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1 Es war Brauch in dem Dorf Halicos am Saum des Nordwaldes, dass einmal alle fünf Jahre, am Tag der Sommersonnenwende, ein großes Fest begangen wurde. Die Häuser wurden geschmückt und die Straßen von bunten Lampions erhellt, die Menschen verkleideten sich, sangen und tanzten bis zum Morgengrauen. Wochenlang nähten die Frauen die aufwendigen, mit Perlen bestickten Kostüme. Mit raschelnden Gewändern und bunten Masken liefen die Mädchen am Abend durch das Dorf, hüpften und sprangen, als wären sie verrückt, und warteten darauf, dass der Junge, mit dem sie tanzen sollten, sie „befreite“, wie man sagte; dann nahmen sie die Masken ihrer Partnerinnen ab und sie gingen zu dem Platz, an dem das Fest stattfinden sollte. Wenn der Silbermond, wie er zu dieser Jahreszeit genannt wurde, am höchsten stand, hielt der Bürgermeister auf einem großen Podest, das nur für diesen Zweck errichtet wurde, eine Ansprache. Danach wurden augenblicklich alle Lampions gelöscht, und junge Männer zogen durch die Gassen, schwenkten Fackeln und zeigten der gaffenden Menge eine berauschende Darbietung, ehe sie auf einen Trommelschlag gleichzeitig einen mit Stroh bedeckten Scheiterhaufen entzündeten.
Jeder freute sich auf diesen Tag und fieberte ihm entgegen, besonders die Mädchen; denn, so besagte es ein alter Glaube, ist der Junge, mit dem man tanzt, die wahre Liebe, sollte er gleich beim ersten Versuch die Richtige demaskieren.
Als Garón DeBehr an diesem Tag aufgefordert wurde, half er eben dabei, die Lampions aufzuhängen. Es war ein warmer Tag, aber wegen dem leichten Wind nicht heiß, und keine Wolken waren am Himmel zu sehen.
Der perfekte Tag für ein Fest wie dieses.
Die papierenen Hüllen der Lampen, die er in der Hand hielt, raschelten, als er sich zu der Person umdrehte, die ihm schüchtern auf die Schulter getippt hatte.
„Hallo“, sagte Tessi Konder knapp und lächelte verlegen. Ihr Kleid wurde vom Wind leise gewiegt.
Garón erwiderte das Lächeln stumm und schaute sie an.
Tessi kaute auf der Unterlippe herum, während sie versuchte, die Worte auszusprechen, die sie sich die ganze Nacht zurechtgelegt hatte. Auf diesen Moment hatte sie gewartet und ihn doch immer weiter hinausgezögert. Sie malte sich nicht allzu große Chancen aus. Bestimmt hatte ihn bereits jemand gefragt. Außerdem war sie nicht eine dieser Schönheiten, denen die Jungen immer scharenweise hinterher liefen. Etwas untersetzt und mit feuerrotem Haar, das einen mit Sommersprossen gesprenkelten Kopf bedeckte, konnte man sie schon von Weitem erkennen. Doch sie legte ihre Hoffnung in Garóns Menschenkenntnis, in sein Gespür für die inneren Werte.
Und wenn sie es nicht tun würde, könnte sie sich das nicht verzeihen.
„Was ich fragen wollte, also ... ähm, ich, du weißt schon, wegen heute Abend und der Tanz und so, du weißt schon.“ Himmel, was stammelte sie da nur? Sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Ähm, wenn es dir nichts ausmacht, also, du weißt ja …“
„Man hat mich schon gefragt, Tessi“, antwortete Garón und zuckte entschuldigend mit den Achseln. „Tut mir leid. Aber wenn du willst, ein paar meiner Freunde haben noch niemanden –“ Er unterbrach sich und sah Tessi schweigend an. Enttäuscht blickte sie zu Boden. Als sie merkte, wie er sie ansah, schaute sie schnell auf.
„Okay“, sagte sie überstürzt. Mist. Aber hast du auch etwas anderes erwartet?

„Dann will ich dich mal nicht weiter stören – man sieht sich ja. Heute Abend. Bestimmt.“
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging mit herab hängenden Schultern.
Garón seufzte. Er sah es nicht gern, wenn jemand traurig war.
Während Tessi immer kleiner wurde, ertönten Schritte hinter ihm.
„War das nicht die kleine Konder?“ Es war Veit Otegalo, einer seiner Freunde, der ihm beim Schmücken half.
„Ja.“
„Und was wollte sie?“
„Hat mich zum Tanz aufgefordert.“
„Oh … und was hast du gesagt?“
Garón schnalzte mit der Zunge. Ein seltsamer Geschmack hatte sich in seinem Mund gebildet. „Ich hab ihr gesagt, dass mich schon jemand gefragt hat.“
Eine kurze Pause entstand.
„Du hast ihr also mitten ins Gesicht gelogen?“
„Jepp“, gab er zu. „Du weißt, ich kann sie gut leiden. Aber ich habe nichts dagegen, es bei einer guten Bekanntschaft bleiben zu lassen. Ich will nicht, dass sie noch auf den Gedanken kommt, ich würde etwas für sie empfinden.“
„Und du denkst, sie empfindet etwas für dich?“
„Sagen wir, es hat Signale gegeben.“
„Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel, als sie damals gesagt hat, sie könne sich uns gut als Hochzeitspaar vorstellen.“
Veit schnaufte. Dann ging er, ohne noch etwas zu sagen. Garón befeuchtete seine Lippen, die plötzlich trocken waren. Ihm kamen die Lampions wieder in den Sinn. Er machte mit seiner Arbeit weiter.
Und hoffte dabei, dass ihn bald ein anderes Mädchen fragen würde.

Halicos war ein kleines Dorf, erbaut am Rande des Nordwaldes, der wiederum nur ein Teil der großen Östlichen Wälder war. Seine Einwohner waren Bauern, Handwerker und Händler, einfache Leute, die selten oder nie in die großen Städte gingen.
Mitten durch das Dorf wand sich ein Fluss, der in den nahen See mündete, und teilte es in zwei Teile. An einigen Stellen war er seicht, dass man ihn gefahrlos überqueren konnte, und mitten im Dorf, wo er nach Osten abbog, hatte sich im Lauf der Zeit eine sichelförmige Sandbank gebildet.
Silbern sprang das Wasser über die Kiesel und erfüllte die Luft mit immer währendem Geplätscher. Verfolgte man seinen Lauf zurück bis zur Quelle, gelangte man nach einigen Tagen Wandern in Richtung Norden an einen hohen, natürlichen Steinwall, aus dem das Wasser sprudelte. Man nannte ihn die Schwelle. Er erstreckte sich in beide Richtungen über Kilometer wie ein von der Erde aufgeworfenes Abwehrbollwerk. Dahinter begannen die weiten Ländereien des Östlichen Königshauses, die sich in der Ferne verloren.
In Süden und Westen wurde Halicos von den alten Bäumen des Waldes eingeschlossen. Nach Osten hin, jedoch abseits des Flusses, führte ein Trampelpfad, der bis in das nächstgelegene Dorf führte. Allerdings kamen selten Wanderer diesen Weg, und wenn sich einer in diese Abgeschiedenheit verirrte, brauchte es nicht lange, bis er wieder ging.
Doch wenn er sich einige Zeit nahm und verweilte, vielleicht seine müden Knochen ausruhte, dann fiel ihm die Schönheit dieses Landes auf, die einem erst nach gewisser Zeit gewahr wurde wie ein entfernter Traum, ein Gedanke, der sich im Unterbewusstsein ausbreitete. Das duftende Gras, das von verspielten Winden bewegt wurde, ergoss sich einem Teppich gleich über die sanften Hügel bis hin zu den Bergen, die dicht gedrängt ihren ewigen Schlaf schliefen. Golden war die Luft am Morgen und am Abend, wenn Sonnenstrahlen durch die Baumkronen brachen. Stille sang ihr Wiegenlied. Wilde Tiere grasten ungestört auf Lichtungen und zwischen bunten Blumen, die von Bienen schwer waren.
Nichts hätte daran erinnert, dass in dieser Idylle Menschen lebten, wenn nicht einmal alle fünf Jahre die Nacht von einem großen Feuer erhellt worden wäre.
Je näher der Abend rückte, desto aufgeregter wurde es im Dorf. Letzte Vorbereitungen wurden getroffen. Frauen liefen emsig hin und her, scheuchten ihre Männer durch das Dorf, erteilten ihnen Befehle, sagten ihnen, wo sie noch etwas verbessern mussten. Am Horizont ging die Sonne langsam unter und färbte den Himmel erst gelb, dann orange, bis er irgendwann rot war.
Die immer länger werdenden Schatten erinnerten Garón mehr und mehr daran, dass ihn seit Tessi noch niemand zum Tanz aufgefordert hatte. Es verwunderte ihn; er war nicht so arrogant, dass er davon ausging, er wäre der meist begehrte Junge diesseits der Wälder.
Aber nur ein einziges Mädchen?


Er hatte seinen Stolz, und dieser hatte jetzt einen Riss.
Gelangweilt und etwas gekränkt lag er mit einem Strohhalm im Mund im Gras und versuchte, die unendliche Weite des Himmels mit seinen Blicken zu durchbohren. Ohne Erfolg. Nichts und niemand zeigte sich. Alle waren beschäftigt; entweder, um das Fest auszurichten, oder, wie Veit und seine anderen Freunde, um sich die Masken und Kostüme ihrer Tanzpartnerinnen einzuprägen. Man wollte sie ja schließlich so früh wie möglich erkennen.
War er denn wirklich der einzige, der nichts zu tun hatte?
Seine Lust verging, wie der Tag es zu tun gedachte. Vielleicht würde er einfach nicht hingehen. Es war ihm peinlich, ohne Begleitung aufzutauchen. So wollte er nicht gesehen werden.
Schon gar nicht von Tessi.
Er fragte sich, ob sie einen anderen gefunden hatte. Vielleicht hätte er doch zusagen sollen. Immerhin würde er dann nicht allein hier liegen. Und Tessi war wirklich ein nettes Mädchen. Und wenn man es genau betrachtete, war sie gar nicht mal unattraktiv.
Aber jetzt war es zu spät. Er hatte sie angelogen und konnte keinen Rückzieher machen. Er hatte es sich nicht gleich eingestanden, aber er war froh, dass sie nicht nach dem Namen seiner vermeintlichen Tanzgefährtin gefragt hatte.
Er musste daran denken, wie traurig sie gewesen war. Wehmütig verzog er das Gesicht.
Garón spuckte den Strohhalm aus und stand auf. Eine Brise streichelte seine Haut. Sein Entschluss stand fest.
Er würde heute Abend auf dem Fest sein. Und sei es nur, um sich bei Tessi zu entschuldigen.

Es war ein Spektakel.
Sobald die Sonne untergegangen war, kamen Mädchen in bunten Kleidern aus den Häusern geströmt, lachend und tanzend, die Fäuste gen Himmel gestreckt. Bunte Federn und Blumen verzierten ihre Haare. Sie verstreuten sich im Dorf und liefen durch die von Lampions erhellten Straßen. Dann waren die Jungen an der Reihe. Wie wild hüpften und sprangen sie und riefen die Namen der Mädchen, die vor ihnen davonliefen. Mit ekstatischem Beifall bedachten die Eltern, Großeltern und kleinen Kinder die Schau, stampften mit den Füßen und lachten sich die Kehle aus dem Hals. Und wenn ein Junge mal das falsche Mädchen demaskierte, warfen sie bunt bemalte Maishülsen und weinten Krokodilstränen.
Beinahe eine Stunde dauerte es, bis alle Pärchen zueinander gefunden hatten. Das von Motten umschwirrte Lampionlicht malte springende Schatten auf ihre Körper, während sie auf den Festplatz gingen. Unter sternenklarem Himmel kam das ganze Dorf zusammen und setzte sich auf die Bankreihen, die grau und wie aus Stein aussahen im schummrigen Licht. Sie waren in einem großzügigen Halbkreis auf einem Feld aufgestellt worden, der Scheiterhaufen zeichnete sich gegen den dunklen Horizont ab wie ein einsamer Berg. Zwischen ihm und den Bänken standen schier unzählige gedeckte Tische; Torte sowie weiteres feines Gebäck, Pökelfleisch und Braten mit brauner Soße, Brot mit frischer Butter, Honig, Gemüse, Obst und die verschiedensten Getränke in bunten Gläsern waren dekorativ auf ihnen verteilt. Eine riesige Sternform beschreibend, waren rund um den Platz lange Holzpfeiler aufgerichtet, die mit Seilen miteinander verbunden waren und an denen weitere Lampions hingen. Mit an Stangen wehenden Fahnen – in rot, blau und weiß, den Farben des Östlichen Königshauses, und dessen Symbol, ein Kreis, der oben rechts etwas geöffnet war – war das große Podest verziert, auf dem einige Musiker mit ihren Instrumenten spielten. Der volle Mond schien auf die Welt herab, als wäre auch er nur für diesen Tag ans Firmament gesetzt worden.
Garón saß zusammen mit seiner Familie unter der Menge, sein Vater und seine Stiefmutter rechts, seine Schwester und ihr Verlobter links von ihm. Der Lärm toste in seinen Ohren. Es war ihm noch immer unangenehm, hier zu sein, aber dass er nicht der einzige war, der keine Tanzpartnerin gefunden hatte, tröstete ihn etwas darüber hinweg. Und das war letztendlich dafür entscheidend gewesen, dass er doch gekommen war – als er all die Mädchen in ihren Kostümen gesehen und die Jubelschreie skandierende Menge gehört hatte, waren neue Zweifel in ihm entbrannt. Er hätte einfach gehen können, es wäre wohl kaum jemandem aufgefallen. Aber nun saß er hier, und er achtete darauf, nicht von Tessi gesehen zu werden; jetzt noch nicht. Bislang hatte er sie noch nicht erblickt. Möglicherweise war sie nicht gekommen, so wie er es auch zunächst vorhatte, und wieder keimten Schuldgefühle in ihm auf. Warum hatte er nein gesagt? Nur weil er Angst hatte, jemand könnte ihn mögen?
Oder weil er Angst hatte, sie auch zu mögen?
Die Gedanken rasten hinter seinen kastanienbraunen Augen. Er massierte seine Schläfe.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte sein Vater. Brun DeBehr war ein kräftiger Handwerker mit harten, kantigen Gesichtszügen. Seine buschigen Augenbrauen waren zusammengezogen und hinterließen Furchen auf seiner Stirn, die von einer Narbe verunziert wurde. Er hatte die Verantwortung über den Bau aller Gebäude in Halicos; eine sehr angesehene Position.
„Hm? Ja, ja. Alles in Ordnung“, sagte Garón schnell. „Ich hab nur nachgedacht.“
Brun lachte laut. „Du machst dir immer so viele Gedanken! Manchmal solltest du einfach aufhören damit. Das hier ist ein Fest, bei den Göttern! Entspann dich, lass dich gehen.“ Er klopfte seinem Sohn auf den Rücken. „Mach es einfach wie dein alter Herr.“ Wieder das tiefe Gelächter, bei dem sein ganzer Körper erbebte. Garóns Vater nahm die Dinge nie auf die leichte Schulter und scheute sich nicht vor körperlicher Arbeit, egal wie hart und auszehrend sie war.
Aber ebenso wusste er, wann man alle Sorgen fahren lassen und Spaß haben sollte.
Garón lächelte. Die gute Laune seines Vaters war ansteckend. „Du hast ja recht. Aber ich glaube, mir würde es wohler gehen, wenn die anderen hier wären.“ Er reckte seinen Kopf in alle Richtungen, konnte aber keinen seiner Freunde sehen. Wo steckten sie nur, verdammt?
„Bist du immer noch niedergeschlagen, dass dich keine gefragt hat? Komisch, dabei dachte ich, die kleine Tessi wollte dich fragen.“ Er senkte die Stimme, und Garón war ihm dankbar dafür; aber es täuschte nicht darüber hinweg, wie sich die Eingeweide des Jungen zusammenzogen „Wie dem auch sei“, fuhr Brun dann fort. „Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Es gibt einige hier, die niemand aufgefordert hat. Noch nicht mal der Enkel des Bürgermeisters! Mädchen sind seltsame Geschöpfe, das wirst du noch lernen, glaub mir.“ Erheitertes Schnaufen durchdrang Brun. „Halicos ist seit jeher mit wenigen Töchtern beglückt worden. Es ist seltsam. Und immer noch leben hier mehr Jungen, obwohl der König damals unsere Söhne einbezogen hat.“ Seine Hand bildete kurz eine Faust, ehe sie sich wieder entspannte. Garón wusste davon. Sein älterer Bruder war damals wie fast alle anderen Jungen seines Alters aus den angrenzenden Ländereien vom König einberufen worden, um sich als Soldaten zu verdingen. Mit nur wenigen Ausnahmen hatten die Eltern gegen diese Maßnahme protestiert, so auch Brun und seine Frau Talira. Man sagte ihnen, es handele sich nur um eine zweijährige Grundausbildung, und die Jungen würden mehrmals im Jahr die Gelegenheit haben, nach Hause zurückzukehren und ihre Familien zu besuchen. Damit gaben sich die meisten zufrieden, aber einige wunderten sich über die Maßnahme des Königs und zweifelten. Anfangs schien es, alles würde wie vereinbart ablaufen; Garóns Bruder konnte jeden zweiten Monat für drei Tage nach Hause, um sie zu besuchen. Aber bereits nach einem Jahr hörten die Besuche auf. Stattdessen erhielten die DeBehrs einen handschriftlichen Brief, in dem Garóns Bruder schrieb, es habe neue Befehle gegeben, sodass er bis zum Ablauf seiner Ausbildungszeit nicht nach Halicos zurückkehren könne. Aber er würde ihnen wöchentlich eine Nachricht zukommen lassen.
Und er tat es auch, berichtete jede Woche von seiner Ausbildung, von dem seltsamen Befinden, jetzt schon so lange in einer Stadt zu wohnen, von seinem Treffen mit dem König, und er versicherte, dass es ihm gut ginge. Eines Tages schrieb er dann, dass es Unruhen an den Grenzen gäbe und dass

wir womöglich unsere erste Feldpraxis erhalten. Ich weiß nicht, ob ich freudig oder eher ängstlich sein sollte; ich fühle beides, irgendwie, auch wenn uns versichert wurde, Grenzkontrolle sei reine Routine. Die letzten Tage waren anstrengender als sonst, es wurde getuschelt. Über Dinge, die uns verschwiegen wurden, mir und meinen Kameraden. Der Kommandant hat sich öfters als sonst auf unsere unerschütterliche Treue dem König gegenüber berufen. Ich glaube, etwas wird passieren, ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich daran denke.



Die Sorgenfalten waren tiefer geworden mit diesem Brief, doch es war der Schlusssatz gewesen, der ihnen keine Ruhe lassen wollte.

Ich sehne mich nach einem Vogel; in letzter Zeit ist die Luft gefüllt mit stinkendem, nebligem Dunst, dass es still geworden ist im Wald.



Es war das letzte Mal, dass sie etwas von ihm hörten.
Damals war Garón zwei und seine Schwester fünf Jahre alt. Seither waren vierzehn Jahre vergangen. Nie war etwas über das Schicksal der jungen Männer aus der Unteren Brigade 3-37 verlautet worden. Die Ungewissheit zerfraß Garóns Familie zunehmend. Sein Vater schrie manchmal ohne Grund, und seine Mutter wurde kränklich und schwach. Nach einiger Zeit war sie erschreckend ausgemergelt, wirkte wie ein Geist, aß weniger und sprach kaum ein Wort.
Und schließlich nichts mehr.
Seine Mutter starb nur wenige Wochen vor seinem vierten Geburtstag. Er hatte kaum Erinnerungen an sie. Manchmal glaubte er, in seinem Unterbewusstsein ihr Lachen zu hören, das rein wie Kristall war. Sein Vater war nie wirklich über diesen Verlust hinweggekommen. Auch nicht, nachdem er wieder geheiratet hatte – erst letzten Sommer war das gewesen. Oft konnte Garón ihn noch schluchzen hören, wenn es ganz still im Haus war.
Davon war er heute meilenweit entfernt. Er war glücklich wie lange nicht mehr.
Jedenfalls äußerlich.
Die Erinnerungen hatten einen Schatten auf sein Gesicht gelegt, aber er war so schnell wieder vergangen wie ein Traum. „Wichtig ist, dass du immer den Kopf oben hältst“, setzte er wieder an. „Ein kleiner Rückschlag – was macht das schon? Du bist jung. Und du hast das Durchhaltevermögen und die Stärke, die seit Dekaden durch unsere Venen fließen. Und du bist schlau, Garón, schlau. Nur wenige können das von sich behaupten. Du trägst den Fuchs im Kopf und nicht im Herzen. Verstehst du, was ich dir damit zu sagen versuche?“
Garón schaute kurz zu Boden. Seine Mundwinkel zuckten nach oben. „Ja, ich glaube schon.“
Aber Brun hörte ihn nicht. Seine Antwort ging in tosendem Beifall unter, als der Bürgermeister das Podest betrat.
Die Musiker hörten auf sein Handzeichen auf zu spielen, und auch die Menge schwieg. Bürgermeister Mhan Rissing war ein weißhaariger alter Mann mit einer feinen Messingbrille auf der Nase und großen Koteletten; die einsetzende Glatze erweckte den Eindruck, seine Haare wären im Lauf der Zeit immer weiter nach unten gerutscht. Er war von kleiner Statur, sodass er auf dem hohen Podest und vor dem noch höheren Scheiterhaufen im Hintergrund eher als Witz erschien denn als Mann von Rang und Namen.
Und trotzdem hörten alle gespannt zu, als er begann.
„Bürger von Halicos!“, rief er und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung der Masse, die begeistert applaudierte. Es war kaum zu glauben, dass er selbst in seinem fortgeschrittenen Alter noch so die Stimme erheben konnte. Er war seit Jahren Amtsinhaber und auch wie geschaffen für diese Position.
„Bürger von Halicos! Wie es Tradition

ist seit Bestehen dieses stattlichen

Dorfes ...“ Applaus. „Wie es Tradition ist seit Bestehen dieses Dorfes, begehen wir, die wir hier zusammensitzen, an diesem Tag der Sommersonnenwende, an dem der Silbermond voll ist, was nur einmal alle fünf Jahre

geschieht, dieses Fest und gedenken somit unseren Urvätern, den Gründern dieses vortrefflichen

Dorfes!“ Lauter Applaus. Zu den Worten, die er betonte, bewegte er seinen kurzen rechten Arm, als würde er auf eine große Trommel schlagen, während sein ebenso kurzer linker Arm hinter seinem Rücken ruhte. „Und es ist die Pflicht

eines jeden von uns, den Gedanken, den Geist

der damaligen, glorreichen Zeit aufrecht zu erhalten! Wie ihr wisst, meine Brüder und Schwestern, meine Söhne und Töchter, wie ihr alle

wisst ...“
Garón hörte nur mit einem Ohr zu. Es war genau dieselbe Ansprache, die er schon vor fünf Jahren gehört hatte. Aber es erstaunte ihn umso mehr, dass die anderen an den Lippen des Bürgermeisters hingen und in regelmäßigen Abständen langanhaltenden Applaus gaben. Rissings Charisma war schon fast blendend. Zwar hatte seine Stimme mit den Jahren einen rauen, belegten Unterton angenommen, doch es machte keinen Unterschied.
Er war für diese Position geschaffen.
„... um an dieser Stelle noch einmal zu betonen

, wie ich bereits sagte, so sehe ich in jedem dieser freundlichen Gesichter Wärme

, Anstand

und Respekt

! Ich möchte damit nichts anderes sagen, als ...“
Und so weiter und so weiter. Fast eine halbe Stunde ließ Bürgermeister Rissing seine Stimme über den Platz hallen und schien nicht müde zu werden. Zwischen Applaus und Jubelrufen fühlte er sich wohl. Garón ließ alles mehr oder weniger an sich abprallen. Erst, als sich der alte Mann dem Ende näherte, hörte er wieder hin.
„... dass wir alle von Glück reden können, in diese vortreffliche

Zeit geboren zu sein. Und mit diesen Worten, meine Lieben, ihr Bürger von Halicos, meine Freunde, mit diesen Worten möchte ich eine Bitte aussprechen, an die Götter

, meine Freunde, dass sie dieses prächtige Dorf weiterhin vor Unheil bewahren. Auf! Auf!


Auf! Auf!

, wiederholte die Menge. Garón konnte sehen, wie einige Eltern in der Nähe sich zu ihren Kinder wandten, die müde und erschöpft drein blickten. Sie flüsterten ihnen etwas ins Ohr, und mit zum Teil gespielter Neugier drehten sie auf einmal ihre Köpfe.
Jetzt wussten sie, wo sie hinschauen sollten.
„Leben für das Dorf!“, ließ Rissing noch einmal seine alte Stimme erschallen, ein lauter Paukenschlag ertönte, und nach und nach wurden in den Straßen alle Lampions gelöscht, außer diejenigen, die an den Seilen zwischen den Masten hingen. Es war jetzt sehr viel dunkler. Lange Zeit geschah nichts, alle starrten erwartungsvoll in Richtung des Dorfes.
Da sahen sie den ersten Fackelschwinger.
Erst war er nichts weiter als ein Leuchten, noch von einem Haus verborgen. Doch schnell wurde das Leuchten immer heller, bis man schließlich ganz deutlich den Schein einer Fackel erkennen konnte, der wild hin und her zuckte als wäre er ein Irrlicht. Immer größere Kreise beschrieb das Licht und erzeugte Nachbilder in der Luft. Manchmal wurde die Fackel auch hoch in den Himmel geworfen und wieder aufgefangen, wenn sie schon fast den Boden erreicht hatte. Erst, als der Fackelschwinger in das Licht der restlichen Lampions eingetaucht war, konnte man erkennen, dass er ein wallendes, purpurnes Gewandt trug und eine bunte Maske. Seine Hände arbeiteten ruhelos, wirbelten und drehten sich.
Das Publikum war außer sich vor Begeisterung.
Vor dem großen, kreisförmigen Scheiterhaufen blieb er dann stehen, und sobald er sich nicht mehr rührte, kamen die restlichen Schwinger aus dem Dorf und strömten als zwei Straßen aus Feuer durch die Menge, die sie gaffend anschaute. Einige der Fackeln waren mit besonderen Legierungen überzogen, sodass sie blau, grün oder violett brannten.
Nachdem sie in einem großartigen Tanz den Platz dreimal umrundet hatten, stellten sie sich einer nach dem anderen um den Scheiterhaufen, immer den gleichen Abstand zum Nebenmann bewahrend. Ein weiterer Paukenschlag ertönte, und die Fackeln wurden in den Scheiterhaufen gesteckt, als würde man ein großes Tier mit dem Schwert niederstrecken. Sofort begann das Stroh zu knistern und zu brennen. Das Feuer breitete sich allmählich auf die dünnen Zweige aus und setzte letztendlich die Äste in Brand.
„Lasst das Fest beginnen!“, rief Rissing, und mit einem Mal war die Luft erfüllt von donnerndem Applaus und Schreien, als die Menge geschlossen aufstand und die Darbietung bejubelte.
Nach fünf Minuten unaufhörlichem Geklatsche stürzten sich die ersten auf den Festschmaus. Und nach kurzer Zeit herrschte der wiederkehrende Trubel.
So wie immer unter dem Silbermond.
Auch Garon bediente sich genüsslich am Buffet. Irgendetwas in ihm hatte sich gelöst, ein Knoten war aufgegangen. Vielleicht war es die Vorstellung gewesen, vielleicht die gute Laune überall. Jeder war glücklich und zufrieden. Er konnte sich vorstellen, den ganzen Abend hier zu sein und zu feiern.
Dann tippte jemand schüchtern an seine Schulter.
Fast hätte sich der Kuchen in seine Atemröhre verirrt, als er Tessi sah. Ihr Gesicht wurde von dem nun bereits vollständig brennendem Scheiterhaufen umrahmt und ihr Kostüm leuchtete im Schein des Feuers.
„Hallo“, sagte sie nur und lächelte verlegen.
Mit so viel Selbstbeherrschung wie nur irgend möglich würgte er den Kuchen hinunter und setzte ein freundliches und gleichzeitig ruhiges Gesicht auf. An seinem Rücken juckte es furchtbar. Er widerstand dem Drang, sich zu kratzen.
„Oh, Tessi. Gefällt dir das Fest?“, eröffnete er das Gespräch, das er schnell wieder zu beenden gedachte. Sein Mund war trocken und seine Zunge pelzig. Das Vorhaben, sich zu entschuldigen, schmolz zu einem kümmerlichen Rest zusammen.
„Ja, es ist einfach wundervoll. Das ganze Dorf ist hier und redet, feiert, tanzt, ...“
„Da fällt mir ein, hast du jemand anderen gefunden?“ In seinem Kopf ratterte es unentwegt; wie konnte er hier nur verschwinden?
Tessi nickte überschwänglich. „Ich hab Veit gefragt, als du weg warst. Er hatte noch keine Partnerin.“
Garóns Augenbraue zuckte nach oben, während er Interesse vorspielte. Ach, war das so, Veit?


„Aber ich glaube, er hat etwas zu viel getrunken. Wir haben kaum getanzt.“ Tessi schüttelte in Gedanken den Kopf. „Und du? Hast du Spaß? Mit wem bist du eigentlich da?“
Sie gab sich die größte Mühe, es natürlich und schon fast teilnahmslos klingen zu lassen. Die Anspannung in seinem Körper war jetzt stark genug, dass man an ihm hätte Holz zerbrechen können. Auf seiner Stirn sammelten sich kleine Schweißperlen, in denen das Licht sich spiegelte.
Mit der Zunge leckte er seine spröden Lippen. „Ich hab sogar jede Menge Spaß“, brachte er hervor. „Ich meine, das hier passiert ja nur alle fünf Jahre! Warum sollte ich nicht gut gelaunt sein? Das ganze Dorf ist hier. Dabei fällt mir ein, dass ich unbedingt noch etwas mit – Marik, ja, mit Marik besprechen muss. Also, dann noch viel Spaß. Vielleicht sieht man sich ja wieder. Halicos ist ja nicht gerade riesig, oder?“ Das Lachen klang so unnatürlich in seinen Ohren, dass er sich am liebsten geschlagen hätte. Kurz berührte er Tessi freundschaftlich an der Schulter und verschwand mit einem Glas Saft in der Menge.
Die Gesichter um ihn herum waren nur verschwommene Schatten, als er sich einen Weg entlang des brennenden Berges suchte. Er wusste nicht, wohin er ging, und es war ihm egal – solange er weit weg von Tessi war.
Als jemand seinen Namen rief, zuckte er zusammen. Doch als er in Veits Gesicht sah, rollte ein Fels von seinem Herzen.
„Gar-ón

“, rief er. Man konnte ihm nicht nur ansehen, dass er etwas zu tief ins Glas geschaut hatte. Seine Weste war verrutscht und seine Frisur zerzaust. Auf seinen Wangen erblühten rote Blumen, und in seiner Stimme sowie in seinen Bewegungen schwang der Alkohol mit. Er war niemand, der allzu viel davon ertrug.
Dennoch war es verwunderlich, dass er nach recht kurzer Zeit bereits in einen solchen Zustand geraten war.
Mit einem Lächeln ließ Garón sich von dem Betrunkenen umarmen. „Wo hast du gesteckt?“, sagte er viel zu laut. „Du hast ja alles verpasst. Wir haben uns … nicht wahr, Männer?“ Er wandte sich zu den anderen um, die sich königlich amüsierten. Er winkte, als würden sie sich jetzt verabschieden, und lallte dann wieder in Garóns Ohr. „Wenn du wüsstest, wie –“ Ein Rülpser unterbrach ihn „Wie wir uns gefreut haben. Über alles! Wie hell

das Feuer doch ist … Wusstest du von dem Fest? Du hast mich gar nicht eingeladen. Ich meine, schau dir doch mal an, wie hell

hier alles ist! Sagenhaft! Wir sollten es aufschreiben. Ja, das machen wir. Das ist die beste Idee aller

Gezeiten und darüber hinaus. Aber guck doch mal, wie hell

!“ Sein Blick fiel auf Garóns Hand. Er sah in das Gefäß und rümpfte die Nase. „Bäh!“, rief er aus. „So ein Gesöff … Trink was Ordentliches!“ Er nahm das Glas, das Garón noch immer in seiner verschwitzten Hand hielt, warf es weg und nahm stattdessen sein eigenes Glas und setzte es Garón an den Mund, ohne dabei auch nur den kleinsten Hauch von Widerstand zu tolerieren. Dieser versuchte nur, nicht loszuprusten, während das prickelnde Getränk seine Kehle hinunterfuhr und eine Welle der Wärme in seinem Körper auslöste. „Immerhin ist es hell hier drinnen“, bekräftigte Veit sein Verhalten. Er trottete zu den anderen, umarmte sie und erzählte ihnen genau das gleiche. Garón lachte laut. Irgendwo tief in seinem Inneren machte er sich Gedanken, ob man ihn nicht vielleicht nach Haue bringen sollte.
Aber keine Macht der Welt hätte erreicht, dass er das verpasste.
Kurz darauf lief Veit mit poliertem Besteck behangen im Kreis und sang ein Lied, dass er dem Anschein nach erst in diesen Sekunden erdichtete. Die anderen standen um ihn herum und johlten und klatschten und lachten bis sie heiser wurden. Einem nach dem anderen erzählte Veit dann seine Ideen, wie man die Welt verbessern könnte; dass doch alle einfach nur einen Brombeerstrauch ansehen müssten, um glücklich zu werden. Er wäre der glücklichste Mensch, wenn er nur einen hätte. Oh, wie sehr er sich einen Brombeerstrauch wünschte.
Große Äste knackten laut in der Glut, doch es wurde von dem Lärm der feiernden Menge übertönt. Der aufsteigende Rauch verschleierte den Mond; er war nur noch eine schmutzige Silbermünze.
Fast hätte er sie übersehen.
Tessis weißes Kostüm wirkte wie ein Farbspritzer. Nur zufällig hatte er seinen Blick vom tanzenden Veit und in die Richtung gewandt, aus der die jüngste Tochter der Fischerfamilie Konder kam – und sich ihm mit erschreckender Bestimmtheit näherte. Wieder verknoteten sich Garóns Eingeweide. Er sah sich um. Es gab nur eine Möglichkeit, wie er ihr jetzt aus dem Weg gehen konnte.

Etwas verheimlichte er ihr.
Den ganzen Tag benahm er sich so eigenartig. Ging ihr aus dem Weg. Stotterte. Wirkte aufgekratzt. Was immer es war, sie wollte es wissen.
Vielleicht sollte sie es auch gut sein lassen. Aber sie wollte ihn wiedersehen. Warum machte er so ein Geheimnis daraus, mit wem er hier war? Was wollte er damit erreichen?
Womöglich – nein, das ist albern.
Aber was, wenn doch? Dass er sie nicht verletzen wollte? Dass er doch etwas für sie empfand?
Dass sie doch noch eine gemeinsame Zukunft hatten?
Die Idee war abwegig; und die Vorstellung einfach wundervoll.
Ihr war nicht entgangen, wie er die Augenbraue verzogen hatte, als sie ihm das mit Veit gesagt hatte. Sicherlich war er eifersüchtig auf ihn gewesen. Es musste so sein.
Oh bitte, es musste so gewesen sein.
Als Tessi die Jungen sah, die in einem Kreis standen und wegen irgendetwas laut jubelten, nahm sie allen Mut zusammen. Noch einmal würde sie Garón nicht so einfach gehen lassen. Sie wollte ihm endlich ihre wahren Gefühle gestehen. Und er würde sie erwidern, ganz bestimmt. Sie hatte ihm in regelmäßigen Abständen Signale zukommen lassen. Und eines Tages war es aus ihr heraus gekommen, und sie hatte nichts dagegen tun können, als sie sich sagen hörte: „Weißt du eigentlich, dass wir ein wunderschönes Hochzeitspaar sein würden?“ Na gut, es waren schon fast fünf Jahre vergangen, aber irgendwie ahnte sie, dass er es nicht vergessen hatte.
Er machte sich also noch immer Gedanken um sie.
Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Der Gedanke beflügelte sie.
Sei ganz ruhig. Sei du selbst. Sei zielgerichtet. Lass dich nicht ablenken.

Sie wiederholte die Worte in ihrem Kopf wie eine Parole, während sie sich überlegte, wie sie ihn am besten in ein Gespräch verwickeln könnte. Ein Witz, um das Eis zu brechen. Oder ihm ein Kompliment machen. Aber er durfte auf keinen Fall merken, wie aufgeregt sie war!
Je näher sie den Jungen kam, umso stärker wurde das Kribbeln. Sie musste tief ein- und ausatmen.
Plötzlich torkelte Veit ihr entgegen. Die anderen feuerten ihn an und fragten sich, was nun kommen sollte.
„Tessssss“, zischte er wie eine Schlange. Tessi sah ihn an wie vor den Kopf gestoßen.
„Wir haben … gar nich … getanzt ...“ Er rülpste laut und bekam ordentlichen Applaus von seinen Anhängern.
Sie verzog das Gesicht und hob die Hände, um seinen schwankenden Körper auf Abstand zu ihren eigenen zu halten. „Ich will zu Garón, hast du ihn gesehen?“, fragte sie mit nicht viel Hoffnung. Aber sie wurde eines Besseren belehrt. Erst reckte Veit den Kopf in verschiedene Richtungen, als müsste er herausfinden, wo er sich befand, dann kratzte er sich am Kinn und kam ganz nah an ihr Ohr. Sein stinkender Atem schlug ihr entgegen.
„Das darf ich dir nich sagen“, flüsterte er. „Aaaaaaber … er is nach Hau-se gegang … weg …“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Aber pssssss.“ Er legte einen Zeigefinger an die Lippen.
Das weißt du nicht von mir.


Tessi biss sich auf die Zunge. Sie hätte sonst laut gelacht.
Vor Freude.
„Danke!“, sagte sie schließlich, umarmte Veit kurz und lief davon.
Dieses Mal würde sie ihn erwischen. Er wusste ja nicht, dass Veit ihr verraten hatte, wo sie ihn finden konnte.

Er wusste, dass Veit Tessi sagen würde, wohin er ging, deshalb war er in den Wald und nicht nach Hause gegangen, wie er es ihm erzählt hatte. Darum hatte er es auch ihm und keinem der anderen gesagt. Niemand im Dorf wusste, wo er sich jetzt in Wirklichkeit aufhielt. So würde er sich wenigstens etwas Zeit verschaffen. Aber er würde sich nicht ewig verstecken können.
Er musste sich jetzt einen Plan überlegen.
Warum konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Warum hatte er ihr diese Lüge erzählt?
Es waren sogar mehrere gewesen.

Der Gedanke half ihm nicht aus seiner Lage und er verscheuchte ihn.
Wenn ich Glück habe, wird sich das alles irgendwann in Luft auflösen

, dachte er, während die Stimmen hinter ihm immer leiser wurden. Er blieb in Sichtweite des Feuers, das rot durch die Baumlücken strahlte wie die untergehende Sonne. Er brauchte etwas Ruhe zum Nachdenken, aber er wollte sich genauso wenig im Wald verlaufen.
Schließlich wird es Nachts kalt. Auch im Sommer.
Unter seinen Füßen zerbrachen kleine Zweige und knirschte Moos.
Drei Welten umgaben ihn. Diese drei Dinge waren sich so nah und doch so unterschiedlich. Sie waren Teil des Lebens und hielten sich genauso im Gleichgewicht: zum einen das warme Licht, das vom Scheiterhaufen geworfen wurde. Zum anderen das kalte Licht des silbernen Mondes, der sich langsam wie ein alter Mann dem Horizont näherte. Und dann noch der Wald, der in dunklen Schlaf gewiegt war. Der Nordwald war groß und dicht. Er bedeckte eine Fläche von über zweihundert Quadratkilometern und machte damit ein Drittel der Ländereien des Östlichen Königshauses aus. Wie hohe Steinsäulen wirkten die Baumstämme, wenn die Nacht sie bedeckte. Viele seltene Tiere fanden in seinen Blätterhallen Zuflucht. Etwa in seinem Zentrum stand ein Berg, wo über Jahre wertvolle Metalle geschürft wurden. Die Bäume im Umkreis wurden gerodet, um eine kleine Siedlung für die Bergmänner zu errichten. Zudem wurden zwei breite Straßen gebaut. Eine in Richtung Norden, an den Hof des Königshauses, und eine nach Westen, in die Berge, wo man Handel mit anderen Völkern trieb. Jedoch waren die Metallvorräte schneller erschöpft, als erwartet wurde. Zwar konnten die Gewinne die Baukosten wettmachen. Der erhoffte Reichtum und die finanzielle Unabhängigkeit von anderen Ländern blieben allerdings aus. Das Bergarbeiterdorf wurde zu einer Art Rastplatz für Händlerkarawanen zwischen dem Östlichen Königshaus und den Völkern des Gebirges umgewandelt. Inzwischen nahmen aber kaum noch Händler diesen Weg. Immer wieder wurden sie Opfer von Räubern und Wegelagerern. Ohne die Reisenden verkümmerte die Siedlung an den Hängen des Berges zunehmend und wurde schließlich verlassen.
In den folgenden Jahren rückte die Natur wieder weiter in die von den Menschen abgeholzten Gebiete zurück. Der Berg jedoch behielt seinen Namen, den er von den Arbeitern erhalten hatte. Kalter Berg.
Er zählte die Minuten nicht, die er durch den Wald wanderte, aber es konnten nicht sehr viele gewesen sein. Der Alkohol zirkulierte in seinen Blutbahnen und wärmte ihn, aber er war noch weit davon entfernt, sich die Handballen in die Augen zu pressen und zu schluchzen „Ich hab euch allen Unrecht getan“, wie es Veit zeitweise getan hatte.
Garón stieß auf und klopfte sich auf die Brust.
Der Lärm war zu einem undurchsichtigen Gemurmel abgeflaut. Nachdenklich schaute er in die Welt der Wärme. Wehmut ergriff ihn. Resignierend ließ er die Schultern hängen. Eine Idee nach der anderen hatte er in seinem Kopf durchgespielt und abgehakt, keine wollte ihm recht gefallen. Vielleicht wäre es das Einfachste, Tessi die Wahrheit zu erzählen. Sie würde es hoffentlich verstehen.
Aber er schämte sich zu sehr.
Heftig rieb er sich das Gesicht. „Das ist doch das Letzte“, brummte er niedergeschlagen. Er ging ein paar Schritte und achtete nicht darauf, wohin er lief. Als ihm etwas am Kopf streifte, schrie er überrascht kurz auf, wirbelte herum und fiel auf den Boden. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte er, im Zwielicht etwas zu erkennen.
Es war nur ein Ast gewesen.
Garón warf den Kopf in den Nacken. Irgendwie war ihm jetzt zum Lachen zumute. Er rieb sich das Steißbein und wollte aufstehen.
Zwischen den Bäumen blitzte etwas auf.
Er gefror in der Bewegung. Hatte er da wirklich eben ein weißes Kleid zwischen den Schatten gesehen?
Ihm kam sofort in den Sinn, wie sie ihn beobachtet haben musste, und verfluchte seine Unvorsichtigkeit. Sie hatte bestimmt seinen Schrei gehört. Jeden Moment würde sie durch das Unterholz brechen und ihm entgegenstehen. Und er würde ihr die Lüge gestehen müssen.
Doch nichts geschah.
„Tessi?“, sagte er vorsichtig. Wenn sie ihn schon gehört hatte, war es jetzt auch egal, ob er etwas sagte. Aber da stimmte irgendetwas nicht. Nichts regte sich.
Als er genauer hinsah, bemerkte er, dass der weiße Fleck, den er gesehen hatte – und da war einer, ohne Zweifel – gar nicht stand. Tessi lag auf dem Waldboden. Sie musste auf der Suche nach ihm gestürzt sein. Wenn sie sich verletzt hatte, könnte er sich das nie verzeihen.
Und das nur wegen seiner dummen Lüge.

gen! Es war nicht nur eine.


„Ich komme, Tessi!“, rief er. Panik machte seine Stimme schwer und Schuldbewusstsein erdrückte ihn und ließ ihn kleiner und kleiner werden.
Was habe ich nur getan?


„Tessi!“, sagte Garón und lief auf sie zu. Aus einigen Metern Entfernung glaubte er, dunkle Spuren auf ihr erkennen zu können.
Blut?
Er machte einen Sprung über eine große Wurzel, die er eben noch entdeckte. Doch mit einem Schlag überkam ihn Taubheit.
Es war nicht Tessi, die am Boden lag. Es war überhaupt kein Mensch.
Es war ein junger weißer Wolf. Er war verletzt.
Eine Mischung aus Erleichterung und Mitleid breitete sich in Garón aus. Tessi war ihm nicht gefolgt und gestürzt. Sie lief in diesen Sekunden wahrscheinlich zu seinem Haus. Nein, sie musste es schon längst erreicht haben. Naheliegender war, dass sie jetzt ganz Halicos nach ihm absuchte, seinen Namen rief ...
Aber das war ihm jetzt auch egal. Er betrachtete den Wolf. Das arme Tier lag mit ausgestreckten Gliedern im Schmutz und blickte mit starren Augen in die Dunkelheit. Viel zu schnell hob und senkte sich der Brustkorb. Das Fell war verklebt von Blut und viele Wunden zeigten sich.
Sie waren noch frisch.
Sein Verstand konnte nicht schnell genug arbeiten. Vielleicht lag es an dem Alkohol, der ihm die Sinne etwas vernebelte, vielleicht auch sein Gewissen; so konnte er wenigstens etwas Gutes tun. Denn ehe er sich versah, griffen seine Arme vorsichtig unter den Wolfsleib und hoben ihn in die Luft. Er wog fast nichts. Das Tier reckte den Kopf in wilder Aufregung zu ihm, und er dachte, er würde jetzt gleich gebissen. Doch das wurde er nicht. Der Wolf blickte ihn an und Garón blickte ihn an. Er sah in seine Augen, die im kalten Schein des Silbermondes und im warmen Licht des Feuers glänzten und leuchteten.
Er verschwand lautlos aus der schlafenden Welt.

Ihm fiel nur eine Person ein, die ihm jetzt im Moment helfen konnte.
Der Weg aus dem Wald nahm mehr Zeit in Anspruch, als er angenommen hatte. Auch wenn das Tier sehr leicht war, wurden seine Arme langsam müde. Immer wieder verrutschte der kleine Körper in Garóns Händen, die verschwitzt und klebrig von Blut waren. Manchmal blieb er stehen, um sich zu vergewissern, dass der Wolf noch atmete, denn ab und zu spürte er keinen Herzschlag. Aber das leise Hecheln hatte ihn beruhigt und gleichzeitig zur Eile angespornt. Dann verließ er endlich den Wald. Sofort umfing der Feuerschein sie beide. Das Fest war nach wie vor in vollem Gange. Er konnte es kaum glauben, aber er war keine zwanzig Minuten weg gewesen.
Es hätten auch zwei Stunden sein können.
Sanft trat er auf das federnde Gras, da er dem Wolf nicht noch mehr Belastung antun wollte, ging aber so schnell er es sich getraute. Keuchend stand er dann etwas abseits. Abwechselnd schaute er zu den Leuten, die fröhlich tanzten, und auf das armselige Fellknäuel in seinen Armen. Nur ungern tat er jetzt, was er tat, aber es wäre nicht gut gewesen, einen halbtoten Wolf in eine Menschenmenge zu schleppen.
Mit aller Sorgfalt legte er den Wolf neben einen etwas größeren Stein. Garón kniete sich neben ihn, legte eine Hand in das warme Nackenfell des Tieres und flüsterte ihm ins Ohr: „Bleib ganz ruhig. Ich bin gleich zurück. Halte durch.“ Es beruhigte ihn auf seltsame Art und Weise, mit dem Wolf zu reden. Und Garón bildete sich ein, er wäre nach seinen Worten tatsächlich ruhiger geworden.
Er nahm die Beine in die Hand und lief.
Nach der bedächtigen Stille des Waldes war der Lärm hier auf dem Platz geradezu ohrenbetäubend. Suchend ließ er seine Blicke über die Köpfe der Menge gleiten. Aber er konnte sie einfach nicht entdecken. Verzweiflung und Hilflosigkeit nahm von ihm Besitz und drohte ihn zu zerbrechen. Er achtete nicht auf die anderen, die er anrempelte und die ihm grimmige Blicke hinterher warfen. Die Zeit raste jetzt und wurde immer schneller. Jede verstrichene Sekunde bedeutete vielleicht ...
Der Gedanke, das Tier würde ganz allein verenden, ließ brennende Tränen in ihm aufsteigen. Wie groß war die Chance, sie rechtzeitig zu finden? Er könnte Stunden suchen und sie doch nicht finden. Sie könnte sogar schon gegangen sein. Aber ehe er das herausfinden würde, wäre es zu spät.
Oh nein, er darf nicht sterben.


Als er sie sah, wäre er fast zusammengebrochen vor Glück und Erschöpfung. Seine Schwester war in ein Gespräch mit ihren Freundinnen vertieft und bemerkte ihn erst, als er ihr fast gegenüberstand.
„Qabitha“, keuchte er atemlos.
Sie sah ihn an, rollte mit den Augen und entschuldigte sich bei den anderen. „Was ist?“, fragte sie ihn dann leicht genervt.
„Du musst mir helfen. Ganz schnell.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Hast du getrunken? Du stinkst ja schlimmer als ...“
„Qabitha bitte!

“ Er zischte die Worte durch geschlossene Zähne. Seine Schwester sah ihn jetzt aufmerksam an. „Komm schnell mit, bitte. Wir müssen uns beeilen.“
„Was ist denn passiert ... oh bei den Göttern, du blutest! Wir bringen dich nach –“
Er packte sie grob am Arm und zog sie hinter sich her, um nicht noch mehr Zeit zu vergeuden. Er hinterließ ein blutiges Mal auf dem zarten Arm seiner Schwester.
„Wirst du mir erst einmal erzählen, was denn überhaupt passiert ist, beim Himmel!“
Garón hörte nicht auf sie. Er schickte Stoßgebete an jeden Gott, der ihm einfiel.
Dass der kleine Wolf bitte noch am Leben war, wenn sie zurück kamen.
Als sie den Platz verließen, schaute er sich um. Den Stein und den Wolf konnte er nicht sehen. Seine Eingeweide zogen sich zusammen und ihm blieb die Luft weg. Doch in dieser Sekunde konnte er einen kleinen grauen Fleck erkennen. Er riss an Qabitha, dass ihr Arm schmerzte, aber ihre wütende Stimme kam gar nicht in seinen Ohren an.
Alles, was ihm jetzt noch etwas bedeutete, war der arme junge, verletzte Wolf.
Er ließ Qabitha los und warf sich ins Gras. Der Wolf lag reglos am Boden. Roter Feuerschein ließ sein weißes Fell plastisch aussehen und malte Schatten auf seinen Körper. Die rostigen Flecken wirkten wie Dreck, den man einfach abklopfen konnte. Die Wunden waren im Zwielicht fast nicht zu erkennen. Eingesunken, fast wie tiefe Täler wirkten seine Augen, die geschlossen waren, als würde er nur schlafen. Er sah beinahe friedlich aus, wie er so neben dem Stein lag.
Leise raschelte sein Fell, als Garón ihn streichelte.
Qabitha kauerte sich neben ihn. „Wo hast du ihn gefunden?“
„Im Wald“, schnaufte er. „Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist.“
„Vielleicht Kojoten“, sagte sie und untersuchte vorsichtig die Wunden. Bissspuren. Sie überlegte kurz. Seit Jahren half sie den Bauern bei der Versorgung von kranken oder verletzten Tieren. Anders als diese würde sie aber niemals einen verwundeten Wolf sterben lassen. Besonders einen so jungen. Die Tierliebe hatten sie beide von ihren Eltern. „Bring ihn in den alten Hühnerstall. Ich komme gleich nach“, sagte sie. Garón sah sie an und nickte knapp, ehe sie davonlief. Dann hob er den Wolf langsam wieder auf. Dieser lag schlapp in seinen Armen. Seine Atmung war zu einem kaum wahrnehmbaren Hauch geschrumpft.
Aber als Garón den schwachen Herzschlag spürte, stahl sich unbeachtet ein flüssiger Kristall seine Wangen hinunter, und die Straße, die er sich herunterwand, leuchtete im Feuer.
Der alte Hühnerstall gehörte zum Gut der Familie DeBehr. Jedoch hatten Termiten, Wind, Wetter und die Zeit die Fassade allmählich zerfressen und den Stall unbrauchbar gemacht. Irgendwann hatten sie einfach einen neuen gebaut, und der alte wurde von Pflanzen überwuchert. Garón stampfte voran. Seine Lippen waren nur noch ein weißer Strich. Von dem Alkohol war nichts mehr zu spüren, seine Gedanken waren klar und zielgerichtet. Wenn es etwas gab, um die Sache mit Tessi wieder gutzumachen, dann tat er es eben.
Aber er tat es nicht wegen Tessi. Es ging hier nicht um sie. Nur um den kleinen Wolf, dessen Leben am seidenen Faden hing – in Garóns Händen lag. Er war jetzt für ihn verantwortlich, er würde ihn beschützen, er würde nicht zulassen, dass das arme Tier noch mehr leiden musste.
Auch wenn es bedeuten sollten, es schnell zu beenden.
Aber ob er dazu auch in der Lage wäre …
Der Hühnerstall war ein grauer Haufen aus Holz unter dem Mantel der Nacht. Der Festplatz und die tanzenden Menschen, die nichts von alledem wussten, und der Scheiterhaufen waren hinter einem Hügel verschwunden, aber der Lärm war noch immer zu hören, und das Licht war noch immer ein leuchtender Schein, der den Himmel erhellte. Garóns Beine schmerzten von dem Weg bergauf, und seine Arme ermüdeten zusehends, aber er wollte und konnte nicht darauf achten. Ein unangenehmes Hämmern drückte von innen gegen seine Schläfen, dass er glaubte, sein Kopf müsste gleich explodieren.
Qabitha war kein schemenhaftes Wesen, als sie auf sie ihn zulief, sie war durch den Lampion in ihrer Hand gut zu erkennen. In ihrer anderen Hand hielt sie eine große Ledertasche.
„Schnell“, sagte sie nur. Aber das hätte sie Garón nicht sagen brauchen. Er nutzte das Letzte an Kraft, das in seinem Körper war.
Die Tür knarrte unheimlich, als Qabitha sie aufstieß, bevor sie gegen die Wand krachte. Im Hühnerstall war es dunstig, aber durch zahlreiche Löcher in den Holzbrettern kam frische Luft herein. Der baumelnde Lampion malte zuckende Schatten in den Raum. Sie zeigte ihrem Bruder, wo er den Wolf hinlegen sollte, und er gehorchte ihr. Nachdem sie den Lampion neben sich auf den Boden gestellt hatte, öffnete sie die Ledertasche.
„Ich brauche Wasser“, sagte sie, während sie Verband und Schere auspackte. „Der Fluss ist zu weit weg. Geh in den Stall. In der Tränke ist noch frisches Wasser, davon schöpfst du einen Eimer ab. Und –“
Garón rannte sofort los. Unterwegs blieb er in einem Erdhügel hängen und stürzte, aber er stand gleich wieder auf und rannte weiter. Schnell tat er das, was seine Schwester ihm aufgetragen hatte. Der Stall war bei der zweiten Hochzeit seines Vaters mit in die Ehe gekommen, zusammen mit zwei Bullen und einer Kuh. „Eigentlich sind es ja drei Bullen“, hatte Garón manchmal im Scherz zu seiner Schwester gesagt. Was hatten sie gelacht. Aber das war jetzt belanglos.
Die Rinder schliefen. Der Eimer glitt geräuschvoll durch das Wasser in der Tränke. Wenn die Tiere dabei aufwachten, merkte er es nicht. Es waren keine einhundert Meter Weg, die Garón zu gehen hatte, und so dauerte es nicht lang, bis er wieder zur Tür hereinkam. Er holte keuchend Luft und rieb sich die Oberschenkel, als er sich erschöpft gegen den Türrahmen lehnte. Kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn.
„Mach die Tür zu“, sagte Qabitha, tauchte einen Lappen in das Wasser und begann, die Wunden zu reinigen. „Wir haben eine lange Nacht vor uns.“

Wenn man sich versessen auf etwas konzentriert, egal was es ist, merkt man meistens nicht, wie müde und erschöpft man ist. Auch Garón fielen die Augen erst zu, als er mit dem Sonnenaufgang aus dem ehemaligen Hühnerstall taumelte. Jeder einzelne Muskel tat ihm weh, als würden brennende Klingen ihn von innen heraus schneiden. Das Krähen eines nahen Hahns folterte sein Gehör. Vor und zurück schwankte sein Körper und seine Arme hingen herab wie tote Äste. Es hatte Stunden gedauert, die Wunden zu reinigen und zu desinfizieren und die Verbände anzulegen. Qabitha hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, und sie hatte es gut gemacht. Trotzdem war nicht sicher, ob der Wolf überleben würde, sie wussten es beide. Aber das Tier war ihm inzwischen sehr ans Herz gewachsen. Er wusste nicht einmal, warum, und auch bei genauerer Überlegung konnte er keinen wirklichen Grund dafür erkennen, aber wenn es etwas gab, zu dem Garón jetzt nicht in der Lage war, dann war es denken. Immer wieder erlosch die Welt vor ihm. Seit vierundzwanzig Stunden war er fast ununterbrochen auf den Beinen, und man sah es ihm auch an. Allein die Ringe unter seinen Augen sprachen Bände über seine Auszehrung. Er versuchte erst gar nicht, bis ins Haus zu kommen. Für ihn war es einfach zu weit weg. Nachdem er sich gestreckt und seine schmerzenden Gelenke massiert hatte, setzte er sich neben den Stall und schlief auf der Stelle ein. Er träumte von schwarzem Regen, der auf die Erde prasselte. Um ihn herum liefen gesichtslose Gestalten, und er selbst ritt auf einem weißen Blitz, der über das Land schnellte; nur, dass es kein Blitz war. Er ritt auf einem großen Wolf und vergriff sich in dessen festem Fell und die Sonne ging in schwelendem Feuer unter.

Er hatte es nicht geschafft.
Diesen Satz hörte er seine innere Stimme immer wieder sagen. Aber er ließ sie verstummen.
Als er aufwachte, brummte sein Schädel schmerzhaft. Für Sekunden verkrampften seine Innereien und er befürchtete, sich übergeben zu müssen, aber das Gefühl flaute schnell wieder ab. Er wusste nicht, wie spät es war, und sein Körper war steif und kalt von der Nacht. Auf dem Gras glitzerte Tau wie hunderte Augen. Das Zwitschern einiger Vögel durchbrach die Stille, die keine war; wenn er genau aufpasste, konnte er hören, wie eifrige Helfer bereits mit dem Räumen des Festplatzes beschäftigt waren. Aber die Geräusche klangen nur schwach zu ihm herüber. Manchmal hörte er nichts, als hätten plötzlich alle mit der Arbeit aufgehört.
Das Knarren, mit dem die Tür geöffnet wurde, war so nahe, dass er erschrak.
Er sah zu Qabitha auf. Ihr Kleid wehte im Wind.
Sie schluckte. „Garón“, sagte sie. Er hörte den Unterton ihrer Stimme und sah ihren Blick und sank in sich zusammen. Der junge Wolf hatte es wirklich nicht geschafft. Er war in der Nacht verendet, während er seelenruhig nur zwei Meter weit weg geschlafen hatte. Jetzt gleich würde sie es sagen, was ihm schon vorher zugeflüstert worden war. Gleich würde sie ihn bedeutungsvoll ansehen, irgendetwas stammeln, nach den richtigen Worten suchen, nicht sofort heraus damit, erst überlegen, die Pausen mit Stottern füllen. Natürlich hatte er um die geringen Chancen gewusst, aber er spürte schon, wie kleine Tränen sich in ihm anstauten und sich ihren Weg nach draußen bahnten. Ihren langen Pfad hinab, seine Wangen herunter, und noch ein letztes Mal schreien …
Garón ließ seinen Kopf gegen die Wand des alten Hühnerstalls sacken. Er hatte keine Kraft mehr. Sein Körper war ausgebrannt.
Qabitha presste den Handballen gegen die Augen und rieb sie. Dann holte sie tief Luft und gähnte erschöpft. „Ich hab alles getan, wozu ich in der Lage war.“
Ihr Bruder nickte dankbar mit bebender Lippe.
„Jetzt können wir nur noch hoffen, dass dein kleiner Freund schnell wieder zu Kräften kommt.“
Er sah zu ihr hoch. „Er lebt noch?“ Sein Mund war trockener als Staub.
Mit verwirrten Blicken bedachte Qabitha ihren Bruder. Jetzt erst fiel diesem auf, dass ihr Gesichtsausdruck einzig von Müdigkeit und Erschöpfung gezeichnet war. „Ja“, sagte sie und zuckte beiläufig mit den Achseln. Dann schirmte sie die Augen vor dem beißenden Sonnenlicht. „Ich habe die ganze Nacht aufgepasst. Die Wunden waren nicht so schlimm, wie ich dachte, aber wenn man bedenkt, wie klein das Tier noch ist, solltest du auf das Schlimmste gefasst sein.“
Garón hörte nur mit einem Ohr hin. Sein Herz wollte schier zerspringen. Eine zentnerschwere Last schwand von seinen Schultern und ließ ihn höher gleiten, in die Wolken. Als er in den Hühnerstall ging, war die Zeit angehalten. Qabitha sagte irgendetwas, das er nicht hörte; sie war zu weit entfernt von seiner kleinen Goldwelt. Der mit Verband umwickelte Leib des Wolfs lag so friedlich auf dem Boden zwischen vermoderndem Holz. Er schlief. Aber als Garón seine Hand ihm auf den Kopf legte, zuckte er kurz. Das Fell war so weich und auf eine nicht näher bestimmbare Art und Weise seltsam. Er hatte es schon gemerkt, als er ihn das erste Mal berührt hatte. Es fühlte sich weicher als Seide an, war fest und fein. Aber da war noch etwas. Als wäre es beschichtet mit einem eigenartigen Stoff, den man eher im Kopf als auf der Hand spürte. Er ließ seine Hand weiter herunter gleiten, bis er den Herzschlag spüren konnte.
„Er ist ein so wunderschönes Tier“, murmelte er in seine Bartstoppeln. „Ich habe noch nie etwas gesehen, das so wunderschön war.“
Ein müdes Kichern erklang. „Und außerdem ist er eine Sie.“
„So?“ Er betrachtete den Wolf genauer. „Auch gut … irgendwie passt es so besser.“
„Wir müssen sie füttern“, fuhr Qabitha fort. „Ich glaube, wenn wir ihr etwas weiches Fleisch geben, wird sie schon bald wieder auf die Beine kommen.“
„Hmmmmm.“
„Es wäre wohl besser, wenn wir niemandem davon erzählen – die Bauern reagieren immer sehr empfindlich auf Wölfe. Egal ob sie klein oder groß sind.“
„Mm-hm.“
„Ich werde mal sehen, was ich noch tun kann. Die Verbände müssen ab und zu gewechselt werden, damit die Wunden sauber bleiben. Darum wirst du dich kümmern müssen. Du weißt ja jetzt, wie es geht.“
Sie. Der Kleine ist eine Wölfin.


„Und wenn sie wieder genug Kraft hat, müssen wir zusehen, dass wir sie wieder in die Wildnis aussetzen. Wir können sie schließlich nicht für immer hier in dem kleinen Stall lassen.“
„Hm? Ja ja.“
„Garón? Ich meine das ernst. Wir können sie nicht hier lassen.“
Er streichelte sie stumm.
„Wirst du es tun?“
Goldklänge.
Sie ließ die Hände hörbar an die Seiten fallen. „Ich muss jetzt schlafen.“ Noch während sie sprach, gähnte sie. Sie drehte sich zum Gehen um und sagte sarkastisch: „Dann kannst du dir ja schon einmal einen Namen überlegen.“ Sie wurde immer kleiner, je weiter sie entfernt war.
Um Garón und die Wölfin war es still geworden. Durch ein Loch in der Wand fiel warmes Licht, das sich über sie legte.
„Das hab ich schon“, sagte Garón im Traum. Denn für ihn war es einer. Er empfand jetzt etwas für sie, das er vorher selten so gefühlt hatte.
Liebe. Er liebte die Kleine. Seine kleine Wölfin. Die mit dem braunen und dem blauen Auge, das ihn dort, wo die drei Welten aneinander grenzten, angestarrt hatte, als wüsste sie bereits, dass alles gut, jetzt alles gut werden würde. Das blaue Auge, in dem ein Meer aus Saphiren gegen endlose Strände wogte. So tief wie der Abendhimmel. Ein tiefes Blau. Ein Meer.
„Meerauge“, sagte er, und als er es sprach, öffnete sie die Augen und blickte ihn an. Es war richtig. Es war gut.
Es waren ihre Herzen, die im gleichen Takt schlugen.

Niemand vermisste ihn. Alle waren damit beschäftigt, die stummen Zeugen des vergangenen Festes zu beseitigen. Jeder sprach davon, dass es das wohl schönste aller Zeiten gewesen sei. Diese Meinung wiederholte sich allerdings im Rhythmus von fünf Jahren. Nun, alle halfen dann doch nicht. Die meisten von Garóns Freunden lagen auch am späten Nachmittag noch in den Betten und schliefen ihren Rausch aus. Wenn sie aufwachten, würden sie sich wünschen, noch zu schlafen. Aber mit solchen Kopfschmerzen war das nicht möglich. Abends würde der Wind auffrischen und einige Lampions fort wehen. Am nächsten Tag dann würden erste kleine Wolkenhaufen über den Himmel ziehen, die sich mit der Zeit vermehren und auftürmen sollten. Gleichzeitig würde Veit, der dann zusammen mit seinem Vater auf der Jagd sein würde, die Blutspuren und kurz darauf die Kadaver finden.
Und dann würde der Sturm losbrechen.
Doch heute wusste niemand davon oder ahnte etwas. Die Zukunft war wie ein nebliger Tag, verschwommen, und man wusste nie, was sich hinter der grauen Wand verbergen konnte, aber man wusste, dass man es schon sehr bald erfahren sollte.
Garón verbrachte die meiste Zeit des Tages bei Meerauge. Nur manchmal ging er nach Hause, aß etwas und kam sofort wieder zurück. Wenn er sie auch nur eine Minute aus den Augen ließ, plagten ihn Vorstellungen, dass sie nun doch noch sterben würde. Oder dass ein anderer sie fand.
Aber nichts dergleichen geschah.
Wenn er sich an ihr Fell schmiegte, fühlte er in seinem Innern Wärme. Ihre Wärme. Wie oft hatte er sich dieses Gefühl vorgestellt; jemanden zu haben, an den man sich lehnen konnte. Dabei war es egal, neben wem man lag. Sei es Mensch oder Wolf. Dass man sich liebte, darauf kam es an. Ob ein Wolf so lieben konnte wie ein Mensch? Wer konnte das schon genau sagen? Ob Meerauge ihn, Garón, dafür liebte, dass er sie gerettet hatte? Er wusste es nicht, auch wenn er es auf unbestimmte Weise spüren konnte. Vielleicht bildete er sich es auch nur ein. Vielleicht wünschte er es sich einfach zu sehr. Aber es stand fest, dass er für dieses Tier so empfand wie für einen Menschen. Behutsam kraulte er Meerauge hinterm Ohr, das sie daraufhin anlegte. Sie schloss die Augen etwas, legte den Kopf schief, zuckte mit der Pfote. Es gefiel ihr. Als Garón kurz aufhörte, stupste sie ihn mit der Nase an, dass er doch weitermachen sollte. Und er tat es. Wenn es ihr Wunsch war, würde er es tun. Er atmete tief durch die Nase ein, sog ihren Duft auf. Der staubige Geruch des alten Hühnerstalls vermischte sich mit dem des satten Sommergrases und dem, der von ihrem Fell ausging – Walderde, Blut, Verbandsstoff und etwas leicht Süßliches. Zwar wusste er nicht, woher es stammte, doch er glaubte, die Antwort zu wissen. So musste es riechen, wenn Licht und Schatten gleichzeitig an dem selben Ort auftauchten. Vereint in diesem wunderschönen Tier. Mit dem Finger spielte er an den kurzen Krallen ihrer Vorderpfote. Es war richtig niedlich. Als er aufhörte, schaute er hinaus aus dem Stall. Am Sonnenstand erkannte er, dass es noch nicht lange nach zwei sein konnte, spätestens halb drei. Garón schmunzelte. Zeit, die Verbände zu wechseln. Bevor er begann, beugte er sich zu ihr herunter, Stirn an Stirn, Auge an Auge. Er sprach so leise, er selbst hörte seine Worte nicht: „Ich werde jetzt den Verband abnehmen. Es wird nicht sehr wehtun. Bleib ganz ruhig.“
Dann machte er sich an die Arbeit. Langsam entfernte er den Stoff und begutachtete die Wunden. Sie sahen gut aus, längst nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Qabitha hatte es ihm gesagt, wenn er sich recht erinnerte, war sich aber nicht sicher. Bisse und Kratzer formten hässliche rote Schluchten an ihrem Körper. „Wer hat dir das nur angetan“, murmelte er. Nachdem alles entfernt war, träufelte er ein wenig der Medizin, die ihm seine Schwester da gelassen hatte, auf den frischen Verband und legte ihn an. Garón achtete darauf, ihn nicht zu fest und nicht zu schlaff anzubringen. Am Ende war er ganz zufrieden. Lächelnd streichelte er sie. „Braves Mädchen“, sagte er.
Meerauge hatte während der gesamten Zeit weder gejault noch gezuckt.

Nur kurz darauf kam Qabitha wieder. Sie sah schon besser aus als am Morgen, machte dennoch einen erschöpften Eindruck. In beiden Händen hielt sie Eimer – einer mit Wasser, einer mit etwas Fleisch.
„Wie geht es ihr?“
„Gut, denke ich. Ich hab den Verband gewechselt.“
„Vater hatte recht, du bist doch zu etwas nütze.“ Die kleinen Sticheleien war er gewohnt. Es störte ihn nicht. Nicht mehr – nicht jetzt.
Sobald sie zur Tür hereinkamen, sah Qabitha nach dem Verband. „Das hast du wirklich gut gemacht“, sagte sie. „Man könnte meinen, du machst das schon seit Jahren.“ Ein schiefes Lächeln.
„Ich hab mir nun mal Mühe gegeben.“
Sie stieß Luft zwischen den Zähnen aus. „Wenn du nur bei allem so besonnen und pflichtbewusst wärst. Wir müssen sie jetzt füttern ...“
„Das kann ich machen“, rief er beinahe und schnellte zu dem Eimer mit der Nahrung darin.
„Immer mit der Ruhe, immer mit der Ruhe. Gut, wenn du es willst. Du kannst von Glück sagen, dass Vater und Nema noch unten im Dorf aufräumen sind.“ Nema war Bruns zweite Ehefrau. Noch auffälliger als ihr gellendes Gelächter waren ihre strohblonden Haare, in denen feine Broschen ihrer verstorbenen Großmutter steckten und die sie in den Kniekehlen kitzelten, so lang waren sie. Aber sie hatte einen von Grund auf guten Charakter, nett und höflich, höflich und nett, und immer recht freundlich; das schien ihr Motto zu sein. „Sonst hätten sie gefragt, was ich mit dem wertvollen Fleisch vorhabe, und vor allem, wo du dich die ganze Zeit herumdrückst.“
„Dir wäre schon etwas eingefallen“, sagte Garón und gab Meerauge ein kleines Stück zu essen.
„Gib ihr nicht zu viel“, wandte Qabitha ein und deutete auf den Eimer, „das hier muss erstmal reichen für heute. Sie ist sowieso noch zu schwach, um mehr vertragen von können. Mal sehen, ob ich morgen wieder etwas auftreiben kann.“ Ihr Bruder beachtete sie gar nicht.
Sie wollte noch einmal mit ihm besprechen, wann sie Garóns neues „Haustier“ wieder auswildern sollten, aber es war zwecklos. Für dieses Thema verschloss er seine Ohren gänzlich.

Dann war sie weg. Garón und Meerauge waren wieder allein. Den Eimerinhalt hatte er bereits vollständig verfüttert. Von draußen sickerten nur wenige Geräusche hinein. Es war gegen vier Uhr. Der Tag schien endlos zu sein. Gut so. Es durfte auch ruhig so weitergehen. Dass es das nicht tun würde, sollte er in naher Zukunft merken. Und danach sollte es immer deutlicher für ihn werden. Aber nicht jetzt, nicht hier. Noch war alles wundervoll klar wie ein Saphir.
Garón saß auf dem Boden. Die junge Wölfin vor ihm. Er kraulte ihr Ohr. Fast zwanghaft. Immer wieder dieselbe Handbewegung. Seine Fingerkuppen begannen, taub zu werden. Er glaubte sogar, dass sie sich mit der Zeit genauso merkwürdig anfühlen würden wie ihr Fell, weich und seidig und … noch etwas. Was immer es sein sollte. In seinem Handgelenk hatte sich schon ein Punkt des Schmerzes gebildet. Bei jeder Bewegung. Schmerz. Dumpf. Sich ausbreitend. Wie ein Spinnennetz. Bewegung. Schmerz. Bewegung. Schmerz. Der gleiche immer wiederkehrende Ablauf.
Er starrte Meerauge an. Seine Lider zuckten kurz.
„Sie werden dich mir nicht wegnehmen“, versprach er ihr. Seine Stimme war nicht mehr als ein zischendes Flüstern. „Das werde ich nicht zulassen.“


2 Die Familie Konder gehörte zu den ältesten diesseits der Wälder. Als damals die ersten Menschen aus dem Norden kamen, schritten die Vorfahren der Fischerfamilie aus Halicos voran. Zusammen mit vielen anderen Familien, deren Namen aber nicht in den Geschichtsbüchern stehen und längst wieder aus der Welt verschwunden sind, bauten sie die erste Siedlung. Aus ihr sollte mit der Zeit Duhran, Hauptstadt der Östlichen Ländereien und Sitz des Königshauses entstehen. Das war vor über achthundert Jahren gewesen.
Kalec Konder, auch „der Tolle“ genannt, überschritt als erster Mensch die Schwelle. Viele hatte diese riesigen, unendlichen Landschaften geschreckt – niemand wusste, was da draußen sein sollte. Kalec jedoch war nicht wie die meisten, ihn hatte es gereizt, das Unerforschte zu ergründen. Niemand weiß mehr genau, was damals geschah. Jedoch wird überliefert, dass Kalec auf sich allein gestellt und ohne Vorräten hinaus in die Wildnis schritt. „Mit nichts als seiner Haut und dem Leder, das ihn schützte“, so sagte es die Geschichte, „trat er hinaus und bezwang die Furcht.“ Eine etwas romantische Beschreibung der Geschehnisse. Tatsächlich aber kehrte er nach über einem Monat zurück; unrasiert, ungepflegt, zerkratzt, blutend, schmutzig, voller blauer Flecken, sogar mit einem verstauchten Knöchel und Zweigen in den Haaren, aber auch mit einem unheimlichen Leuchten in den Augen. Wie man berichtet, soll seine Tochter seit dem Beginn seiner Reise Nacht und Tag an der Schwelle verbracht haben, hoffnungsvoll den Blick nach dem Horizont gerichtet. Eine Quelle schrieb nieder, wie es sich zugetragen haben soll:
„... und was der Himmel verschluckte, das spie der Boden wieder aus. Wie den Untiefen entstiegen schien er, geschändet und misshandelt war er, doch nicht minder die Begeisterung, die sein Erscheinen auslöste. Mann und Frau und Kind standen ehrfurchtsvoll und mit gaffenden Mäulern. Einzig die Tochter des Tollen lag auf den Knien und bedeckte ihr Gesicht. Sacht nahm der Vater da die Hände seines Fleisch und Bluts, richtete sie auf, und was sie in seinen Augen las und in seinem Flüstern hörte, das schrie sie dann hinaus:
„Das ist es wahrlich! Das ist es! Das ist das wahre Licht des Himmels!“
Und Mann und Frau und Kind packten beide und trugen sie auf Händen in die Stadt. Und wer noch vor einem Mond schlotterte und spottete, der stand nun als erster an der Schwelle und hievte all sein Gut darüber und lief hinaus, auf dass er jenes Licht des Himmels finde.“


Dieses Ereignis datiert die Erschließung der südlichen Täler.
Das war vor mehr als siebenhundert Jahren.
Was auch immer Kalec Konder der Tolle damals in der Wildnis gesehen haben mochte, das Märchen über die Lichter des Himmels gelangte sogar bis über das Gebirge. Fast jedes Kind kannte es.
Die Wahrheit wussten nur wenige.
Der Tolle war in der Historie des Landes eine sehr berühmte Persönlichkeit und seine Nachkommen zollten ihm daher nicht grundlos Respekt. Es kam nicht selten vor, dass man seinen Kindern den Namen des bekannten Vorfahren gab. Und seinen Töchtern den Namen der Frau, die wartend an der Schwelle gestanden und in das unendliche Blau und Grün geblickt hatte: Tessatha.

Kalec Konder aus Halicos saß schon wieder über seinen Fischernetzen. Er war ein Mann der Tat. Wenn er nicht schlief, dann ging er fischen. Wenn er nicht fischte, dann half er anderswo im Dorf aus. Wenn er nirgendwo aushelfen konnte, dann ging er spazieren. Und dazwischen fand er immer noch Zeit, sich um seine Netze zu kümmern. Nichtstun war Gift für ihn. Er fühlte sich sogar unnütz, wenn er nicht wenigstens seiner Frau im Haus half. Sich auf die Arbeit zu konzentrieren, schien sein Leben zu sein. Früh aufstehen und den ganzen Tag nutzen. Keine Sekunde sollte verschwendet sein.
Auch wenn seine Söhne ihm oftmals halfen, er war der einzige Fischer hier in der Umgebung. Daher gab es auch immer genügend Fische in dem See im Wald, der vor Forellen nur so strotzte. Mit Sonnenaufgang brach er auf und kam am frühen Nachmittag zurück. Es war nie anders gewesen. Trotzdem war es bei Weitem nicht genug für alle Bewohner Halicos'. Deshalb war Fisch auch mehr eine Beilage denn ein eigenständiges Gericht. Aber Kalecs Arbeit wurde gewürdigt.
Und mehr verlangte er überhaupt nicht.
Er hatte eigentlich genug Netze.
Die Maschen waren fein und regelmäßig. Alle hatte er von Hand gefertigt. Das erste was er tat, bevor er Morgens zum Fischen aufbrach, war das Überprüfen der Netze. Meist hatten ein oder zwei ein kleines Loch. Diese sortierte er dann aus und nahm die restlichen mit, die er brauchte – das waren noch lange nicht alle. Kam er wieder zurück und hatte alles erledigt und der Tag neigte sich ganz allmählich, dann setzte er sich auf auf einen kleinen Stuhl vor dem Haus und reparierte, was zu reparieren war.
Gerade war er mit dem zweiten Netz fertig geworden. Ja, es waren wieder zwei gewesen, die er am Morgen hatte liegen lassen müssen.
Kurz überlegte er, ob er noch etwas tun konnte, ehe er am Abend runter nach Halicos ging – das Konderhaus war etwa eineinhalb Kilometer vom Dorf entfernt – und sich über die Restbestände an Fisch informierte. Das war eigentlich nicht nötig. Man konnte sich darauf verlassen, dass der Fisch nach spätestens zwei Stunden vergriffen war. Seit über zwanzig Jahren war es so. Die Händler kannten dieses Ritual. Hinter seinem Rücken belächelten sie Kalec deswegen ein wenig.
Er kam zu dem Schluss, dass er nichts tun könnte bis dahin.
Kalec legte das Netz beiseite und begann damit, ein neues zu fertigen.

Tessatha Konder, von allen aber nur Tessi genannt, war wütend. Auf sich selbst. Sie hatte Garon entwischen lassen. Hatte es nicht geschafft, ihn wenigstens einen Abend lang für sich zu gewinnen. Dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben mit dem Kleid. Sie war zu engstirnig und unkonzentriert gewesen. Vielleicht wäre es auch gar nicht richtig gewesen? Normalerweise hätte sie Veits Aufforderung, mit ihm tanzen zu gehen, ausgeschlagen; irgendwie konnte sie ihn nicht leiden. Wie viele der anderen Jungen auch. Aber nicht Garón. Nein. Er war von allen der netteste und freundlichste. Sie hatte in den letzten Jahren einiges versucht. Gestern war es etwas Neues gewesen. Tessi fühlte sich schäbig. Wie hatte sie sich nur dazu hinreißen lassen können, Veit auszunutzen, um Garón eifersüchtig zu machen? Das sah ihr gar nicht ähnlich.
Umso mehr ärgerte es sie, dass er sie nicht einmal beim Tanzen gesehen hatte. So schnell, wie er gestern verschwunden war.
Du bist auch selbst schuld.


„Erzähl mir etwas Neues.“
Sie hasste Selbstgespräche.
So richtig wusste sie gar nicht, wohin sie ging. Sie war mit dem Gedanken aus dem Haus gegangen, zu Garón zu gehen. Aber ob sie es noch wollte, war eine andere Frage. Irgendwie sträubte sie sich. Ihr Körper wollte geradezu explodieren, so unentschlossen war sie. Bezeichnend dafür war, wie planlos sie durch die hügeligen Wiesen streifte. Normalerweise hätte sie ungefähr zehn Minuten laufen müssen.
Jetzt waren es vierzig.
Sie hatte lange nachgedacht. Nicht nur über das Fest. Auch über die letzten Jahre. Über ihre Gefühle. Was sie alles getan hatte. Was sie nicht getan hatte, obwohl sie es hatte tun wollen.
Und das alles kehrte jedes mal zu dem gleichen Resultat: sie liebte Garón. Aber er sie nicht. So einfach war das.
Aber trotzdem so schwer. Ungerecht. Warum konnte sie ihn nicht haben?
Oder war doch alles anders?
Tessi musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu schreien.
Sie wollte sich zerreißen. Jetzt auf der Stelle. Weil sie alles falsch gemacht hatte. Für jedes dumme Wort, für jede noch so kleine Geste wollte sie ein kleines Loch in ihren Körper stechen – und es wären so viele, dass keine Sehne sie mehr hätte zusammenhalten können.
Mit geballten Fäusten schlug sie durch die Luft. Das wollte sie, musste sie jetzt tun. Sie war voller Wut – Wut – Wut.
Und dann im nächsten Moment …
Manchmal verstand sie es nicht. Dass Wut einfach verpuffte. Sie war jedenfalls weg, als hätte sie ein großer Vogel mit seinen Schwingen weg gewischt. Sekundenlang war sie ohne Gefühl. Stand regungslos.
Wo sie war? Sie wusste es nicht wirklich. „Irgendwo zwischen dort, wo du nicht sein solltest, und dort, wo du nicht hingehörst“, zitierte sie ihre Mutter. Sätze wie diese sagte sie ständig.
Ihre Schultern hingen herab. Resignation. Das war es also.
Schritt für Schritt. Tessi durchquerte raschelndes Gras, das ihre Knie kitzelte. Sie hatte wieder ihr gewöhnliches beigefarbenes Kleid an, nicht mehr das schöne von letzter Nacht. Es gefiel ihr. Beige war ihre Lieblingsfarbe. Aber gleichzeitig mochte sie es nicht. Es war langweilig. Ob andere Kleidung geholfen hätte, um Garón zu gefallen? Sie hätte einfach mehr Wert auf ihr Äußeres legen müssen. Aber es wurde ihr nicht leicht gemacht. Schließlich war sie unter sechs Brüdern aufgewachsen. Als einzige Tochter der Familie Konder.
Wieder wurde ihr ein Fehler bewusst. Aber bevor die altgewohnte Selbstkritik begann, wurde sie abgelenkt.
„Garón.“
Sie murmelte. Mehr konnte sie im Augenblick nicht. Zu überrascht.
Wo war sie, beim Himmel?
Sie schaute sich um. Links von ihr, gar nicht weit entfernt, stand ein vergleichsweise kleiner Stall, dahinter ragte der Giebel eines Wohnhauses auf. Auf das Strohdach wurde der Schatten einer einzelnen Wolke geworfen. Sie war auf dem Land der DeBehrs. Aber sie war von der rückwärtigen, dem Dorf abgewandten Seite gekommen, deshalb war es ihr nicht gleich aufgefallen.
Was ihr aber sofort ins Auge fiel, war er. In seiner Hand schwenkte ein Holzeimer hin und her. Garón kehrte ihr den Rücken zu.
Sie öffnete bereits den Mund, um ihn zu rufen, doch dann erstarrte sie zu Eis. Ihre Gelenke knackten, während sie eine Faust bildete. Kalter Schweiß auf der Stirn. In der Brust eine nur zu bekannte Hitze. Und dazwischen, im Hals, wo beides aufeinander traf, ein riesiger Knoten.
Was sollte sie jetzt tun?
Weglaufen.
Bleiben.
Gaffen.
Rufen.
Irgendetwas Sinnvolles

.
Ihre Augenlider zuckten wild, als ob kleine Geister auf ihrem Gesicht an ihnen zerren würden. Sie atmete hörbar ein und aus und ein und aus.
Sie tat etwas Sinnvolles. Tessi Konder war jetzt dort, wo sie sein sollte.
Garón ging zu einer kleinen Hütte, in der früher Hühner gehalten worden waren.
Und sie ging auch.

Die Angst, Meerauge würde plötzlich sterben – die ihn stets begleitet hatte, wenn er den alten Stall verließ –, schwand mit jeder Stunde mehr. Stattdessen beschäftigten ihn neue Fragen:
Was, wenn sie jemand fand? Was würden diejenigen dann tun?
Was würde er tun?
Darüber würde er sich auch später noch Gedanken machen können. Vielleicht heute Abend, wenn er in seinem Bett lag. Oder besser noch, er würde die Nacht heute im Stall verbringen. Zumindest diese eine. Und vielleicht die nächste. Irgendetwas würde er sich ausdenken, dass sein Vater keinen Verdacht schöpfte. War es realistisch, wenn er bei Veit schlafen wollte? Jedenfalls nur, wenn er an diesem Tag aus eigener Kraft aufstehen konnte.
Genau das gleiche Problem hatte er mit dem Wasser. Im richtigen Stall war kein unbegrenzter Vorrat, und die Rinder mussten auch trinken. Vielleicht konnte er Tessis Brüder überreden, es noch heute wieder aufzufüllen.
Alle Konderjungen waren jünger als er selbst. Sie waren eine der wenigen Familien gewesen, die keinen Sohn zum König hatte schicken müssen. Es waren zweimal Zwillinge – vierzehn beziehungsweise fünf Jahre alt – und noch zwei weitere, die elf und sieben waren. Mit den ältesten verstand er sich recht gut. Sie halfen ihrem Vater häufig beim Fischen, und bei dieser Gelegenheit füllten sie den Holztank, den Brun DeBehr selbst gebaut hatte; und stolz darauf war. Er war groß und schwer und musste von den Rindern gezogen werden. Es war im Prinzip eine andauernde Gegenleistung. Brun und Kalec waren enge Freunde. Als Kalec heiratete, schenkte Brun ihm das Haus, in dem die Familie Konder seither lebte. Davon war er so gerührt gewesen, dass er es irgendwie vergelten wollte. Brun hatte es immer abgelehnt. Erst, als Brun selbst wieder heiratete, kam er darauf zurück. Seither kamen jeden Sonntag Nachmittag die Konderjungen.
Das wäre in zwei Tagen.
Es war schon recht spät. Sie würden frühestens morgen wieder an den See gehen. Er würde nachher zu ihnen gehen. Ob es überhaupt einen Zweck hatte, müsste er kurzfristig entscheiden.
An Tessi dachte er dabei keine Sekunde lang.
Das Wasser im Holzeimer schwappte fröhlich. Die Wölfin hatte großen Durst. Es war bereits der vierte heute. Nun gut, er selbst hatte auch getrunken. Und dann hatte er die Wunden reinigen müssen. Dennoch, das meiste hatte die mit dem meerblauen Auge verbraucht. Es hatte Garón richtig Freude bereitet, ihr dabei zuzusehen. Ständig hatte er ein kleines Lächeln auf den Lippen gehabt.
Er hatte es wieder auf, als er die knarrende Tür öffnete. Meerauge sah wesentlich gesünder aus als noch am Vortag. Sie musste ihn bereits erwartet haben; ihr Kopf war gehoben und in seine Richtung gewandt, außerdem richtete sie ihre Ohren etwas auf. Eine Geste, die Garón nur zu gern hatte.
„Hast du auf mich gewartet?“
Sie wedelte mit dem Schwanz.
In Garóns Bauch kribbelte es. Er kniete sich hin und hielt den Eimer etwas schräg, dass sie trinken konnte. Sie tat es eifrig. Ihre Zunge schnellte in das Wasser und wieder heraus. Nachdem sie fertig war, stellte er den Eimer etwas abseits und betrachtete die kleine junge Wölfin, die seinen Blick erwiderte. Garon kraulte sie zwischen den Augen. Diese schloss sie halb und legte die Ohren an. Wieder einer dieser perfekten Momente.
„Was machst du da?“
Garón wirbelte umher und sprang auf. Er verlor das Gleichgewicht, und als er einen kleinen Schritt zurück machte, um nicht zu fallen, trat er auf eine von Meerauges Pfoten. Sie heulte auf und winselte. Sofort war Garón wieder unten, streichelte die Pfote mit besorgtem Gesicht. Seine Nackenmuskeln verkrampften sich. Er konnte den Kopf nicht umdrehen, und als er es versuchte, zuckte sein Schädel nur unkontrolliert. Heiße Luft stieß er aus, jedes Haar an ihm sträubte sich, während er an die die Person hinter ihm dachte. Dann richtete er sich wieder auf, vorsichtiger, aber dennoch ruckartig. Der Schweiß hatte seine Stirn bedeckt wie Tau das Gras. Und in seinem Mund war wieder dieser seltsame Geschmack.
Er war zu geschockt, um sich zu beruhigen. Deswegen brauchte er drei Anläufe, um sprechen zu können. Noch während er es dann sagte, wunderte er sich, wie ruhig seine Stimme doch klang.
„Warum bist du hier?“

Anfangs hatte sie nur auf Garón geschaut. Als sie jedoch das Heulen gehört hatte, waren ihre Blicke sofort auf den Wolf gerichtet, und sie konnte sie nicht davon abwenden. Auch nicht, als er, Garon, sie ansprach. Sie drückte ihren Körper gegen den Türrahmen, halb vor dem Schreck, den Garons plötzliches Hochfahren ihr verpasst hatte, und halb aus Furcht vor dem wilden Tier. Schnappend holte sie Luft. Noch nie war sie einem lebenden Wolf begegnet – und nun stand sie vor einem dieser Bestien. Monster, Abscheulichkeit, Plage. Das alles waren Namen der Dorfbewohner. Seit Kindesalter hatte man sie gewarnt. Wenn du einem Wolf allein begegnest, lauf oder kletter auf einen Baum. Wenn ihr zu zweit oder zu dritt seid, versucht ihn zu verscheuchen. Und wenn ihr mehrere seid … setzt alles daran und lasst nichts unversucht, ihn zu töten.


„Da-da-da-da-da ...“, mehr brachte sie nicht heraus. Ihre Beine gaben nach, und sie musste sich mit den Händen stützen.
Jeder Wolf ist eine Bestie, und je weniger es von ihnen gibt, desto besser.


„Ei-einein-ei ...“
Sie reißen dich ein klitzekleine Stücke und lassen nichts übrig.


„Wol...“ Sie schluckte. Unter ihren Armen hatten sich kleine dunkle Flecken gebildet. „Woooo-hmmmmmhhmmm.“
„Schhhhh!“, zischte Garón. Er hatte ihr eine Hand auf den Mund gedrückt. Ihre Augen waren aufgerissen. Seine ebenso. Sie hatte Angst. Er auch. Sie fürchtete den Wolf. Er fürchtete sie.
Aus ihrer Nase lief ein kleiner Tropfen und fiel auf Garóns Hand. Noch nie im Leben hatte sie eine solche Angst gehabt. Eine gefährliche Kreatur, nur zwei Schritte vor ihr, und dieses abscheuliche Heulen! Tessas Augen wurden wässrig.
„Ich werde jetzt gleich meine Hand wegnehmen“, sagte Garón nach einer Weile. Er sprach so ruhig wie vorher, allerdings bebte seine Stimme seltsam. Sein ganzer Körper tat es auch, während eine Welle Adrenalin nach der anderen ihn schüttelte. Er schaute abwechselnd sie und den Türrahmen hinter ihr an. Wenn sie schrie, könnte man sie hören. Dann würden andere kommen. Und die würden garantiert nicht einfach zu Eis erstarren; sie würden handeln.
Und er wusste nur zu gut, was das bedeutete.
Also musste er verhindern, dass das eintrat. Mit allen Mitteln, wenn es sein musste.
„Und wenn ich das getan habe“, fuhr er fort und leckte sich die Lippen, „wirst du ganz ruhig bleiben. Einverstanden?“
Jetzt kam die erste Träne. Sie nickte. Was hast du nur mit mit vor?


„Sehr gut. Aber bevor ich loslasse, musst du mir noch zwei Dinge versprechen. Okay?“
Sie hatte schließlich keine Wahl. So, wie er ihre Lippen gegen ihre Zähne drückte – Garón war unglaublich angespannt.
Er schluckte.
„Das erste, was du mir versprichst, ist, dass du bitte weder schreien noch weglaufen wirst, wenn ich meine Hand jetzt gleich runter lasse. Versprichst du es?“
Sie reagierte nicht sofort. Nach nicht einmal drei Sekunden verstärkte er kurz den Druck. „Versprichst du es?

“ Speichel folgten den Worten, die er durch geschlossene Zähne zischte. Was war das? Zorn? Wahn?
Nichts an dieser ganzen Sache wollte stimmen, alles war so furchtbar unrealistisch. Während weitere Tränen ihre Wangen befeuchteten, nickte sie erneut.
Garón atmete schnell und laut. Kurz schwieg er, schien sich zu sammeln, keuchte, als würde man ihm große Schmerzen bereiten, schließlich hielt er die Luft an und presste die nächsten Worte aus: „Und versprichst du auch, niemandem von ihr zu erzählen?“
Flehentlich schaute er sie an. Die Lippen ein weißer Strich. Die Hand zittriger, aber immer noch kräftig. Der noch nicht vollständig ausgeprägte Adamsapfel hüpfte.
Tessi tat nichts. Die Angst war nach wie vor wie Gift, das durch ihre Venen pochte, aber sie zwang sich die Kontrolle zu behalten. Allmählich schaffte sie es, ruhiger zu werden. Sie hatte Garón noch nie zuvor so gesehen.
Aber es war immer noch Garón.
Sie nickte.
Anfangs geschah noch nichts, und sie hatte bereits eine unangenehme Befürchtung, doch dann merkte sie, wie seine Finger langsam von ihrem Mund glitten. Er beobachtete sie angespannt. Bereit, wieder zuzupacken, wenn es denn sein musste.
Doch dafür gab es keinen Anlass. Tessi richtete sich nur sorgfältig auf. An ihrem Kleid waren einige Holzsplitter des Türrahmens hängen geblieben. Sie rang um Fassung. Doch das fiel ihr nicht unbedingt leicht. Wie sie feststellen musste, starrte dieses … Biest sie von unten her an. Diese eindringlichen Augen

.
„Kannst du mir bitte erklären“, sagte sie zu Garón, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, und versuchte vergebens, diesen Blick zu ignorieren, „was das alles zu bedeuten hat – was das

da zu bedeuten hat?“ Sie hob nur kurz ihr Kinn in Richtung des Wolfs; ihre Hände presste Tessi gegen das Holz. Auch in ihr Fleisch wurden einige Holzsplitter getrieben, aber sie achtete nicht darauf.
Garón war damit beschäftigt, die Ruhe zu bewahren. Hinter seiner linken Schläfe war ein stärker werdender Schmerz, den er seit Jahren nicht mehr dort gespürt hatte. „Bitte bleib ganz ruhig“, sagte er leise zu ihr und hob beschwichtigend eine Hand. Dann kam er einen Schritt näher; das Geräusch, mit dem er über den Boden schleifte, war kratzig und hörte sich unangenehm an: so klang Staub.
Tessi rückte um Millimeter zur Seite. Weiter zur Tür.
Garón erkannte das und blieb stehen. Einen Moment lang schwiegen sie sich an. Die Luft war so gespannt wie die Sehne eines Bogens, die jeden Augenblick einen tödlichen Pfeil verschießen würde. Wen er traf, das war noch nicht entschieden.
Er sagte: „Wenn du vorhast, den anderen von ihr zu erzählen“ – er nickte zu Meerauge hinunter – „ich bitte dich inständig, es nicht zu tun.“
„Nenne mir einen Grund“, zischte sie ängstlich.
„Du hast es versprochen.“ Das war sein Strohhalm, an den er sich klammerte.
„Warum beschützt du dieses Monster auch noch?“ Fassungslos zog sie ihre Augenbrauen zusammen, sodass eine Falte auf ihrer Stirn erschien. „Jeder weiß, was sie tun und warum sie es tun.“
„Was tun sie denn?“ So ruhig er sprach, er konnte nicht verhindern, dass sein Kiefer zuckte und seine Knöchel knackten, als er seine Hände zu Fäusten ballte.
„Sie reißen Vieh, sie jagen durch den Wald und töten alles, was sie fressen können!“
„Und warum tun sie das?“
„Das sind Bestien!


„Beantworte meine Frage.“
„Hat dir dein Vater das nicht erzählt?“
Er verneinte, und das war die Wahrheit. Natürlich war er von ihm gewarnt worden, als er, Garón, noch jünger gewesen war. Aber sein Vater hatte mit den Gruselgeschichten gespart.
„Du glaubst doch nicht, dass ...“
„Aber die Lügen der Bauern soll ich glauben?“ Es war weniger eine Frage als ein wütender Ausruf. Garón versuchte sich zu beherrschen, obwohl sein Herz raste und das Blut durch seinen Körper pochte und rannte und unaufhaltsam zirkulierte.
„Sie werden es besser wissen als du“, stellte Tessi selbstsicher fest. Sie hatte den Satz kaum beendet, als ihr Gegenüber auch schon wieder sprach.
„Sie wissen gar nichts!“, fauchte er. „Sie verstehen

nichts! Sie glauben

die Märchen ihrer Großeltern und Vorväter und verlassen

sich darauf! Sie denken nicht nach, sie interessiert es nicht, ob diese Lügen stimmen. Sie wollen

nicht verstehen, nicht wissen, nicht nachdenken. Alles, worum sie sich kümmern, sind ihre Schweine und Rinder und dass sie sie schlachten können um sich fett zu fressen und das Fleisch zu verkaufen!“ Und nach einer kurzen Pause – Tessi war in sich zusammengesunken und hörte mit tränenden Augen zu; tränende Augen, weil sie nicht glauben konnte, was mit Garón los war – fort: „Sie

sind die Monster, sie sollte man jagen und nicht diese … diese wunderschönen Tiere.“ Wie aus einem Traum erwacht, waren seine letzten Worte leise, nicht mehr so verständlich wie zuvor. Er schaute sich zu Meerauge um, die ihrerseits ihn ansah. Ihre Ohren hingen herab und ihr Kopf lag flach auf dem Holzboden zwischen ihren Pfoten. Garón kniete sich hin, streckte die Hand, wie um sie am Kopf zu streicheln, dann stockte er und zog sie zurück.
„Was?“, fragte er an Tessi gewandt. Als er die Hand ausgestreckt hatte, war ihr ein kleiner Aufschrei entflohen, die sie auch mit der vor den Mund gelegten Hand nicht hatte aufhalten können.
„Sie ist ganz sanft“, sagte Garón liebevoll. Innerhalb von Sekunden war seine Wut verschwunden.
„Schau.“ Er nahm wieder seine Hand, näherte sich langsam der Wölfin und kraulte sie zwischen den Augen.
„Sie ist so leicht, selbst du könntest sie tragen. Und sie ist sogar noch kleiner als dein jüngster Bruder.“ Er leckte seine Lippen. Tessi sah es nicht, denn er war zu dem Tier gerichtet, aber er hatte einen leicht traurigen Blick angenommen. „Wie kannst du dich da fürchten?“
Erst war es still. In diesem Augenblick wusste Garón nicht, ob sie noch immer hinter ihm an den Türrahmen gepresst dastand oder bereits fortgelaufen war und die anderen holte. Aber er hörte leises Knarren und Scharren, und aus dem Augenwinkel sah er die Falten ihres Kleides. Beige, eine schöne Farbe, wie er fand. Als er zu ihr auf sah, konnte er sehen, dass die Furcht noch immer nicht fort war. Eine seit Jahren eingebläute Angst verschwindet nicht einfach innerhalb kurzer Zeit. Wahrscheinlich war sie durch die Nähe noch stärker geworden, umso mehr freute er sich und war stolz auf Tessi, dass sie sich traute und bei ihm, bei ihnen blieb.
Dann tat sie etwas, was er nicht sofort verstand, aber schließlich erkannte er ihre Absicht, und sein Herz machte einen großen Sprung.
Tessi zog die Hand anfangs häufig zurück und öffnete und schloss sie. Aber sie kam bei jedem neuen Versuch näher an Meerauge heran. Ihre Lippen arbeiteten, als würde sie dahinter irgendein kleines Tier gefangen halten, das auszubrechen versuchte. Ihre Atmung war nicht mehr hektisch, aber zittrig wie ihr Arm, auf dem alle Haare aufgerichtet waren. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, nicht in Tränen auszubrechen oder zu schreien, dass sie stark zusammenzuckte, als Garón ihre Hand mit seiner ergriff. Jetzt waren ihre Lippen nur noch ein Strich und regungslos.
„Wir machen es gemeinsam“, flüsterte er und wartete auf eine Reaktion, die nach geraumer Zeit auch kam. „Vertrau mir.“
Garón führte Tessis Hand vorsichtig zu dem Wolf. Anstatt in die Hocke zu gehen, beugte sie ihren Oberkörper und ließ ihre Beine steif und durchgedrückt.
Es dauerte ein paar Sekunden, um nur einen Zentimeter näher zu kommen. Nicht selten sträubte sie sich vor Garóns Führung und verharrte in ihrer Position. Er konnte aus ihren Augen lesen, was in ihrem Kopf vorgehen musste. Und was er las, ließ sie noch mehr in seiner Achtung steigen. Deshalb ließ er ihr auch alle Zeit, die sie benötigte.
Es waren ungefähr drei Minuten, die sie gemeinsam verbrachten. Meerauge lag ganz ruhig, als wüsste sie, was die Menschen vorhatten.
Garón spürte den Schweiß an ihrer Hand. Doch Tessis gequälter Ausdruck hatte sich etwas verflüchtigt. Seine Anwesenheit gab ihr die Kraft, die sie hierfür brauchte.
Augen zu und durch.


Momente vor der Berührung umwehten sie Kälteschauer. Als sie das Fell fühlte, erzitterte sie, doch nach kurzer Zeit legte sich das. Garón blickte sie hoffnungsvoll an und führte ihre Hand den Rücken des Wolfs entlang.
Dann zuckten Tessis Mundwinkel nach oben.
„Er … ist ganz weich“, sagte sie. Still und unbeachtet floss eine Träne über ihre blassen Wangen.
„Sie“, berichtigte Garón Tessi.
Allmählich lockerte ein zaghaftes Lächeln ihr Gesicht auf. Die Bogensehne hatte sich entspannt, der Pfeil war fort gelegt.
„Sie … ja“, murmelte Tessi. Mit ihrer freien Hand beschattete sie kurz ihre geschlossenen Augen, als müsste sie sich vor der Sonne schützen. Ihre andere Hand fuhr immer von oben nach unten Meerauges Rücken entlang, zwischen den Stellen, an denen der Verband angelegt war.
Garón hatte sie schon längst losgelassen.
„Es ist, als würde man Seide berühren, die aus Licht gesponnen wurde“, sagte sie. Garón schaute sie liebevoll an. Ihre roten Haare wirkten wie eine Fackel vor der Wand des Hühnerstalls.
„Mach die Augen auf.“
Sie tat es auch unverzüglich. Blinzelnd betrachtete sie Meerauge. Und ihr Blick hatte eine deutliche Aussage: Tessi war stolz auf das, was sie vollbracht hatte. Sie hatte sich ihrer Angst gestellt.
Der große und schreckliche Reißer hatte sich in einen kleinen und verletzlichen Welpen verwandelt.

Etwa eine halbe Stunde arbeiteten sie zusammen weiter daran, Tessi und Meerauge anzunähern. Und es hatte gut funktioniert. Aber als Tessi sich gerade überwunden hatte und den Wolf an der Schnauze zu kraulen versuchte, ließ Meerauge ihre – noch – kleinen Zähne sehen, und Tessi war überrascht aufgeschreckt. Dabei hatte sie den halb leeren Wassereimer, der hinter ihr stand, umgestoßen, und sie war aus dem Stall gerannt, hinaus in die Sonne. Sie war nicht fort gelaufen, was Garón zunächst befürchtet hatte, sie stand lediglich ein paar Schritte vor der Tür und kämmte sich mit den Fingern durchs Haar. Sie entschuldigte sich für ihr Verhalten, und Garon nahm es ihr nicht übel, jedoch fügte sie hinzu, dass sie lieber nach Hause gehen sollte. „Vielleicht können wir ja morgen hier weitermachen?“, hatte sie mit einem zögernden Lächeln gefragt, und Garón hatte stumm genickt.
Und gelächelt.
Danach war eine kurze Pause entstanden, bis sie ihn dann fragte: „Wie kommst du nur auf die Idee, einen Wolf aufzuziehen?“ Die Frage hatte sie sich zu stellen begonnen, nachdem der erste Schrecken überwunden war.
Garón erzählte ihr, wie er Meerauge hilflos im Wald gefunden hatte. Als er fertig war, schaute Tessi ihn an, und plötzlich überkam Klarheit sie.
„Was hast du?“, fragte Garón irritiert.
„Jetzt verstehe ich. Deshalb warst du so komisch gestern.“
„Ähm ...“ Er dachte scharf nach. Hatte er sich irgendwo verplappert?
Tessi lachte, offenbar erleichtert. „Die ganze Zeit, die du so geheimnistuerisch gewesen warst, in der du mich zu ignorieren schienst. Dann die Lüge, dass du bereits eine Tanzpartnerin hättest. Dein plötzliches Verschwinden … wegen dem kleinen Wolf!“
Da fiel es ihm auf; denn er hatte ihr nicht verraten, dass sich das alles erst in der letzten Nacht ereignet hatte.
„Und ich dachte schon, du könntest mich nicht mehr mögen.“
Das musste ein Ende haben! Nicht noch mehr Lügen. Er könnte sie nicht schon wieder anlügen.
Andererseits …
„Ich war einfach so aufgebracht wegen ihr“, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln und deutete mit dem Daumen hinter sich zum Hühnerstall. „Wie kommst du nur auf die Idee, ich würde dich nicht mögen?“ Er machte einen typisches Das ist doch albern

-Gesicht. Das Kribbeln in seiner Zunge wurde kurz so stark, dass er nur mit Mühe verhindern konnte, nicht den Mund zu verziehen. Diese unerwartete Wendung der Dinge ersparte ihm jede Menge unbequemer Fragen und Antworten. Also konnte sie noch so stark jucken und zwicken.
Tessi umarmte ihn auf einmal, sodass Garón überrascht einen halben Schritt zurückwich. Und ganz nah an seinem Ohr hörte er ihre leise Stimme:
„Ich bin ja so glücklich.“
Garón tätschelte freundschaftlich ihren Rücken. Als sie ihn wieder frei gab, kicherte sie kindisch und verabschiedete sich. Dann sprang sie ein paar Zentimeter in die Luft, als sie sich umdrehte und in die Richtung ging, aus der sie gekommen war.
„Willst du nicht den anderen Weg gehen?“, rief Garón hinterher und deutete den Hang hinab ins Dorf. „Das ist doch kürzer.“
Sie winkte nur ab und drehte sich noch einmal um, damit sie ihn anlächeln konnte. „Ich brauch ein paar Minuten für mich selbst“, lachte sie. Das brauchte sie wirklich. Es sei denn, das halbe Dorf sollte sie lachen und tanzen sehen vor Glück.
„Wie du meinst. Ach, Tessi, warte!“
Sie blieb kurz stehen.
„Kannst du mir einen kleinen Gefallen tun?“, fragte Garón.
Tessi hätte zerspringen können.

Trotz seiner geübten Finger ließ er sich Zeit. Wenn man etwas richtig und ordentlich machen wollte, musste man behutsam sein, nicht unaufmerksam; geduldig, nicht übereifrig. So war eine Masche nach der anderen entstanden, eng aneinandergereiht wie die Perlen an der Halskette, die er seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte.
Er war während seiner gesamten Arbeit nicht ein einziges Mal gestört worden. Weder seine Frau, noch seine Kinder waren mit einem Anliegen zu ihm gekommen. Seltsam

, dachte er ein wenig verträumt. Gerade war er hinab ins Dorf aufgebrochen. Es war noch hell, aber der sich schon leicht verfärbende Horizont hatte ihn an die fortgeschrittene Stunde erinnert.
Die abendliche Brise hatte an Stärke zugelegt und brachte die Äste vieler Bäume zum Tanzen in der anbrechenden Dämmerung, die zudem von einigen wenigen Wolken begleitet wurde. Trotz des Windrauschens war es still um Kalec, also schwieg auch er. Manchmal pfiff er fröhlich eine kleine Melodie, die er in dieser Sekunde erdachte, wenn er den Markt besuchte. Aber heute nicht. Die bedächtige Ruhe hatte ihn in seinen Bann gezogen. Nur wenige Vögel hörte er singen.
Vielleicht bildete er es sich auch nur ein. Schließlich war er Ruhe gewohnt. Als Fischer war er es. Wenn er mit seinen Söhnen am See saß, sprach er selten ein Wort, aber er hörte immer aufmerksam zu, falls sie etwas zu berichten hatten. Das aufregendste Thema des heutigen Tages war dieser Junge gewesen, der bei dem Fest offenbar zu tief ins Glas geschaut hatte. Kalec kam der Name nicht sofort in den Sinn. Veit hieß er, oder zumindest so ähnlich. Er konnte dem Namen jedoch kein Gesicht zuordnen. Sicherlich erkannte er ihn, wenn er vor ihm stand. In seiner arbeitsamen und eher abgeschiedenen Lebensart verkehrte er seltener mit den Bewohnern Halicos', noch weniger mit der Jugend.
Kalec war ein einfach gestrickter Mann von niedriger Statur. Selbst seine Frau überragte ihn um eine Augenbraue. Unter seinen stoppeligen roten Haaren war selten ein Gedanke, der nicht etwas mit Arbeit oder seiner Familie zu tun hatte. In jungen Jahren hatte er es sich einfach abgewöhnt, länger als drei Sekunden über etwas nachzudenken, solange es nicht wirklich äußerst wichtig war. Seine gelassene und ruhige Art und seine nicht wirklich ausgeprägte Auffassungsgabe gaben ihm manchmal einen leicht dümmlichen Schlag. Viele Dinge waren ihm zu kompliziert.
Aber vom Fischen verstand er mehr als jeder andere. Hatte man einmal das Prinzip verstanden, fehlte nur noch etwas Training, ein geschultes Auge: Fischen war einfach, man musste sich nicht sorgen, man könnte etwas falsch machen. Entkam der Fisch, dann machte man es beim nächsten Versuch besser. Ganz leicht.
Er war daher von nahezu jeglicher Art Gedanken befreit, als er nach kurzer Zeit im Dorf war. Die Lampions waren schon längst abgehangen, und auch auf dem Festplatz erinnerte bis auf einen großen schwarzen Kreis aus Asche und verbranntem Gras nichts an die letzte Nacht; das sah er aber nicht, denn Kalec betrat Halicos von der Seite aus, die dem Festplatz gegenüber lag.
Um ihn herum war es jetzt wesentlich lauter als zuvor. Frauen und Kinder und Männer waren auf den Straßen. Ein paar begrüßten ihn mit einem freundlichen Lächeln, das Kalec erwiderte, die meisten beachteten ihn aber überhaupt nicht.
Die Stimmen wurden langsam mit Plätschern durchsetzt, denn der Markt lag an dem Fluss, der durch das Dorf verlief. Offiziell hatte er keinen Namen, aber die Einwohner nannten ihn häufig schlicht Schwellwasser. Am anderen Ufer des Flusses stand das Wirtshaus, das größte Gebäude des Ortes. In mit weißer Farbe hervorgehobenen Buchstaben stand über der Tür der Name: Zur Schwellschanke

.
Ein uninspirierter Name, wie Kalec fand. Nicht, dass er sich darüber Gedanken machte, aber er fand ihn einfach nicht schön.
Auf dem Markt waren kaum noch Leute, aber das war normal. Die meisten tätigten ihre Einkäufe Morgens oder zur Mittagszeit. Zielstrebig lief er auf den Stand mit den Lebensmitteln zu. Der Händler – alle nannten ihn Broker, aber Kalec wusste seinen richtigen Namen nicht; er hatte ihn noch nie gefragt – nahm gerade das Geld eines Kunden entgegen und wünschte ihm mit einem fachmännischen Lächeln einen guten Abend. Er wischte die Hände an einer schmuddeligen Schürze ab und schmunzelte, als er ihn bemerkte. Broker kniff sein rechtes Auge zusammen. Eine Angewohnheit, die Kalec schon häufig bei ihm beobachtet hatte.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein, werter Herr?“ Broker verstellte seine Stimme und klang wie ein Hofdiener, der voller Ehrerbietung den mächtigsten aller Könige bediente. Um das ganze abzurunden, fehlte nur noch eine ausschweifende Verbeugung, die aber nicht kam.
Kalec lächelte in besonnener Zufriedenheit. „Guter Dinge, wie es scheint.“
„Und warum auch nicht? Das sind die besten Jahre unseres Lebens, will ich meinen – und es obliegt uns, sie zu genießen. Waren Sie gestern auch auf dem Fest?“ Eine überflüssige Frage. Jeder war vor Ort gewesen. Dementsprechend fiel auch Kalecs Antwort aus. Daraufhin lachte Broker sein unverwechselbares heiseres Lachen, das irgendwann in einen bellenden Husten überging.
Kalec summte überlegend. „Vielleicht sollten Sie die Finger von diesen Kräutern lassen“, sagte er.
Broker winkte ab. „Mir geht es gut, und der Himmel soll auf mich herabstürzen, wenn mir das kleine bisschen Freude, das ich in meinem Beutel am Gürtel trage, eines Tages schädlich sein sollte.“ Wieder hustete er. Mit einem Finger betastete er die eitrige Stelle in seinem Nacken, die er mit einem Tuch verdeckt hielt. Dass dieses „kleine bisschen Freude“ ihn in exakt neunundzwanzig Tagen unter die Erde befördern sollte, wusste er nicht. Bis dahin würde er jedoch noch mehrere dieser ekelhaften eitrigen Stellen am ganzen Körper bekommen, und seinem Erstickungstod würde er so einsam gegenübertreten, wie sein bisheriges Leben gewesen war. Darum kümmerte er sich aber herzlich wenig; zumindest weniger, als man vielleicht erwarten könnte. Der Händler Broker lebte jeden Augenblick, auch an den vergnüglichen Dingen des menschlichen Daseins hatte es nie gefehlt. In der Schwellschanke

war er Stammgast und sogar Aushilfskraft, wenn der Laden mal wieder überfüllt war.
„Und schauen Sie doch. Sieht dieser wunderschöne Abendhimmel denn so aus, als würde er bald herabfallen? Dem ist nicht so, will ich doch meinen.“
Kalec lächelte stumm.
„Das Fest ist eine prächtige Tradition“, sagte Broker und machte eine Handbewegung, die ganz Halicos umschloss. „All diese Menschen kommen zusammen und feiern ihre Vorfahren für das, was sie hinterließen: dieses wundervolle Dorf. Einen Abend lang sind sich all diese Menschen nahe, sie sind vereint unter dem Geist ihrer Geschichte. Tradition ist etwas Wundervolles, sage ich Ihnen. Wir sind Teil zukünftiger Tradition, und so geht es immer weiter, bis diese Welt eines Tages ihren letzten Morgen erlebt. Traditionen bedeuten Erinnerungen, Erinnerungen bedeuten Geschichte, und Geschichte ist das, was uns zu dem macht, was wir sind. Das ist eine Tatsache. Nur leider wird das ab und an vergessen. Aber nicht von mir, will ich meinen. Ich werde Zeit meines Lebens daran festhalten, das sage ich Ihnen. Und … nebenbei … ist es eine nicht unangenehme Bereicherung meines bescheidenen Geschäftes, nicht wahr?“ Ein schiefes Lächeln, gefolgt von heiserem Lachen.
Kalec nickte stumm. Brokers Worte ergaben für ihn zwar Sinn, aber irgendwie verstand er sie nicht ganz. Jedenfalls klang es sehr schön. Er sollte darüber nachdenken. Heute Nacht vielleicht.
Broker bedachte ihn mit einem eindringlichen Blick. Dann klopfte er auf die Theke des Holzstandes, der mit gelbem Stoff überspannt war. „Ach, ich alter Kauz. Sie müssen mir verzeihen. Aber mit dem Alter redet man einfach ungezwungen und frei von der Seele weg.“
Welches Alter er auch meinte, seines konnte er nicht meinen. Mit seinen einundvierzig Jahren war er zwar vier Jahre älter als Kalec, aber sich deshalb alt zu nennen, war ein wenig übertrieben. Oder war es Ironie, das da in Brokers Augen funkelte?
Er wusste es nicht.
„Ich bin hier ...“, begann der Fischer, doch der Händler ließ ihn nicht ausreden.
„Ich weiß schon, ich weiß.“ Brokers Stimme war jetzt mit kaufmännischem statt mit dem leicht amüsierten Unterton belegt, den Kalec gewohnt war. Seine Hand glitt in die Tasche seiner Schürze und kam mit einem zerknitterten Stück Papier wieder hervor und überreichte es. Danach stützte er beide Arme auf die Theke, schob die Schultern vor und senkte den Blick.
Verwirrt schaute Kalec auf den Zettel. Darauf waren in krakeliger Schrift immer wieder Zahlen aufgeschrieben und durchgestrichen worden. Die Zahl am untersten Ende war jedoch eingerahmt.
„Was soll das sein?“, fragte er und wedelte mit dem Papierstück, als würde es brennen.
„Ein Schuldschein“, antwortete Broker und sah auf. „Ihr Fisch hat sich nicht verkauft. Ich will mein Geld zurück.“
„Das kann nicht sein“, murmelte Kalec in seinen Bart. „Das ist noch nie zuvor geschehen.“
„Das interessiert mich nicht“, blaffte Broker. Vom freundlichen, redsamen Händler war nichts mehr übrig. Was zählte, war das Geschäft.
„Aber ...“ Er schaute sich die eingerahmte Zahl an wie ein Arzt, der eine Wunde untersucht. „Das ist ja fast alles.“
„Richtig erkannt. Die Leute haben sich beschwert, es würde nach Schlamm schmecken.“
„Das ist einfach unmöglich.“
„Die Zahlen sagen da was anderes.“ Broker wirkte gereizt. Diese verdammte Beule an seinem Nacken juckte unheimlich. „Ich will mein Geld, haben Sie mich verstanden? Und das nächste Mal würde ich mir jemand anderen aussuchen, dem Sie ihren Schund andrehen können.“ Er tippte mit seinem krummen rechten Zeigefinger – krumm, weil er ihn sich vor ein paar Monaten gebrochen hatte, als er bei einem Gerangel auf dem Marktplatz gestürzt war – mit Nachdruck auf das Holz.
Kalec hatte einen viel zu simpel funktionierenden Verstand, um streiten zu können. Besonders, da es keine Aussicht gab, dass er ihn gewinnen konnte. Und es schien dem Händler wirklich ernst zu sein, hatte er doch auf dem wertvollen Papier geschrieben. Kalec summte leise, während er überlegte.
„Ich bringe Ihr Geld morgen mit, wenn ich den Fisch liefere“, schlug er vor.
„Das will ich hoffen“, knurrte Broker. „Und für Sie will ich hoffen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt.“ Schon wieder sah Kalec dieses Funkeln in Brokers grauen Augen. Von Ironie konnte nun aber nicht mehr die Rede sein. „Wenn ich erneut erleben muss, dass unzufriedene Kunden ihr Geld zurückverlangen ...“ Er vollendete den Satz nicht. Stattdessen zog er die Augenbrauen hinauf und durchbohrte den Fischer mit seinen Blicken.
Er kannte diese Seite des Händlers von vergangenen Jahren. Dennoch bekam er eine eisige Gänsehaut, als sie zum Vorschein kam. Deshalb sagte er lieber nichts, sondern faltete nervös den Zettel einmal in der Mitte.
Broker musterte ihn einen Moment. „Gut“, nickte er die Sache ab. Sofort war er wie ausgetauscht. Sein rechtes Auge kniff er dabei zusammen, es sah allerdings weniger nach einer gewollten Reaktion aus. „Und wie geht es den lieben Kleinen? Und Ihrer werten Frau?“
„Nun … was soll ich schon sagen? Es geht allen gut.“ Er lächelte milde.
„Na, das hört man doch gern!“ Er musterte Kalec von oben nach unten. „Wobei Sie etwas krank wirken, will ich doch meinen.“
„Ich? Krank?“ Das konnte Kalec sich nun wirklich nicht vorstellen. Gut, er fühlte ein leichtes Unbehagen, aber er war kerngesund, konnte sich kaum an die Zeit erinnern, als er zuletzt krank gewesen war. Selbst als Kind war er von vielen Krankheiten verschont geblieben.
„Hm, hm.“ Broker betrachtete ihn noch einmal genauer. Dann grinste er breit. „Sagen Sie nur, das Fest hätte an Ihnen gezehrt? Sind wohl doch nicht mehr so belastbar wie einst, was?“ Heiseres Gelächter. Nach kurzer Zeit stimmte Kalec in das Gelächter mit ein, aber wesentlich leiser. Die Händler, die noch wenige Kunden an ihren Ständen bedienten, schielten ab und an nach den beiden, schenkten ihnen aber keine weitere Aufmerksamkeit. Das alte Spiel

, schienen sie zu denken.
„Aber Sie sollten vorsichtig sein, Herr Fischer“, sagte Broker dann mit gesenkter, bedeutungsschwerer Stimme. Er lachte nicht mehr, zeigte aber im Anflug eines Lächelns die Zähne. „Man kann nie wissen; manchmal erwischt es einen, ohne dass man etwas ahnt. Es sind die unvorhersehbaren Dinge. Kleine Dinge, wie eine Krankheit. Vielleicht wäre es doch besser, Sie ließen sich untersuchen. Die Nacht bricht schneller herein, als es uns allen recht ist. Es wird zunehmend dunkler … und dann ...“ Er unterbrach sich. Seine Blicke huschten von links nach rechts, von rechts nach links. „Dann wird es kälter und kälter.“
Dem Fischer überkamen Schauer, während er dem Händler zuhörte. Er fühlte sich plötzlich unbehaglich. Wollte weg.
Aber Broker ließ ihn noch nicht.
„Bis es schließlich Nacht ist, muss man das Leben daher auskosten, wie ich bereits sagte. Ich habe Sie selten in der Schwellschanke gesehen. Es scheint nicht zu Ihren bevorzugten Vergnügen zu gehören, oder?“ Er ließ Kalec nicht zu Wort kommen. „Ich an Ihrer Stelle würde gleich am morgigen Tag dort hingehen. Ach, aber ich werde ja sowieso dort sein.“ Wieder war sein heiseres Lachen zu hören.
Kalec wusste, was Broker meinte. Am zweiten Abend nach dem Fest fand in der Schwellschanke

eine Art Versammlung statt; meist war sie dann bis auf den letzten Quadratzentimeter mir fröhlichen Menschen gefüllt, die sich allesamt gegenseitig auf die Schulter klopften. „Was für eine schön gestaltete Dekoration“; „War die Rede nicht einfach berauschend schön?“; „Beim Himmel, wie schön doch das Kleid war, das du genäht hast!“; und so weiter und so fort. Der gewohnte Gang der Dinge, so wie jedes Jahr eben.
Broker sprach weiter: „Wie dem auch sei – ich kann es Ihnen wirklich nur ans Herz legen. Jeder Kunde trägt zur guten Laune bei. Und zum Geschäft, möchte ich meinen, hab ich nicht recht? Aber vom Geschäft verstehen Sie noch lange nicht so viel, wie ich es tue. Das soll keine Beleidigung sein, nein, auf keinen Fall, aber es ist nun mal eine Tatsache, oder nicht? Aber was rede ich da. Schon wieder geht es mit mir durch! Ich muss Sie doch langweilen mit meinem alten Geschwätz.“ Erneut ließ er Kalec keine Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. „Natürlich, ich wusste es. Verzeihen Sie es mir, aber manchmal müssen bestimmte Dinge einfach raus. Wo wir aber schon einmal so nett miteinander plaudern, ich habe gehört, Ihre hübsche Tochter würde mit dem DeBehr-Jungen anbandeln. Sagen Sie doch mal, wie finden Sie das, he? Muss doch schön sein, wenn die eigene Tochter mit dem Sohn eines so angesehenen Bürgers einher geht, oder?“
Kalec lächelte, erst unsicher und verlegen, zunehmend ehrlicher und aufrichtiger, als er merkte, er würde nicht unterbrochen werden. Dann begann er.
So war es eben. Das alte Spiel.

Auf dem Weg nach Hause hatte er genug Zeit zum Nachdenken, und er nutzte sie auch. Zumindest versuchte er es. Sehr weit kam er in seinen Überlegungen nicht. Kalecs zentraler Gedanke war dabei die Frage, warum sich der Fisch nicht verkaufte.
Schlamm

, überlegte er. Das hatte Broker gesagt. Der Fisch würde nach Schlamm schmecken. Aber wie war das möglich? Kalec klammerte sich mit Vehemenz daran, dass so etwas noch nie zuvor geschehen war. Warum also jetzt? Hatte es etwas mit der Jahreszeit zu tun?
Er konnte sich nicht erinnern, dass der Fisch jemals um diese Jahreszeit eine Veränderung im Geschmack aufgewiesen hatte. In all den Jahren nicht, nein, definitiv nicht. Beschwert hatte sich auch noch nie einer. Das war also ausgeschlossen.
Woran lag es dann? Etwa an ihm? Konnten vielleicht seine Netze Schuld sein? Zwar konnte Kalec sich nicht vorstellen, dass es möglich war. Aber er wusste auch nicht, ob es vielleicht doch so war.
In seinem Gesicht zeichnete sich ein Ausdruck angestrengten Denkens ab.
Er entschied, dass es nicht an seinen Netzen lag. Das konnte er sich einfach nicht vorstellen.
Aber – was – dann?
Kalec summte, während er nachdachte. Er beobachtete seinen Schatten, wie er sich bewegte, ihn verfolgte. Ganz still wanderte er neben ihm her, wurde von der untergehenden Sonne auf das Sommergras geworfen, und um den Schatten herum erstrahlte der Boden in einem rötlich schimmerndem Farbton. Dann blieb er kurz stehen, um diesen schönen Anblick, diesen Moment zu verinnerlichen.
Denken war anstrengend. Ständig gab man sich Mühe, um ein Problem zu lösen, das ohne Denken vielleicht gar nicht entstanden wäre. Und wofür? Kopfschmerzen. Das war das einzige Resultat. Nur pulsierende Kopfschmerzen, ganz hinten, zwischen Nacken und Scheitel. Kalec kam daher nach recht kurzer Zeit zu einer – für seine Begriffe – äußerst logischen Schlussfolgerung.
Der Nachfahre des Tollen begann, seinen Kopf von diesen bohrenden Fragen zu befreien. Wenn der Fisch nicht schmeckte, lag das entweder an den Zungen der Kunden oder an ihm. Und wenn er verantwortlich war, tat er das Gleiche wie sonst auch: es einfach besser beim nächsten Versuch. Punkt. Aus.
Kalec stand da und beobachtete. Den Abendhimmel. Das Gras. Die scheinbar stillstehenden und sich dennoch bewegenden Schatten. Den hohen Giebel des Wirtshauses. Den Fluss, aus dem alle Bewohner Halicos' tranken, das Dorf in zwei Teile spaltend, wie er Richtung Südosten hin verschwand, um weit außerhalb seines Blickfeldes den See zu speisen. Dort, wo er die Schlammfische geangelt hatte.
Es wurde langsam kühl.
Der Fischer ging weiter.
Dass das Wasser vergiftet sein könnte … aber dieser Gedanke schlüpfte durch die Maschen.

Hatte sie auf ihrem Hinweg schon lange gebraucht, so war der Rückweg eine einzige Irrfahrt. Euphorisch hatte sie getanzt, fröhliche Lieder gesungen, war gehüpft – und das alles, weil sie Zeit mit Garón verbracht hatte.
Eigentlich war es ein Wunder, dass sie überhaupt nach Haus gefunden hatte. Sie hatte sich sofort verlaufen, war in alle Himmelsrichtungen gependelt, auf und ab gegangen, nur um einen Teil des Weges sogar wieder in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Dann gab es einen Moment, in dem sie still stand. Ganz ruhig. Keine. Bewegung. Nicht. Eine. Und im nächsten Moment ließ sie sich auf den Boden fallen. Das weiche Gras kitzelte sie, und der Duft machte sie schläfrig. Wie wundervoll ihre Träume gewesen wären! Nach Sekunden, in denen sie darüber nachdachte, nicht einfach liegen zu bleiben, war sie schließlich aufgestanden. Es wurde kühl, doch die Wärme in ihrer Brust täuschte darüber hinweg.
Sie war einfach nur glücklich.
Der Himmel über ihr hatte bereits sein Schlafgewand übergestreift. Erste Sterne erschienen, funkelten leise. Ob Sterne auch träumten? Wer sagt, dass es nicht so ist?
Im Augenblick war alles für sie möglich. Und die träumenden Sterne begleiteten sie – nach unglaublichen eineinhalb Stunden – schließlich in ihr geliebtes Haus. Über der Eingangstür war etwas eingeschnitzt; Tessi konnte den Spruch auswendig, sie musste nicht ihre Augen bemühen, um die Buchstaben im Dämmerlicht lesen zu können:

Nimm deine Träume, halte sie fest, wie ein Messer
Nimm dein Leben, leg es zurecht, wie ein Stück unbearbeitetes Holz
Jetzt nimm dir Zeit
Und forme dein Leben
Nach deinen Wünschen



Als sie über die Schwelle ging, murmelte sie es in Gedanken. Diese Sätze hatten schon immer eine gewissen Wirkung auf sie gehabt – und nun breiteten sie ihre Bedeutung aus.
In der Stube saß ihre Mutter, Damalia, Schneiderin. Auf ihrem Schoß war feiner weißer Stoff ausgebreitet. Mit ihrem Mund hielt sie eine Nadel, Schere und Faden mit ihren Händen fest. Sie schien Tessi nicht zu bemerken; zumindest fuhr sie mit ihrer Arbeit fort. Tessi kamen Erinnerungen hoch, wie ihre Eltern nebeneinander saßen, Vater knüpfte Netze, Mutter schneiderte ein Kleid oder stopfte Löcher.
Damalia nahm die Nadel aus dem Mund.
„Das Kleid deiner Großmutter hat nichts von seiner Schönheit verloren, all die Jahre lang“, sagte sie nachdenklich, ohne aber ihre Tochter anzusehen. „Du wirst wundervoll darin aussehen bei deiner Hochzeit.“
„Das Kleid passt mir doch gar nicht“, sagte Tessi kleinlaut.
Damalia legte Nadel, Schere und Faden beiseite und hielt das Kleid in die Höhe. „Du wirst schon noch hinein passen. Und im Notfall kürze ich einiges. Obwohl es sehr schade wäre. Das ist ein wirklich sehr schöner Stoff.“
Tessi sprach nicht weiter darüber. Sie hatte dieses Thema schon viel zu oft mit ihrer Mutter diskutiert. Sie war es leid.
Sie stand noch einen Augenblick stumm da.
„Wie hast du dich damals in Vater verliebt?“
„Was?“
Tessi schüttelte den Kopf. „Ich meine, wie hast du ihn kennen gelernt?“
Damalia ließ das Kleid auf ihren Schoß sinken und verengte die Augen zu Schlitzen, während sie in Gedanken die Jahre zurückging. „Das war auf der Sonnenwende.“ So wurde das Fest allgemein genannt. „Zwanzig Jahre ist das jetzt her. Ich kannte ihn natürlich schon vorher, so groß ist Halicos nicht, dass wir uns all die Jahre übersehen hätten.“ Sie lächelte milde. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie bleich er geworden war, als ich damals auf ihn zuging und ihn fragte, ob er mit mir tanzen möchte. Und er sagte: Junge Miss

, hat er gesagt, ich kann nicht es nicht verstehen. Aber ich wäre ein Tölpel, es abzulehnen.

Dann hat er sich schnell umgedreht und ist stocksteif weggelaufen.“ Jetzt lachte sie laut. „Er war so süß.“
„Und du hast ihn gefragt, weil du schon damals in ihn verliebt warst?“
„Nein, nein. Ich hatte eine Wette verloren.“
„Oh.“
„Ich einfältiges Ding. Hab doch wirklich geglaubt, meine Schwester würde niemals einen Wurm essen. Das war wirklich ein Fehler. Aber der schönste in meinem ganzen Leben.“
„Und wie ging es weiter?“
Sie räusperte. „Nun ja ...“ Ihr Geist strich über die Saiten der Vergangenheit und erzeugten einen Ton, bei dem sich ihre Gesichtszüge glätteten und ihr ein jugendliches Aussehen verliehen. „Der Abend kam … ich trug ein wunderschönes, silbernes Kleid und eine kreisrunde Maske aus Eichenholz, die mein Großvater für mich geschnitzt hatte … und bei der Hatz durch das Dorf hat mich dein Vater bereits nach zwei Minuten gefunden. Damals habe ich für einen Moment bedauert, dass es nicht länger gedauert hat, aber als er mir in die Augen sah und das Licht der Laternen uns umfing … und dann sagte er leise zu mir: Junge Miss, auch blind könnte ich diese Schönheit finden.

Dann sind wir auf den Festplatz gegangen. Und ja … beim Tanz hat er mich verführt.“ Sie zeigte ihre Zähne bei einem breiten Lächeln. „Dein Vater ist ein herausragender Tänzer. Und jedes Mal zur Sonnenwende sagt er zu mir dieselben Worte wie damals vor zwanzig Jahren, schaut mir dabei tief in die Augen und küsst mich vorsichtig auf die Stirn.“ Sie pausierte. „So haben wir uns verliebt.“
„Und wie ging es weiter? Nach dem Fest damals … was hast du gemacht, dass ihr ein Paar geworden seid?“
„Nichts.“
„Wie meinst du das?“
„Alles, was danach geschah, ging von deinem Vater aus. Um es so auszudrücken: Ich habe mich zurückgelegt und gewartet. Und er kam. Mit jeder Geste, egal wie klein sie war, hat er mich für sich gewonnen.“
Tessi ließ die Schultern hängen. Sie hatte sich einen Hinweis erhofft, aber nun …
„Möchtest du noch etwas wissen, Liebes?“
„Das Kleid.“
„Das sagte ich schon bereits. Es war ein bezauberndes, silbernes Kleid mit ...“
„Nein, Großmutters

Kleid.“ Sie zeigte mit den Fingern darauf. „Es liegt auf dem Boden auf. Es wird ganz schmutzig.“
Ihre Mutter schaute erstaunt hinab und fluchte leise vor sich hin, während sie das Kleid aufhob und es abklopfte. Im nächsten Moment widmete sie sich wieder ganz ihrer Arbeit.
Tessi ließ die Schultern hängen. Sie ging in ihr Zimmer. Die leisen Geräusche, die ihre Mutter machte, verstummten. In Tessis Zimmer war es angenehm kühl, aber nicht zu kalt. Dennoch sträubten sich die Haare auf ihren Armen. Ein leichter Schauer übermannte sie kurz, ihr Mund verzog sich unweigerlich zum Grinsen. Dann legte sie sich in ihr Bett, drückte ihr Gesicht ins Kissen, dachte an Garón und den großen schrecklichen Reißer, der vor ihren Augen seine Bedrohung verloren hatte und geschrumpft war, dachte an die Worte über der Eingangstür, dachte an die kommenden Tage. Und schlief ein. Tauchte in schöne Träume. Verirrte sich in wundervollen Vorstellungen – sie, Garón, und nichts, das störte. Als sie nach einer knappen Stunde wieder erwachte, wunderte sie sich einen Moment. Sie drehte sich auf den Rücken, um Garón die Frage zu beantworten, die er ihr noch gestellt hatte, ehe sie ins Hier und Jetzt zurückgekehrt war. Eigentlich war sie traurig, als sie feststellen musste, dass er weg war, aber sie konnte im Moment keine schlechten Gedanken haben. Sie war noch nie so frei gewesen.
Sie küsste die Stelle, an der kurz zuvor noch Garóns Lippen, seine haselnussbraunen Augen, die sie so liebte, und sein ebenso braunes Haar gewesen waren, und flüsterte die Worte, die schon seit Jahren auf ihrer Seele lagen.
„Ich will“, sagte sie. Dann war es ruhig.

Die oberste Treppenstufe knarrte, alle anderen waren leise und verrieten nicht, dass Tessi auf ihnen ging. Sie zählte sie stumm mit: elf waren es. Unten angekommen ging sie durch einen schön verzierten Türbogen in die Stube. Von Damalia war nichts zu sehen, nur Kalec saß allein und von allem abgekehrt auf einem Stuhl und starrte in das knisternde Kaminfeuer. Die Flammen schienen ihn gebannt zu halten.
Tessi trat näher und sagte: „Hallo, Vater.“
Kalec zuckte aus seinen Gedanken – es mögen zumindest welche gewesen sein – und sah auf. In sein alterndes Gesicht malte sich ein väterliches Lächeln.
„Wo ist Mutter?“, fragte die Tochter.
„Sie hat sich schlafen gelegt“, antwortete der Vater, „ihr war nicht gut. Magenschmerzen.“
„Hat vielleicht etwas Falsches gegessen.“
Kalec summte zustimmend.
„Und die Strauchdiebe?“ So nannte sie ihre Brüder.
„Schlafen bereits. Es ist ja auch schon spät.“ Er kniff die Augen zusammen, massierte seinen Nasenrücken und beobachtete weiter die Flammen. Die zuckenden Lichter zauberten dunkle Ringe unter seine Augen und ließen ihn alt aussehen; alt und verbraucht. Er hatte noch nie einen solchen Eindruck auf Tessi gemacht.
Der Fischer sah sie an. „Warum setzt du dich nicht und erzählst mir von deinem Tag, Liebes. Leiste diesem Narren etwas Gesellschaft.“
Das tat sie dann auch. Sie rückte einen anderen Stuhl näher heran, ließ sich auf ihm nieder und begann zu erzählen. Erst zögerlich, dann aber immer schneller werdend. Ab und zu überschlug sich ihre Stimme; dann lächelte sie verlegen, atmete tief durch und sprach weiter. Ihr Vater unterbrach sie nicht. Stattdessen lächelte er milde, lachte, legte seiner Tochter auch manchmal die raue Hand auf das Knie. Er wusste, wie sehr Tessatha in den DeBehr-Jungen verliebt war. Umso mehr freute er sich für sie. Sein Lächeln war aufrichtig.
Im Übereifer berichtete sie von jeder Kleinigkeit, die ihr widerfahren war. Um diejenigen im Hühnerstall machte ihre Erzählung aber einen großen Bogen.
Als sie fertig war, legte Kalec ihr wieder eine Hand auf das Knie. Dann strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schaute sie liebevoll an. „Ich freue mich für dich“, sagte er zärtlich und berührte sie am Kinn. „Du bist so wunderschön, wenn du lächelst.“ Seine Unterlippe zitterte ein klein wenig.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Vater? Du wirkst etwas krank.“
„Nur erschöpft, Liebes. Es war ein langer Tag. Und mit dem Alter werden sie auch nicht kürzer.“ Schnaubendes Lachen. Die Stimme machte seiner Aussage alle Ehre. Etwas schläfrig, nicht ganz da, gedämpft, flüsternd. Kalec sank wieder gegen die Stuhllehne. Seine Augen waren in Dunkelheit gebettete, glühende Funken.
„Vielleicht solltest du dich hinlegen, Vater.“
„Ja, vielleicht. Ich werde es auch bald tun.“ Er gähnte. „Aber ich möchte noch einen Moment die Flammen betrachten. Es fasziniert mich ... wie sie tanzen. Als wären es Menschen.“
„Vater, darf ich dich um einen kleinen Gefallen bitten?“
Kalec sah sie mit müdem Interesse an.
„Wenn du morgen fischen gehst … also Garón bat mich, dir mitzuteilen, dass der Viehtank leer ist und dass er bereits morgen gefüllt werden muss. Das ist alles.“
Kalec lächelte wiederum. „Gut. Dann werden wir das tun. Wenn es weiter nichts ist, das dir auf dem Herzen liegt?“
Tessi verneinte. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. Auf ihrer Haut spürte sie seine kratzigen Bartstoppeln. „Ich liebe dich, Tessatha.“ Alt und verbraucht.
„Ich hab dich auch lieb, Vater.“ Sie umarmte ihn. Danach stand sie auf. „Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen. Nicht, dass du eine schwere Krankheit ausbrütest.“
Kalec hob beschwichtigend die Hand: Mach dir keine Sorgen.

„Geh jetzt schlafen, Liebes.“ Und das tat sie auch. Sie wünschte ihm noch einen gute Nacht, dann huschte sie die Treppe hinauf, wobei die oberste Stufe erneut knarrte. Als sie in ihrem Zimmer war, zog sie ihr Nachtgewand an, legte sich auf das Bett und flüchtete sich in glückliche Träume. In diesen trug sie Großmutters weißes Kleid und ging auf einen wunderschönen Traualtar zu, begleitet von einem Mann, der nicht Kalec Konder war. An dem Altar stand bereits jemand; er kehrte ihr den Rücken zu. Zu beiden Seiten waren Bänke angereiht. Auf diesen saßen ihre Freunde, Bekannte, Anverwandte. Sie sah ihre Mutter und um sie ihre Brüder, die sich allesamt schick angezogen hatten. Ihr Vater war auch dort nicht. Dann setzte eine Kapelle ein, und Blumen wurden verstreut. Der Mann am Altar drehte sich langsam zu ihr um. Sie konnte seine Wange sehen, dann sein Kinn. Doch plötzlich verwandelte sich das Gesicht des Mannes in ihre Zimmerdecke, und aus der Kapelle wurden Vogellaute.

Während Tessatha sich ihren Träumen ergab, saß Kalec immer noch auf seinem Stuhl; mit der hohen Rückenlehne, auf deren Rückseite sein Name in altehrwürdigen Runen geschnitzt war. Bis auf das leise Knistern des Feuerholzes war es ganz still. Er betastete die Oberfläche der Armlehnen mit vorsichtig zitternden Fingern. Seine müden Beine waren ausgestreckt und gespreizt; so schmerzten sie etwas weniger. Die Augenlider hatte er noch einen kleinen Spalt geöffnet, als könnte er sie nicht schließen. Als würde der Feuerschein es nicht gestatten. In Kalecs Kopf hatte dieses nicht enden wollende Brummen eingesetzt, das er zuletzt am Vortag seiner Hochzeit gespürt hatte. Brun hatte damals im Scherz gesagt, dass es ein großes Unheil ankündige. Ob es nun mit den Fischen zusammenhing? Er hatte nicht den blassesten Schimmer. Denken war anstrengend, es führte nur zu irgendwelchen Problemen. War man nicht besser dran, wenn man gewisse Dinge akzeptierte und es dabei beließ? Denken war anstrengend, und bei diesem dumpfen Brummen erst recht.
Das Kaminfeuer schwand nach und nach. Die Schatten breiteten sich aus.
Er konnte sich nicht mit der Idee anfreunden, einfach im Bett zu liegen. Er konnte es nicht einmal leiden, nichtsnutzig hier zu sitzen. Aber er war außerstande, noch etwas zu tun. Nicht heute. In seinem Körper war für den Moment keine Kraft mehr, keine Ausdauer. So musste es sich anfühlen, wenn der Tod nur Sekunden entfernt war. Ob er nun auch sterben würde? Er glaubte es nicht. Er fand keinen Grund, warum es bereits jetzt geschehen sollte. Hatte er doch eine Krankheit, von der er nichts wusste?
Denken war anstrengend.
Wie spät es wohl sein mochte. Den Mond konnte er von seinem Platz nicht sehen. An der Position des Silbermondes hätte er die Zeit bestimmt abschätzen können. Doch dafür hätte er den Kopf weit nach links – zum Fenster hin – drehen müssen.
Und dafür war weiß der Himmel keine Kraft mehr in ihm.
Die Nacht bricht schneller herein, als es uns allen recht ist. Es wird zunehmend dunkler … und dann ...


Sein rechter Arm glitt geräuschlos von der Armlehne. Im Kamin glimmten nur noch wenige Späne. Nach kurzer Zeit erloschen aber auch sie. Wie auf Kommando schloss Kalec nun die Augen. Das Mmmmmmmmmmm

verkam zu einem kaum vernehmbaren Ton, der sich in der Finsternis in Rauch auflöste. Und fort flog.
Dann wird es kälter und kälter.


Kalecs Kopf sackte auf seine Brust. Sein linker Arm rutschte ab. Er wurde in das Licht des vorüberziehenden Mondes getaucht, das wie ein Insekt über den Boden kroch und den Fischer anfiel; und warf einen Schatten.


Fortsetzung folgt ...

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Tag der Veröffentlichung: 15.09.2011

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