Cover

Prolog




Die Wolken hingen schwer über der dunklen Erde. Aufgetürmte, schwarze Riesen. Finsternis verschluckte die Wiesen und Wälder, erstickte jeden noch so kleinen Laut in ihrer tödlichen, kalten Umarmung.
Über der Einöde, dem grauen Meer des Vergessens, zu der sie in den letzten Jahren verkümmert war, thronte groß und schrecklich ein gigantischer Berg. Die Klüfte und Spalten waren erfüllt von unirdischem Stöhnen und Klagen.
Und den Leiden der Welt.
Die Felsen waren scharf gezackt und drangen hervor wie abgebrochene Zähne aus einem blutverschmiertem Maul. Tiefe Schatten lagerten zwischen den Steinen, die noch von der Weltgeburt wisperten.
Nicht wenige zweifelten, dass dieser Berg von der Dunkelheit selbst geschaffen worden war. Wahrlich war sein Anblick, wagte man es, sich in seine Nähe zu begeben, einer der scheußlichsten, an den man sich auch auf dem Totenbett mit kindlicher Furcht nicht zu erinnern getraute. Jedes Lebewesen machte einen großen Bogen um ihn herum, denn schon der Gedanke an ihn, ein geflüstertes Wort, das Bewusstsein, von den steinernen Hängen dieses Ungetüms angestarrt zu werden, versetzte einen in beklommenes Schaudern. Ein Stich ins Herz war es, ihn gen Himmel strecken zu sehen mit den grauenhaften Fingern seiner Felsenhand. Die Dümmsten wie die Tollsten und Tapfersten sprachen nicht über ihn, und nannte jemand seinen Namen, senkten sie die Häupter und schwiegen.
Niemand hätte es für möglich gehalten, dass sich an seinem Gipfel jemand - oder etwas - befinden sollte.
Und doch hallten in seinen endlosen Höhlen Stimmen wider.
Der Wind preschte mit tobender Gewalt gegen den Berg und schnitt Kerben in den Stein.
“Wer ist dein Herr?” Das Echo seiner Stimme verlief sich in der Dunkelheit.
“Ihr, mein Gebieter.”
Nicht ein Lichtstrahl des kalten Mondes konnte die Wolken durchdringen.
“Wer ist Herr über dein Handeln?”
“Ihr, mein Gebieter.”
“Und wer ist Herr über dein Denken?”
Auch die Sterne stopften sich Wolken in die Ohren. Sie fürchteten die Schatten.
“Ihr, mein Gebieter.”
“Du weißt um deine Feinde.” Dieses Mal war es keine Frage.
“Ja, mein Gebieter.”
“Du weißt um deinen Auftrag.”
Die Stunden hielten den Atem an.
“Ja, mein Gebieter.”
Sein Lachen erfüllte den ganzen Berg mit Wahnsinn und Entsetzen.


Feuerregen




Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.



Johann Wolfgang von Goethe
Selige Sehnsucht




1




Wenn ein Blatt in den Fluss fällt, treibt es die Strömung davon. In den wirbelnden Fluten findet es dann seine neue Welt. Das mächtige Wasser ringt es mit Gewalt nieder und drängt es in seine nassen Fänge. Sieht man dieses Blatt in den Fluss fallen, achtet man nicht darauf, man geht daran vorbei und beschäftigt sich mit den eigenen Problemen. Es kommt einem nicht in den Sinn, dass dieses Blatt verloren ist.
Aber vergessen wird es nie. So klein und unbedeutend ein einziges Blatt erscheinen mag, es wird immer einen Baum geben, und das wird oft schnell missachtet.
Die Erinnerungen der Bäume an diese Blätter werden nicht fortgespült, aber sie verblassen in den Jahren wie alte Farbe an einer Wand.
Meistens geht das Blatt unter und ist unwiderruflich verloren. Aber es kommt vor, dass es an fernen Stränden landet. Mit Glück wird es aufgehoben und vom Wind wieder zurück gebracht. Solche Momente des Glücks, die Momente der Wiederkehr, in denen man auf Knien dem Himmel dankt, sind selten und kostbar wie das Leben selbst.
Meistens enden Märchen so, damit die Kinder mit gutem Gewissen einschlafen können.
Das Leben ist aber kein Märchen.
Tritt der seltene Fall ein und das Blatt geht nicht in den tosenden Strömen des Flusses unter, sondern findet einen Strand, bedarf es eines weiteren kleinen Wunders, in dem jemand das Blatt findet und in dem bergenden Schutz seiner Hände hält.
Aber das Leben ist kein Märchen.
Und was für einen selbst das Wichtigste und Teuerste gewesen war, ist für andere nichts weiter als ein schlammiges Blatt.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ihre Strahlen zum Fenster hereinfielen und sich über Sayays Gesicht legten. Langsam durchbrach warmes Licht die Schatten hinter ihren Augenlidern und vertrieben die Träume. Fast drei Minuten vergingen, bevor sie merkte, dass sie wach war. Mit halbgeschlossenen Augen betrachtete sie die kleinen Staubwölkchen, die sich im goldenen Schein der Sonne drehten, sich verwirbelten, bevor sie langsam, fast anmutig, zu Boden sanken. Weitere fünf Minuten blieb sie noch reglos liegen. Sie horchte auf das sonore Dröhnen des alten Hauses; auf das langsame Knirschen der Wände; auf das vorsichtige Zittern der Erde.
Es war wie damals. Wie immer.
Sayay stand auf und gähnte. Sie blinzelte sich den letzten Rest Schlaf aus den Augen, dann streckte sie sich und gähnte noch einmal. Geblendet schloss sie die Fensterläden. Sofort wurde es dunstig im Zimmer. Das Licht, das durch die Schlitze im Holz kam, schien unnatürlich und falsch zu sein. Es war schmutzig, unrein, war nur die Erinnerung an wirkliches Licht.
Sie ging über knarrende Dielenbretter, als sie durch den kleinen Korridor schlich, der aus ihrem Schlafzimmer in das übrige Haus führte. Die nackten Wände wirkten unfreundlich und bedrohlich. Manchmal hatte sie das Gefühl, die Wände kämen näher und erdrückten sie.
Und manchmal dachte sie dabei, dass es ihr nur recht wäre.
Schließlich trat sie durch den Türrahmen, in dem noch nie eine Tür gehangen hatte, und ging in die Küche. Die wenigen Möbel - ein kleiner, einfacher Tisch und drei Schemel - begrüßten sie mit Stille. So wie an jedem Morgen der vergangenen vier Jahre, seit jegliches lebende Geräusch aus der kleinen Hütte, die Sayay Zuhause nannte, gewichen war.
Mit wehmütigem Blick sah sie auf die alten Holzmöbel. Heute war es besonders schlimm. Das Schweigen. Das Warten auf etwas, das nie geschehen würde. Wie sehr wünschte sie sich den Klang ihrer Stimmen wieder. Waren es wirklich schon vier Jahre? Sie waren so zäh wie Honig und gleichzeitig so schnell wie fließendes Wasser an ihr vorbei geglitten. Und hatten sie zurück gelassen.
Sie konnte es nicht verhindern. Eine kleine Träne rann aus ihrem Auge.
Der Schmerz saß noch zu tief.
In Sayays Kopf war kein Platz für so etwas Lächerliches wie Hoffnung. Ihr Blatt war in den Fluss gefallen und sofort untergegangen. Es kam oft vor, da wünschte sie sich, die Flut hätte auch sie verschluckt. Sie träumte jede Nacht davon - von ihnen. Ihre Stimmen waren so real und nach dem Erwachen kam es ihr vor, als hätte sie eben noch wirklich mit ihnen gesprochen. Sie ging jenen schmerzvollen Tag in Gedanken mehrmals durch, um herauszufinden, ob sie es hätte verhindern können, ob sie hätte helfen können, ob sie
(ob sie nicht auch hätte sterben können)


Aufhören!, schrie sie stumm. Sie wollte nicht daran denken, wollte diese Gedanken nicht. Aber sie kamen jedes mal wieder. Stärker. Wie ein Sturm wüteten sie in ihrem Kopf und die herumfliegenden Trümmerteile trafen sie und verursachten Kopfschmerzen.
“Aufhören”, bettelte sie, und jetzt wurde dem Wunsch eine schluchzende Stimme verliehen. Wenn es noch lange so weitergehen würde …
Die Gedanken gingen, wie sie gekommen waren. Für einen wundervollen Augenblick war ihr Geist leer, bevor er sich wieder im Klaren war, wo er, wo Sayay war.
Die staubige Küche war noch immer stumm. Sayay lief mit stur nach unten gerichtetem Blick durch das Zimmer. Sie wollte nichts mehr essen; ihr war der Appetit vergangen.
Unter den wachsamen Blicken der leeren Wände näherte sich Sayay der einzigen Tür, die das Haus besaß. In dem Bemühen, an nichts zu denken, öffnete sie die Tür. Warmes Licht fiel herein und bildete ein helles Rechteck auf dem Boden. Das Zwitschern von Vögeln und das leise Rauschen des Windes drang in ihre Ohren.
Sie ging hinaus. Hinter ihr schlug die Tür wie von Geistern bewegt zu. Sie drehte sich nicht um.
Kaum hatte sie ihren ersten Schritt getan, fühlte sie sich ungleich wohler als noch vor wenigen Minuten, als sie an
(nein nein nein sei still verdammt)


Sayay fühlte sich besser. Sie war nun in einer anderen Welt. Hier draußen war es warm. Und laut.
Eine sachte Brise streichelte das saftige Sommergras wieder in den Schlaf, aus dem die Sonne es Stunden zuvor gerissen hatte. Als sie Sayay erfasste, schloss sie die Augen und atmete tief durch. Die Bäume raschelten leise. Die Vogelgesänge nahmen kein Ende, nein, sie wurden sogar lauter. Alle Geräusche und Düfte wurden von ihr eingesogen und erinnerten sie daran, dass sie noch immer am Leben war. Sie öffnete die Augen wieder und war nicht sonderlich überrascht, dass die Farben weiterhin keinen Glanz hatten. Seit vier Jahren war jegliche Intensität verloren, die diese Welt einst gehabt haben mochte.
Doch daran konnte sie sich kaum noch erinnern. Es kam ihr wie ein alter Traum vor.
Gegen den blauen Himmel (es waren keine Wolken zu sehen, nicht einmal am Horizont) zeichnete sich ein kleiner Punkt ab. Sayay bemerkte ihn nicht sofort, obwohl sie in seine Richtung starrte. Der Punkt kam näher, beschrieb eine seltsame Flugbahn.
Als Sayay erkannte, was es war, das da auf sie zuflog, konnte sie nicht anders.
Sie lächelte.
Es war ein Schmetterling. Ein roter Schmetterling mit gelben Flecken. Und er flog genau vor ihrer Nase.
Er ist wunderschön

. Sayay verfolgte mit dem Blick einer Träumenden, wie der Schmetterling vor ihr tanzte, nur für sie tanzte, dann einen Moment in der Luft stand, als dächte er über etwas nach, und schließlich davonflog. Sie beobachtete, wie er immer kleiner wurde und aus ihrem Leben schied.
Ein Moment der Sehnsucht verging.
Was war das für ein Gefühl? Irgendetwas in ihr fühlte sich an, als müsste es sofort herausgelassen werden, bevor sie noch platzte. Etwas Vergleichbares hatte sie lange nicht mehr gefühlt; die Erinnerung daran war verblasst.
Später würde sie es mit Freude und Glück vergleichen, aber es war noch stärker als das. Sie fand keinen Namen dafür.
Ein Lichtblitz zwischen den Wolken ihrer Trauer.
Ihre Augen fixierten noch immer den Punkt, an dem sie den Schmetterling aus den Augen verloren hatte. Ein kleines fliegendes Insekt hatte in ihr dieses Echo an frühere - schöne - Erlebnisse geweckt. Nur für wenige Sekunden war er in Sayays Welt getreten. Doch in diesen Sekunden hatte er sie entführt an einen wunderschönen Ort.
Und dieser Ort bildete sich nun vor ihrem geistigen Auge. Träume, Gedanken und Wünsche verwebten sich und formten erst eine leise Melodie, dann eine ganze Welt. Es war ein Palast aus Kristall, in dem sich das Licht tausendfach brach und spiegelte und wo niemals die Schatten länger wurden als die Sonne es zuließ. Das Bild von diesem Kristallpalast hielt sie fest, freute sich über jeden Augenblick in seinen gläsernen Hallen. Hier war sie frei. Hier hörte sie ihren Verstand nicht mehr. Ihr Herz öffnete sich dem Licht.
Ein Seufzen. Wie von weit weg. Aus einer anderen Zeit.
Das wärmende Gefühl verließ sie wieder. Der Kristallpalast verschloss seine Tore.
Sayay stand ein paar Sekunden regungslos. Sie schaute sich um, als suchte sie etwas Bestimmtes. Aber sie fand es einfach nicht. Sie machte ein, zwei Schritte, um sich der Wirklichkeit bewusst zu werden.
Noch nie hatte sie einen Schmetterling aus so kurzer Distanz betrachten dürfen, und sie würde es nie wieder tun, aber das wusste sie noch nicht. Sie würde ihn nie vergessen. Doch in naher Zukunft würde sie kaum Zeit haben, an ihn zu denken.
Denn was nun für eine Zeit anbrach, war die Zeit des Feuers.


2




Pelagi war die älteste noch bewohnte Stadt. Weit im Norden gelegen und vor Äonen von Jahren von Menschen erbaut, bettete sie ein hügeliges, grünes Tal ein. Verließ man die Stadt in südlicher Richtung, erreichte man schon nach zwanzig Minuten den Wald Lera, dessen Ausläufer sowohl weit in den Süden als auch in den Norden ragten. Die dicken Wurzeln durchbrachen die Erde wie große Schlangen, und wenn der Wind über die Bäume streifte, sprachen sie in einer Sprache, die selbst von den Weisesten unter den Weisen nicht verstanden werden konnte. Dabei wand sich der Lera an den Füßen des Heyn-Gebirges entlang und bildete ein nach Osten geöffnetes C, eine Art Schutzwall gegen den grauen Schmutzstreifen am westlichen Horizont - denn mehr war er nicht für die in Pelagi lebenden Seelen -, der, wenn die Sonne unterging, nur noch aus Glut und Flammen zu bestehen schien.
Mit seinen sechshundert Einwohnern war Pelagi die drittgrößte von insgesamt fünf großen Städten auf der Welt Rapen, was Herrlichkeit bedeutet. Größer waren nur die weit im Osten erbauten Orphay und Bedel mit jeweils etwa fünfzehnhundert Bewohnern. An vierter Stelle stand Ylvan im Süden mit vierhundert Einwohnern, und die kleinste Stadt war Gavia mit dreihundert. Gavia lag inmitten des Lera und am Fuß des Heyn-Gebirges.
Von oben betrachtet wirkte Pelagi unordentlich; eine unorganisierte Anhäufung von Gebäuden. Sah man aber etwas länger hin, offenbarte sich eine ovale Grundstruktur, die sich um die einzigen beiden Straßen der Stadt bildete. Die Straßen selbst hatten keinen wirklichen Namen. Man nannte sie nur “Nord-Süd-Straße” und “Ost-West-Straße”.
Die Ost-West-Straße war die längere der beiden. Sie führte nach Osten hin noch gut zwanzig Kilometer, beschrieb dann eine Kurve nach Süden und verlief sich in der Vegetation des Lera-Waldes. Früher waren entlang der Straße noch viele kleinere Siedlungen gewesen, die meisten aber waren wieder verlassen worden, da es die Dorfbewohner in die größeren Städte zog. Man konnte aber noch immer die alten Häuser stehen sehen, die, von Moos überwachsen und von der Zeit verheert, in der Morgensonne glänzten.
Verließ man die Stadt in Richtung Westen, gelangte man nach vier Tagen in die nächstgelegene Stadt Gavia. Auch hier konnte man unterwegs Dörfer finden, aber diese waren noch großteils bewohnt. Derartige Gemeinden - sie umfassten meist nicht mehr als sechzig Personen - waren über ganz Rapen verstreut. Besonders in den flussreichen Gebieten rund um Bedel und Orphay und nördlich des großen Sees Aravan, dessen Durchmesser fast zweihundert Kilometer maß und den westlichen Teil Rapens vom östlichen trennte. Obwohl Aravan in seiner Größe eher ein Meer denn ein See war, wurde er nie als ein solches bezeichnet, denn Aravan bedeutete “See der Alten“.
Die kleinere Nord-Süd-Straße traf ihr Pendant etwas versetzt, sodass sie ein kleines T bildeten. In beide Himmelsrichtungen verlief sie nur zirka fünf Kilometer und steuerte dabei kein Ziel an. Sie endete mitten in der Wildnis plötzlich.
Die ersten Häuser, aus denen sich später eine Stadt bilden sollte, entstanden unmittelbar um das Straßenkreuz herum und auf engstem Raum. Die verwitterten Holzbauten sahen aus wie grob aneinander gelehnte Bretter. Doch man konnte in ihnen nach wie vor leben, und nach mehr verlangte es die friedvollen Einwohner dieser Stadt, die in der aufgehenden Sonne glitzerte wie Gold und in der untergehenden Sonne glühte wie Feuer, nicht. Erst als immer mehr Siedler hinzukamen, wurde die strenge Ordnung allmählich aufgehoben und die Häuser wurden mehr oder weniger wahllos in die nähere Umgebung gesetzt.
Ein Teil der Stadt - es war der südwestliche Teil, in dem auch Sayay lebte - war auf einem Hügel errichtet worden, wohingegen der nordwestliche fast in einer kleinen Senke verschwand. Der Ostteil Pelagis war zugleich der älteste Stadtteil und auf ebenem Gelände erbaut. Stand man auf dem Gipfel des Hügels, konnte man sehen, wie die Stadt lebte
(atmete wartete)


und blühte, wie mit Einbruch des Tages langsam Pelagi aus der nächtlichen Umarmung gezogen wurde. Dann erwachten die Bewohner Pelagis.
Mit dem Aufgehen der Sonne erwachten die Bewohner Gavias.
Mit dem Aufgehen der Sonne erwachten die Bewohner Ylvans.
Mit dem Aufgehen der Sonne erwachten die Bewohner Orphays.
Mit dem Aufgehen der Sonne erwachten die Bewohner Bedels.
Die Städte und Dörfer auf der Welt Rapen waren vor langer Zeit von Menschen erbaut worden. Aber nur wenige lebten noch tatsächlich in ihnen. Man traf selten einen ihrer Rasse, denn der Zeitfluss steht niemals still, und je mehr Jahre vergingen, desto weniger Menschen wandelten auf Rapen. Sie waren in den Zeitfluss gefallen wie Blätter, und nur wenige konnten andere Ufer erreichen.


3




Sayay musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können, denn das Sonnenlicht blendete sie. Sie stand genau auf der Spitze des Hügels und schaute auf ihre Heimat herunter. Ein kleiner, staubiger Trampelpfad schlängelte sich in die Stadt hinunter. Schon lange vor ihr waren die anderen aufgewacht und gingen ihrem Tagwerk nach.
Kleine Kinder, die lachend durch die Stadt liefen und Verstecken spielten.
Jugendliche, welche zum ersten Mal in ihrem jungen Leben das andere Geschlecht als interessant betrachteten und sich in ersten Flirtversuchen übten.
Erwachsene, die sich unterhielten oder arbeiteten.
Und die Alten und Greisen, wie sie gemächlich über die Straßen schlurften und an ihre eigene Kindheit erinnert wurden; und murrten, wie schnell doch die Zeit vergangen war.
Das alles sah Sayay, als sie Pelagi betrachtete. In ihr breitete sich ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit aus, weil sie immer noch ihre Stadt liebte. In den Kindern und Alten sah sie ihr Leben wie es war und wie es bald werden würde.
Und sie freute sich wirklich.
Wenn doch nur die anderen hier wären.
Der dumpfe Druck in ihrem Kopf nahm wieder zu, wie er es schon heute Morgen getan hatte, als würde ein Unsichtbarer seine kalten Hände auf ihren Schädel pressen, aber es war nicht ganz so schlimm. Sie drehte ihren Kopf zurück zu ihrem Haus. Es war das letzte in diesem Teil der Stadt. Abgeschieden und grau sah es sie mit seiner überwucherten Fassade an. In der Nacht konnte man es überhaupt nicht mehr sehen, dann war es in den Bäumen, die darum herum wuchsen, verschwunden. Es würde nicht mehr lange dauern, dann war ihre kleine Hütte ganz der Natur verfallen, und der Gedanke daran machte sie traurig und bestürzte sie. In diesem Haus war sie zur Welt gekommen und hatte sie ihr gesamtes Leben verbracht, einschließlich der letzten vier Jahre, denn obwohl das Haus eine ständige Erinnerung an den Schmerz war, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, es zu verlassen.
Ihre glasigen Augen füllten sich wieder mit Leben, als sie sich umwandte. Es hatte etwas Poetisches. Auf der einen Seite die in der Sonne funkelnde und lebende Stadt, auf der anderen die kleine kalte, abgeschiedene Hütte.
Sayay schnaufte und machte sich auf den Weg.
Der Pfad hinunter in die Stadt kam ihr oft länger vor, als er eigentlich war. Er ging nicht schnurgerade den Hügel hinunter, sondern nahm wie ein Fluss eine Mäanderform an. Entlang dieser kurzen Strecke waren die Häuser besonders schön, fand Sayay. Wenn die Sonne aufging, waren diese Dächer die ersten, die sich färbten, und die letzten, die mit dem Untergehen der Sonne wieder ihre ursprüngliche Gestalt annahmen. Außerdem standen sie hier nicht so gedrängt wie an der Kreuzung, und so konnte man sich am Gras satt sehen - ohne dafür das Haus verlassen zu müssen. Es streckte sich noch immer im Wiegenlied des Windes und glänzte, wenn es sich zur warmen Erde bewegte. Zu den Vogelgesängen mischte sich Grillengezirpe. Und darüber strahlte die Sonne.
Der südwestliche Teil Pelagis versank in einem Schein aus Grün und Gold.
Früher war sie, Sayay, oft noch vor Sonnenaufgang aufgestanden, um die Verwandlung der Häuser, wie sie es still nannte, zu beobachten. Stunden hatte sie im Gras gelegen. Häufig waren auch Wolken über den Himmel gekrochen, die dann wie der Himmel zuerst violett, dann orange, später gelb wurden. Diese Zeiten waren vorüber. Seit vier Jahren hatte sie sich nicht mehr hier ins Gras gelegt. Der Anblick hatte sie ermüdet, fast verstört. Die Farben der Sonne waren verblasst und sie bemerkte sie manchmal überhaupt nicht mehr.
Die Schatten wurden immer kürzer, je höher die Sonne stieg. Bald würde es Mittag sein. Sayay ging weiter. Die leeren Häuser gähnten sie an.
Nach wenigen Minuten - es waren vielleicht noch zweihundert Meter Weg bis in die Stadtmitte - fiel ihr Blick auf eine kleine Höhle in einer Felswand neben ihr, die sich aus dem Hügel auftat. Über der Höhle wuchsen große Buchen. Ihre tief hängenden Äste verbargen den Eingang fast gänzlich, der nicht mehr war als eine kleine Spalte.
Sayay ging näher heran. Die Blätter an den Ästen raschelten unheimlich, als sie ihren Kopf hindurch streckte. In der Höhle - sie war wirklich klein, bot kaum Platz für mehr als sechs Personen - war es dunkel und stickig. Altes Laub war über den Boden verstreut. Von der Decke hing eine der Buchenwurzeln. In den Ecken hatten sich einige Spinnen ein Heim gebaut.
Sie erinnerte sich noch allzu gut daran, wie sie und ihre Freunde sich hier drinnen versteckt hatten. Es war ihr persönlicher Ort. Ein winziger Fleck Kindheit, für die Erwachsenen nicht sichtbar, weil sie niemals die kleinen Dinge betrachteten, so wie es Kinder taten. Im Überschwung kindlicher Faszination hatten sie es “Hochburg” genannt, und wer seinen Eltern davon erzählte, wurde über Wochen von den Spielen ausgeschlossen.
Natürlich wussten die Eltern der Kinder, die sie damals waren, von diesem Ort, sie hatten immer von ihm gewusst, und Sayay errötete ein klein Wenig, weil sie wie die anderen dieses Versteck für unantastbar und geheimer als geheim empfunden hatte.
Sie nahm ihren Kopf heraus. Kleine Krümel Schmutz purzelten ihr aus den Haaren.
Den Weg ging sie weiter, ohne noch Gedanken an ihre Kindheit zu verschwenden.
Als sie schon die aufgeregten Stimmen hören konnte, die fast unaufhörlich die Straßen beherrschten, traf sie ein stechender Schmerz. Sie schrie kurz auf und zog die Luft scharf durch ihre Zähne ein.
Sie hob ihre rechte Vorderpfote. Ein spitzer Stein hatte sich tief in das Fleisch gebohrt. Unaufhörlich sickerte Blut aus der Wunde und verfärbte ihr Fell dunkelrot. Mit ihren Zähnen zog sie vorsichtig den Stein heraus. Dann ließ sie ihn fallen, und ein kleiner Schwall Blut folgte ihm, der nach ein paar Sekunden zu einem tropfenden Rinnsal abflachte und irgendwann einfach aufhörte.
Aufgewirbelter Dreck hatte sich auf ihr sonst glänzendes Fell gelegt und machte es stumpf. Die Wunde pochte im Rhythmus ihres schlagenden Herzens.

Nachdem die Menschen in den Fluten der Zeit untergingen und allmählich vergessen wurden, nahmen andere Wesen ihren Platz auf der Welt ein. Wesen von äußerster Eleganz und Schönheit. Zwar waren sie den Menschen in vielen Punkten ähnlich; sie sprachen, handelten, dachten und fühlten wie sie. Auch gingen viele auf zwei Beinen - es gab kaum welche, die auf vier Beinen gingen. Aber ihr Aussehen glich denen von Tieren, wenn auch nicht völlig. Ihre Körper waren mit Fell und Schuppen überwachsen. Diejenigen, die zweibeinig waren und aufrecht gingen, hatten anstatt Vorder- und Hinterläufen normale Arme und Beine und statt der Klauen und Krallen Hände wie die Menschen. Von der Größe waren sie ebenso den Menschen gleich wie nach der Lebensspanne, die ihre fleischliche Hülle auf Rapen hielt. Doch ihre Augen waren nicht normal - sie schienen immer zu wechseln. Mal glaubte man, in die tiefen, unerforschten und vertrauten Augen eines Freundes zu sehen, im nächsten Moment aber blickte man in die gelb blitzenden Augen eines Tieres.
Sie hatten einen Namen in einer längst untergegangenen Sprache, an den nicht einmal sie selbst sich erinnern konnten, so alt war er.
Doch in der Sprache der Menschen bedeutete er: Tierwesen.
Sayay war ein Tierwesen. Sie hatte die Gestalt eines Wolfes und ging auf vier Beinen. Sie war nicht klüger oder gerissener als andere, auch war sie nicht schneller oder stärker als sie. Aber sie war das wohl schönste Wesen, das jemals auf Rapen wandelte.
Als der kleine Trampelpfad kurz vor der Kreuzung in die Nord-Süd-Straße überging, achtete sie nicht auf die vorbeigehenden Tierwesen, auch nicht, als manche sie ansprachen. In Pelagi lebten ausschließlich Tierwesen. Die Menschen hatten diesen Teil der Welt verlassen, und Sayay hatte selbst nur in Geschichten von ihnen gehört.
Unbeachtet von den anderen Bewohnern der Stadt Pelagi, schlich sie vorbei, wobei die verletzte Pfote etwas hinkte. Die Häuser hier waren die ältesten der Stadt, aber dennoch waren die meisten in einem besseren Zustand als Sayays, obwohl es vergleichsweise jung war. Sozusagen ein Kind, das noch beschützt werden musste.
Vor den Schrecken der Nacht. Und anderen Dingen, die keinen Namen haben, Dinge, die keinen Namen haben durften.
Es war schon den ganzen Sommer über warm, aber dieser Tag war heißer als die anderen.
Die Kreuzung war groß und eigentlich mehr ein Versammlungsort als eine Straße. Fast alle Tierwesen trafen sich hier, wenn es etwas zu bereden gab. Aber auch sonst wurde sie für alle möglichen Veranstaltungen genutzt. Wenn es etwas zu feiern gab, traf man sich an der Kreuzung. Wurde etwas verkündet, was stadtweite Auswirkungen hatte, traf man sich an der Kreuzung.
Auch die Todesmitteilungen wurden hier verkündet. Nahe Verwandte und Freunde wurden vorher informiert und nahmen hieran nicht teil. Aber nicht Sayay. Sie hatte es als Letzte erfahren. Sie würde niemals vergessen, wie es war, von den anderen angestarrt zu werden, wie sie eine Traube um sie gebildet und sie stumm angesehen hatten. Einige wollten sie trösten, aber sie wusste ja noch nicht einmal, was geschehen war, dass sie tot waren, von der Welt getilgt, in den Fluss gefallen und nicht wieder zurück zu bringen …
Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie richtete die Ohren auf, denn jemand hatte sie gerufen.
“Sayay!”
Sie erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte einer der wenigen Personen, mit denen sie überhaupt noch sprach.
Die Stimme gehörte ihrer besten Freundin Faran.
“Sayay, hey.” Vor Sayay richtete sich eine hübsche Füchsin in ihrem Alter auf. Ihr Fell wurde von der Sonne beschienen. Es brannte in einem grellen Rot.
“Was war los? Ich hab dich viermal gerufen.” Ihre Stimme war melodisch und weich wie Seide.
“Oh … ich … war wohl in Gedanken”, antwortete Sayay. Ohne es zu wollen, nahm sie einen traurigen Blick an.
Faran sagte besorgt: “Ist alles in Ordnung?”
Sayay schüttelte den Kopf, aber nicht um zu verneinen, sondern um ihn von Gedanken zu befreien. “Ja. Alles okay.”
Ihre Freundin war sichtlich erleichtert. Seit jenem Tag vor vier Jahren kümmerte sie sich um Sayay. Als einzige ihrer alten Freundinnen, die sie nicht einmal mehr ansahen, wenn sie aneinander vorbeigingen, war sie bei ihr geblieben. Sie hatte ihr Essen gebracht, wenn Sayay das Haus nicht verlassen wollte, was in den ersten Monaten der Fall war. Faran war es, wegen der Sayay zum ersten Mal wieder lachen konnte. Und sie war es auch, der sie alles erzählt hatte über das Gefühl, das sie bei der Benachrichtigung empfunden hatte, die Leere, die sich in ihrem Herzen ausgebreitet hatte, ein Stillstand, die spitzen Eiszapfen, die sich in ihre Seele gebohrt hatten, und die Albträume, in denen sie immer wieder versuchte, alles gut zu machen, es zu verhindern, nur um weinend aufzuwachen und schluchzend das Tageslicht zu erwarten.
Dieses Gespräch hatte mehr als drei Stunden gedauert und war oft durch lange Pausen des Schweigens und des Weinens unterbrochen worden. Sayay hatte ihrer Freundin alles erzählt außer einer Sache. Nämlich, dass sie mehr als einmal kurz davor stand, Schluss zu machen. Dem Leben ein Ende zu setzen. Die Brücke einstürzen zu lassen.
Und sie hätte es getan, wenn Faran nicht gewesen wäre. Dafür würde sie ihr immer und ewig dankbar sein, auch wenn sie nichts davon wusste.
Faran lachte vorsichtig. “Hab ich etwas im Gesicht oder was?”
Sayay verstand nicht, bis sie merkte, dass sie ihre Freundin die ganze Zeit mit einem Ausdruck angestarrt hatte, der sowohl aus Liebe als auch aus Dankbarkeit und - ein Bisschen - aus Bewunderung bestand.
Sayay lächelte, schüttelte leicht den Kopf und sah zu ihrer Freundin hinauf. Faran ging auf zwei Beinen, wie die meisten Tierwesen, und war deshalb über einen Meter größer als Sayay. Ihr langer Schweif verfärbte sich an der Spitze weiß und wurde vom Wind wie die Bäume und das Gras gewiegt. Auch das Fell von ihrer Brust aufwärts zum Hals war weiß. Über ihren funkelnden grünen Augen saßen zwei spitze, braungeränderte Ohren, und an ihrem linken Handgelenk befand sich ein braunes Mal, das wie eine Schlange das Gelenk einmal umrundete.
Augenblicke der Stille entstanden.
“Und … wie geht’s dir so?” Sayay bemühte sich, ein Gespräch zu beginnen; etwas, das sie seit Jahren kaum mehr getan hatte.
Faran machte eine wegwerfende Geste. Du weißt schon. Wie immer.


“Vielleicht etwas Neues? Ich bekomm ja nichts mit in meiner Hütte.” Sie war erschrocken, wie traurig und, ja, einsam diese Worte aus ihrem Mund kamen. Aber Faran schien sie nicht gehört zu haben. Oder sie tat so, als hätte sie nichts verstanden.
Und dafür liebte Sayay ihre Freundin.
“Du kennst mich. Eigentlich das Übliche”, sagte Faran. “Obwohl …” Sie schaute nachdenklich in den blauen Himmel hinein.
“Azec hat jetzt einen kleinen Bruder.” Azec war einer von Sayays früheren Freunden.
“Ja?” Sie war mit einem Schlag aus ihrer Lethargie gerissen. “Seit wann?”
“Erst vorgestern. Er heißt Toru, wie sein Großvater.”
Sayay lächelte. Sie liebte Babys, und Faran wusste das.
“Du musst ihn dir unbedingt anschauen mit seinen großen Augen und kleinen Pfoten.“ Ihre Stimme nahm diesen Ton an, den nur Frauen annehmen konnten, wenn sie über Babys sprachen. “Richtig süß. Azec kümmert sich wirklich vorbildlich um den Kleinen. Er hatte ja nie Geschwister. Ich wollte dann sowieso mal hingehen. Kommst du mit?”
“Ja natürlich … halt ...” Sayays gute Laune wurde durch einen winzigen Schatten getrübt. “Nein, heute geht es nicht, aber morgen dann.”
“Wieso?” Faran starrte sie überrascht an. “Du liebst doch Babys.”
“Ja ...”
“Mehr als alles andere.”
“Ja ...“
“Mehr als alles auf der Welt.”
“Ja, schon … und ich würde wirklich gerne … aber …” Sie trat auf den Worten herum wie auf einem alten Teppich und suchte nach den passenden. Sie fand sie nicht.
“Es geht nicht”, sagte sie entschieden. “Morgen dann.”
Faran schien enttäuscht, sagte aber nichts mehr dazu. Plötzlich riss sie die Augen auf.
“Deine Pfote blutet ja!”
“Ach das.” Sayay hob ihre Pfote in die Luft und betrachtete das dunkelrot verfärbte Fell. “Ist nur halb so schlimm.”
“Wir sollten die Wunde säubern”, verlangte Faran. “Sie könnte sich entzünden.”
“Lass gut sein, es war nur ein kleiner Stein. Es tut schon gar nicht mehr weh.” Es war eine Lüge. Faran hatte ihr in den letzten Jahren geholfen, wieder ins Leben zu finden. Da war es ihr unangenehm, sie mit dieser Lappalie zu belästigen.
“Wenn sich die Verletzung entzündet, könntest du Fieber bekommen.” Mit übertriebener Sorge sah sie zu Sayay hinunter. “Oder schlimmer.”
Sayay lehnte ihre Hilfe unerbittlich ab. Nach ewigem Hin und Her gab Faran schließlich klein bei. “Aber wenn du merkst, dass dir komisch wird oder dass die Wunde …”
“Dann komm ich augenblicklich zu dir gerannt, ja, ist schon okay.” Sayay musste lächeln. Faran konnte nie fürsorglich genug sein.
Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten; über die Hitze, die neuesten “Geschichten von Interesse”, wie Faran sich ausdrückte, den Klatsch der letzten Tage und alles andere, was noch ausstand.
“Wo ist eigentlich Foran?”, fragte Sayay dann. Foran war Farans Zwillingsbruder. Sayay kannte sie schon ihr ganzes Leben lang und konnte sie daher voneinander unterscheiden, aber einem Fremden kam es im ersten Moment so vor, als sähe er doppelt. Denn die beiden hoch gewachsenen Fuchswesen sahen beinahe vollständig identisch aus. Sogar ihre Stimmen und die Art, wie sie gingen, waren unglaublich ähnlich. Wenn man sie nicht fast jeden Tag zu Gesicht bekam und an ihre Eigenarten gewöhnt war, konnte man sich aber auch anders behelfen, sie zu unterscheiden, denn das braune Mal, das wie eine Schlange um Farans linkem Handgelenk ruhte, befand sich bei ihrem Bruder an dem rechten.
“Warum fragst du denn?” Ein verschmitztes Lächeln breitete sich über Farans Gesicht aus. Sayay bemerkte es und sagte schnell: “Doch nicht deswegen

. Das ist schon Jahre her!”
“Jaja … jaja … jaja”, fiel ihr die Füchsin ins Wort. “Hab schon verstanden, du sorgst dich nur um sein Wohlergehen.”
Sayay schnappte nach ihr und lachte laut hallend. Als sie noch Kinder gewesen waren, gab es das offene Geheimnis, dass Sayay in Foran verliebt sei. Was auch stimmte. Aber außer Faran wusste niemand etwas Genaues. Aber brauchte ein Kind wirklich die Wahrheit, um sich seine eigene Meinung zu bilden?
Und es war schon so lange her.
Es dauerte fast drei Minuten, bevor sich die zwei Freundinnen wieder beruhigt hatten. Dass sie von der Menge bereits mit neugierigen Blicken bedacht wurden, fiel ihnen nicht auf.
“Ich - weiß nicht recht - wo er - sein könnte”, antwortete Faran schließlich auf Sayays Frage und japste nach Luft. Sie musste sich anstrengen, nicht wieder zu lachen. “Ich glaube, er wollte zu - irgendeinem der Dörfer, die Richtung Gavia liegen. Ja, genau.”
“Was will er bitte dort”? Sayay musste sich an der Wand eines Hauses anlehnen, um nicht umzufallen. Das ganze Lachen hatte ihr die Kräfte geraubt.
Sie hatte fast vergessen, wie es sich anfühlte, vor Lachen erschöpft zu sein.
“Mich darfst du da nicht fragen. Wie ich ihn kenne, macht er mit seinen Freunden entweder Unfug oder er versucht mal wieder, ein Mädchen zu finden”, sagte Faran. “Das heißt, wenn ihr zwei doch nicht …” Ihre Stimme hob sich mit den letzten Worten, und mit hochgezogener Augenbraue schielte sie zu ihrer Freundin hinunter.
“Soll ich dich wieder beißen?” Sayays Stimme überschlug sich.
Faran verneinte dankend.
Sie schwiegen sich an. Als es auch nach einer Minute nicht gebrochen war, räusperte sich Sayay.
“Ich … geh dann mal”, sagte sie.
Faran spitzte die Ohren. “Wohin denn, junges Fräulein?”
“Ach, mal hier, mal da.” Sie neigte den Kopf von einer zur anderen Seite. “Einfach mal weg.”
“Aber dass du mir zum Abendessen zu Hause bist.” Mit mahnend ausgestrecktem Zeigefinger beugte sie sich zu Sayay runter.
“Ja, Mama”, antwortete Sayay und verstummte dann. Faran erhob sich unangenehm berührt. Es sollte ein Witz sein, aber jetzt, da Sayay diese Worte gesprochen hatte, wünschte sie, sie hätte die Klappe gehalten.
“Also ich … geh dann mal”, wiederholte sie, und diesmal sagte Faran nichts.
Traurig sah Faran zu, wie ihre Freundin die Straße Richtung Norden entlang ging, nicht auf die anderen achtend, dann immer kleiner wurde und schließlich hinter einem Hügel verschwand.
Wo gehst du nur hin, mein kleines Blatt, der Wind weht dich noch fort, dachte Faran und war verdutzt über sich selbst, als sie noch einmal über diese Worte nachdachte.
Sie drehte sich um. Die Masse auf der Kreuzung hatte sich scheinbar verdoppelt. Irgendwo musste dieser Foran doch stecken.


4




Niemand sah sie, als sie über die Wiesen lief. Unbemerkt vom Rest der Welt stahl sie sich Meter für Meter durch die Graslandschaft, die beinahe den gesamten Teil der östlichen Welt in Beschlag nahm.
Das Land war geprägt durch unzählige Hügel. Es sah aus, als wäre hier einst ein Meer gewesen und mitten in hohem Wellengang erstarrt. Überall standen kleine Baumgruppen; Birken, Buchen und Eichen. Die Sonne tauchte sie in goldenen Dunst. Der lange und sehr heiße Sommer (es war sogar der heißeste seit über zweihundert Jahren) und der oft tagelang ausbleibende Regen hatten die Landschaft an vielen Stellen ausgebleicht. Oft schien der Boden mit Stroh ausgelegt und nicht mit Gras überwachsen. Dennoch war der Zauber der Schönheit nicht zu brechen. Ohne Sorgen konnte man hier verweilen und die Zeit fließen lassen. Der Himmel darüber war durchgehend hellblau, nur am Horizont tauchten ausgewaschene Stellen auf. Im Westen war das Heyn-Gebirge noch immer der graue Koloss, der alles mit einem zornigen Auge beobachtete, das es wagte, in seinem Schatten zu wandeln. Mittlerweile krönten Wolken sein Haupt. Zu seinen Füßen wuchs der Lera-Wald, dessen knorrige alte Bäume immer sprachen, und der immer in von der Sonne beschienenem glitzernden Nebel getaucht war und Wanderern oft als Traumgebilde erschien.
Kleine Bäche funkelten silbern in ihren steinigen Betten. Rund um ihre Ufer wuchsen wilde Blumen in allen nur erdenklichen Farben. Hummeln und Bienen labten sich an dem kostbaren Blütennektar. Das Rauschen der kleinen Insektenflügel erfüllte Sayays Ohren. Sie war eine volle Stunde ohne Pause gelaufen, immer den Kopf Richtung Norden gerichtet. Die Umgebung war an ihr vorbeigeflogen wie die letzten vier Jahre. Die Schönheit dieses Landes machte sie froh, und manchmal lachte sie ohne erkennbaren Grund, einfach weil es hier so schön war.
Es war ein aufrichtiges Lachen, das aus den tiefsten Niederungen ihrer Seele stammte.
Hier gab es keine Hektik. Keine Kreuzung, an der es so laut zuging, dass einem die Ohren schmerzten. Hier gab es nur Frieden. Egal, was in den Untiefen der Welt für Kreaturen hausen mochten oder welches Übel auch immer in fernen Gegenden herrschte - das Böse schien diesen Teil der Welt vergessen zu haben. Die Grasebenen um Pelagi zählten zu den schönsten auf ganz Rapen. Was wohl auch mit der Ruhe hier draußen zu tun hatte.
Sayay liebte die Stille der Natur. In der beklemmenden Enge ihres Hauses horchte sie vergebens auf ein Geräusch, das nicht von ihr stammte. Hier gab es Geräusche, auch wenn man einige von ihnen nicht hörte. Man konnte sie spüren wo immer man auch ging, aber sie wirkten eher als eine Art Aura, die dieses Land umgab. Es war vergleichbar mit der Anspannung vor dem großen Sturm, jedoch mit dem Wissen, dass nichts Schlimmes geschehen würde.
Es war gut. Es war richtig.
Es war beruhigend

.
Aber die junge Wölfin, die am Rand des Baches lag und aus der Ferne betrachtet zu schlafen schien, wusste nur zu gut, dass die Stille meist lauter war als jeder Stadtlärm.
In diesem Fall wurde die Stille gebrochen
(Summm … summm … summm)


durch aufgeregtes Schlagen
(Summm … summm … summm)


von winzigen Flügeln.
Irgendwann hatte ihre Wunde wieder angefangen zu bluten. Bis dahin hatte sie den pulsierenden Schmerz ignoriert. Jetzt lag sie im Gras, die verletzte Pfote ins wohltuende Wasser getaucht. Es umspülte ihr Fell und befreite dieses von Schmutz und getrocknetem Blut. Der kleine Riss hatte sich mit Eiter gefüllt und das Fleisch darum war angeschwollen. Hoffentlich entzündet es sich nicht, dachte Sayay, während sich eine kleine Biene auf ihrem Kopf niederließ, feststellte, dass sie keine Blume war, und wieder davonflog. Kurz dachte Sayay daran, dass sie Farans Hilfe vielleicht doch hätte annehmen sollen …
Fünf Minuten vergingen.
Sayay zog die Pofte heraus und begutachtete sie. Das nasse Fell glänzte und lag dicht an ihrer Pfote an. Nachdem das kalte Wasser zuerst einen stechenden Schmerz verursacht hatte, war dieser zusammen mit der Schwellung abgeklungen. Der Eiter und der Schmutz waren vollständig beseitigt.
Sayay nickte zufrieden.
Wäre sie in der Heilkunst bewandert, hätte sie, nachdem die Wunde gereinigt wurde (was schon spät genug geschehen war), sie zusätzlich desinfiziert; die dazu notwendigen Kräuter wie Schlachtenwuchs und Meeresschaum wuchsen überall auf Rapen. Damit wäre einer Entzündung vorgebeugt.
Doch Sayay wusste nichts davon. In den folgenden Stunden verschloss sich die Wunde, füllte sich erneut mit Eiter und schwoll an.
Wie sich herausstellen sollte, rettete diese Unkenntnis ihr das Leben.
Bevor sie wieder aufbrach, trank sie sich an dem Wasser satt. Das ausgefallene Frühstück machte sich durch lautes Magenknurren bemerkbar.
Die roten und gelben und blauen Blütenblätter wurden vom Wind bewegt und schienen ihr zu winken, als sie wieder aufbrach. Langsam verstummte das Gebrumm der Bienen. Stille umfing sie. Hier draußen waren keine Vögel; und wenn doch, versteckten sie sich vor dem, was noch kommen sollte.

Die Bäume, unter denen sie ging, bedeckten Sayay mit gesprenkelten Schatten. Die Sonne durchbrach das Blätterdach an vielen Stellen und glitzerte zwischen den Ästen und Zweigen. Sie begann bereits, wieder unterzugehen. Bald würde sie hinter dem Gebirge verschwinden und die Berge wieder in Brand stecken.
Aber bis dahin wäre Sayay schon zu Hause. Ihr Ziel, wegen dem sie fast zwei Stunden gewandert war, lag nur noch Minuten vor ihr. Sie kannte dieses kleine Waldstück - es war die äußerster Spitze des nördlichen Teils des Lera und nicht breiter als ein paar hundert Meter - besser als jeder andere. In vergangenen Jahren war sie so oft hier durchgegangen, dass sie ihn blind hätte durchqueren können, ohne sich an einer Wurzel zu stoßen.
Wie ein Phantom huschte sie unter den Bäumen hindurch. Die Luft hier war kühl und angenehm.
Sayays Körper war eine Komposition aus Licht und Schatten, Tag und Nacht. Das Fell auf ihrer Unterseite von der Schweifspitze bis hin zu ihren Lefzen, das Fell in ihrem Nacken und die großen Pfoten (auch die verletzte, die sich allmählich und still wie ein Einbrecher mit Eiter füllte) waren weiß. Hingegen waren ihre langen Beine, ihr Kopf, die keck aufgerichteten Ohren, der Rücken und die Oberseite des Schweifes schwarz. Aus ihrer Stirn fielen weiße Strähnen in ihr Gesicht, hinter denen in großen Augen ein wunderschönes Licht von dunklem Rot brannte, in dem sich alles verlor, das sie erblickte, und welches allen, die sie erblickten, das Gefühl gab, verloren zu sein. Die Nase an der Spitze ihrer wohlgeformten Schnauze wirkte klein und zierlich.
Sayay war wahrlich schön. Aber nicht nur äußerlich, auch ihr Charakter und ihre Seele waren es. Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, aus Sayays Geist strahle ein warmes, goldenes Licht.
Und das macht dich, hatte sie dann mit einem liebevollem Lächeln hinzugefügt und ihr das Fell zerzaust, zu meiner kleinen Sonne.
Mutter …


5




Die letzten Tage und Wochen hatte es nur geregnet. Ohne Unterlass war aus den schweren, schwarzen Wolken der kalte Regen geströmt, hatte die Häuser gepeitscht und die Flüsse anschwellen lassen. Wie Geschosse waren die Tropfen, die den Boden aufwühlten und alles in Schlamm auflösten. Der Himmel tat scheinbar alles, um die Welt zu ertränken.
Doch so lang anhaltend der Atem des Sturmes auch war, irgendwann erbarmte er sich und ließ nach einer Ewigkeit die Sonne gewähren. Es war, als wäre ganz Rapen aus einem Traum erwacht. Die Blätter der Bäume hingen schwer beladen vom Regen herab. Ein fast unsichtbarer, grauer Dunst lagerte über dem Gras, auf dem die Wassertropfen im Licht der Sonne glänzten. Vögel besangen den zweiten Frühling an diesem spätsommerlichen Tag vor vier Jahren. Nie zuvor oder danach hatte es in diesen Ausmaßen geregnet. Einige der Alten und Abergläubischen sahen darin ein Zeichen, die Götter seien wütend über das unselige Treiben der Sterblichen, aber diese Ansicht fand kaum Anklang. Vielmehr freute man sich, dass man nun endlich wieder das stickige Haus verlassen konnte. Wenn man über Wochen nur das einschüchternde Klopfen des Regens an die Tür und die Wände hörte und die abgestandene und unbewegte Luft einatmete, war man bereits über einen winzigen Moment der Ruhe und eine kleine Brise dankbar. Aber manchmal musste man auch nach draußen, um Nahrungsmittel zu holen oder denen welche bringen, die aus gesundheitlichen Gründen das Haus nicht verlassen konnten. Diejenigen, die in den alten Bauten an der Kreuzung wohnten, hatten zudem mit den Wassermassen zu kämpfen, die besonders von dem Hügel im südwestlichen Stadtteil Pelagis kamen und nicht wenige Häuser fluteten.
Sayay stand mit großen Augen vor der offenen Tür. War die Welt für sie schon immer ein wunderschöner Ort gewesen, so war sie jetzt, nach Wochen der Dunkelheit, noch schöner. Der Regen hatte alle Farben intensiviert. Es blendete sie beinahe schon. Ein freudiges, ehrliches Lächeln hatte sich auf ihr hübsches Gesicht gelegt. Sie war froh, auf der Welt zu sein, am Leben zu sein, hier zu sein, im Zentrum dieser Schönheit der Natur, die sie gefangen nahm.
Hinter ihr im Haus rumpelte es. Das aufgeregte Tapsen kleiner Pfoten war zu hören. Kurz darauf kam ein kleines Wolfswesen um die Ecke gesprungen, schlitterte einige Meter über den Boden und knallte gegen die Wand.
Sayay zuckte zusammen, als könnte sie den Aufprall spüren. Besorgt ging sie ein paar Schritte auf ihre kleine Schwester zu.
“Hast du dir was getan, Shanya?” In ihre junge, hohe Stimme hatte sich eine Mischung aus Sorge und Belustigung geschlichen.
Shanya rappelte sich auf und schüttelte sich. Sie sah ihrer drei Jahre älteren Schwester sehr ähnlich. Sie unterschieden jedoch zwei wesentliche Eigenschaften. Die eine war, dass Shanya neben der angeborenen Lebensfreude, über die auch ihre Schwester verfügte, zudem einen außerordentlichen Schlag Ungeduld und Neugier mitbrachte. Wenn sie versuchte, auch nur eine Minute regungslos stehen zu bleiben, begann sie bereits nach wenigen Sekunden, am ganzen Leib zu zittern und mit den Pfoten auf den Boden zu trommeln. Nichtstun war für sie ein unerträgliches Ärgernis. Und jede tatenlose Sekunde erstreckte sich in die Ewigkeit.
Die andere Sache, die sie unterschied, war, dass Shanya anders als Sayay auf zwei Beinen ging. So war sie trotz des Altersunterschiedes etwas größer als ihre ältere Schwester und schaute zu ihr herab, als sie wieder stand.
“Geht’s wieder?” Sayay konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. “Hast du dir was getan?”
Shanya legte kurz den Kopf schief, als würde sie auf etwas lauschen. Ein kurzer gelber Schein durchzuckte ihre Augen. Dann lächelte sie breit. “Es hat aufgehört zu regnen!”, rief sie fröhlich und rannte aus dem Haus. Sayay sah ihr nach und musste lachen. Um ihr Herz wurde es warm. Sie liebte ihre Schwester.
“Komm! Komm schon!”, rief Shanya durch die geöffnete Tür. “Komm raus!”
Wenn man den ganzen Tag über nur spielte, verging die Zeit immer zu schnell. Das mussten auch Sayay und Shanya eingestehen, als sie von ihren Eltern zum Abendessen reingerufen wurden. Traurig, aber ohne Widerworte, und nass vom noch feuchten Gras waren sie wieder ins Haus gegangen. Als sie aber der köstliche Geruch von gebratenem Fleisch umfing, waren alle schlechten Gedanken wie weg geblasen. Während ihre Eltern und Shanya auf den drei kleinen Schemeln am Tisch saßen, aß Sayay aus einer kleinen Schüssel auf dem Boden. Sayays Vater hasste es, sie so auf dem Boden sitzen zu sehen, und sie wusste es, aber es störte sie nicht, denn sie wusste außerdem, wie sehr ihr Vater sie liebte. Er liebte sie, wie sie war. Dass sie auf vier Beinen ging, sollte nicht das Problem sein, zu dem es ihr Vater manchmal noch zu machen versuchte. Sie hatte ihm nie davon erzählt, denn es hätte ihn nur wütend gemacht, aber es kam vor, dass Sayay von anderen Kindern ausgelacht wurde. Weil sie anders war. Weil sie nicht wie alle anderen aufrecht ging und ihr Essen auf dem Boden einnehmen musste.
Sie verschwieg es, hielt es unter Verschluss wie ein Geheimnis. Und ein Geheimnis musste man geheim halten. Schließlich war das der Sinn eines Geheimnisses. Wenn ihr Vater davon erfuhr …
Nein. Das würde sie nie zulassen. Sie wollte keine Probleme bereiten, niemandem.
Auch nicht um ihrer selbst willen.
“Wollen wir morgen nicht einen Ausflug machen?”
Sayay zuckte etwas zusammen, als die tiefe Stimme ihres Vaters ertönte. Sie schielte kurz zu den anderen hinauf. Niemand schien es gesehen zu haben. Gut.
“Au ja!”, platzte es aus Shanya. Es war beeindruckend, wie sehr eine simple Idee wie ein Ausflug sie aufregen konnte. “Ganz weit von hier weg! Über die Berge und dann noch weiter und noch weiter und noch weiter!”
Ihre Mutter lachte liebevoll und zerzauste ihr das Fell. “Wäre das nicht eine tolle Idee? Nachdem wir die letzten Wochen nur hier drinnen gehockt haben, wäre es eine Wohltat. Vielleicht nach Gavia? Das wäre doch schön.” Dann schaute sie zu Sayay hinunter. “Was hältst du davon?”
“Natürlich kommt sie mit”, sagte ihr Vater. So sehr Sayay ihn auch liebte, wenn sie etwas an ihm nicht leiden konnte, dann war es sicher seine Angewohnheit, immer an ihrer statt zu antworten. Sie war nun schon elf Jahre alt. Alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, meinte Sayay. Geschweige denn für sich selbst zu antworten.
“Ehrlich gesagt würde ich lieber zu Hause bleiben”, sagte sie, ohne auf zu schauen. “Wenn es kein Problem ist”, fügte sie rasch hinzu, als eine unangenehme Stille entstanden war.
“Aber warum denn nicht, mein Schatz?”, fragte ihre Mutter.
“Wir wären über eine Woche lang weg.” Sayay schaute immer noch nicht zu ihnen hoch. Mit aller Gewalt fixierte sie den Boden. “Ich will lieber mit meinen Freunden spielen.”
“Ach, Unsinn”, sagte ihr Vater. “Deine Freunde werden noch hier sein, wenn wir wieder da sind. So ein Ausflug würde dir wie uns allen gut tun. Wir brechen am nächsten Morgen auf.”
“Aber ich will wirklich hier bleiben”, beharrte sie.
“So ein Unsinn. Du kommst natürlich mit.”
“Nein!”, blaffte sie. Ihre Wut über ihren Vater und dass sie nicht das machen durfte, was sie wollte, verflogen sich, als sie in ihre Gesichter starrte. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Es war einfach aus ihr heraus gesprudelt. Wie eine Woge war es über sie gekommen. Und nun, da es draußen war, fühlte sie sich schlecht.
“Ich … es tut mir leid”, sagte sie demütig und schabte mit den Pfoten über den Boden.
Ihr Vater sah sie an. Sie spürte, wie seine Blicke sie musterten.
“Sieh mich an, Sayay”, sagte er ruhig. “Sieh mich an.”
Zögernd hob sie den Kopf und schaute in die ernsten Augen ihres Vaters. Sekunden vergingen. Sie suchte gleich wieder den Boden.
“Morgen Früh nach Sonnenaufgang”, entschied er und aß weiter. “Geht ins Bett, Mädchen. Nicht, dass ihr morgen nicht aufstehen könnt vor Müdigkeit.”
Ein Kribbeln durchfuhr Sayays Nacken, als seine Blicke wieder auf ihr lagen. Mit angelegten Ohren und zusammen gebissen Zähnen schlurfte Sayay in ihr Zimmer. Shanya, die das Gespräch auf ihrem kleinen Stuhl schweigend mitverfolgt hatte, schlich nach einiger Zeit hinter her.
Sayay legte sich auf das alte Fell, das ihr als Bett diente, und drehte sich von der Tür weg, dass sie niemandem anschauen musste, auch nicht Shanya, als sie den Raum betrat. Sie und ihre Schwester teilten sich das Zimmer.
Ohne ein weiteres Wort schliefen sie ein.
Der Tag kam wie ein Traum. Er geschah einfach. Als Sayay aufwachte, glaubte sie sogar zunächst, sie träume. Aber das Licht war echt und blendete sie. Kaum war sie aufgewacht, hörte sie auch schon schwere Fußschritte, die auf sie zukamen. Dann hörte sie die Stimme ihres Vaters.
“Aufstehen, Mädchen, wir wollen los.” Sie hörte, wie er wieder ging. Das Haus dröhnte in sonorem Ton, als seine Füße auf den Boden aufkamen, und auch wenn sie es noch nicht wusste, würde sie die Morgen der nächsten vier Jahre auf dieses Dröhnen hören.
Wollen

, dachte die damals noch so junge Sayay spöttisch und hielt den Atem an, weil sie dachte, es auch ausgesprochen zu haben. Doch nichts geschah.
“Komm Sayay.” Es war ihre Schwester. Wie immer war sie sofort aufgesprungen, nachdem sie aufgewacht war.
“Ich komm nicht mit”, murmelte sie in ihr Fell hinein.
“Warum nicht?”, fragte Shanya neugierig. “Das wird doch lustig!”
“Mir geht’s nicht gut.” Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Ihr Ton verriet, wie schlecht gelaunt sie war. Aber ihre Schwester schien es zu überhören.
“Ooooooooooooch komm schon!”, rief sie. Shanya legte ihr eine Hand auf die Schulter und zog an ihrem Fell.
Und da kam die Woge.
“Bist du etwa taub!” Sayay brüllte und schnappte nach ihr. “Wie oft soll ich es dir noch sagen!”
Mit aufgerissenen Augen schreckte Shanya zurück. So hatte sie ihre ältere Schwester noch nie erlebt. Wie sie die Ohren aufrichtete und ihre Zähne fletschte, kam sie ihr vor wie ein Monster aus einem bösen Traum. Und dabei hatte sie doch gar nichts gemacht.
Als Sayay bewusst wurde, wen sie gerade angebrüllt hatte, verließ jede Kraft ihren Körper. Sie fühlte einen schrecklichen Moment nichts, das in ihr sein könnte. Sie war leer.
“Oh nein, Shanya, es tut mir so leid”, versuchte Sayay sich zu entschuldigen und ging einen Schritt auf ihre Schwester zu.
Shanya wich noch ein Stück zurück. Eine einzelne Träne fiel auf den Boden und zeichnete einen dunklen Kreis in den Staub. Sie murmelte etwas, dann stürmte sie aus dem Zimmer.
Sayays Wut richtete sich gegen sie selbst. Wie konnte sie Shanya nur zum Weinen bringen? Sie hatte nicht das Geringste mit der ganzen Sache zu tun. Sie fühlte sich so furchtbar, allein. Sie fühlte genau so, wie es Shanya jetzt tat.
Ich hasse dich.


Oh, und wie ich mich hasse, dachte Sayay, als auch schon rasch und immer lauter werdend das Geräusch von näherkommenden Schritten zu hören war. Schnell drehte sich Sayay wieder um. Sie wollte ihrem Vater nicht in die Augen sehen.
Die Schritte erstarben. Sie wusste, dass er im Türrahmen stand und sie beobachtete.
“Bist du jetzt glücklich?”, sagte er mit strenger Stimme. “Deine Schwester sitzt jetzt da draußen und weint. Ich weiß nicht, was du gemacht hast, aber egal was es war …” Er unterbrach sich. “Du gehst jetzt da raus und entschuldigst dich bei ihr. Hast du verstanden?”
Es ging nicht um verstehen oder nicht verstehen. Sayay antwortete nicht. Sie lag auf dem alten Läufer in der Ecke ihres Zimmers wie tot.
“Sayay! Sayay, sieh mich an, wenn ich mit dir rede. Sayay!”
Sie wollte ihn nicht ansehen. Sie wollte nicht, dass er sie ansah. Sie wollte nicht, dass er sah, wie sie weinte.
Ein Moment des Schweigens entstand.
“Wenn du unbedingt zu Hause bleiben willst, gut, von mir aus - aber dass du dich nicht bei deiner eigenen Schwester entschuldigst …” Sayay glaubte, einen Anflug von Abscheu in diesem Ton zu hören und verspürte einen Stich ins Herz.
Er sprach nicht weiter, sondern schaute auf seine Tochter, erwartete eine Reaktion.
Er wurde enttäuscht.
“Schön”, schnaubte er und ging wieder nach draußen.
Jetzt erst wagte sie es, sich zu rühren. Es vermischten sich Tränen der Wut mit denen der Trauer und der Scham. Sie schluchzte. Erst als sie wieder Schritte hörte, hörte sie auf. Sie dachte schon, ihr Vater wäre zurück gekommen, um ihr ein noch schlechteres Gewissen zu machen, wie er es ohnehin schon getan hatte.
“Sayay, Schätzchen.” Es war ihre Mutter. Ihre Stimme war, anders als die ihres Vaters, vorsichtig und tröstend. Die Stimme einer sich sorgenden, liebevollen Mutter.
“Tut mir leid”, brachte Sayay hervor. Sie sprach leise, um die Tränen zu verbergen, die schwer auf ihrer Seele lasteten.
“Ist schon gut, schon gut”, beruhigte sie ihre Tochter. Sie kniete sich neben sie. Sanft streichelte sie ihr Nackenfell. Sayay gab den Berührungen nach.
“Er hasst mich.”
“Das stimmt nicht und das weißt du.”
“Er hasst mich.”
Es dauerte fast zehn Sekunden, ehe ihre Mutter wieder sprach. “Dein Vater liebt dich”, sagte sie schließlich, “so wie ich, und wie Shanya.” Beim Namen ihrer Schwester wollte sie am liebsten im Boden versinken. “Er ist nur manchmal etwas - stur, weißt du? Er meint es nicht böse. Er will nur so viel Zeit mit euch verbringen wie möglich, so lange ihr noch seine kleinen Mädchen seid.”
Sayay kniff die Augen zu, während ihre Mutter sprach, als könne sie damit alles ungeschehen machen.
“Du darfst es ihm nicht so sehr vorhalten”, fuhr ihre Mutter fort. “Er ist und bleibt dein Vater, das darfst du nicht vergessen. Egal, was geschehen wird, er wird dich immer lieben. Und es müssten schon die Urgewalten ihre Finger im Spiel haben, um zu verhindern, dass er für dich da ist, wenn du ihn brauchst. Sei ihm nicht böse, ja?” Wieder machte sie eine Pause. Ihr Blick wanderte im Zimmer auf und ab. Dann lachte sie kurz. “Weißt du noch, als du der Meinung warst, die Bäume draußen vor deinem Fenster wollten dich auffressen?”
Sie schniefte. “Ich hab immer geglaubt, dass sie versuchen, die Wände einzureißen, wenn ihre Zweige gegen das Haus geschlagen haben.”
“Und weißt du auch noch, wie dein Vater die ganze Nacht neben dir verbracht und dir Geschichten erzählt hat, um dich abzulenken?”
Natürlich wusste sie das noch. Damals war sie vier gewesen. “Es waren zwei Nächte.”
“Ja, stimmt, ich erinnere mich.” Ihre Mutter lachte nach kurzem Überlegen. Auch Sayays Mundwinkel wanderten etwas hinauf.
“Die Geschichte von dem Schmetterling, der zum Drachen wird, hat mir immer am besten gefallen. Er hat sie mir dreimal erzählt.”
“Und er hat sie dir gern erzählt. Er ist immer gern mit euch zusammen.” Sie machte wieder eine Pause. “Willst du nicht vielleicht doch mit uns gehen? Nur wenn du willst, meine ich.”
Ein Moment der Ruhe verging. Sayay hörte die Vögel singen, das Holz ächzen. Ihr tat es leid, dass sie nach Shanya geschnappt und auf ihren Vater so wütend gewesen war. Sie fühlte sich schlecht. Also tat sie es wie immer, wenn sie ein Problem hatte.
Sie belästigte keinen anderen damit.
Sayay schüttelte den Kopf.
Ihre Mutter streichelte noch ein letztes mal das weiche Fell ihrer Tochter, bevor sie aufstand und zur Tür ging. Doch als sie bereits um die Ecke gehen wollte, drehte sie sich um.
“Ich rede mal mit Farans Mutter. Ich bin mir sicher, dass du bei ihnen schlafen kannst, bis wir wieder da sind.”
“Danke”, sagte Sayay und schniefte. “Mama?”
Sie sah mit dem Blick, den man nur bei Müttern finden konnte, zu ihrer Tochter.
“Kannst du Shanya sagen, dass es mir leid tut?” Ihre Stimme schraubte sich mit den letzten Worten hinauf.
“Ich bin mir sicher, dass sie es weiß”, antwortete sie. “Aber ich sag es ihr.”
“Danke - und Mama?”
“Ja, meine kleine Sonne?”
Sayay lächelte, als sie ihren Spitznamen hörte. Sie wusste nicht, was sie sagen wollte. Sie genoss es einfach, mit ihrer Mutter zu sprechen, ihren Duft zu riechen, ihre Anwesenheit zu spüren. Der Augenblick wurde Ewigkeit. Die Stille zwischen ihnen war herrlich und gleichzeitig auf irgendeine Art und Weise schlecht. Etwas bedrückte Sayay, ein leichter Schatten, der sich auf ihr Herz legte. Sie wollte etwas sagen, einfach irgendetwas sagen. Hätte sie gewusst, dass dies die letzte Gelegenheit sein sollte, mit ihrer Mutter sprechen zu können, hätte sie gesagt, was immer ihr in den Sinn gekommen wäre. Egal, was es gewesen wäre.
Aber Sayay konnte es nicht wissen. Später hatte sie oft an diesen Moment gedacht, ihn in unzähligen Träumen durchlebt, immer und immer wieder war sie in Gedanken an diesen Augenblick zurück gekehrt, um es besser zu machen, es wieder gut zu machen, um wenigstens Abschied zu nehmen.


Die Ewigkeit in einem Augenblick
Sie ließ die Chance verstreichen.
“Nichts”, sagte sie bloß und ließ es dabei bewenden. Sie fühlte sich plötzlich so schläfrig. Ihre Mutter ging lautlos und war verschwunden wie ein Blatt im Wind.

Es war der fünfte Tag nach ihrer Abreise, und als die Nachricht Pelagi erreichte, spielte sie gerade mit ihren Freunden. Der Sommer war früher gegangen, als er es normalerweise tat, und ein goldener Herbst breitete seine Schwingen über Rapen aus. Die Sonne war hinter vielen Schleierwolken verborgen und glänzte matt wie eine alte Silbermünze. Ein starker Wind blies über die Felder, auf denen die Kinder spielten. Unter ihnen war neben Sayay auch Faran und Foran und die anderen da. Als Azec gerade dabei war, bis hundert zu zählen und die übrigen sich schon nach Verstecken umschauten, rief eine Stimme. Sayay wusste bis zum heutigen Tag nicht, wer da gerufen hatte.
“Schaut mal! Da!”
Alle wandten sich blitzartig um, auch Azec, der bereits bei Einundzwanzig angelangt war, und sie sahen jemanden den Hügel hinaufgehen. Sie mussten gegen das Sonnenlicht blicken, und deshalb konnten sie die Person erst erkennen, als sie unmittelbar vor ihnen stand.
Es war Farans und Forans Mutter. Sie hieß Runa, und selbst in ihrem fortgeschrittenem Alter sah man ihr an, dass sie einst sehr hübsch gewesen war.
“Kinder!”, rief sie und deutete ihnen an, zu ihr zu kommen. Sie folgten ihrer Anweisung.
“Müssen wir schon gehen?” Faran war es, die sprach. Ihre Schultern hingen weit unten, denn es war noch lange vor der Zeit, zu der sie zu Hause sein mussten.
Runa nahm einen übertrieben freundlichen Ausdruck an.
“Nein, ihr nicht”, sagte sie. Ihre Augen sondierten die Gruppe. “Nur Sayay.” Die anderen traten augenblicklich einen Schritt zurück, sodass sie in einem Halbkreis standen, in deren Zentrum sie hilflos ihre Freunde anstarrte. Sie fühlte sich wie eine Verstoßene. Der Blick in Runas Augen - ein unangenehmes Gefühl beschlich Sayay.
“Warum?”, protestierten die anderen. Sayay konnte nichts sagen. Ihr Mund war fest verschlossen.
“Kann sie nicht noch bleiben?”, fragte Faran und appellierte an das Gewissen ihrer Mutter.
“Komm jetzt”, sagte Runa entschlossen ohne die anderen zu beachten.
Sayay sah sich um. Ihre Freunde waren enttäuscht, und sie sahen, dass sie selbst das auch war. Aber sie sahen nicht, wie besorgt sie auch war. Wortlos folgte sie der alten Füchsin.
Der Weg in die Stadt war länger als sonst. Jede vergehende Sekunde hing wie ein Schleier über dem Land, bevor er sich hob und die nächste Sekunde frei gab.
“Was ist denn los?”, wollte Sayay in Erfahrung bringen. “Hab ich was angestellt?” Sie versuchte, aus Runas Gesicht zu lesen, bei der sie die letzten Tage geschlafen hatte. Aber sie wurde ignoriert.
“Sind meine Eltern wieder da?”, fragte sie voller Vorfreude und sprang einige Zentimeter in die Luft. “Sie haben einen Ausflug nach Gavia gemacht, zusammen mit meiner Schwester.” Erneut schaute sie nach oben, in die Augen der Füchsin, und sie sah eine Reaktion, die sie erst nach wenigen Sekunden verstand und wünschte, sie nicht gesehen zu haben.
Runa drehte den Kopf nach links, zu der Sayay abgewandten Seite, und ihre Unterlippe bebte.
Ein schreckliches Gefühl breitete sich in ihr aus. “Was ist passiert?”, fragte sie wieder. Runa blieb stumm. Sie ging schneller.
“Was ist denn bloß passiert?” Ihre Stimme war erregt. Das Gemurmel der anderen, die sich auf der Kreuzung versammelt hatten - wie immer, wenn eine Ankündigung gemacht wurde - war nun zu hören.
“Sag es mir doch endlich!”, drängte sie.
Die Menge an der Kreuzung war in aufgebrachtes Diskutieren vertieft. Die ganze Stadt schien versammelt.
“Warum willst du es mir nicht endlich sagen?”
“Sie ist da.” Eine gesichtslose Stimme brachte die Anwesenden nach und nach zum Schweigen. Alle wandten sich zu ihr um. Es war auf einmal stiller als auf einem Friedhof. Sayay starrte sie mit großen Augen an. Runa verpasste ihr einen kleinen Stoß, und sie ging weiter. Mit jedem Schritt, den Sayay ging, wich die Menge einen zurück und öffnete ihr so einen Weg. Ihre Augen waren auf sie gerichtet wie auf einer Aussätzigen.
“Du armes Mädchen”, sagte eine Stimme hinter ihr.
“Wie tapfer, nicht eine Träne”, sagte eine zweite. Runa stellte sich rasch zwischen Sayay und der Richtung, aus der die zweite Stimme gekommen war. Sie zischte etwas.
Sayay war nicht sicher, aber sie glaubte verstanden zu haben: Sie weiß es noch nicht.
Sie weiß es noch nicht.


Was soll ich denn wissen?, dachte Sayay hilflos. Sie wurde von einer Angst gepackt, die sie früher nur nach sehr schlimmen Albträumen gespürt hatte. In diesen war sie durch den Wald gejagt worden, war vor jemandem davongerannt, so schnell sie konnte, und war trotzdem eingeholt worden, war endlos lange gefallen und im Moment des Aufpralls aufgewacht …
Das hier war ein Albtraum für sie geworden. Und er würde noch schlimmer werden.
Ich will aufwachen!


Es dauerte sehr lange, bis sie schließlich stehen blieben. Vor ihr war eine Art Podium errichtet worden. Sayay erkannte es. Es wurde immer aufgebaut, wenn etwas Wichtiges verkündet wurde. Auf dem Podium stand ein sehr altes Hundewesen, das Sayay als Toru, Azecs Großvater, erkannte. Zu beiden Seiten waren die Eltern ihrer Freunde, zu denen sich jetzt auch Runa gesellte, wie an einer Schnur aufgereiht. Sie war bei allen schon einmal zum Essen eingeladen worden oder hatte bei ihnen übernacht.
Ihre Eltern konnte sie nirgends entdecken.
“Was ist denn passiert?”, fragte Sayay, und ihre kindliche, süße Stimme schwebte über der Stadt. Es war kaum fassbar, aber die Stille schien noch bedrückender zu werden. Wie ein dichter, alles umhüllender Schleier.
Niemand antwortete dem Wolfsmädchen.
Gehetzte Blicke von einer Seite zur anderen werfend, wiederholte sie den Satz.
“Was ist denn passiert?” Es fehlte nicht mehr viel, und sie hätte geschrien.
Azecs Großvater räusperte sich. “Sayay”, sagte er mit alter, belegter Stimme und verstummte wieder.
Die Blicke. Das Schweigen. Das Warten. Das endlose Atmen.
Es war zu viel für sie.
Nach einer Ewigkeit, so kam es Sayay vor, sprach der Alte wieder, und als er zu Ende geredet hatte, stand für Sayay die Welt einen Augenblick lang still. Sie war völlig leer. In ihr war für den Bruchteil einer Sekunde nichts. Als hätte jemand sie gepackt und so lange geschüttelt, bis alles, was sich in einer jungen Wölfin befand, herauskam. Das Licht der Sonne verlor an Echtheit. Die Farben verloren jede Intensität, die sie vorher besessen hatten. Die Vögel hörten auf zu singen.
Für einen schrecklichen Moment stand die ganze Welt still und sah nur auf Sayay mit ihrem großen weiten Auge, und die Berge brannten im Licht der untergehenden Sonne.
An die Minuten nach dem Stillstand konnte sich Sayay kaum noch erinnern. Sie wusste, dass sie etwas sagen wollte, aber dann schrie jemand anderes: Wieso tut ihr mir das an? Wieso belügt ihr mich? Ich will zu meinen Eltern! Wieso lügt ihr mich alle an?


“Das sind doch meine Eltern, nicht deine”, sagte Sayay und rang nach Luft. Die Welt wurde immer dunkler und dunkler, bis ihr ganzes Blickfeld von einem undurchdringbaren schwarzen Schild verdeckt war.
Sie halluziniert, rief jemand. Helft ihr doch, helft ihr doch.
Das sind meine Eltern, nicht deine.
Sie wird ohnmächtig.
Wieso belügt ihr mich bloß … wieso … die ganzen Lügen.
Es waren nur zwölf kleine Worte, die Azecs Großvater sprach und die in Sayay eindrangen wie eine Nadel oder ein spitzer Stein. Sie drangen in sie ein und wurden von zerklüfteten Wänden immer und immer wieder zurückgeworfen und durch ihr eigenes Echo verstärkt, bis sie in ein schwarzes Meer stürzten.
Deine Eltern sind tot. Und deine Schwester auch. Es tut mir leid.


Die Steinwände waren scharf gezackt, und die tosenden Wellen des tiefen schwarzen Meeres schlugen erbarmungslos gegen die Felsen.
Es tut mir leid.




6




Natürlich wusste sie, wo er war. Sie selbst hatte ihn dort hinbeordert. Aus einem Grund, der ihr seit Jahren auf dem Herzen lag.
Es musste endlich ein Ende haben.
Nachdem Sayay hinter dem Hügel verschwunden war, ging Faran zu Azec, der gleich an der Kreuzung wohnte. Der kleine Toru schlief ruhig und wirkte zerbrechlich wie eine junge Blume. Eineinhalb Stunden war sie dort geblieben, bevor sie wieder aufbrach und sich mühsam durch das Gemurmel der Masse kämpfte. Der Lärm war abgeklungen, je weiter sie die Stadt hinter sich gelassen hatte. Dann war sie über die Wiesen nach Süden gelaufen. Sie vermied sorgfältig, beobachtet zu werden, weshalb sie auch so weit abseits der Straße ging. Dennoch hatte sich dieses unangenehme Gefühl in ihr ausgebreitet, mit dem sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Im Sekundentakt war ihr Blick in alle Richtungen über die sanft fallenden Hügel gewandert, doch sie hatte niemanden entdeckt.
Trotzdem war ihr unwohl. Was ihr bevorstand, war eine ungeheure Belastung für sie. Aber es nicht zu tun, würde eine noch größere Belastung bedeuten. Sie fürchtete sich davor, aber es musste getan werden. Es gab keine Zweifel und nichts würde sie davon abhalten. Es musste enden. Hier und heute.
Der Saum des Waldes war mit jedem Schritt näher gerückt, bis er schließlich als eine dunkle Wand vor ihr stand, die sich nach links und rechts hin weit erstreckte. Unter dem Blätterdach war es kühl. Der Boden war mit einem Moosteppich ausgelegt und Pilze wuchsen. Die Baumkronen leuchteten golden in der Sonne; ihre Strahlen füllten den Wald mit Dunst.
Faran ging tiefer hinein. Je weiter sie vordrang, desto dichter standen die Bäume. Sie wusste, wenn sie noch tiefer in den Wald gehen würde, würden sie so nah beieinander stehen, dass nicht ein Lichtschein mehr zu sehen war. Die narbigen Rinden der mächtigen Bäume schliefen in Dunkelheit - und bewahrten ihre Geheimnisse für sich. Einmal war Faran weit genug gegangen. Neugierig war sie über die immer dicker werdenden Wurzeln gestiegen und hatte den Lera erforschen wollen. Dann war es plötzlich Nacht geworden. Das vertraute Licht war verschwunden. Fasziniert und gleichzeitig eingeschüchtert durch die undurchdringliche Finsternis war sie langsam Schritt für Schritt immer tiefer in den Wald gegangen. Sie hatte nur flach geatmet, um so leise wie möglich zu sein. Doch auch, wenn sie geschrien hätte, sie bezweifelte, die bedrückende Schwere unter diesem Mantel der Stille dadurch brechen zu können. Die Dunkelheit verschluckte alles, die Bäume bargen die Dunkelheit und das, was sich in ihr verstecken mochte.
Oder dort gefangen war.
Dann hörte sie ein Geräusch und erstarrte in der Bewegung. Minuten stand sie still und hörte den Wald atmen. Das Geräusch kam wieder. Auf groteske Weise hörte es sich an wie ein Seufzen. Knarrende Äste bewegten und beugten sich.
Faran war nicht mehr allein. Sie wusste es. Etwas beobachtete sie, war schon nahe genug, um eine kalte Klaue nach ihr auszuwerfen und sie Teil der Nacht - ein Geheimnis des Waldes - werden zu lassen.
Ohne sich umzudrehen, ging sie rückwärts wieder in die Richtung, aus der sie glaubte, gekommen zu sein. Nach nur wenigen Schritten konnte sie das Licht auf ihrem Fell spüren. Und auf einmal waren die Geräusche verschwunden.
Damals war sie zehn gewesen und ängstlich. Seither war sie nicht mehr in den Wald gegangen. Bis vor zwei Jahren etwas begonnen hatte, das sie nun wieder zu beenden gedachte. Dafür hatte sie ihn wieder an ihren Treffpunkt gelockt: Ein alter, umgestürzter Baum in einer kleinen Mulde neben einem großen und mit Moos überwachsenem Fels, der in der Erde stak wie hineingeschleudert. Wenn man einmal wusste, wo er war, fand man ihn immer. Er lag nur ein-, höchstens einhundertfünfzig Meter entfernt vom Waldsaum. Sah man genau hin, konnte man die Konturen des Felsen bereits erahnen, auch wenn man noch nicht weit gegangen war; wie ein großer Finger, der gen Himmel zeigte, wirkte er zwischen den Stämmen.
An diesem Fels hatte sie sich orientiert und war gelaufen, bis sie nach kurzer Zeit auch den langsam modernden Baum vor sich sah. Ihr war plötzlich kalt geworden. Es war noch immer dunstig, aber hell. Dann hatte sie sich auf den Stamm gesetzt und gewartet.
Und seit einer halben Stunde wartete sie. Sonst war er immer pünktlich, aber dieses mal verspätete er sich. “Typisch”, schnaufte sie humorlos und sah sich weiter nach ihm um. Manchmal wippte sie auf ihrem Platz vor und zurück, doch sie brachte sich selbst unter Kontrolle. Das war einfach kindisch.
Und das hier kein Zeitpunkt, um kindisch zu werden.
Das Rascheln von Blättern verriet ihr, dass er endlich gekommen war.
Sie drehte sich nicht nach ihm um, als sie sprach. “Ich dachte, ich müsste bis in die Nacht hinein hier warten.”
“Tut mir leid”, entschuldigte sich Foran und blieb stehen. “Die anderen hatten mich aufgehalten. Ich konnte mich nicht früher loseisen. Und du weißt doch, dass ich dich nie vergessen würde.” Seine Stimme war bedeutungsschwer geworden und ließ Faran zusammenzucken. Aufgeregt kratzte sie sich am Arm. Als sie merkte, was sie tat, beherrschte sie sich.
“Du wolltest mich sehen.” Es war keine Frage.
“Sayay hat sich nach dir erkundigt”, sagte sie knapp.
Foran antwortete nicht sofort. “Ist das - ein Problem?”
Sie ließ theatralisch die Hände fallen.
“Nun, ich mag sie sehr”, sagte Foran. “Sie ist eine Freundin. Und ich kenne sie mein ganzes Leben lang. Glaubst du, sie ist noch in mich verliebt?”
Ohne etwas zu sagen, kaute Faran auf ihrer Unterlippe herum.
“Auch wenn es so wäre, sehe ich daran kein Problem.” Er trat einige Schritte näher. “Wenn du willst, sage ich ihr, dass ich nicht an ihr interessiert bin. Ich werde sie so wenig wie möglich verletzen.” Pause. “Wenn du es so willst. Aber du hast mich nicht hierher bestellt, um mir das zu sagen, oder?”
“Ich dachte, ich sollte es dir sagen, man weiß ja nie.” Sie konnte nicht verbergen, dass ihre Stimme zitterte.
“Du wolltest mich sehen”, sagte er. “Und ich dich auch.” Er streichelte ihre Schulter. Faran beugte sich unter der Bewegung weg.
Überrascht schaute Foran sie an. “Was hast du?”
Als ob du das nicht wüsstest

. Sie sprang von dem Baumstamm, auf dem sie bis jetzt gesessen hatte.
“Ist es dir nicht recht?” Wieder legte er ihr eine Hand auf die Schulter. “Ist es dir nicht mehr recht, wenn ich dich berühre?”
Einen Moment ertrug sie es, doch der Fels auf ihrem Herzen wurde immer größer.
Zeit, ihn beiseite zu rollen.
Sie schlug seine Hand weg und befasste die Stelle, wo er sie angefasst hatte, als hätte sie sich verletzt. “Wir müssen damit aufhören”, sagte sie entschlossen.
Die Worte verklangen zwischen ihnen. Für einige Sekunden war das Zwitschern der Vögel das einzige Geräusch im Wald.
“Was meinst du?”, fragte er wie ein Kind, das nicht verstand.
“Du weißt es ganz genau”, giftete sie ihn an und drehte sich zu ihm um. “Das, was wir seit zwei Jahren hier tun. Es muss endlich aufhören. Ich ertrage es nicht mehr.”
“Beruhige dich doch erstmal”, sagte Foran beschwichtigend. “Du weißt doch gar nicht, was du redest.” Er wollte sie in die Arme nehmen.
“Fass mich nicht an!” Anwiderung. “Fass mich nie wieder an

.” Sie rang um Fassung. “Warum tust du das? Wieso tust du mir das an

?”
“Ich würde dir nie etwas antun.” Seine Stimme war gedämpft.
“Du tust es seit zwei Jahren!”
“Doch nicht, um dir weh zu tun.”
“Aber es schmerzt, ich quäle mich … und dir ist es egal. Was, wenn jemand davon erfährt? Hast du auch nur einmal

über die Konsequenzen nachgedacht? Oder daran, wie es mir bei der ganzen Sache geht?” Sie drehte ihm den Rücken zu und barg das Gesicht in den Händen.
Mit einer Gelassenheit, die einen rasend machen konnte, wenn man ihr zu lange ausgesetzt war, sagte Foran: “Dass du mir vorwirfst, du wärst mir egal, ist nicht fair. Du bist meine Schwester und ich kümmere mich um dich. Ich habe nie etwas anderes getan.” Er machte eine kleine Pause. “Ich liebe dich doch.”
Tränen liefen über Farans Wangen. “Ich weiß”, hauchte sie.
“Und ich dachte, du würdest mich auch lieben.”
Wieder wollte er sie in die Arme nehmen. Diesmal wehrte sie sich nicht. Eng umschlungen standen sie im Wald und schwiegen sich an.
“Liebst du mich?”
Die Frage bohrte sich ihr ins Herz. Die Wut flaute immer weiter ab und wurde durch etwas ersetzt, vor dem sie sich fürchtete und von dem sie gehofft hatte, es nie mehr fühlen zu müssen. Nicht in diesen Situationen.
Vergebung.
Foran begann, ihr langsam den Hals zu küssen. Sie stöhnte kaum hörbar.
“Bitte - bitte hör auf damit.”
“Liebst du mich?”
“Ja.” Natürlich.


“Ich liebe dich auch.”
“Aber nicht so. Es ist falsch. Wir dürfen nicht …”
“Nur noch ein letztes Mal.” Mit einer Hand fuhr er ihre Taille entlang.
“Wenn wir jetzt weitermachen, werden wir nie aufhören”, wusste sie. Seine Berührungen, die Wärme seines Körpers … Ihr Widerstand schwand immer mehr.
“Wenn jemand etwas erfährt …”
“Das werden sie nicht”, sagte er schnell. “Niemals. Niemals.”
Äste und Zweige verbargen sie und ließen sie ein Geheimnis des Waldes werden.


7




In der kleinen Sonne entspannte sich irgendetwas, als sie den Hügel erblickte, wegen dem sie so lange gelaufen war. Jemand anderes hätte es vielleicht nicht verstanden, warum man sich die Füße nach etwas wund lief, wenn man so weit das Auge reichte nichts anderes sah.
Aber Sayay war nicht jemand anderes. Es gab einen Grund, warum sie hier her kam. Was die anderen betraf, verzichtete sie auf ihre Gesellschaft. Sie konnten ihr gestohlen bleiben.
Es waren schlimme Zeiten, die Sayay durchmachen musste.
In den Monaten nach dem Stillstand verließ sie nicht das Haus. Anfangs brachten ihr noch alle ihre Freunde Trost und Geborgenheit - und etwas zu Essen, auch wenn sie es erst nicht anrührte. Sie wusste genau, dass es nach nichts schmecken und doch nur wieder vorne herauskommen würde. Aber schon nach zwei Wochen wurden es immer weniger. Nach einem Monat kamen noch Faran, Foran, Azec und zwei weitere, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte - oder wollte. Nach dem dritten Monat kam nur noch Faran, auch wenn sich Foran noch ab und zu blicken ließ.
Wenn man mit ihr sprach, antwortete sie so gut wie nie, im besten Fall, indem sie ihren Kopf hob oder die Ohren aufrichtete. Auf Vorschläge und Einladungen, ob sie nicht doch zu ihnen ziehen, dieses Haus hinter sich lassen sollte, ging sie nicht ein, auch nicht auf Farans Bitten hin. Betrat jemand ihr Zimmer, drehte sie sich zur kalten Wand, und die einzigen Worte, die sie wie Traum murmelte, waren: Es tut mir leid.
In nur vier Monaten wandten sich beinahe alle von ihr ab, die sie kannten. Es war, als machten sie Sayay für den Tod ihrer Familie verantwortlich (und sie selbst tat es auch), und sie wollten doch bloß helfen, dem armen Wolfsmädchen, ganz allein! Dass sie ihre Hilfe nicht annahm war zuerst verständlich, später verwunderlich und irgendwann eine Frechheit. Mal sehen, wie du allein zurecht kommst!, las Sayay in ihren Blicken, auch in den Jahren danach.
Dieses arme, arme, einsame Mädchen!
Sie ließ sich nichts anmerken, aber je weniger ihrer Freunde kamen, desto tiefer wurde die Schlucht, in die sie getrieben worden war. Kalte Speere bohrten sich in ihr Herz. Die Wellen wurden mit jedem Tag höher und tasteten mit ihren Fingern aus Schaum nach der Brücke, auf der Sayay einsam stand.
Nein. Nicht einsam. Neben ihr war Faran. Mit einer Hand hielt sie ihre Freundin fest, mit der anderen klammerte sie sich an die Seile, die die morschen Bretter zusammenbanden.
Faran wollte ihr etwas sagen, aber ihre Lippen wollten sich nicht öffnen. Ihr Mund war wie zugenäht. Aus ihrer Kehle drang ein grässliches Gurgeln.
Unter ihnen toste die See.

Das Gras und die darunterliegende Erde gaben ihren Pfoten nach. Ihre Krallen bohrten sich in den Rücken des Hügels, der steiler und höher war als die übrigen. Die Zeit des Feuers rückte unaufhaltsam näher, doch noch wusste niemand davon.
Die Erde unter ihr knarrte bedächtig.
Wie die Male davor packte sie Vorfreude, je näher sie dem Gipfel kam. Ein nicht unangenehmer Schauer fuhr ihren Körper entlang. Etwas oben erwartete sie, etwas … etwas …
Was sie erwartete war die Welt.
Die Spitze des Hügels lag über den Bäumen, unter denen sie noch vor Kurzem gewandert war. Sayay stellte sich so hin, dass sie nach Süden schaute, und legte sich dann hin. Das weiche Gras schmiegte sich an ihren Körper. Ein langer Grashalm kitzelte sie in der Nase und brachte sie zum Niesen. Von hier oben konnte sie sehen, wie sich der Wald nach rechts zog. Häufig tauchte er unter, der Beschaffenheit des hügeligen Geländes folgend. Der in Nebel gelegene Lera verlief in einem weiten Bogen nach Westen, sodass er die Form eines Cs annahm, streifte das Heyn-Gebirge und erstreckte sich nach Süden, bis die Erde nur noch winzige dunkle Linien vom Himmel zu trennen schienen, und verschwand dann aus ihrem Blickfeld. Pelagi konnte sie nicht sehen; es lag mitten in einer Mulde und war ihr deshalb verborgen. Über dem Horizont erstreckte sich eine Wand aus dem gleichen Blau, das bereits heute Morgen die Welt bedeckte. Die Wipfel der Bäume und die Hügel waren in Gold gehüllt, die Täler lagen im Schatten. Windböen streichelten das Land und flüsterten ihm Dinge zu, die niemand außer ihnen wissen durfte. Ganz am Rand der Welt, so glaubte Sayay, sah sie den Serphe im Licht glitzern, den längsten Fluss auf Rapen, dessen Quellen bei Gavia entsprangen und der wie eine lebende Grenze die nördliche von der südlichen Welt trennte, um in den großen Aravan zu münden. Das Rauschen seiner Wellen klang über die Lande und ertönte in Sayays Ohren. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie viele Strände seine Wasser umspülten und mit Geschichten nährten. Wie die meisten aus Pelagi stammenden Tierwesen war sie in Richtung Süden nie außerhalb der Sichtweite der Stadt gelangt. Die Welt dahinter - hinter dieser alten, wispernden Stadt der Bäume - war für sie ein unerforschter, seltsamer Ort. Nichts weiter als ein Land aus alten Märchen, denen man halbschlafend lauscht, bevor man ins Bett geht. Eine Illusion in einer unverständlichen Welt.
Ein Traum in einem Traum.
Dieser Ort der Stille und des Friedens gehörte nur Sayay. Hier fühlte sie sich wirklich. Hier war sie frei von den Fängen der dunklen Erde. Hier stand ihr Kristallpalast mit seinen gläsernen Hallen, in denen die Blumen ihre Farben nicht verlieren und das Licht seine Lieder singt. Das Ebenbild der Göttlichkeit und des Seins. Tag und Nacht lagen an diesem Ort so eng beieinander wie Schlaf und Wachen. In seinen Zimmern aus Diamant schwebte das leise Wispern des fließenden Wassers wie eine Vorahnung. Zwischen den Wänden aus Glas herrschten reine Gedanken. Hier gab es keine Zeit. An den Türen hingen Windspiele, die alles Schöne einfingen und festhielten. Ihr Glockengesang durchbebte den gesamten Palast.
Und darüber funkelten Sterne in zögerlichem Licht.
Als Sayay die weiten Pforten des Kristallpalastes aufstieß, wurden ihr Geist und ihre Seele gereinigt. Ein Gefühl der Sicherheit legte sich auf sie. Leuchtende Hände gaben ihr Gedanken aus Kristall. Von der Decke sanken Schmetterlinge und hüllten sie ein, trugen Sayay auf ihren Rücken.
Die Welt glitt unter ihr weg wie ein zurückgezogener Teppich. Die hohen Bäume wurden immer kleiner, bis sie schließlich zu dunklen Punkten geschrumpft waren. Die Schmetterlinge trugen sie über das Land. Innerhalb von Sekunden sank die Sonne, verwandelte mit den letzten Strahlen den Himmel in ein Schlachtengemälde und steckten die Berge in Brand. Unter Sayas Pfoten tauchte nun Pelagi auf. In der aufkommenden Dunkelheit wirkte die Stadt verlassen. Aber die Häuser erstrahlten im glutroten Licht.
Sie flogen weiter. Sayay wollte sich nach ihrer Heimat umdrehen, schaffte es aber nicht. Ihr Blick war nach vorn gerichtet.
Nun tauchte der Lera wieder auf. Die Blätter raschelten traurig im Abendwind. Danach folgten einige Kilometer Flachland, bis sich irgendwann in die Schwärze ein Glitzern einwob. Und Sayay wusste, das war der Fluss Serphe.
Die Schmetterlinge stürzten zu Boden. Wind rauschte laut an Sayays Gesicht vorbei. Als sie bereits fürchtete, an der Erde zu zerschellen, hielten sie. Kein Meter trennte sie vom Grund.
In der Mitte war der Fluss über vier Meter tief, an seinen Ufern perlte der Serphe über glatt geschliffene Kieselsteine. Fast geräuschlos plätscherte das dunkle Wasser dahin. Im Schutz der Nacht klang es wie das aufgeregte Murmeln tausender
(Schmetterlinge)


Stimmen. Und sie riefen ihren Namen, verlangten nach ihr. Die Wasser warteten auf Sayay.
Ich komme

, rief sie ihnen zu. Sie wollte es, ja, sie wollte von diesem Fluss trinken und vergessen. Alles vergessen, aufgeben, die Brücke einstürzen lassen.
Doch die Schmetterlinge ließen es nicht zu. Sie trugen Sayay davon, diesmal aber in Richtung Westen.
Sowie sie sich von dem Fluss entfernten, spürte Sayay eine tiefe Erleichterung. Das Verlangen zu springen war weg.
Und es würde auch nicht wieder kommen. Dessen war sie sich bewusst.
Die Schmetterlinge trugen sie noch immer. Wieder schien die Zeit still zu stehen. Hinter den brennenden Bergen verharrte die Sonne an Ort und Stelle. Über Rapen breitete sich Dämmerung aus.
Nachdem der Serphe sich wie eine Schlange immer wieder in Sayays Blickfeld gewunden hatte, verschwand er irgendwann unter dem Blätterdach des Lera. Sie sah nun, dass die Berge sich vor ihr auftürmten. Irgendwo rechts von ihr, an den Hängen des Gebirges gedrängt, war ein großes Loch zwischen den Bäumen, und Sayay wusste instinktiv, dass dort die Stadt Gavia liegen musste.
Zum zweiten Mal ließen die Schmetterlinge sie runter, durchstießen die Bäume und landeten an einem Bach, aus dem sich etliche Kilometer weiter der größte Fluss Rapens bilden sollte.
Von den Schmetterlingen wurde Sayay hoch in die Berge geführt. Dabei blieben sie immer in Nähe des Baches. Mit der Zeit gingen die Bäume zurück und gaben schließlich ein braches Land frei. Gesteinsbrocken lagen verstreut wie ein detoniertes Schrapnell. Dieser Teil der Welt war grau.
Aber dazwischen floss ein Strom aus Silber.
Sayay gelangte zur Quelle des Flusses. Doch er entsprang nicht den Bergen. Vor sich sah sie ein zusammengekauertes Wesen. Es weinte. Die Tränen des Wesens speisten den Fluss.
Sayay erschrak, als sie sah, dass sie das Wesen war.
Ohne es zu merken war Sayay eingeschlafen, während sie auf dem Hügel lag und der Wind über ihr die Zeit vorantrieb.


8




Die Dämmerung weiß Dinge, die Tag und Nacht verborgen bleiben.
Tag bedeutet Wissen. Das Wissen, dass die Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Unter der grausamen Herrschaft der Sonne erscheint die Welt mit ihren Abgründen und Schluchten als ein unwirklicher Ort. Hinter steinernen Masken verbergen Lebewesen jeder Art ihr wahres Ich. Solange die Welt weiß bleibt, bedecken sie sich selbst mit Weiß und gehen in der Masse unter und leben unerkannt. Ohne Zögern lügen sie anderen ins Gesicht, nur um hinter ihren Rücken mit wieder anderen auf sie zu spucken. Sie sperren die Wahrheit aus und nennen Falschheit ihren Gast. Unter dem Vorwand, in einer heilen Welt zu leben, genießen sie die Autorität des Vergessens. Alle Lebewesen sind solange weiß, bis die Welt es nicht mehr ist. Im Licht sind die Dinge anders als in Wirklichkeit. Sie sind das, was sie glauben, sein zu müssen oder was andere glauben, dass sie es sein müssen. Im Licht sehen wir die Schattenseite. Doch sie erscheint uns als die richtige, die wahre Seite des Lebens, weil wir verlangen, dass diese Welt nach unserer Vorstellungen gedeiht. Täte sie es nicht, würde das Leben verleugnet werden. Ein eigener, innerer Mikrokosmos wird geschaffen und auf das Leben projiziert, bis er schließlich dieses überdeckt und vereinnahmt. Alles Böse dieser Welt wird mit der Dunkelheit in Verbindung gebracht, da sie dieses geschaffene Idyll zerstört. Denn Dunkelheit ist nichts anderes als ein kleiner Riss in der Maske, die wir Leben nennen.
Nacht bedeutet Einsicht. Ist die Sonne verschwunden und die Welt grau, fallen die Masken und offenbaren den dahinterliegenden Geist. Ohne den Zwang der Vorgaukelung eines anderen, falschen Wesens verliert sich der Schleier der Täuschung in den Untiefen der Nacht. Im Dunkel sind die Dinge uneben und unschön. Ein krasser Kontrast zur verlangten Perfektion dieser Welt.
Aber Nacht bedeutet nicht Wahrheit.
Im Schutz der Dunkelheit nehmen die Dinge die Gestalt an, die am Tag versteckt gehalten wurde. Doch in der Nacht sind sie größer und schrecklicher als sie es wirklich sind. Die Dunkelheit erlaubt Lügen ebenso wie der Tag. Sie lässt keinen Platz für Wahrheit. Während das Licht eine Maske des Individuums bildet, erstellt die Nacht eine Maske vor der konturlosen Welt, in die wir alles Ungewisse sperren. Wir werden mit unseren Ängsten konfrontiert und versuchen, sie einzudämmen und wegzusperren, indem wir unser Wesen ändern. Wir schärfen unsere Sinne und lassen nichts an uns heran, und so fürchten wir uns im Dunkeln vor den Schatten von Bäumen und Mäusen. Wir vergessen uns selbst und hören auf zu sein.
Doch es gibt einen Moment, wo die Dinge wahr sind, der Moment, wenn die Masken fallen gelassen werden und wir mit der Kraft des letzten Sonnenstrahles sehen, wie aus der weißen Welt für einen Augenblick eine bunte wird, bevor sie wieder grau und eintönig wird, dieser Moment, wenn wir Einsicht in das Wissen erhalten, dieser Moment, wenn Tag und Nacht gleich sind, wenn Licht und Dunkelheit im Gleichgewicht stehen.
So sah die Dämmerung, wie sich Faran im Wald mit Foran unterhielt. Oder wie Azec sich die Ohren zuhielt wegen dem verfluchten Babygeschrei seines kleinen Bruders. Oder wie der Witwer Bur - Sayays nächster Nachbar - seine Tochter schlug, weil sie einfach nicht hören wollte. Oder wie Mykorha, eine sehr angesehene und weise Dachsfrau, einem Frosch den Bauch aufschlitzte und sich mit seinem Blut magische Symbole auf den Körper malte, um böse Geister fern zu halten. Oder wie ein junges Wolfswesen Kilometer entfernt von ihrer Heimat auf einem Hügel schlief.
Ein Moment, wenn die Dinge wahr sind.
Und dieser Moment heißt Dämmerung.


9




Es gab kein Erschrecken. Sayay öffnete die Augen und wusste, dass sie wach war.
Es dämmerte. Die untergehende Sonne verwandelte den Himmel in ein blutrotes Schlachtengemälde.
Mit verwirrtem Blick schaute sich Sayay um als wäre ihr die Gegend hier völlig fremd. Sie lag noch immer auf dem Hügel, aber durch die aufkommende Dunkelheit konnte sie selbst die Bäume unter ihr nur als schemenhafte Gestalten wahrnehmen.
Nachdem die Schmetterlinge sie an die Quellen es Serphe gebracht hatten, trugen sie Sayay noch ein letztes Mal davon. Sie flogen mit ihr im Eiltempo die Berge hinauf und über die Gipfel bis ins jenseitige Rapen. Dort war es noch dunkler, denn anstatt dass die Sonne sie blendete, lag sie nun wieder hinter dem Gebirge, also dort, woher sie gekommen waren. Aber das hatte Sayay nicht einmal bemerkt. Denn was sie sah verschlug ihr den Atem.
Sie blickte in eine riesige Schlucht hinab. Am Grund brandeten schwarze Wellen auf grauen Stein.
Für einen Moment tappten ihre Pfoten ins Leere, bis sie wieder sicher stand. Aber nicht auf den Rücken tausender Schmetterlinge, sondern auf einer im Wind pendelnden Brücke. Es fühlte sich so real an, als stände sie tatsächlich auf altem Holz - selbst die Gischt des Meeres gelangte bis zu ihr hinauf und legte sich auf ihr Gesicht.
Und Sayay dachte, dass das hier die Realität sei und ihr anderes, schmerzvolles Leben ein Traum.
Dann spürte sie etwas auf ihrer Schulter. Als sie sich umdrehte, sah sie in das Gesicht ihrer Freundin Faran, die ihr eine Hand locker auf die Schulter legte, mit der anderen aber krampfhaft das Seil umschlang. Beide Hände waren seltsam schwarz verfärbt. Ihr Mund arbeitete stumm vor sich hin. Sayay sah in den Augen ihrer Freundin, dass sie Schmerzen litt.
Was ist denn nur los?, wollte sie rufen, denn das Donnern der Wellen unter ihnen verschluckten die Geräusche. Noch ehe sie aber etwas sagen konnte, ließ Faran das Seil los, umklammerte Sayay und stürmte die Brücke entlang. Ihr fester Griff schnitt Sayay den Atem ab, weshalb sie froh war, dass Faran sie nach wenigen Sekunden wieder frei gab. Innerhalb einiger Augenblicke hatten sie den ganzen vielleicht zweihundert Meter umfassenden Weg von der Mitte der Brücke bis ans Festland zurückgelegt.
Erleichterung beherrschte kurz Sayays Geist. Tränen liefen ihr über die Wangen. Aber diese brannten nicht, sie hinterließen keine Narben.
Es waren Tränen des Glücks. Die dunkle Brücke lag hinter ihr.
Ein gurgelndes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah sich um und erblickte Faran, die sich an den Hals griff, als müsste sie ersticken. Sayay stürzte zu ihrer Freundin, die auf den Boden sank, und als Sayay sich ganz nah zu ihr hinunterbeugte, öffnete sie den Mund.
Aus ihrem Mund stieg eine dicke schwarze Rauchwolke, die sich gen Himmel bohrte und das Licht verschlang.
Was hat das zu bedeuten?, dachte Sayay, während sie allmählich den Hügel hinunterging. Noch nie hatte sie einen so seltsamen Traum gehabt. Allein, dass sie sich an jedes noch so kleine Detail erinnern konnte, macht sie nachdenklich. Etwas stand bevor, von dem sie noch nicht wusste, was es war.
Vielleicht war es auch besser, im Dunkeln zu tappen. Es war nicht immer schön, was ans Licht kam.
Die Bäume wirkten riesig und bedrohlich, als Sayay das kleine Waldstück betrat, das den Hügel vom Tal trennte. Irgendwo krächzte ein Rabe. Die letzten Sonnenstrahlen quälten sich über das Heyn-Gebirge. Diesen Wald erreichten sie jedoch nicht. Es war dunkel, und zwischen den schwarzen Stämmen der ihr allzu vertrauten Bäume sammelte sich langsam und wie Geister der Nebel. Still waberte er über den Boden und tastete nach allem, was sich rührte.
Ohne Zögern ging Sayay weiter. Es war dumm, sich jetzt zu fürchten. Ein Wald ist nicht voller Schrecken, erst durch die Vorstellung, was in ihm lauern könnte, wird er zu einem schrecklichen Ort.
Dennoch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, verfolgt zu werden. Es drängte sich auf wie die Wolken dem Himmel. Vorsichtig setzte sie eine Pfote nach der anderen auf den überwachsenen grauen Pfad. Schatten lagerten sich auf ihrem Gemüt. Die Bäume rückten näher und näher.
Etwas raschelte in den Büschen. Ein Ast knackte hinter ihr.
Sofort wandte sie den Kopf nach hinten. Sie verengte die Augen zu Schlitzen, um eine Bewegung wahrzunehmen, auch wenn sie noch so klein war. Fast eine geschlagene Minute stand sie regungslos im Dunkeln, wartete, bis ihre Augen sich genügend an die Dunkelheit gewöhnt hatten, spähte über ihre Schulter in die Schatten.
Nichts. Gar nichts.
Sayay ging weiter. Das Gefühl war nach wie vor da.
Nachts war es sogar noch leiser als am Tag. Die Stille erfüllte die Luft. Sie hielt Sayay fest in ihrem eisigen Griff. Der Rabe, den sie noch vor Kurzem hörte, gab ebenfalls keinen Ton von sich. Er hielt den Atem an. Ein ewiges Ziehen, wie vor einem großen Sturm.
Oder etwas anderem.
Größerem.
Knack.
Sayay erstarrte. Sie spitzte die Ohren und lauschte. Auf ihre Augen konnte sie nicht vertrauen; es war einfach zu dunkel. Hier unten im Wald war kein Licht, das den Weg erhellen könnte. Die Sonne war schon ganz untergegangen und strahlte über anderen, ungesehenen Teilen der Welt. An ihrer statt war der Mond getreten, der als Sichel die nahen Sterne auslöschte, aber nicht stark genug war, um die Finsternis zu vertreiben. Ein Kitzeln schlich sich in Sayays Nacken, als würde jemand sie beobachten. Ihr Magen zog sich zusammen. Auch sie hielt jetzt die Luft an. Beklommen drehte sie wie in Zeitlupe den Kopf zur Seite und war darauf gefasst, jetzt gleich angegriffen zu werden, etwas würde sich auf sie stürzen und sie zum Schweigen bringen und die Einsamkeit dieses Waldes wahren, der schon so lange für sich allein stand und seine Geheimnisse wie einen Schatz hütete, Geheimnisse, die ihm der Wind erzählt hatte und die niemand außer ihm wissen durfte, niemand - auch nicht die kleine Wölfin.
Ein weiterer Ast brach.
Schweigen.
Vergessen.
Und dann der leichte Druck, mit dem etwas ihren Rücken berührte.
Sayay warf ihren Kopf zurück und schnappte nach der Dunkelheit, während sie gleichzeitig ihren Körper in einer schleudernden Bewegung um einhundertachtzig Grad drehte, um ihn weg von …
Sie bekam nur dünne Luft zwischen die Zähne.
Sie drehte sich wieder zurück und spurtete wie ein Blitz los, raus aus diesem Wald. Sie rannte ohne Sinn und Verstand. Die Finsternis um sie änderte sich nicht, dass man hätte annehmen können, still zu stehen, und für einen schrecklichen Moment hatte Sayay keine Ahnung, wo sie hinlief oder ob der Wald jemals enden würde, bis auf einmal die Bäume zurückgingen und sich das Land grau unter dem schwachen Licht des Mondes vor ihr ausbreitete. Noch hatte der Horizont die indigoblaue Farbe des Dämmerzustandes. Mit tiefen Atemzügen sog sie gierig die Luft ein. Ihr Herz schlug donnernd in ihrer Brust und pumpte das Blut und pumpte und pumpte.
Den Atem zischend durch die Zähne ausstoßend, drehte sie sich noch ein letztes Mal um, zu dem Wald, der schlafend hinter ihr ruhte. Sekunden vergingen.
Nichts.
Gar nichts.
Sayay spürte, wie das Blut in ihren Kopf schoss. Obwohl sie niemand hätte sehen können, genierte sie sich für ihre Furcht.
“Das war soeben der Tiefpunkt.” Sie sprach die Worte laut aus; der Klang ihrer Stimme beruhigte sie. “Bravo, Sayay, bravo. Nur weil ein paar Äste knacken, denkst du sofort an das Schlimmste. Mädchen, das ist albern. Du bist kein Kind mehr. Als Kind fürchtet man sich vor der Dunkelheit - und du bist kein Kind.”
Und habe mich trotzdem gefürchtet

. Der Gedanke schlich sich wie von der Woge getragen in ihren Verstand.
“Ja, gut, vielleicht

hatte ich ja Angst”, erzählte sie den Sternen. “Aber das war albern. Niemand war da, um mich zu holen, oder um nur hallo zu sagen. Nur ich, eine junge Wölfin aber kein

Kind mehr und meine Fantasie.”
Und trotzdem - eines konnte sie nicht so leicht ignorieren.
Etwas hatte sie am Rücke berührt.
Ein Blatt, dass dir auf den Rücken gefallen ist, nichts weiter. Du hast überreagiert, dachte sie und sperrte ihre Stimme wieder in ihren Kopf. Ein paar Sekunden falsch gedacht, und schon bildete man sich die verrücktesten Dinge ein.
Aber etwas hatte sie am Rücke berührt.
Wie gesagt: Der Verstand kann einem die abenteuerlichsten Lügengeschichten auftischen, und man isst und isst und wird doch nicht satt, dachte Sayay erschöpft.
Ein Kopfnicken, als wäre die Sache damit erledigt, und sie ging. Wenn sie noch vor dem Morgengrauen zu Hause sein wollte, durfte sie nicht wegen jeder Kleinigkeit stehen bleiben.
Der Wald rückte in immer größere Entfernung, bis ein Hügel ihn verschluckte. Eine kaum wahrzunehmende Brise ließ die Zweige kurz ihre Häupter heben. Noch ein weiterer Ast brach. Düstere Augen blitzten im Dickicht und verschwanden in der Nacht, aus der er gekommen war.
Er hatte Blut geleckt. Die kleine Wölfin war so wunderschön - die Dunkelheit konnte das nicht verschleiern. Sie hatte ein Verlangen ausgelöst. Ein sehr starkes.
Bald würde er sie wieder sehen.
Und er würde sie berühren.


10




Das träge Flüstern der Bäche, an denen sie vorbei gegangen war, erinnerte sie an das leise Klirren der Windspiele, die an den Türen des Kristallpalastes hingen. Sie lagen nun schon weit hinter ihr. Bald schon würde sie zu Hause sein. Während sich das Land vor der zunehmenden Dunkelheit verbarg, kehrten Sayays Gedanken zu ihrem Traum zurück. Sie umkreisten ihn wie die Geier das Opfer.
Es war noch nie vorgekommen, dass sie einschlief, wenn sie auf dem Hügel lag und beobachtete. Es war das erste Mal. Auch konnte sie sich nicht erinnern, müde gewesen zu sein oder erschöpft. Der Schlaf hatte sie nicht überrascht, wie er es sonst zu tun pflegte. Er hatte sich in die Wirklichkeit eingewoben und sie nach und nach aufgelöst. Das war ungewöhnlich.
Und dann noch dieser Traum … die Schmetterlinge, der Kristallpalast, Faran. Das alles hing irgendwie zusammen.
Aber wie, konnte sich Sayay nicht erklären.
“Was hat das alles zu bedeuten?”, murmelte Sayay in sich hinein. Vor ihrem geistigen Auge durchlebte sie den Traum, als würde sie ihn eben erst träumen. Jeder Grashalm war in ihrem Gedächtnis hängengeblieben. Es war so real gewesen.
“Es muss etwas zu bedeuten haben”, sagte Sayay laut. “Man träumt nicht ohne Grund. Und dass dieser Traum so klar war, muss etwas bedeuten.” Sie schwieg. Ihr kam ein Wort in den Sinn, das ihre Mutter einige Male benutzt hatte.
Vorahnung.
Eine Vorahnung auf - was? Sollte etwas geschehen, von dem Sayay nichts wusste? Die Fragen nahmen kein Ende.
“Möglicherweise denke ich ja aus der falschen Perspektive.” Sie legte die Stirn kraus. Vielleicht war es keine Vorahnung gewesen. Vielleicht hatte der Traum eine andere Bedeutung. Aber welche?
Sayay blieb stehen. Natürlich.
Die Brücke. Es musste etwas mit der Brücke zu tun haben. Warum sonst sollte sie in ihrem Traum vorkommen? So oft hatte Sayay sie sich vorgestellt. Wie sie im Wind schaukelt, der vom Meer weht. Das morsche Holz, das bei jedem Schritt zu brechen droht und doch standhält. Die alten, verrotteten Seile und die sprühende Gischt der See.
All das war in ihrem Traum genau so vorgekommen, wie sie es sich immer eingebildet hatte.
“Und was ist mit dem Fluss?” Zweifel lasteten schwer auf ihren Schultern. “Ich wollte ihn schon immer einmal sehen, aber ihn habe ich mir nicht so klar vorgestellt. Es sagt doch keiner, dass der Serphe wirklich so aussieht wie in dem Traum.” Nach Jahren der Einsamkeit war ihr nicht richtig bewusst, dass sie ein Streitgespräch mit sich selbst führte. Die eine Stimme, die der Meinung war, alles habe einen tieferen Sinn, gegen die andere, die nicht Sayay zu gehören schien und die davon ausging, wenn alles einen tieferen Sinn hat, ist er viel einfacher gestrickt, als vermutet.
“Wieso träume ich von einem Fluss?
Weil du ihn schon immer sehen wolltest.
Und warum träume ich dann nicht vom Aravan? Ihn würde ich auch gerne sehen.
Dann träumst du eben morgen von ihm.
Aber warum nicht heute?
Und warum hast du heute nicht von deinen Eltern geträumt oder von deiner Schwester? Sie willst du doch wiedersehen.
Aber ich weiß, dass ich sie nie sehen werde.
Träume sind Träume und nichts als Träume. Sie sind da, wie die Sonne oder die Berge da sind. Du musst keine Gedanken daran verschwenden.
Aber ich kann mich an alles erinnern! Sonst vergisst man doch sofort, dass man überhaupt einen Traum hatte! Es muss einfach etwas dahinterstecken!
Mädchen, das ist albern.”
Darauf konnte sie nichts erwidern. Vielleicht war es albern.
Vielleicht.
Nachdem sie am Fluss gewesen war, trugen die tausend Schmetterlinge, die nur im Sommer ziehen, sie in die Berge. Sayay konnte den Staub geradezu noch fühlen, wie er von den Schmetterlingen aufgewirbelt wurde und durch die Luft flog.
“Die Berge”, sinnierte sie. “Die Berge. Die Berge.” Sayay wiederholte es oft, als könnten ihre Worte sie näher rücken lassen. Sie waren noch da, das wusste sie, aber nachts konnte man sie nicht sehen.
“Die Berge - wieso? Da wollte ich noch nie hin.” Seit ihrer Kindheit dachte sie nur mit Unbehagen an das Heyn-Gebirge. Es war nicht so, dass sie sich fürchtete. Doch der Anblick des größten Gebirges, das man auf Rapen finden konnte, hatte etwas Einschüchterndes an sich. Majestätisch, wie es am Horizont thronte, warf es seine langen Schatten jeden Tag aufs Neue über das Land.
Und es gab nicht wenige, die glaubten, etwas Unheilvolles ginge von ihm aus.
Sayay kam wieder die Gestalt in den Sinn, die im Dreck gelegen und einen ganzen Fluss von Tränen geweint hatte.
“Sie sah nicht nur so aus wie ich. Ich war es selbst.” Ihre Stimme fand außer ein paar Steinen und Insekten keinen Hörer. “Das kann man allerdings leicht erklären, nach allem, was passiert ist. Aber trotzdem ist es eigenartig. Etwas stimmt da nicht. Etwas muss mir entfallen sein.”
Einige Sterne und der Mond erloschen kurz, als ein Schatten, womöglich eine Wolke, sie verdeckte.
Sie fasste noch einmal zusammen. Von der Brücke hatte sie geträumt, weil sie sich oft vorgestellt hatte, auf einer zu stehen und in einen schwarzen Ozean aus Schmerzen zu schauen. Faran war bei ihr gewesen, weil sie ihr beistand und ihr Kraft gab. Die Schmetterlinge und der Kristallpalast waren erst diesen Morgen in ihr Leben getreten. Da war es normal, von ihnen zu träumen. An den Serphe musste sie oft denken, wenn sie im Gras lag. Das Gebirge war schon immer da und sie sah es jeden Tag. Offenbar war es deshalb erschienen.
Was sie sich nicht erklären konnte, war, dass Rauch aus Farans Mund gekommen war. Dass die Sonne im Dämmerzustand geblieben war, als wüsste sie, wann Sayay aufwachen würde.
Etwas hatte sie vergessen. Und darin lag die Antwort auf ihre Fragen. Die Schmetterlinge, der Palast …
Pelagi.
Genau. Sie hatte davon geträumt, über ihre Heimstadt zu fliegen.
“Daran ist doch nichts ungewöhnlich”, sagte sie und war sich bereits sicher, im Kreis gedacht zu haben. Doch dann fiel es ihr auf.
Sie rief sich noch einmal das Bild in Erinnerung. Pelagi, das in der untergehenden Sonne rot glühte, von den verschwindenden Strahlen gefärbt wurde.
“Aber das ist falsch”, sagte sie. “Die Sonne kann doch nur die obersten Häuser verwandeln, wenn sie so tief steht. Pelagi hat nicht in der Sonne geglüht. Es hat gebrannt.”
Sowie sie die Worte aussprach, erinnerte sie sich an die Flammen, denn sie waren immer da gewesen wie die Berge. Pelagi versank in Rot, nicht mehr in Grün und Gold. Je öfter sie an den Moment, in dem sie über die Stadt flog, zurückdachte, umso deutlicher wurden die Erinnerungen. Sie waren so stark, dass sie das Knistern brennenden Holzes zu hören und den Rauch zu riechen glaubte.
Der beißende Geruch. Er war so real.
Sayay blieb stehen. Sie witterte in der Luft. Der Qualm verursachte ein leichtes Kratzen im Hals. Die Erkenntnis warf sie brutal aus ihren Gedanken und bildete die wirkliche Welt.
Und sie war scharlachrot.
Plötzlich spürte sie einen warmen Lufthauch, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Aber nicht vor Aufregung.
Vor Angst.
Sayay ging zunächst langsam, immer noch das Offensichtliche leugnend, denn nun konnte sie auch ein schwaches, rotes Glimmen erkennen, das den dunklen Nachthimmel färbte.
Sie rannte erst, als sie die Schreie hörte. Wie in einem Traum waren sie eher mehr spürbar denn hörbar gewesen. Doch nach und nach hatten sie ihre schreckliche Präsenz offenbart. Wie ein Sturm brachen sie über Sayay herein.
Sie rannte die Nord-Süd-Straße entlang, die sich einige Kilometer hinter ihr aus dem Dunkel der Nacht geformt hatte, bis sie, auf einer kleinen Anhöhe stehend, auf ihre Heimatstadt sah, in der sie geboren worden war, in der sie sowohl Freude als auch Leiden empfunden hatte und die nun in einer verzehrenden Feuersbrunst unterging.
Die heißen Flammen züngelten gierig nach dem kalten Himmel, der unerbittlich das schreckliche Schauspiel verfolgte. Die ganze Stadt brannte lichterloh. Innerhalb weniger Sekunden lösten sich die Reisigdächer der Häuser in tausende Funken auf, die wie Glühwürmchen umher flogen. Im Schein des Feuers tanzten überall Schatten ihre wahnsinnigen Totentänze, zuckten immer schneller in Erbarmen um das tolle, taube Feuer, riefen in lautem Lärmen, zankten in verrücktem Toben. Die hölzernen Gebäude, die die Brände nährten und anstachelten, schmolzen zu Ruinen aus Glut und Asche zusammen und erzeugten grausame Bildnisse des Schreckens. Mit zerstörerischer Brutalität walzten hell leuchtende Flammenwände alles und jeden nieder, hinterließen Schneisen der Panik. Die unerträgliche Hitze drosch von allen Seiten auf die schreienden und wild umher rennenden Tierwesen ein, versengte ihr Fell und nagte an den toten Körpern, die bereits zahlreich die Straßen bedeckten. Im Blut, das wie rostige Flecken den Boden überzog, spiegelte sich die Welt als verzerrter Traum.
Ein Albtraum, aus dem Sayay einfach nicht aufwachen konnte. Der Anblick stach ihr ins Herz wie ein Dorn. Benommen wich sie ein paar Schritte zurück.
Wieso geschah das bloß? Was

geschah hier bloß?
Sie durfte sich jetzt nicht mit diesen Gedanken beschäftigen. Ihre Heimat wurde zerstört, und der Schock war so bestialisch und saß so tief, dass sie fast unfähig war sich zu rühren. Aber es war nicht nur ihre Heimat. Alle, die sie kannte, waren da unten.
Faran war da unten.
Die Vorstellung, ihre beste Freundin könnte bereits verletzt oder sogar schon tot sein, versetzte sie augenblicklich in Bewegung. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Geist wieder völlig leer und wurde mit Gedanken so klar wie Kristall gefüllt.
Ungeachtet der Gefahr stürzte Sayay hinab in die Hölle.
Die Hitze schlug ihr entgegen und raubte ihr den Atem, gleichzeitig riss der schwarze Qualm ihr den Rachen auf und trieb ihr Tränen in die Augen. Hustend und nach Luft ringend stand sie inmitten des Infernos. Die Welt schloss sich zu einer glutroten Malerei zusammen und erzählte eine Geschichte des Leidens.
“Faran! Faran!” Der Lärm, der um sie herrschte, ließ keinen Raum für ihre verzweifelte Stimme. Die Worte kamen unverständlich heraus und verursachten ein Brennen in der Kehle. Sie hielt den Kopf dicht am Boden und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Als dunkle, verschwommene Gestalten erschienen ihr nun die anderen Tierwesen, die kopflos umher irrten, vom Rauch benommen taumelten, ohnmächtig zusammensackten oder bereits tot im Dreck lagen.
Und die Schreie. Der nicht enden wollende Strom aus Schreien.
Sie lief weiter, vorbei an einstürzenden Häusern. Durch die heiße Luft flogen Asche und Ruß und verschleierten die Sicht. Endlose schwarze Rauchsäulen stiegen zum Himmel empor und verschluckten ihn. Sie sah auf, um zu wissen, wo genau sie war.
Und da sah Sayay die Feuersäulen zum ersten Mal.
Erst wusste sie nicht, was sie sah. Als ihr bewusst wurde, was es war, stockte ihr der Atem. Denn was sie sah, war schlicht unmöglich.
Aus dem Himmel bohrte sich eine riesige Säule aus Feuer herab zur Erde. Das Geräusch, mit dem sie die Luft zeriss, war ohrenbetäubend. Sayay stand etwas abseits der großen Kreuzung, an der Abzweigung, die nach Osten führte. Die Feuersäule traf den westlichen Teil der Stadt, die zu einem Ort des Todes verkommen war. Einige Meter wanderte die Säule durch die Häuser und vernichtete sie, ehe sie wieder erlosch. Doch nur wenige Sekunden danach bahnte sich eine weitere ihren Weg aus den Wolken herunter, diesmal aber im nördlichen Stadtteil.
Von dem furchtbaren und gleichzeitig auf eine schreckliche Weise faszinierendem Schauspiel etwas abgelenkt, stolperte Sayay unbeholfen einige Schritte vorwärts. In ihren roten Augen verloren sich die Flammen und Funken und verwandelten sich in Lichtspiele des Schreckens.
Ihre Pfoten stießen gegen etwas. Als Sayay die schwarz verbrannte Leiche sah, musste sie mit Mühe ein plötzliches Schwindelgefühl bekämpfen. Sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren, auch wenn es schwer war.
Und sie musste hier raus.
Mit einen Satz sprang sie über die Leiche ihres ehemaligen Freundes Azec, der als einer der Ersten auf der Flucht vor den Feuersäulen gestorben war.
Die umher wirbelnde Asche schränkte ihr Sichtfeld immer stärker ein. Sie hustete. Funken verfingen sich in ihrem Fell und brannten kleine, schwelende Löcher hinein. Soweit es möglich war, versuchte sie die Orientierung zu behalten. Ab und zu rief sie nach ihrer Freundin, auch wenn ihr jedes Mal der Hals ein wenig mehr schmerzte. Farans Familie wohnte im Süden der Stadt, nur ein paar hundert Meter östlich von Sayays eigenem Haus. Mit aller Gewalt kämpfte sie den Gedanken nieder, Faran in diesem Akt der Zerstörungswut, egal wie gering die Chance auch war, nicht mehr zu finden.
Oder, was noch schlimmer war, sie vielleicht doch zu finden. Verbrannt wie die anderen.
Den Kopf dicht am Boden, verließ sie den Brandherd, der einst die Kreuzung gewesen war.
Immer wieder verschwamm die Welt, als kleine Schatten ihre Augen trübten. Der Rauch machte ihr schwer zu schaffen, obwohl sie den Kopf die ganze Zeit dicht an der Erdoberfläche hielt. Trotzdem zwang sie sich zum Durchhalten. Farans Haus war schon fast in Sichtweite. Sie würde ihrer Freundin zu Hilfe kommen. Das war sie ihr einfach schuldig. Mit dem Mute der Verzweiflung lief sie den Weg entlang. Weit hinter ihr ertönte wieder das Geräusch, mit dem eine Feuersäule die Luft zeriss. Das Lodern der Flammen und das Knacken von in der Hitze brechenden Holzes, das laut wie Kanonenschüsse war, ertönte überall. Aber etwas konnte der Lärm nicht verbergen.
Egal, wie laut es auch war, es war wesentlich stiller als zuvor. Die Schreie hatten nachgelassen, denn es gab kaum noch einen, der einen Ton hätte mache können.
Fast sämtliche Einwohner Pelagis waren bereits tot.
Doch Sayay war noch am Leben. Und sie lief noch. Sie lief.
Sie blieb keuchend stehen. Genau neben ihr stürzte ein Gebäude ein und zerdrückte die Überreste von zwei oder drei verbrannten Tierwesen. Aus den Trümmern stoben Funken in die glühende Nacht und erloschen in ihrem verderblichen Flug.
Es war das letzte Haus, das in diesem Teil der Stadt noch gestanden hatte. Alle anderen waren bereits beim ersten Angriff zerstört worden.
Auch das von Faran.
Sie rannte so schnell, wie es ihr geschundener Körper zuließ. Dort, wo Farans Haus hätte stehen müssen, breitete sich eine Skelett aus verbranntem Holz aus.
Tränen bahnten sich einen Weg über Sayays ascheverklebte Wangen. Es war, als würde ein großer Fels auf ihre Schultern gelegt. Für einen Moment stand die Welt wieder still, wie sie es damals getan hatte. Als hätte sie jemand in den Brustkorb getreten, rang sie nach Luft. Ihr Herz raste wie verrückt. Jede Kraft verließ ihre Körper. Ihre Beine knickten unter ihr weg und sie fiel der Länge nach hin.
Nein nein nein nein bitte nicht schon wieder …


Obwohl sie im Inneren bereits gewusst hatte, zu spät zu kommen, wollte sie einfach nicht wahrhaben, dass ihr Freundin, die einzige Person in ihrem Leben, die sie liebte, tot war. Vergangen. Von einer Sekunde zur anderen vom Antlitz dieser Welt, deren Name Herrlichkeit bedeutet, getilgt.
Sayay öffnete langsam die Augen. Der Qualm versuchte noch immer, sie in den letzten Schlaf zu wiegen. Und jetzt war dieses Angebot mehr als verlockend. Nur noch ein allerletztes Mal einschlafen und alles - das Leid, der Schmerz, die Qualen, alles Verderbliche, das in jedem Herzen ruht - wäre vorbei. Für immer.
Und vielleicht würde sie von ihrer Familie träumen. Und von Faran.
Was für eine wunderbare Vorstellung.
Sayay machte sich bereit, von der Welt Abschied zu nehmen. Doch etwas in ihrem Unterbewusstsein drängte sich auf. Es kitzelte sie und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Etwas war ihr entgangen. Genau dieses Gefühl der Unruhe hatte sie gepackt, als sie vor tausenden Jahren und gleichzeitig vor nur wenigen Minuten über die Bedeutung ihres seltsamen Traumes nachgedacht hatte. Aber hier war es wesentlich greifbarer und offensichtlicher.
Es gab keine Leichen.
Sie hob den Kopf und schaute sich um. Die Wände waren genug beschädigt, um beinahe das gesamte Hausinnere einsehen zu können. Da so weit von der Kreuzung entfernt die Häuser nicht mehr so gedrängt standen, waren die Flammen hier bereits großteils wieder erloschen. Eine dicke Schicht aus Asche und glimmenden Trümmerteilen war über den Boden verstreut.
Aber sie konnte nirgendwo eine Leiche sehen.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer erwachte in Sayay. Hier war Faran jedenfalls nicht gewesen, als der Tod über Pelagi hereinbrach. Vielleicht war sie ja doch noch am Leben. Und vielleicht war …
Die Feuersäule schlug nur knapp dreißig Meter hinter Sayay ein. Ihr Licht blendete sie und der Lärm machte sie fast taub. Fast zu spät bemerkte sie, dass die Säule immer näher kam.
Sayay sprang auf und rannte in die Dunkelheit.
Das Feuer verfolgte sie.
Angsterfüllte Blicke über die Schultern werfend, lief sie durch eine Lücke zwischen den Häuserruinen hinaus aus der Stadt. Kurz wusste sie nicht, was das für ein seltsames Gefühl an ihren Pfoten war, bis sie bemerkte, dass sie auf Gras lief. Der helle Schein des Feuers ließ die Welt um sie als eine bizarre, surreale Landschaft erscheinen. Sayay wusste nicht, wohin sie lief. Aber das Feuer verfolgte sie. Sie spürte den warmen Lufthauch, der dem Tod vorauseilte und schnell immer heißer wurde. Verzweifelt und erschöpft von der Angst, die schwer auf ihr lastete, machte sie einen Satz nach rechts und lief nun in diese Richtung weiter. Lange würde sie nicht mehr durchhalten, und die Flammensäule war immer näher gekommen.
Es funktionierte. Das Feuer entfernte sich wieder von ihr. Das brennende Gras, das es hinterließ, wirkte wie der Schwanz eines großen Tieres.
Taumelnd wurde Sayay langsamer, bis sie wieder Erde spüren konnte. Länger konnte sie das nicht mehr durchhalten. Sie hatte bereits sehr viel von dem tödlichen Rauch eingeatmet. Außerdem ließ ihre Energie rasch nach, da sie an diesem Tag noch nichts gegessen hatte. Ihr Kopf fiel bereits immer wieder nach vorne. Sie musste alle Kraft verwenden, nicht ohnmächtig zu werden.
Der Schmerz kroch unglaublich schnell ihr Bein hoch und verbreitete sich im gesamten Körper. Mit zu einer Grimasse verzerrtem Gesicht fiel Sayay hin. Als würde ihr jemand einen Nagel immer tiefer in die Pfote rammen, nahm der Schmerz weiter zu. Aus ihrem Mund kroch ein winselndes Stöhnen und verlor sich in der Dunkelheit. Sie atmete die Luft stoßweise aus und sah ihre rechte Vorderpfote an, aus der Wellen des Schmerzes in ihren Körper strahlten.
Die kleinen Kiesel, die den Weg bedeckten, auf den sie bei ihrer Flucht gelangt war, hatten ausgereicht, die Wunde wieder aufzureißen, die sie sich an diesem Morgen geholt hatte. Sie sah mit an, wie immer mehr Blut und Eiter aus der Pfote auf den Boden lief. Die Wut, die sich in ihr anstaute, ließ alles andere kurz nebensächlich werden. Sie dachte nicht daran, welches Glück sie gehabt hatte, dass die Wunde sich nicht wieder geöffnet hatte, als sie noch mitten in der Stadt war. Oder als die Feuersäule sie verfolgt hatte.
Indem sie sich auf die linke Seite stützte, stand Sayay ächzend auf. Staub und Asche färbte ihr einst so schönes Fell fast vollständig schwarz.
Und in diesem Moment raste eine weitere Feuersäule auf sie zu. Diesmal aus der Richtung, in die die vorige verschwunden war.
Sayay stöhnte, als sie vorsichtig ihre versehrte Pfote aufsetzte. Mit erschreckender Langsamkeit humpelte sie davon. Das Feuer kam näher. Wie vorhin auf der Wiese bemerkte sie einen warmen Lufthauch, der zunehmend an Kraft gewann. In nur wenigen Sekunden würde sie wie all die anderen in diesem Sturm untergehen.
Auf einmal wurde sie von etwas am Kopf berührt. Überrascht schrie sie kurz auf und zuckte zusammen, doch sie verlor das Gleichgewicht, als eine ihrer Pfoten plötzlich ins Leere tappte. Sofort fiel sie, nicht tief, doch tief genug, um ihr das Wissen des sicheren Todes einzureden. Ihr Körper prallte auf den Boden und ihr Kopf schlug hart gegen eine Wand.
Benommen sah sie noch, wie die Feuersäule an ihr vorbeirauschte, greifbar nah und doch irgendwie in einer beruhigenden Entfernung. Die Hitze war bei Weitem nicht so schrecklich, wie sie sich es vorgestellt hatte, und auch der Lärm war mehr ein dumpfes Dröhnen. Dann wurde es wieder Nacht, als die Flammen erstarben, und mit Faszination beobachtete Sayay, wie überall dunkle Rosen erblühten und sie umhüllten.
Schwarz.


11




ay?
Sayay?
mich hören?
auf!
Bitte, Sayay, wach doch auf!
Lichtblitze flackerten. Schatten wichen zurück, spalteten und verstreuten sich in alle Richtungen und erzeugten allmählich Farben. Die Stimme, die sie rief, hallte in ihrem Verstand wieder und löste Kopfschmerzen aus. Ob sie wirklich oder nur eingebildet war, konnte Sayay nicht mit Bestimmtheit sagen.
“Sayay! Sayay, wach doch auf!”
Etwas begann, an ihrer Schulter zu rütteln. Je weiter sie die Augen öffnete, umso mehr glaubte sie, auf einen roten Punkt zu starren, der sich aus der Dunkelheit geformt hatte und von Licht umgeben war. Und aus diesem Punkt schien die Stimme zu kommen.
Sie sah in das von Asche und Staub bedeckte Gesicht eines Fuchses.
Ihr Kopf war schwer, als hätte jemand ihn mit Sand gefüllt. Sie wollte etwas sagen, aber aus ihrem Mund kam nur ein Lallen.
“Warte”, sagte der Fuchs. “Ich bring dich hier raus.” Ein Geräusch ertönte, das Sayay nicht zuordnen konnte, dann griffen zwei Arme unter ihren Körper und wuchteten ihn mit Anstrengung einige Zentimeter in die Luft. Halb gehoben, halb gezogen wurde Sayay aus dem kleinen Spalt geholt, in dem sie als Kinder immer gespielt hatten und an dem sie in der Aufregung womöglich vorbei gerannt wäre, wenn ihre Verletzung sie nicht daran gehindert hätte. Die Blätter an den tief hängenden Zweigen der Bäume waren es gewesen, die sie am Kopf berührt hatten. Das Feuer hatte sie bis zu den Stämmen verbrannt, welche als schwarze Münder über das Unheil klagten.
Als das Tageslicht sie blendete, stöhnte sie leise. “Mach die Fensterläden zu”, murmelte sie und wollte sich wieder in den Schlaf flüchten. Sie wurde sanft auf den Boden gelegt. Anschließend rüttelte der Fuchs wieder an ihr und rief ihren Namen.
“Du musst wach bleiben, Sayay! Hörst du! Sayay! Bleib wach!”
Wieder hörte sie das unbekannte Geräusch.
“Lass mich, Faran”, sagte sie erschöpft.
“Sayay! Sayay!” Das Rütteln wurde heftiger, fast panisch.
“Mach bitte die Fensterläden zu, es blendet.”
“Sayay!”
Die Unruhe, die in dieser Stimme lag, erschrak Sayay. Sie öffnete ihre Augen langsam. “Ich hab dich ge-” Ein Hustenanfall unterbrach sie. Es fühlte sich an, als würde ihre Lunge entzwei gerissen. Keuchend brachte sie sich unter Kontrolle.
“Ich hab dich … gesucht”, brachte sie nach einer Pause hervor. Sie flüsterte und sprach langsam, um ihren kratzigen Hals nicht anzustrengen. “Ich hab … dich gesucht … aus irgendeinem Grund … und es war hell … weißt du noch, warum ich dich gesucht hab? Es muss wichtig gewesen sein … ungeheuer wichtig … Faran?”
Wieder hörte sie dieses Geräusch, aber nun wusste sie, was es war.
Ein Schniefen.
Erst jetzt sah sie, dass der Fuchs weinte.
“Warum weinst du denn, Faran?”, fragte Sayay. Ihre verworrenen Gedanken richteten sich langsam aber sicher in eine Richtung aus. “Was hast du?”
Der Fuchs wischte sich mit der linken Hand über das tränenaufgelöste Gesicht. Sayay sah es nicht sofort. Sie konnte auch nichts sehen. Da war nichts.
An dem Handgelenk war nichts. Das braune Mal war an der anderen Hand.
Sie lag in Forans Armen.
“Foran”, sagte sie überrascht mit schwacher Stimme.
Als er seinen Namen hörte, ging ein Ruck durch seinen Körper, und er sah sie an. Die grün funkelnden Augen, in die sich Sayay vor so langer Zeit einst verliebt hatte, waren anders als sonst, auf eine unheimliche Weise leer und gleichzeitig angefüllt mit Schmerz. Sie waren wie mit einem dichten, grünen Nebel bedeckt. Als würde man in einen tiefen, mit Moos bewachsenen Brunnen schauen, dessen Grund man nicht erkennen konnte.
“Was hast du denn?” Sie wunderte sich über Foran. Die Wunde an ihrem Hinterkopf begann wieder, einen dumpfen Schmerz auszusenden, der wie Ebbe und Flut, mal weniger und mal mehr stark, in regelmäßigen Abständen kam. Aber sie schenkte ihm kaum Beachtung. Foran hielt sie in seinen starken Armen. Er war schmutzig und weinte.
“Ist etwas passiert?”, fragte sie. Dann entgleisten ihr kurz alle Gesichtszüge. “Ist Faran etwas zugestoßen?” Foran heulte bitterlich. Sein Kopf zuckte und zitterte. Diese kleine Bewegung war es, die Sayay als Kopfschütteln verstand. Erleichtert atmete sie tief durch. Faran ging es gut.
Aber es musste etwas anderes vorgefallen sein. Sie wusste nur nicht, was. Ihre Erinnerungen an das Inferno schlummerten noch einen trügerischen Schlaf.
“Jetzt sag doch was!”, verlangte Sayay mit Nachdruck. Einen Augenblick lang glaubte sie sich an die Zeit vor dem Stillstand zurückversetzt, bevor sie vom Tod ihrer Familie gehört hatte. Aber das war albern, Mädchen, das lag in der Vergangenheit. Sie waren im Hier und Jetzt. Was immer es auch war, das Foran so aufgebracht hatte, es konnte schon nicht so schlimm sein.
“Na komm, Foran”, wollte sie ihn beruhigen. “Du weißt, wie ungern ich jemanden weinen sehe. Das macht mich dann auch immer traurig. Was ist denn so Schlimmes passiert? Mach dir keine Sorgen. Ich wette, die Schmetterlinge sind schon auf dem Weg, um dich zu trösten. Mir haben sie auch geholfen. Du hättest sehen sollen, wie wir geflogen sind.” Sie bemerkte nicht, wie wenig Sinn ihre Worte ergaben oder dass sie Foran damit nicht weiterhalf. Aber in ihren Ohren klang es richtig und wahr. Sie war fest davon überzeugt, die Schmetterlinge würden alles wieder gut machen.
So schlimm konnte es nun wirklich nicht sein.
Aber warum weinte Foran dann so schrecklich?
“Willst du vielleicht lieber nach Hause gehen?”
Es war die Woge.
Foran senkte den Kopf, bevor er ihn wieder in einer ruckartigen Bewegung hoch riss. Die Brunnen in seinen Augen waren nun mit Abscheu und Wut gefüllt. Sie blitzten plötzlich gelb. Es waren die Augen einer Bestie.
Sayay wich zurück und verursachte ein scharrendes Geräusch auf dem schwarz gebrannten Pfad. Aus Forans Mundwinkel tropfte ein kleiner Speichelfaden und seine Unterlippe bebte. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und stampfte davon.
Wie vor den Kopf gestoßen starrte sie ein großes Loch in die Luft. Seine Augen

. Häufig flammte ein kurzer gelber Schimmer in den Augen eines Tierwesens auf, wenn der menschliche Geist kurz von tierischen Gedanken durchbebt wurde, so hatte sie es bei ihren Freunden und sogar bei Shanya gesehen. Aber meistens war er in dem Moment wieder verschwunden, in dem er auftrat. Diesmal war es anders gewesen. Es waren wahrhaftig die Augen einer Bestie gewesen, die Sayay mit scharfen Blicken durchdrungen hatten. Eine scheußliche Kreatur, die nur Hass und Zerstörung kannte.
Deren Name Foran lautete.
Der Wind wehte über das Land und erfasste mit unsichtbaren Fingern eine Staubschicht und wirbelte sie hoch in die Luft, dass sie einen Moment die Sonne verdunkelte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie still es war. Die Welt wirkte grau und abgestumpft, hatte den letzten Hauch Farbe verloren. So viel Staub. Es war so viel Staub.
Einfach zu viel Staub.


Als sie das Geräusch hörte, dauerte es mehrere Sekunden, ehe sie sich umdrehen konnte. Der Staub übte eine seltsame und starke Faszination auf sie aus. Er bedeckte das Land, er verschleierte die Luft, er verwandelte Faran in ein bemitleidenswertes Geschöpf, das Sayay das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Der Anblick war erschütternd. Faran ließ die Arme locker herab hängen, sodass sie bei jedem Schritt wie irrsinnige Windspiele tanzten. Das einst so strahlend rote Fell, an das sich Sayay erinnerte, sah nun glanzlos und matt aus. Sie zog ihren langen Schweif im Dreck hinterher und hinterließ eine dünne Spur, während sie, halb taumelnd wie eine Träumende, einen Fuß nach dem anderen auf die dunkle Erde setzte und jeden Moment hinzufallen drohte. Ihr Kopf sank immer wieder nach vorn, als wäre sie müde. Außerdem schien sie geschrumpft zu sein, wirkte ausgemergelt und schwach.
Der Staub hatte sie verzehrt.
Sayay lief ihr entgegen.
“F… Faran?” Sie flüsterte, war nicht fähig, lauter zu sprechen. Vorsichtig näherte sie sich ihrer Freundin. Doch Faran sah sie nicht oder schien sie überhaupt zu bemerken. Sie taumelte weiter. Die schreckliche Bewegung, mit der ihr Kopf nach vorn sackte - wie, um eine ungestellte Frage zu bejahen. Als sie schon fast an Sayay vorbei war, brach sie zusammen. Sayay machte reflexartig einen Schritt zur Seite. Mit einem dumpfen Plums

landete das Fuchswesen auf ihrem Rücken. Sie bekam kaum Luft, während sie sich ächzend über den Weg entlang quälte, dann ließ sie Faran langsam auf den Boden gleiten und achtete darauf, dass ihr Kopf nicht aufschlug. Ihr Rücken lehnte nun gegen die Felswand, nur ein paar Schritte neben dem Loch, aus dem Foran sie, Sayay, gezerrt hatte.
Entsetzt begutachtete sie ihre Freundin, sah besorgt in alle Richtungen, rief um Hilfe, ging auf und ab, während sie ihren Namen immer und immer und immer wieder sagte.
Drei furchtbare Minuten vergingen in Schweigen. Sayay biss sich auf die Zunge, damit sie nicht schrie.
Faran öffnete die Augen.
Ihre Arme griffen durch die Luft und suchten nach unsichtbaren Dingen. Irgendwann bekam sie eine der weißen Strähnen zu fassen, die von Sayays Stirn herabhingen, und zog an ihr wie an einem Seil. Sie gab der Bewegung nach und verzog kein Miene. Sie konnte nicht anders. Der Griff des Fuchswesens war kraftlos und verursachte keinen Schmerz.
Keinen körperlichen.
Faran zog an ihr, bis nur noch ein paar Zentimeter zwischen ihren Gesichtern waren. Ihr Mund stand leicht offen wie im Staunen. In ihren Augen konnte Sayay ihr Spiegelbild als Verzerrung erkennen. Dahinter war eine grüne, kalte Wand.
Dann ließ Faran die Hand sinken. Sie war mit Ruß verschmiert und so schwarz wie der Grund, auf dem sie jetzt ruhte.
Ohne ihre Lippen zu bewegen, hauchte sie Sayays Namen. Sayay schluckte. Ihr Herz schlug bis zu ihren Hals hinauf.
“Sayay”, hauchte sie lauter.
Die junge Wölfin presste die Lippen zu einer schmalen Linie, um ein Schluchzen zu unterdrücken.
“Sayay … Sayay … Sa-Sayay.”
Sie nickte übereifrig mit dem Kopf. “Ich bin hier, Faran, ich bin bei dir.”
Ihre Hände tasteten über Sayays Gesicht, um sich ihrer Existenz gewahr zu werden.
“Ich hab dich mmmmmm.” Die Worte wollten einfach nicht aus ihrer Kehle kommen. “Ich hab mmmmmm, dich ge-mmmmmmmmmm.”
“O Faran”, jammerte Sayay. Sie spürte, wie sich Tränen in ihr aufstauten.
“Ich mmmmmmmm …..”
“Faran.”
“Mmmmmmmmmmm …”
Sayay legte ihren Kopf auf Farans Brust. Das regelmäßige Heben und Senken ihres Brustkorbes übertrug sich auf Sayay. “Was ist nur mit dir geschehen”, flüsterte sie. Glitzernde Perlen flossen ihre Wangen hinab und wuschen das rote Fell von Staub und Schmutz frei. Die Wege, die sie gingen, waren wie Kritzeleien auf einem Grabstein. Ihr Kiefer zitterte und ihre Zähne schlugen aufeinander.
Sie spürte, dass sich zwei Hände in ihrem Nackenfell vergriffen. Faran presste sie an ihren Körper und rieb ihr Gesicht fest an Sayays Stirn.
“Ich hab dich gefunden”, schluchzte Faran mit dem matten Fell und weinte, wie sie noch nie geweint hatte. Die Tränen erstickten ihre Stimme. Sie begann, sie wie ein kleines Kind zu wiegen. Verzweifelt ergab sich Sayay dem Schaukeln. Sie ertrug es nicht. Ihre Eingeweide knoteten sich zusammen und pressten die Tränen wie Wasserfälle aus ihr heraus.
Faran nuschelte Worte in Sayays Fell, die sich schnell wieder in haltlosem Schluchzen auflösten.
Die Sekunden vergingen in Trauer und verflossen zu Schweigen, das sie umgab und durchflutete. Die Welt drehte sich unter ihnen in ihrem immerwährenden Tanz. Graue Wolken verwandelten den Himmel in einen Ozean aus Steinen, der das Licht schluckte.
Als nach Minuten, die zu Jahren wurden, Sayays Augen wieder trocken waren, befreite sie sich sanft aus Farans Klammergriff. Diese ließ die Arme schlaff auf den Boden klatschen, als wäre sie bereits tot.
Und sie sah auch wirklich so aus. Keine Spannung war in ihren Gliedern, ihre Augen fixierten nur das Nichts … Wenn Sayay nicht vor wenigen Momenten noch das dumpfe Pochen ihres Herzschlags gehört hätte, sie hätte Faran für tot gehalten.
Aber sie war nicht tot. Die Zeit war noch nicht gekommen, in der sie in den Fluss fallen sollte, noch lange nicht. Doch beinahe wäre es so weit gewesen. Wenn nur etwas später, etwas später, wenn es nur etwas später passiert wäre, dieses Etwas, das Inferno -
Die Luft verwandelte sich in Stein. Es musste so sein, denn ansonsten hätte Sayay keine Schwierigkeiten gehabt, zu atmen. Alles war zu grauen, wispernden Fels geworden, in den ihre Leben gemeißelt worden waren. Nur drei Leben.
Nichts anderes war mehr übrig.
Kleine Kiesel purzelten lebhaft über den Weg, als Sayay sich in Zeitlupe nach der Stadt wandte.
Jedenfalls in die Richtung, in der einst eine gelegen hatte.
Was sie sah, erst jetzt gewahr wurde

, war keine Stadt. Eher eine Wüste, die größte von allen. Und darin standen wie alte Gemäuer einer Geisterstadt die Überreste der Häuser, die ihre letzte Verwandlung nun endgültig hinter sich hatten. Einige der dicken, so stark verbrannten Balken, dass sie mit einer weißen Schicht bedeckt waren, glimmten noch. Es war ein Pulsieren, das von kaum spürbaren Böen im Takt gehalten wurde. Gerippe aus Holz verlachten höhnisch den Himmel, streckten ihre widerlich verkohlten Zungen gegen den Horizont, als provozierten sie einen weiteren Feuerregen. Die einstmals so fröhlichen Bewohner der einstmaligen Stadt, die den Namen Pelagi getragen hatte, waren entweder gänzlich verbrannt oder unter eingestürzten Trümmerteilen begraben. Der Tod hatte seine fauligen Schwingen über das Land ausgebreitet und herrschte nun in vollkommenem Wahn.
Und überall der Staub. Nur, dass es keiner war, denn Asche stob durch die Luft und fegte über das Land, gab den unsichtbaren Windfingern eine Gestalt aus Schwarz und Elend.
Sayay wollte die Erinnerungen leugnen, die sich in ihr aufwühlten, wollte sie alle wieder runterwürgen und in das Tal des Vergessens sperren, denn wer vergisst, kann nicht leiden, nicht wahr? Und wir alle versinken in gefälligem Sein.
Doch das Leben ist kein Märchen. Das war es nie und wird es auch nie sein.
Ihre Pfoten waren inzwischen mit einer Schicht aus Ruß und Schmutz verklebt, auch die rechte Vorderpfote, die jedoch nicht mehr so schlimm wehtat; nichts tat mehr weh. Eine kleine Wolke aufgewirbelter Asche verdunkelte wieder die Sonne, und Sayay war sich sicher, jetzt kommen die Schmetterlinge und tragen sie weit weg, vielleicht bis hinter die Berge oder noch weiter, in die jenseitigen Ländereien, die ganz und gar den Urgewalten dienten und gehörten, oder zu den ewig murmelnden Wassern des großen Sees.
Nein. Nein. Es gab nur einen Ort, an dem sie hätte glücklich sein können.
Den Kopf von der einen zur anderen Seite neigend, schaute sie sich um, horchte auf das leise Singen der leisen Glockenspiele, die aus Sternenglut geformt worden waren. Nur in diesen kristallenen Wänden könnte sie endlich frei sein von den Schatten dieser ach so dunklen Welt.
Doch der Kristallpalast zeigte sich nicht, er verschloss seine Tore … und darin das Licht.
Sayay brach zusammen.
Die Asche fühlte sich wie Schnee an.

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2009

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