei Mondautostunden weit entfernt bei einer Relaisstation und schon fand ich mich in einem Super GAU wieder. Aber eigentlich hätte ich es wissen müssen. Ich zog solche Situationen geradezu magisch an.
Natürlich hatten es weder Commander Sullivan noch Bordingenieur Kruse für nötig gehalten, mich zumindest mit den wichtigsten Notfallfunktionen dieser verdammten Station vertraut zu machen. Wozu auch? Ich war nur ein Gast, ein lebender, atmender und ansonsten unnützer Fremdkörper in dieser Behausung. Niemand war unhöflich genug gewesen, mir das ins Gesicht zu sagen, aber ich war ja nicht blöd. Ich sah die Blicke, die sie sich zuwarfen, wenn sie sich unbeobachtet wähnten. Tatjana Kruse, von allen im Programm nur „Mondengel“ genannt, hatte ihren hübschen Kopf mit dem blonden Haar etwas schief gelegt, ihre Unterlippe spöttisch geschürzt und geflissentlich meine dargebotene Hand ignoriert. Sie hatte in den zwei Stunden, die nach meiner Ankunft vergangen waren, kein Wort mit mir gewechselt und sich ziemlich ungeniert mit Lars Bloomquist über mich unterhalten, als wäre ich nicht da. Nun, es gab ehrlich gestanden schlimmeres, als von einer blonden arroganten Pute ignoriert zu werden.
Mondschwere zum Beispiel. In den ersten Stunden war jede Bewegung innerhalb der Station ein reines Glücksspiel. Entfernungen waren nie so groß, wie man sie einschätzte, kein Ding hatte das Gewicht, das einem die Erderfahrung über Jahrzehnte beigebracht hatte. Ständig flog mir irgendetwas aus den Händen und prallte von den Wänden ab, bevor es zu Boden taumelte. Sullivan grinste mitleidig, hob auf, was immer mir entglitten war und warf es mir zu.
„Du gewöhnst dich dran“, sagte er. Wir bewegten uns durch die Gänge und Räume der Station wie in Zeitlupe und mit sieben-Meilen-Stiefeln. Also, wenn ich wir sage, dann meine ich, die Anderen bewegten sich so, ich selbst fand mich immer mal wieder unter der Decke wieder oder schwebte an dem Schott vorbei, durch das ich eigentlich wollte. Hinzu kam diese schreckliche Übelkeit. Natürlich hatte ich das Standardtraining für Mondaufenthalte absolviert, aber danach hatte man nur eine schwache Vorstellung davon, wie es einem auf dem Mond tatsächlich erging.
„Du wirst sehen, in spätestens einem Tag hast du dich eingelebt und die Kotzerei hört auf.“
Bordarzt Smirnow klopfte mir bei diesen Worten grinsend auf die Schulter und reichte mir ein paar neue Spucktüten.
Als es dann vor zwei Stunden los ging, verstand ich zunächst überhaupt nichts. Die Gesichter wurden ernst und konzentriert, die Bewegungen hektisch. Kruse lief mit Computerausrucken durch die Gänge und sprach ständig in ihr Headset. Bloomquist hockte wie Rumpelstilzchen vor einem Terminal und seine Hände flogen unablässig über eine seltsam geformte Tastatur. Wo immer ich mich aufhielt, ich war ständig irgendwem im Weg. Niemand sprach mit mir über das offensichtlich ernste Problem. Selbst Sullivan ließ mich einfach stehen, als ich ihn darauf ansprach. Die ganze Mannschaft hatte angefangen, sich in einer offensichtlichen Geheimsprache zu verständigen, die aus jeder Menge Akronyme, englischen Fachtermini und Insider-Slang-Ausdrücken zu bestehen schien. Ich zog mich schließlich in die Sektion mit den Unterkünften zurück.
Dort fand mich schließlich Sullivan. Er sah ernst und nervös aus und wirkte etwas abwesend. Er gab sich nicht sonderlich viel Mühe, mir vorzumachen, es sei alles in Ordnung.
„Wir müssen raus und rüber zur Relaisstation Alpha. Es ist dringend. Wenn wir diese Station verlieren, geht ein wichtiger Teil unserer Datenverbindung zur Erde flöten.“
„OK. Was soll ich machen?“, fragte ich mit einem mächtig heißen Stein im Magen. Was konnte ein Schreiberling wie ich schon für eine Relaisstation tun? Sullivan sah mich entgeistert an. Dann verstand er. Er lächelte flüchtig und schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Der Mann sah auf einmal müde und besorgt aus.
„Sie? Nichts. Sie bleiben hier und halten die Stellung. Fassen Sie nach Möglichkeit nichts weiter an. Sobald wir die Station erreicht haben, melden wir uns per Funk. Tragen Sie also Ihr Headset immer auf Standby.“
„Sie lassen mich hier allein zurück?“
Ich konnte den Gedanken kaum fassen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, und meine Arme wurden von einer Gänsehaut heimgesucht.
„Keine Sorge. Sie sind hier absolut sicher. Wenn etwas ist, Sie erreichen den Dispatcher des Kontrollzentrums auf Kanal drei.“
Er wies auf das Display meines COM und war auch schon durchs Schott verschwunden. Durch die Panoramafenster der Zentrale sah ich den seltsamen Mondfahrzeugen hinterher, wie sie sich schnell von der Station in Richtung der gezackten Erhebungen am Horizont entfernten. Im Hintergrund hörte ich die Stimmen der vier durch den Bordfunk. Sie wurden von Minute zu Minute leiser und waren bald ganz verstummt.
Ich streunte ziellos durch die Gänge und Räume der Station; langsam begann sich mein Gleichgewichtssinn an die Mondbedingungen anzupassen. Ich wusste nicht, wonach ich eigentlich Ausschau hielt, die wichtigsten Segmente der Station waren für mich ohnehin gesperrt. Also kehrte ich in die Zentrale zurück.
Das Panorama der Mondoberfläche war von grandioser Langeweile. Gelbgrauer Staub, wohin das Auge reichte. Hatte man die erste Euphorie hinter sich - Yeah, ich bin auf dem Mond! – verlor der trostlose Anblick schnell seinen Reiz. Man machte sich ja nicht ständig klar, dass dort draußen die lebensfeindlichsten Bedingungen herrschten, die denkbar waren: In der Sonne extremste Hitze, im Schlagschatten gleich daneben Temperaturen in der Nähe des absoluten Nullpunktes. Keine messbare Atmosphäre. Sprung im Helm: aus die Maus. Visier verklemmt: Augen raus gebrannt. Wir Menschen hatten hier definitiv nichts zu suchen, aber so sind wir Menschen nun einmal. Die Erde kann ein Lied davon singen…
Die Erde. An diesen Anblick gewöhnte man sich allerdings nie. Wenn sie dort über dem Horizont aufgeht, das ist Gänsehaut pur. Man erlebt einen Moment völliger Irrationalität. Wir sind Erdenwesen. Schwer zu realisieren, dass man seinem Ursprung so weit entfernt ist! Ich hatte jedenfalls Tränen in den Augen.
Die anderen in der Station hatten indes andere Probleme.
Nun saß ich also hier allein vor einem Terminal, von dem Sullivan mir gesagt hatte, es wäre für allgemeine Zugriffe auf die Server und das Internet gedacht und ich könnte es bedenkenlos benutzen. Also loggte ich mich auf meinen Account bei der Raumfahrtbehörde ein und checkte meine Mails. Einen anderen Account durften wir aus Sicherheitsgründen nicht benutzen. Es war sehr angenehm, mal keine Spam-Nachrichten durchforsten zu müssen. Mein Redakteur gab mir zum gefühlt hundertsten Mal letzte Hinweise für meinen Bericht. Ich unterdrückte ein Gähnen und schloss den Mailclient. Auf der Nachrichtenseite reihten sich brutale Bilder von Kriegen und Katastrophen an einander. Dazwischen langweilige, abziehbildartige Gesichter von hilflos bedeutend aussehenden Politikern. Konferenzen, die ergebnislos verliefen, Feuerpausen, die nur genutzt wurden, Munition nach zu ordern, geliefert von denselben Firmen an alle Parteien. Die Geschichte wiederholte sich zum wer weiß wievielten Male. Mir war schlecht, diesmal nicht von der fehlenden Schwere. Ich hob den Blick hinaus zur Halbkugel in Weiß und Blau, die über dem gezackten Horizont des Mondes im Nichts schwamm. Ach, was taten wir ihr und uns noch alles an?
Ich schüttelte die unfrohen Gedanken ab und widmete mich meinen Notizen, die ich in meinem Tablet gespeichert hatte. Viel Zählbares hatte ich noch nicht bekommen. Die etwas abweisende Haltung der Besatzung machte es einem Berichterstatter auch nicht leicht.
Dabei war ich doch vor allem ihretwegen hier her geschickt worden. Die Raumfahrtbehörde war besorgt wegen der sinkenden Zustimmung unter der Bevölkerung der Mitgliedsländer. Es gab sogar Stimmen im EU-Parlament, die offen über die Senkung der Zuschüsse zu diesem, wie viele meinten, reinen europäischen Prestige-Projekt nachdachten. So war die ESA zu dem Schluss gekommen, es wäre an der Zeit, das Image der Mondstation etwas aufzupolieren. Dabei war man sich von Beginn an einig gewesen, dass eine teure Hochglanzkampagne eher das Gegenteil bewirken hätte. So setzte man auf möglichst authentische Berichterstattung in den Medien. Ich gehörte zu einer kleinen Gruppe von Journalisten, die man eingeladen hatte, sich die unterschiedlichen Einrichtungen der ESA von innen anzusehen. Ich hatte in einer internen Ausschreibung diesen Platz auf der Mondstation ergattert, wohl, weil ich nach der Papierform fit und technisch bewandert genug erschienen war. Nach den zwei Monaten Training hatte ich persönlich allerdings so meine Zweifel daran bekommen, sie aber tunlichst für mich behalten.
Die Probleme machten sich zu Anfang nur schleichend bemerkbar. Der Bildschirm des „allgemeinen“ Terminals fror plötzlich einfach ein. Keine Tasteneingabe, kein Klick konnten ihn wieder zum Leben erwecken. Ich versuchte das Terminal neu zu starten, aber natürlich fanden sich an der schmalen Konsole weder ein Reset- noch ein Einschaltknopf. Ärgerlich sah ich mich in der Zentrale um, ob ich der Ursache für diese Panne auf die Spur kommen könnte. Und dann sah ich, dass auch die anderen Terminals seltsam aussahen: Blue Screens bedeckt mit kryptischen Fehlerausschriften, Bildschirmschoner, die mitten in der Bewegung erstarrt schienen.
Mir brach der Schweiß aus und meine Hände begannen leicht zu zittern. Ich war mir zwar keiner Schuld und auch keiner leichtfertigen Handlung am Terminal bewusst, aber da ich weit und breit der Einzige hier war, blieb nur ich als Auslöser dieses Problems übrig. Mein Mund wurde trocken. Ich erinnerte mich der Instruktionen während des Trainings für den fall von technischen Pannen.
Zuerst: RUHE BEWAHREN!
Womöglich war die Störung völlig harmlos und einfach zu beheben. Diese Station war auf alle Eventualitäten eingerichtet und die meisten Systeme wurden doppelt und dreifach redundant gefahren. Außerdem gab es die Dispatcher in Darmstadt, die bei solchen Problemen mit Rat und Tat zur Seite standen. Ich schaltete meinen COM auf die allgemeine Frequenz: Jetzt waren die Crewmitglieder und auch Darmstadt mit mir direkt verbunden.
„Kommandozentrale für Mondstation, bitte kommen.“
„Max, was kann ich für dich tun? Langeweile?“
Obwohl die Stimme etwas verrauscht klang, erkannte ich sie fast sofort.
„Stephan, bist du das? Na das ist ja ein Glück, dass ich dich am Rohr habe.“
Ich hatte Stephan Möller-Nutzgau während des Trainings in Darmstadt kennen gelernt und wir hatten uns ein wenig angefreundet. Ich begann mich zu entspannen.
„Sag mal, habt ihr da unten noch Zugriff auf unsere Application Server? Ich habe eben noch meine Notizen eingepflegt und plötzlich geht am Terminal nichts mehr. Bei den anderen sieht es, soweit wie ich das beurteilen kann, auch nicht viel besser aus.“
„Was hast du denn angestellt?“, kam die Frage und selbst über die Entfernung konnte ich das Feixen hören. Was war anderes zu erwarten, wenn man einen Schreiberling auf den Mond schoss? Ich verdrehte die Augen.
„Was ist, hast du Zugriff, oder nicht?“
„Warte Mal, du hast Recht, da ist was komisch...“
Dieser Satz hatte keine Spur Heiterkeit mehr im Gepäck. Das Rauschen aus dem Headset verstärkte sich kurzzeitig und ich bekam nur noch Satzfetzen mit.
„Darmstadt, bitte kommen. Bitte wiederholen Sie!“
Meine wieder aufkeimende Panik ließ mich förmlich werden. Außerdem hatte ich das Gefühl, meine Stimme wäre höher geworden.
Nervös sah ich über den Rand des Monitors vor mir und da fielen mir plötzlich seltsame Lichter an den Schaltschränken neben dem Panoramafenster auf. Ganze Reihen von ihnen waren vom beruhigenden stetig blinzelnden Grün zu einem unangenehm pulsierenden Gelb gewechselt. Offenbar wurden so nach und nach weitere Baugruppen hier von diesem fortschreitenden Kontaktverlust heimgesucht. Ich hörte eine tiefes Brummen, von dem ich glaubte, es wäre erst in den letzten Minuten spürbar geworden. Irgendwo unter der Zentrale liefen Servomotoren auf Volllast.
„Sullivan. Commander Sullivan für Kontrollraum, bitte kommen. Können Sie mich hören?“
Ich presste das winzige Mikroärmchen des Headsets an meine Lippen und eine Hand Flach auf den Hörer an meinem Ohr. Knisternde Stille. Ein Sirren durchlief schnell und schleifend alle Oktaven vom tiefen Brummen hinauf zum Sturmgeheul. Es gab hier keine Atmosphäre, also auch keine atmosphärischen Störungen. Ich sah ratlos auf die Frequenzanzeige meines COM. Ich war richtig. Ich klopfte ein paarmal auf den flachen Kasten an meinem Gürtel, obwohl ich wusste, dass dies nichts bringen würde. In diesen Apparaten gab es kein einziges bewegtes Teil.
„...ax Cornelius, hörst du mich?“, kam es endlich verrauscht und abgehackt aus dem COM. Ich hob meine Rechte, als wollte ich eine imaginäre Menschenmenge zum Schweigen bringen.
„Ja, Stephan, ich höre dich. Verrauscht und abgehackt. Was ist los? Bei mir hier fangen die Geräte an, verrückt zu spielen. Ich bekomme immer mehr gelbe Anzeigen an den Schaltschränken vor mir. Erbitte Anweisungen.“
Stille.
Wieder das seltsame Sturmgeräusch.
„Kruse für Cornelsen, kommen! Hallo, Basis, bitte kommen!“
Kruses Stimme kreischte in meinem Kopf, dass ich mir instinktiv das Headset vom Ohr riss.
„Ja, Frau Kruse, ich höre sie laut und deutlich. Haben Sie eine Vorstellung, was hier passiert?“
„Wie soll ich das von hier aus beurteilen können, Sie Vollpfosten? Was haben Sie mit meiner Station angestellt?“
„Ach, das ist jetzt Ihre Station!?“
Mir schwoll innerlich der Kamm, Panik hin oder her.
„Das wird meine Leser und Zuschauer sehr interessieren, dass die vielen Steuergelder für ihr persönliches ...“
„Wenn es nach mir ginge, wäre Sie nie hier rauf gekommen! Kümmern Sie sich...“
„Ruhe, alle beide. Sofort!“
Das war die befehlsgewohnte Stimme des Commanders. Ich atmete auf.
„Cornelius, Sie werden sich erst einmal beruhigen. Die Situation ist vielleicht kritisch, aber es besteht keine unmittelbare Gefahr für sie und die Station.“
„Woher wollen Sie das...“
„Halten Sie den Mund. Konzentrieren Sie sich! Schildern Sie so präzise wie möglich, was passiert ist und welche Veränderungen Sie bemerkt haben. Die Anzeigen an den Schaltkästen haben Bezeichnungen. Je genauer Sie Kruse schildern, was Sie sehen, umso genauer können wir die Lage analysieren.“
„Ach, das ist doch...“, hörte ich Kruses etwas keifende Stimme wie aus dem Hintergrund. Wie ging das, wenn sie eine Headset trug?
„Tatjana, es reicht! Wir sind hier nicht im Kindergarten, verdammt!“
Das Sirren im Headset schwoll wieder an und der Äthersturm fegte förmlich durch meinen Kopf. Wieder riss ich das Headset herunter. Meine Panik schlug links und rechts von mir mannshohe Wellen und ich saß keuchend auf der Kante des Sessels vor dem Terminal und sah mich gehetzt um. Mein Atem ging heftig und ich merkte plötzlich, dass ich den Mund etwas offen hatte. Ein Speichelfaden tropfte auf meine Hand.
Das Headset brabbelte etwas in meiner Hand und ich setzte es wieder auf.
„Die Verbindung ist zur Zeit unterbrochen. Wenden Sie sich an den zuständigen Dispatcher unter COM Frequenz...“ Eine Automatenstimme!
„Kommandozentrale! Darmstadt, bitte kommen! Hier ist die Mondstation! Wir haben eine Störung, die sich immer weiter ausbreitet. Mein Name ist Max Cornelius, ich bin Sonderkorrespondent und allein in der Station. Die Stammbesatzung befindet auf Inspektionsfahrt bei der Relaisstation und soeben ist die Verbindung zu ihr abgebrochen.“
„Die Verbindung ist zur Zeit unterbrochen. Wenden Sie sich an...“
„Stephan, verdammt. KOMMEN!“
Mein Brüllen hallte durch den ganzen Raum.
„Was brüllst du so, ich bin doch da. Keine Panik, Mann!“
Seine Stimme klang so deutlich, dass ich mich unwillkürlich umsah, ob er vielleicht hinter mir stünde.
„Du hast gut reden! Ich habe die Verbindung zu Sullivan und dem Rest der Crew verloren, vor mir blinken die Anzeigen wie ein Christbaum und im Keller laufen sich irgendwelche Maschinen heiß.“
„Warte, warte, warte...“, rief Möller-Nutzgau hastig, „was sagst du da? Es gibt keinen Keller unter der Station! Es gibt da auch keine Maschinen. Ist alles in Ordnung mit dir?“
Ich starrte wie gebannt auf meine Hände und auf den graugrünen Bodenbelag zwischen meinen Beinen. Ich spürte deutlich dieses Beben. Ich ließ mich auf die Knie nieder und legte die Hände flach auf den Boden.
„Stephan, ich bin doch nicht verrückt! Ich spüre es ganz deutlich!“
Ich konnte fast nur noch flüstern. Schweißtropfen fielen vor mir auf den Belag und hinterließen kleine dunkle Sprenkel.
„Hör zu, Max. Wir kriegen das hin!“
Ich hörte deutlich, wie sich der Mann am anderen Ende dazu zwang, ruhig und besonnen zu wirken. Es wirkte, denn ich spürte eine gewisse Entspannung in mir aufkeimen.
„Max. Ich möchte, dass du jetzt in dein Quartier gehst und deinen Raumanzug anlegst.“
„Ich soll was?! Warum? Was passiert hier?“
Wie eine Stichflamme loderte die Angst vor mir hoch und fraß jegliche Zuversicht wie ein Papiertaschentuch.
„Max, vertrau mir. Mach, was ich dir sage. Zieh den verdammten Anzug an!“
Ich stürmte aus der Zentrale, stieß mir an der Deckenverstrebung des Ganges draußen heftig die Schulter, gelangte auf den Boden zurück und erreichte meine Kabine. Der Anzug hing in einem Gestell an der Rückwand des kleinen Raumes. Eigentlich zog man das Ungetüm nicht an, man bestieg es. Ich hatte das im Training unzählige Male tun müssen und gelangte auch in diesem Moment problemlos hinein. Mein COM verband sich sofort mit dem Anzug und die Anzeigen vor mir erwachten zum Leben.
„OK, Mondmann, ich habe ein Signal von deinem Anzug, das ist sehr gut. Deine Vitalwerte sind ganz in Ordnung, soweit ich das sehen kann. Etwas Sauerstoffschuld, aber das ist nicht weiter gefährlich.“
„Willst du mir sagen, dass die Sauerstoffzufuhr der Station langsam den Geist aufgibt? Raus mit der Sprache, Stephan!“
„Ich weiß es nicht, Max. Unsere Leute arbeiten mit Hochdruck dran, die Verbindung wieder her zu stellen, aber die Relaisstation drüben..., na du weißt schon. Sullivan und Kruse kriegen das schon wieder hin.“
„Kann ich denn irgend etwas tun? Vielleicht hilft es, wenn ich einfach den Hauptserver neu starte?“
„Das wird nicht funktionieren.“
„Woher weißt du das? Woher, verdammt, weißt du das?“
„Alle Fachleute sind der Meinung, dass ein Neustart nicht funktionieren würde, weil...“
„Wissen sie es, oder sind sie nur der Meinung? Ist das schon jemals gemacht worden?“
Plötzlich wurde ich ganz ruhig. Ich wusste die Antwort, bevor Stephan etwas kleinlaut zugab:
„Nein.“
„Wo ist das Terminal zu diesem Server? In dem nicht existierenden Keller?“
„Max, du hast keine Berechtigung für diesen Neustart. Es hat keinen Sinn. Wir müssen auf die Crew warten...“
Die Sirene im Kontrollraum heulte los.
„Hörst du das, Stephan? Ich habe vermutlich keine Zeit, um auf Sullivan und die anderen zu warten! Du musst mir sagen, wie ich an den Server komme und du musst mir den Zugang geben!“
„Das darf ich nicht, Max!“
Stephans Stimme klang eisig.
„Wollt Ihr die Station verlieren und mich dazu? Was wird aus der Crew, wenn das hier nur noch ein Haufen teurer Schrott ist?“
Ich war kurz davor, etwas zu zertrümmern, aber in meinem Quartier gab es nichts, was sich gelohnt hätte. Ich kehrte in den Kontrollraum zurück. Die rot blinkenden Lichter zuckten wie Stroposkope und vier oder fünf Tafeln signalisierten, was nicht zu überhören war: ALARM!
„Max, hier ist Ralph Feldmann von der ESA. Bitte hören Sie mir zu.“
Die Stimme des Mannes im COM klang bemüht verbindlich, aber an den Seiten blitzten die Zähne seiner eigenen Panik hervor.
„Guten Tag, Herr Feldmann. Es ist gerade ganz schlecht, wissen Sie. Ich bin auf dem Mond und die Station hier um mich herum scheint gerade auseinander zu fallen. Wenn Sie mich jetzt bitte mit jemandem verbinden würden, der mir sagen kann, wie ich an den Hauptserver heran komme, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“
„Herr Cornblum, bitte...“
„Cornelius, du Büroarsch! Mein Name ist Cornelius! Gib mir den Möller, sofort!“
Meine Speichelspritzer benetzten inzwischen das Display meines Raumanzuges.
‚Verdammt!’, durchzuckte es mich, ‚ich habe den Helm vergessen!’
Ich hastete zurück in mein Quartier. Der Anzug hatte einen großen Vorteil, er war höllisch schwer für irdische Verhältnisse, aber hier auf dem Mond bewirkte er, dass man sich etwas sicherer bewegen konnte. Den Helm in der Linken kehrte ich in den Kontrollraum zurück.
„Max, hörst du mich?“
Auf einmal tat es gut, seine Stimme zu hören.
„Setz’ deinen Helm auf und schalte die Kamera ein. Unsere Leute wollen sich ein Bild machen.“
„Mit der Helmkamera? Hier sind in jedem Raum vier Kameras!“
„Wir kriegen keine Verbindung. Der Server antwortet nicht.“
Ich hob die Arme etwas theatralisch zur Decke, setzte mir den Helm auf. Zischend nahm das Lebenserhaltungssystem seine Arbeit auf. Ich schaltete die Helmkamera ein und stellte mich in die Mitte des Kontrollraumes. Langsam drehte ich mich über das komplette Panorama des lang gezogenen Raumes. Dann trat ich vor die Schalttafeln, über denen die roten „Alarm“-Schilder zuckten.
„Seht ihr da unten alles gut?“, erkundigte ich mich.
Mein Atem erzeugte kleine blinde Stellen auf der Helmwölbung vor mir.
„Es ist OK, Max. Die Spezialisten meinen, sie hätten genug gesehen. Du kannst den Helm wieder abnehmen. Das spart Sauerstoff und Energie.“
Eine solche Bemerkung, unbedacht dahin gesagt, kann eine Lawine von schlimmsten Befürchtungen los treten, wenn man in einer so unübersichtlichen Lage war, wie ich in diesem Moment.
„OK, ihr Komiker. Es ist langsam genug. Ich will jetzt sofort wissen, was hier oben abläuft und wie meine Chancen und die der Crew dort drüben in der Relaisstation sind.“
Ich holte tief Luft.
„Und ich will endlich wissen, wo der Zugang zu diesem Zentralserver ist und wie ich den neu starten kann. JETZT!“
Die folgenden Minuten liefe ab, wie in einem Alptraum. Alle Bewegungen schienen sich in Zeitlupe endlos zu dehnen, die Stimmen im COM wurden zu röhrenden, unverständlichen Walgesängen. Ich hörte meinen Herzschlag als Einziges in einem Irrsinnstempo galoppieren. Mein Freund Stephan hatte mir nicht nur den Zugangscode zum Serverraum sondern auch das root-Passwort für den Mainserver verraten. Offenbar war er der Meinung, dass es dadurch nicht schlimmer werden könnte, als es nach Darmstädter Ansicht ohnehin schon war.
Ich schwamm mehr als ich dass ich durch die Gänge stürmte, trotz des Raumanzuges. Nachdem ich den Autorisierungscode an mein COM übergeben hatte, schien es, als würde mir auf meinem Weg ein „Sesam öffne dich“ voraus eilen. Es ging über ein hallendes, spärlich beleuchtetes Treppenhaus abwärts. Mein Headset schwieg mit einem Schlag. Offenbar war dieser Bereich der Station gut abgeschirmt. Wenn nur das ständige Flackern der Alarmlampen nicht gewesen wäre. Im Fünf-Sekunden-Takt tauchten sie die Umgebung in blutrotes Licht, das mich schier zur Raserei brachte.
Dann endlich stand ich vor der Tür des Serverraums. Das Vibrieren dahinter teilte sich deutlich durch den Fußboden mit. Ich gab den Code per COM-Befehl an das Türeingabefeld weiter. Die Lichter auf dem Display wechselten kurz auf Grün, wurden dann wieder rot. Ich versuchte es direkt am Eingabefeld, aber die Fingerkuppen der Handschuhe waren viel zu groß und so kam nicht viel Sinnvolles dabei heraus.
Je länger ich vor dieser Tür stand, um so mehr stieg in mir dieses furchtbare Gefühl der Verzweiflung empor. Tränen rannen mir über das Gesicht, ich hörte mein Herz hämmern und ein trockenes Schluchzen zerriss mir die Kehle. Ich trommelte und trat gegen die Tür, die sich davon gänzlich unbeeindruckt zeigte.
Ich gab auf. Mit fliegendem Puls und hängenden Armen stand ich dort in dem Gang, umtost vom Sturm der Alarmsirene, im Gewitter der Lampen und umarmt von meiner eigenen Angst. Wäre es nicht so umständlich gewesen, ich hätte mich dort einfach an der Wand herabgleiten lassen, das Gesicht auf die Arme gelegt und hätte bitterlich geweint. Aber der verdammte Raumanzug verhinderte es.
Zu dem dröhnenden Vibrieren hinter der Tür zum Serverraum kam ein neues Geräusch. Beginnend bei den eher fühlbaren Frequenzen der Vibrationen stieg es rasch an zu einem gellenden Pfeifen. Ich hielt mir die Ohren zu und sah voller Angst und Vorahnungen zur Tür hin. Gerade, als das Pfeifen die Grenzen des Hörbaren und Erträglichen erreicht zu haben schien, endete es in einem lauten berstenden Knall, den ich selbst noch als mächtigen Druck auf der Brust registrierte.
Etwas war zerbrochen. Die sich bis dahin nur elektronisch äußernde Katastrophe hatte angefangen, sich physisch zu manifestieren. Ich folgte meinem blinden Fluchtinstinkt. So gelangte ich zurück in den Kontrollraum.
„...lius, bitte kommen! Max, wo steckst du?“
Das COM reagierte wieder und Stephan klang mehr als besorgt.
„Der Zugangscode zum Serverraum ist falsch. Da drin ist eben etwas hoch gegangen. Ich vermute, es war etwas im Kühlsystem. Dieser Server hat so etwas bestimmt, oder? Ach, entschuldige, es gibt ja keinen Keller hier und keine Maschinen, die kaputt gehen können. Ist doch so, oder?“
Ich brüllte in das kleine Mikro, was meine Lungen her gaben.
„Ich habe dir doch gesagt, dass das so nicht funktionieren wird“, sagt Stephan, der Dispatcher über Funk nun schon zum dritten Mal. Ich hebe verärgert die Augenbrauen.
„Was du nicht sagst. Was sollte ich deiner Meinung nach sonst machen?“
Keine Antwort. Wie auch, unsere Station sendet nicht mehr. Seit einer Stunde!
Ich stehe vor dem Panoramafenster und schaue hinaus auf die Erde, die über dem Horizont steht. Meine Tränen sind versiegt. Die Luft im Kommandoraum ist heiß und stickig. Offenbar ist die Klimaanlage auf betroffen. Was soll’s. Ersticken, gekocht werden, läuft doch alles auf dasselbe raus.
Was war das?
Ein Aufblitzen am nördlichen Rand der Erdkugel. Alaska oder Nordkanada vermutlich. Meine Augen starren ungläubig. Ich vergesse zu blinzeln. Wieder schaltet mein überlastetes Hirn auf Slowmotion.
Ein weißgraues Gebilde wächst dort, wo es soeben noch geblitzt hat, auf der Oberfläche des Planeten, breitet sich aus.
„Oh, mein Gott,“ flüstern trockene, aufgesprungene Lippen. Ich nehme den Helm vom Tisch und gehe zur Schleuse.
Es gibt hier nichts mehr zu tun für mich.
Für niemanden mehr.
Die Luft im Anzug ist um Klassen besser als zuletzt in der Station. Wenigstens funktioniert die Schleusensteuerung noch. Die Prozedur dauert so lang wie der Song „Money for nothing“ von den Dire Straits. Ich trete hinaus auf den Mond. Es läuft sich ganz angenehm. Da kommt eine Gestalt auf mich zu, direkt aus der Erde. Die Perspektive zerbröselt in Sekunden zu einer billigen Videoprojektion. Ich greife nach der Entriegelung des Helmvisiers, darauf gefasst, in den nächsten Sekunden zu zerplatzen wie eine überreife Melone. Aber mein müdes, fast zerkochtes Unterbewusstsein weiß es schon: Es war alles ein Fake!
Da sitzen sie alle: Steward Sullivan und seine Crew, Stephan Möller-Nutzgau und ein älterer Mann mit eisgrauem Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden ist. Alle sehen mich mit Gesichtern an, die vorsichtige Erwartung ausdrücken. Was erwarten die von mir?
„Guten Tag, Herr Cor...“ Ich heb warnend die Rechte, „...nelius. Ich hoffe, sie haben sich ein wenig erholen können von den, nun sagen wir mal, etwas unerwarteten Anstrengungen der letzten Stunden.“
Das ist Ralph Feldmann. Ich erkenne seine Stimme wieder. Der Büroarsch. Ich kreuze meine Arme vor meiner Brust und spreize die Beine unter dem Tisch von mir. Abwehrhaltung, wenn man je eine gesehen hat.
„Wir mussten das tun, Max. Es gehört zum Training dazu.“
Tatjana Kruse sieht mich mit blaugrauen Augen an und lächelt zwischen mitfühlend und entschuldigend.
„Vollpfosten, hm?“, sage ich und grinse, „Aber war es wirklich nötig, die Erde dafür in die Luft zu sprengen? Ich hatte eine Scheißangst.“
Ich schlage die Hände für einen Moment vors Gesicht und muss mich sammeln. Dann schaue ich die ganze Bande mit einem tränenschwangeren Lächeln an.
‚Die habe ich immer noch!“, denke ich im Stillen.
Und wir reden über die bevorstehende Mission.
Texte: Andreas E. Jurat
Bildmaterialien: Andreas E. Jurat (gemalt Acryl auf Leinwand)
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an die Anthologie-Gruppe für die Inspiration
mit freundlichen Gedanken an das Kinderhospiz "Löwenherz"