Es war einmal
ein Clown mit einer roten Knollennase, und die war nicht aus Pappe.
Jeder, der ihm in’s Gesicht schaute, musste unwillkürlich an jahrelangen Missbrauch von Alkohol denken, meist in Form von solchen Gläsern, die einen Fuß hatten - und zwar so einen, auf dem allein man nicht stehen konnte, so dass das nächste Glas geordert werden musste. An manchen Abenden war er zum Tausendfüßler geworden, und nicht einer dieser Füße hatte ihm dabei geholfen, auf sicheren Beinen nachhause zu wanken.
Der Clown hatte in seinem Leben viele Wünsche gehabt; und der Traum, sie könnten sich erfüllen, hatte ihn immer wach gehalten.
Aber fast jeden Tag erledigte sich einer dieser Träume und löste sich einfach so in Luft auf, meist unter dem sardonischen Gelächter seiner Kollegen.
Auf diese Weise hatte sich für ihn nach und nach alles erledigt, die große Liebe ebenso wie eine beneidenswerte Karriere und das große Geld; ja: schließlich hatte sich auch der Traum von einem impekkablen Aussehen aufgelöst, das ihm in der Frauenwelt hätte Glück bringen können.
Am Ende war er vor Traurigkeit so bescheiden geworden, dass er nur noch hoffte, ein besserer Mensch werden zu können. Er war bereit, vieles dafür zu tun.
Als er des Abends an seinem Lieblings-Bartresen hing, schweifte sein Blick über den Stammtisch hinweg, an dem die tapferen Zecher bereits in einen anderen Aggregatszustand übergegangen waren, und seine in Tränen schwimmenden Augen blickten durch die große Scheibe hinaus in den Nebel, der drauf und dran war, alles zu verschleiern, so dass die Welt da draussen unwirklich erschien wie in einem poetischen Traum, ungreifbar, unfassbar.
Der Clown wurde von einem Sehnen ergriffen und seine Gedanken schlichen hinaus in die feuchte Suppe; er hatte nicht übel Lust, sich in ihr aufzulösen und so, einfach mal eben, aus seinem Leben zu verduften.
Doch, was war das? Hatte ihm da nicht durch das vernebelte Fensterglas ein gekrümmter Zeigefinger gewunken, so als ob er sagen wollte: ‚Komm her, Genosse, komm raus, Gevatter. Nun komm schon.’ Ja, da drückte sich eine noble Nase an das Fenster und ein wachsbleiches Gesicht erschien, welches eine wundervolle schwarze Arabeske um das rechte Auge trug.
Der Clown erhob sich und stieg von dem Barhocker, ging zur Tür und verließ grußlos die finstere Höhle.
Draussen erwartete ihn eine Lichtgestalt: ein edler Bajazzo, der ihn mit einer kleinen Verbeugung begrüßte und kurz das glitzrige Hütlein lüftete, um es sogleich wieder wie eine Krone auf sein Haupt zu drücken.
Der Clown hatte seinen Schlapphut in der Hand behalten und drehte ihn verlegen zwischen den Fingern.
„Wo kommst du denn her?“ sagte er unvermittelt.
„Der Feuersturm des Krieges hat mich hierher geweht, im Gestrüpp der Gleichgültigkeit bin ich hängen geblieben.“ sprach eine strahlende Stimme in gebrochenem Deutsch.
„Und nun schwebst du durch den Nebel.“
„Der Nebel ist freundlich, er deckt zu das Hässliche und stützt die Fantasie, die auf seinen Schwaden genüsslich schwimmt und in alle Ritzen dringt.“
„Mir bringt er Traurigkeit, nimmt sie mir wieder und trägt sie fort.“
„Setz deinen Hut auf und folge mir.“
Ihre Schritte, gedämpft, verschwinden in der Watte. Der Bajazzo hat den Clown an der Hand genommen und führt ihn in eine andere Welt.
Sie kommen an einer großen Treppe vorbei, die hinaufführt zu einer Kathedrale, deren Turm, der ‚Finger Gottes’, vom Nebel verschluckt wurde. Auf einer der nassen Stufen sitzt ein Wesen, klopft sich an die Brust und murmelt: „Alles verloren; ich bin ein Narr.“
„Endlich haben wir dich gefunden, o Narr. Komm mit uns und sei Teil unseres Dreigestirns.“
Nun streben sie zu dritt einem Ort zu, der sind langsam vor ihnen im Dunst materialisiert: ein riesiges Zelt aus bunten Planen, von innen wundersam beleuchtet, aus dem Musik dringt und ein Duft nach Wildnis.
„Die andere Welt!“ ruft der Clown.
„Hier leben Mensch und Tier in Harmonie zusammen. Die Menschen lernen zu springen, auf dem Seil zu tanzen, sich zu einem Knäuel zu verwinden und bunte Bälle zu werfen nach einem atemberaubenden Muster. Die Tiere lernen miteinander zu leben und zu arbeiten; ihre Klugheit kommt zum Vorschein, und sie übertrifft die mancher menschlicher Wesen, die nichts aus ihr gemacht haben.“
„Lass uns fortan zusammenarbeiten. Ich kann die Traurigkeit beitragen, die die Menschen zum Lachen bringt,“ sagt der Clown.
„Und ich kann eine Stolpernummer vorführen, Beispiel des ewigen menschlichen Bemühens,“ meint der Narr.
Der Bajazzo lacht mit seinem linken Auge; das rechte bleibt bewegungslos, um die Arabeske nicht zu verschieben. „Das Wichtigste, lieber Clown, ist, dass du etwas aus deinem Hut zauberst.“
„Zaubern kann ich nicht.“
„Nimm ihn einfach ab; der große Pickel auf deinem Kopfe wird alle zum Lachen bringen. Das ist das Größte, das ein Mensch in das Gesicht eines anderen zaubern kann: das Lachen. Es lässt seine Seele leuchten.“
Lena lehnt sich an die Lehne ihres Bürostuhls. Angenehm, wie diese ein wenig nachgibt und ihren Rückenmuskeln das Nachgeben erleichtert. Sie muss daran denken, dass es ihr schwerfällt, nachzugeben. Das ist ein Problem für sie.
Biss haben, alles durchkämpfen: Das ist ihr Ding. Und die unbedingte Voraussetzung für ihren Job: Systemdesignerin.
“Probleme sind da, um gelöst zu werden“, das ist ihr während der Ausbildung eingetrichtert worden. Für alles gibt es eine naturwissenschaftliche Erklärung, ein mathematisches Theorem, eine klare Formel. Für ihren angespannten Nacken gilt das nicht.
Lena war eine der Studentinnen des Jahrgangs, für den zum ersten Mal mehr junge Frauen als Männer zum Studium zugelassen worden waren. Die Abiturnoten der Mädchen waren weit besser. Trotzdem mussten sie sich während des Studiums immer hervortun, mehr büffeln, mehr wissen, mehr und bessere Lösungen entwickeln, als ihre Kommilitonen. „Was soll’s ? Null Problemo.“
Durch die nachprüfbar bessere Compliance und Performance der jungen Frauen handelten sich diese den Neid und die Missgunst ihrer Mit-Studenten ein. Vielleicht machte genau diese ungerechte Erschwernis sie nur umso härter – im Nehmen und im Austeilen.
Den Abschluss hat Lena mit Bravour geschafft. Ein Praktikum vor dem letzten Semester empfahl sie für die Stelle, auf der sie jetzt sitzt.
Lena ist als Einzelkind aufgewachsen. Das lässt jeden Sozialpsychologen sofort aufhorchen; genauso wie das Tableau der Eltern: der Vater ein gescheiterter Rockguitarrist, jetzt Sozialarbeiter in mittleren Dienst, die Mutter eine emanzipierte Frau der ersten Stunde, die erst vor Kurzem die lila Kleidung abgelegt hat, um zu ethnisch tingierten Flattergewändern überzugehen, die ihrer leider etwas auseinandergegangenen Figur mehr schmeicheln; Pony und lange Haare, die an den Spitzen dünn und ungleich sind, hat sie vorerst beibehalten. Ach, um es nicht zu vergessen: Die Mutter ist Bibliothekarin.
Lena ist – wie der Volksmund so schön sagt – behütet, ja, ich möchte sogar sagen: verwöhnt, aufgewachsen. Was der findige Sozialpsychologe uns sofort diagnostizieren kann (und wird), ist, dass Lena unter diesen Voraussetzungen wenig Frustrationstoleranz hat entwickeln können und dass die Themen ‚Eifersucht‘ und ‚Kompromiss‘ bei ihr der Bearbeitung harren.
„Was wir in der kindlichen Sozialisierung nicht bewältigen, stellt sich uns im weiteren Leben unerbittlich in den Weg.“
Lena’s Weg, ein bisher kurzer und erfolgreicher, kreuzt eines Tages der von Holger.
***
„Der Weg ist das Ziel.“
„I’ll do it my way.“
Zwei Ausprägungen von Lebensphilosophie, die ungleicher nicht sein können, zwei Wesen, die sich um ein gemeinsames Leben bemühen und doch sie selbst sein wollen: Lena und Holger.
Natürlich sind ihre Lebensphilosophien noch roh und unausgeschmückt, unabgeschliffen; die Farben verweilen darin nur für einen kurzen Augenblick und strahlen dann wieder in die Welt aus. Der erfahrene Leser wird sich denken: Lass‘ sie sich nur aneinander reiben – das gibt Kontur. Ja, so seltsam es sich anhört: durch Abschleifen bekommen wir Kontur.
Holger ist der ruhige Fels in der Brandung, Lena ist die Welle. Holger macht, dass sie größer und größer wird, bis sie bricht. Lena versucht, den Felsen zu unterspülen, zu verrücken. Sie bedenkt nicht, dass sie ihn so niemals zu sich her bewegen kann – auch hier scheint ihre These von der unbedingten Erklärbarkeit aller Dinge unter der Sonne aufzugehen : physikalische Phänomene im menschlichen Zusammenleben.
Mittlerweile kocht die Leidenschaft; und, da das Wasser sich unerklärlich weit zurückzieht, muss mit einem Tsunami gerechnet werden.
Der trifft, wie vorhergesehen, ein, und schleudert den Felsen in’s offene Meer, wo er, wie ein Wrack, zur Lebensgrundlage für eine Vielfalt von friedlichen Lebensgenossen und –genossinnen wird. Holger wird Sozialpsychologe.
Lena hat im ersten Moment ihr Mütchen gekühlt. Obwohl sie versucht, die langsam aufkommenden Gefühle von Verlust und Trauer, die mit dem Wort ‚Liebeskummer‘ so trefflich beschrieben sind, in die Energie einer Arbeitsameise auf der Spur des beruflichen Ehrgeizes zu stecken, läuft der Kelch bald über und überschwemmt ihre einsamen Abende mit Tränen. Es schwant ihr, dass ihr Weg sich in Zukunft mit anderen Wegen wird kreuzen müssen, um – wenn sie Glück hat – mit einem fremden, der spitz auf den ihren zuführt, zusammenzulaufen; dann wird „my way“ zu „our way“. Schon erschrickt sie wieder: Was ist das, wie geht das ?
***
Sie denkt an das Beispiel ihrer Eltern.
In deren Beziehung wurde viel diskutiert, gestritten gar, manchmal um der Versöhnung willen. Sie hat Beide als hartgesottene, der absoluten Lebenslust verpflichtete Kämpfer erlebt, die manchmal Haare ließen und sich die Zähne ausbissen, um sich dann mit blutigem Munde zu küssen, bis alles vergessen war.
Lena ist der Meinung, eine solche Wendung sei nicht konstruktiv. Denn aus ihrer kindlichen Beobachterrolle gesehen kehrten die gleichen Streitereien immer wieder, sich an denselben Punkten entzündend. Streit macht ihr Angst, damals wie heute. Alles unnütze Energieverschwendung.
Nun hat sie aber gerade mit Holger eine Energiezusammenballung erlebt, wie sie sie noch nicht kannte.
Lena zieht aus dem Erlebten, das sie ungewohnt stark mitgenommen hat, den Schluss, dass sie weicher werden sollte. Die Gefühle, die sie in sich trägt und die sie tragen, möchte sie in Zukunft ernst nehmen und kommunizieren.
Sie fühlt also in sich hinein und findet im tiefen Inneren ein Gefühl, das sich wie eine Raupe verkrochen hat, die dabei ist, sich zu verpuppen. Das ist die Liebe, die - von Stürmen, Fluten und Eiszeit arg mitgenommen – sich keinesfalls aufgelöst hat, wie Lena erst einmal gemeint hatte, sondern die in den Falten ihres Herzens festsitzt. Lena fragt sich, wie sie überhaupt meinen konnte, sie habe in der letzten Zeit ohne Liebe gelebt. Das was ihr so weh getan hatte, war doch gerade sie gewesen. Das was sie am Leben gehalten hatte, war gerade die Liebe gewesen.
Lena ruft Holger an. Ihr ist klar, dass sie ihre Fehler eingestehen muss, wenn sie nur eine winzige Chance haben möchte, ihn wiederzusehen.
***
In der Bank, bei der Lena als Systemdesignerin arbeitet, ist das obere Management der Meinung, die Systeme seien nun perfekt, und es müsse gleichzeitig, um die Gewinnmarge nicht zu schmälern, Personal eingespart werden. Zwei gute Gründe, Lena zu kündigen.
Lena ist vor den Kopf gestoßen. Sollte es möglich sein, dass sie mit ihrer perfekten Arbeit an eigenen Ast gesägt hat? Sie ist sicher, dass sie noch einmal mit ihrem Chef sprechen muss, um auf ihre Qualität hinzuweisen, auf ihre Expertise.
„Qualität, was ist das? Können wir uns nicht mehr leisten.“
„Ich habe gute Leistung gebracht.“
„Eben.“
Nun sitzt sie auf der Straße; ihr harter Stuhl mit der weichen Lehne wird verschrottet.
***
Holger ist nach langem Hin und Her bereit, sich mit Lena zu treffen. Sie wird ihm ein zweites Mal ihre Fehler und Schwächen in’s Gesicht sagen. In’s Gesicht sagen ? Klingt wie ein Hammerschlag.
Als sie Holger durch die Scheibe des Cafés am Marktplatz sichtet, bremst Lena ihren mutigen Schritt etwas und zieht das erste Wort aus ihrem Gehirn, das sie an ihn richten möchte. Das Entrée sozusagen. Sie zieht an dem ersten Wort, das sich nicht so leicht aus den Windungen lösen lässt.
Zwei Worte lassen sich blicken : ‚Freude‘ und ‚Fehler‘. Sie wägt ab. Was ist größer, was wiegt schwerer ? Sie will es darauf ankommen lassen, wie Holger ihr entgegenblickt.
Als er sie sieht, springt er auf und läuft ihr entgegen. In seinen Augen Glanz, in seinem Gesicht Vorsicht.
Sie setzen sich. Lena atmet tief durch; sie weiss, sie muss den Anfang machen, nachdem sie es war, die das Ende – das hoffentlich vorläufige – provoziert hat.
Holger sieht in ihrem etwas fahlen, nicht mehr siegessicheren Gesicht Sorge und Enttäuschung, aber auch, aus der Tiefe strahlend, eine Wärme, der ihn in der Seele trifft.
Er hat sich sogar etwas professionell auf ihr Treffen vorbereitet, Lena’s Psychoprofil erstellt und sich argumentativ gewappnet.
Nun nimmt sie ihm den Wind aus den Segeln mit ihrer genauen Analyse der eigenen Psyche, mit ihren Worten, die anfangs knallhart und präzise benennen, was das Problem ist, um sich dann immer mehr mit Gefühlen, mit Farben und Düften, zu tränken, die ihn um Verzeihung bitten. Lena liefert sich ihm mit ihrer weichen, verletzlichen Seite, die er bisher nicht an ihr gekannt hatte, bedingungslos aus.
Diese weisse Fahne ist das leere Blatt, auf dem sie ihre Zukunft schreiben können.
Der Text beginnt mit dem Wort: Ich liebe dich.
Am Anfang war das Wort.
***
Sie nehmen ihr gemeinsames Leben wieder auf.
Lena sucht Arbeit. Die Krise wird ihr bei jedem Vorstellungsgespräch um die Ohren gehauen, die Märkte sind mörderisch.
Sie entwickelt Schritt um Schritt Dankbarkeit und Bescheidenheit. Stufe um Stufe baut sie ihre Erwartungen ab; glaubt weiterhin an sich selbst und zweifelt immer mehr an der Karriere, die sie sich ausgemalt hatte, für die sie hart gearbeitet hat. Sie verschließt die Poren ihrer Haut, wird mehr und mehr hartleibig.
Nach Dutzenden von Bewerbungen, die ihr immer „mit den besten Wünschen für ihre Zukunft und dem tief empfundenen Bedauern für den negativen Bescheid“ zurückgeschickt werden – wenn sie überhaupt noch etwas von ihnen hört – sticht ihr eine Annonce in’s Auge:
„Gesucht wird Controlling-Fachkraft für Serviceunternehmen im Dienstleistungsbereich. Lebenserfahrung unbedingte Voraussetzung.“
Das klingt sybillinisch. Sie nimmt Kontakt auf.
***
Holger gerät etwas aus unserem Blickfeld.
In ihrem gemeinsamen Leben nehmen die sorgenvollen Gespräche über Gegenwart und Zukunft immer größeren Raum ein.
Auch in seiner Sparte werden rigide Sparprogramme durchgezogen. Obwohl unter der Knute der Arbeitswelt mit ihrer Leistungsverdichtung und Personaleinsparung immer mehr psychische Erkrankungen entstehen - selbst bei sehr jungen Mitarbeitern, die dem Raubtierkäfig-Dasein nicht mehr standhalten - , müssen sie leider einen Teil seines Deputates streichen in der Erwartung, „dass auch er seine Leistung steigere und das rare Gut ‚Zeit’ ökonomisch und gewinnbringend einsetze.“ ‚Sie‘, das ist das Management seiner Firma, Unterabteilung Personalressourcen. Humankapital.
Auf diese Weise wird Holger’s und Lena‘s Liebe immer mehr belastet.
Aus der großzügig geschnittenen Penthouse-Wohnung sind sie umgezogen in ein Zwei-Zimmer-Apartment zu ebener Erde, an einer verkehrsintensiven Straße mitten im Vorort mit seinen satellitenschüsselbewehrten Mietskasernen. Holger kann mit dem Rad in die Arbeit fahren, das Auto haben sie abgestoßen.
Sie bekommen aber auch eine immer dickere Haut; es gelingt ihnen, nicht mehr alles ungefiltert bis in die innersten Bereiche ihrer Seelen durchzulassen.
Holger hat Lena eine Filtertechnik beigebracht, die im Großen und Ganzen, ausgehend von der Prüfung der persönlichen Relevanz von Erlebnisinhalten, nur noch die wenigen Fakten durchsickern lässt, die es wert sind, aufbewahrt zu werden. Der Rest geht ohne Trennung in den Müll.
***
„Guten Tag. Ich rufe an wegen Ihrer Annonce im Tagblatt.“
„Einen wunderschönen guten Tag.“
„Die Annonce klingt vielversprechend. Ich habe jedoch noch einige Fragen.“
„Nur raus damit.“
„Um welche Branche in weitesten Sinne handelt es sich ?“
"Im weitesten Sinne ? Besser, wir sehen es eng.“
„Hm ?“
„Also, die Sache ist die: Sie kennen doch sicher die Telefonnummer 0900 ?“
Lena glaubt, sie habe sich verhört. 0900 hat sie jedenfalls nicht gewählt. Welche Frau wählt das schon ?
Nun erfährt sie in blumigen Worten, um welche Dienstleistung es sich handelt. Ihre Funktion wäre, die Gesprächsaktivitäten der Damen zu überwachen auf ganz bestimmte Kriterien: Ausdehnung der Dauer und Einhaltung bestimmter inhaltlicher Grenzen im Laufe der Gespräche.
Sie bekäme natürlich die entsprechende Einweisung. Hier handele es sich um die sprichwörtlichen vier Essentials:
Lena schluckt. Sie muss noch in sich gehen, sagt sie.
***
Wieder ist ein Traum wie eine Blase zerplatzt. Lena wird immer unbeweglicher. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt, sie fühlt sich festgezurrt auf ihrem Stuhl, wie damals die Elefantenfrau.
Als Kind war sie eines Sonntags mit ihren Eltern im Zirkus.
Das Brüllen der Löwen in ihrem Käfig, die von einem Bein auf das andere pendelnden Elefanten mit ihrem schwingenden und so feinfühligen Rüssel, das lustige Zebra, die feurigen Araberpferde, die Affen, die im Wipfel ihres Kletterbaumes von einem Ast zum anderen schwangen, ja überhaupt: der Stallgeruch, der über allem schwebte, das hat Lena in eine andere Welt versetzt. Bevor sie am Eingang in das Zirkuszelt ihre Eintrittskarten vorwiesen, gingen ringsumher die Lichter an. Lichterketten mit bunten Birnen, über die das Licht zu laufen schien, blinkende Sterne, das Innere des Zeltes in geheimnisvolles Dunkel gehüllt: Lena’s Herz schlug bis zum Halse.
Hier roch es nach Sägemehl, dessen Duftnote den Schweiss von Mensch und Tier aufgesogen hatte.
Das Orchester hatte auf einer lichtumkränzten Bühne oberhalb des großen samtenen und goldbetressten Vorhangs Platz genommen, die Instrumente unter dem Arm. Im Dunkeln warteten die Musiker auf den Dirigenten, dieser wartete auf den Zirkusdirektor. Die Manege dampfte, die Träume stiegen auf bis unter die Kuppel. Das Publikum raunte aufgeregt.
Da blies die Trompete. Das Licht flammte auf, die Manege war im hellen Strahlen.
Der Zirkusdirektor trat im Frack vor den Vorhang, der von Zauberhand zur Seite gezogen worden war. Er lüftete seinen Zylinder und begrüßte mit unnachahmlicher Grazie, ein Bein vor das andere gesetzt, das hochverehrte Publikum. Sein Scheitel glänzte, das Haar war mit Pomade frisiert, der Schnurrbart gezwirbelt. Aus seinen schwarzumränderten, glutvollen Augen blickte er direkt Lena an, kam auf sie zu und überreichte ihr eine rote Rose, die sich mit einem kleinen Knall öffnete und eine Praline darbot.
Artisten stiegen in die Höhe, tanzten auf dem Seil und schwangen sich in wildem Durcheinander von einem Trapez zum anderen, ohne jemals zusammenzustoßen. Im letzten Augenblick gelang es ihnen, das schwingende Holz zu fassen und auf der kleinen runden Bühne hoch über den Köpfen des Publikums zu landen, um den tosenden Applaus entgegenzunehmen.
Zwei Clowns gerieten miteinander in Streit und schlugen mit Holzlatten nacheinander, ohne den anderen jemals zu treffen; sie selbst fielen bei jedem Schlag über die eigenen, mit übergroßen Schuhen und Ringelsöckchen bekleideten Füße und schlugen sich die Nase auf, die wie ein roter Ballon abfiel und eine Wasserfontäne auslöste. Der eine verlor beim Fall seinen Hut, aus dem flatternd eine weiße Taube aufflog und in den Zirkushimmel entflog.
Eine wunderschöne junge Frau in hautnahem Glitzergewand bestieg ein eilends herbeigetragenes Rondell, welches sich langsam drehte. Sie faltete ihren biegsamen Körper so zusammen, dass er in einen Weinkarton passte, in dem sie von einem Adonis auf einer Hand aus der Manege getragen wurde.
Nervös tänzelnde Pferdchen, einen vielfarbigen Federstrauß auf dem Kopf, tippelten mit ihren kleinen Hufen im Kreis durch die Arena und schäumten in die Trense. Auf den kleinen Glitzersätteln tanzten die Mädchen und Jungen der Zirkusfamilie Cerebrelli in unglaublicher Anmut und Geschicklichkeit. Um das Pferd zu wechseln, sprangen sie auf ein Trampolin im Zentrum der Manege, flogen durch die Luft und landeten genau auf dem Rücken des nächsten Pferdchens, das mit geweiteten Augen auf ihr Gewicht zu warten schien.
Eine Schar schmächtiger Chinesen stürmte herein, vom Zirkusdirektor als „die Geschwister Sam Djhung“ vorgestellt. Die größte Schwester griff in ihr langes wallendes Haar, das glänzte, als sei es nass. Sie drehte daraus einen Zopf. Ein Seil kam aus dem Zirkusdach heruntergeschwebt, das Haar wurde daran befestigt und die grazile junge Frau wurde an ihrem Zopf in schwindelnde Höhe gezogen. Sie breitete die Arme aus, lächelnd, und nahm den Applaus in Empfang. Nun schwebte sie wieder herunter, verschlang ihre Glieder mit denen der jüngeren Schwester und hob diese, immer an ihrem Zopf hängend, mit in die Zirkuskuppel. Die Zuschauer klatschten begeistert und rieben sich den Haaransatz, um vom Zusehen keine Schmerzen zu bekommen. Das Konglomerat schwebte wieder zu Boden und nahm den kleinen Bruder auf, der wie ein Medaillon an den Händen der kopfüber hängenden Schwester wackelte und begeistert winkte. Keiner wusste mehr, wo er zuerst hinsehen sollte: auf das immer noch lächelnde Gesicht der Zopfhängerin, auf die verwundene Schwester oder aber auf den kleinen Jungen, der keine Angst zu kennen schien.
Zum ersten Mal in der Welt wurden Löwen und Tiger gemeinsam durch einen flugs aufgebauten Tunnel in die umgitterte Manege gelassen. Einige zottelten ruhig und majestätisch, während die anderen keine Lust zu haben schienen und in die Menge fauchten. Dabei kamen ihre eindrucksvollen Raubtierzähne zur Geltung, die den Kindern einen Schauder über den Rücken jagten. Lena bewunderte den Dompteur, der die fauchende Schar mit einer dünnen und langen Peitsche im Zaume hielt und als Höhepunkt seiner Nummer den Kopf in eines der Löwenmäuler steckte. Das Publikum hielt, wie vom Zirkusdirektor gebeten, den Atem an, das Orchester stockte, es breitete sich angespannte Stille aus.
Zur Entspannung kam ein junger Mann, eine Figur wie ein Balletttänzer, mit neun Glitzerkugeln, die er in hohem Bogen über sich warf und nacheinander wieder auffing, um sie dann durch die Luft durcheinander tanzen zu lassen.
Kleine Puffs wurden hereingetragen und symmetrisch in der Manege verteilt. Es kamen fünf Hunde, genauer: Hündchen und Hunde, mit ihrer Domina hereingewedelt, ein jeder setzte sich auf sein Püffchen wie auf seinen angestammten Platz. Sie machten Männchen, kratzten, bettelten, stellten sich aufrecht auf die Vorder- und Hinterfüße und bekamen nach jedem Kunststück eine kleine Wurst. Einer schlug nach dieser Belohnung jedes Mal einen Purzelbaum, sehr zur Freude der lachenden Kinder, die sich vornahmen, diese Nummer zuhause mit Fritzchen einzuüben, um sie als Überraschung an Weihnachten unter dem Tannenbaum den gerührten Eltern vorzuführen.
Zebras kamen herein und machten in wildes Strichmuster mit ihren Leibern. Esel wurden dazu getrieben, stockten mit ausgestreckten Beinen und gingen keinen Schritt mehr weiter.
Der Zirkusdirektor kündigte den Höhepunkt der Vorstellung an: die Elefantenfrau, einmalig in der ganzen Welt.
Ein samtbezogener Katafalk wurde von einem Dutzend Bühnenarbeitern mit angespanntem Bizeps hereingeschoben, der Bezug nach oben weggezogen.
Da saß auf einem güldenen Thron ein Ungetüm. Sein Leibesumfang maß – wie der Zirkusdirektor erklärte – gute vier Meter. Die Beine, in Samt und Seide gehüllt, standen wie Pflöcke unverrückbar auf dem Boden; aus jedem von ihnen hätte man ein dickliches Mädchen schnitzen können. Die kleinen Füße, in Pompon-Pantöffelchen gesteckt, verschwanden fast ganz unter den herabhängenden Hautmassen der Beine. Der Leib schien aus farbigen Lastwagenreifen zusammengesetzt, die übereinander geschichtet worden waren. Die Brüste lagen auf den Knien und führten ein beschauliches Dasein. Die Elefantenfrau bot sich in lässiger Ruhe den Blicken der Zuschauer dar; Blicken, die einen langen Weg zurückzulegen hatten, um sie in Gänze abzuwandern und sich in ihren Abgründen zu verlieren. Ihr Gesicht war grau und mit einer schuppigen Haut bedeckt wie ein Reptil. Die Augen lagen in großen bräunlichen Höhlen und schienen keine Freude zu kennen.
Das Leben hatte sie in diesem Zirkus abgestellt, der ihr ein Gnadenbrot zuteilwerden ließ. Ihre Krankheit hatte sich monströs ausgewachsen und sie zum absoluten Stillstand gezwungen. Man sah nicht, ob sie litt. In ihrer magischen und grandiosen Ruhe brachte sie alle zum Schweigen. So saß sie da, im Scheinwerferlicht, wie auf einem Altar: ein Opfertier, das Andacht ausströmte.
Gattus nudipartus, ein eindrucksvoller, wenn auch etwas verfrorener Zeitgenosse, legt sich sein Samtmäntelchen um und greift zum Zauberschwert.
Nachdem er jahrelang erfolgreich gegen die Flöhe angegangen war, die sich an seine Felllosigkeit gewöhnt und in einem biologisch einmaligen Vorgang ihre Nissen an den Rändern seiner Hautschuppen befestigt und dann dem Schicksal überlassen hatten, präsentiert sich ihm jetzt ein weitaus anspruchsvollerer Gegner: die Lockenkatze.
Dieser Feind auf Augenhöhe lockt ihn schon seit langem. Gott weiß, weshalb dieser zugewachsene Staubwedel ausgerechnet ihn gewählt, sich geradezu auf ihn kapriziert hat! Auf ihn, die Krone der Schöpfung, vom Menschen seit Jahrtausenden auf Haarlosigkeit gezüchtet - von jeder Dame mit Klasse rückhaltlos bewundert und glühend beneidet. Er braucht keinen Laser zur Entfernung störender Haarbälge.
Seine frühen Vorfahren, die sich am Hof des ägyptischen Pharao vom Dienstleistungs-Dasein des schnöden Mäusejägers zu dem luxuriösen Leben einer Schoß-Katze gemausert hatten, mussten in der Hitze des Sonnengottes Aton und auf dem heißen Schoß der Pharaonin die ersten Haare fallen lassen. Ihr schütteres Fell, das diesen Namen allerdings nicht mehr verdiente, mit Rattengift aus dem geheimen Vorrat der königlichen Schatulle behandelt, wurde brüchig und fahl. Sie mutierten von der Falb- zur Fahlkatze.
Marco Polo hatte diese erstaunlichen schmiegsamen Tiere mitgenommen auf seine Tour gen Osten. Am Hofe des chinesischen Kaisers hatten sie so viel Bewunderung hervorgerufen, dass Marco sie dem Kaiser endlich zum Geschenk machte, um seinen Tross aus den Kerkern der mit Raffinement folternden kaiserlichen Lakaien zu befreien.
Ja, diese Hofgesellschaft verstand sie sich auf Raffinesse. Nicht nur im Foltern, sondern auch in den schönen Dingen des Lebens, hatten die Würdenträger eine hohe Blüte erreicht. Den ihnen angeborenen Mangel an jeglicher Körperbehaarung hatten sie zum Inbegriff ihrer Kultur gewandelt.
So mussten auch die letzten Härchen der Katzen daran glauben.
Es wurde eine kaiserliche Geheimabteilung gegründet, besetzt mit den Koryphäen aus der Welt der Katzenzüchter und den Spitzen des Geheimdienstes.
Wenn man weiss, dass die Spezies der Katzen, ganz im Gegenteil zum Hund, sich so gut wie allen Zuchtversuchen widersetzt hat, kann man ermessen, welche Wichtigkeit diese Kommission hatte, die tatsächlich tagtäglich tagte.
In vielen Zuchtgenerationen, unterbrochen von einigen haarigen Rückschlägen, hatte sich endlich die Rasse des gattus nudipartus entwickelt.
Diese Luxuswesen von ungemein schwächlicher physischer Konstitution waren anfällig gegen jegliches Virus, das das kleinste Tröpfchen von Körperflüssigkeit als Vehikel benutzte, um sich rasend zu verbreiten.
Sie brauchten Kleider, um sich nicht zu erkälten oder gar den Tod zu holen.
Seidenoveralls in fantastischen Farben, bestickt und mit glitzernden Steinchen besetzt, trugen sie das ganze Jahr über, im Winter mit kleinen Mäusefell-Krägen und –Stulpen und mit Daunen gefüttert, im Sommer Seidenspitzen, von feiner Hand gewoben. In dieser prachtvollen Ausstattung manifestierte sich die Macht und der Reichtum ihrer Herren, ähnlich wie heute in den Handyschlupftäschchen russischer Blondinen.
(Es soll nicht verschwiegen werden, dass sich während dieser Zeit der absoluten Nachfrage nach Seide eine kulturimmanente Katastrophe abspielte: Die Katzen brachen aus ihrem Gehege aus und in die Batterien der Seidenraupen ein, die ihnen über alle Maßen mundeten. Sie rotteten, von der kaiserlichen Geheimwache unbemerkt, leise und elegant die gesamte Seidenraupengeneration aus, so dass Seide auf dem Weltmarkt zur Mangelware wurde und allerhöchste Preise realisierte: ein nachhaltiger Lernprozess für die chinesisiche Entwicklung zum Kapitalismus.)
Der wahre Name unseres Helden ist nun gattus nudipartus „Leuchtendes Schwert von Shanghai“. Großzügig lässt er den adligen Zusatz meistens unter den Tisch fallen. Nur gegenüber dieser skandalösen Lockenkatze musste es wieder mal gesagt sein.
Jetzt hat er zum Laserschwert gegriffen. Er verlässt sich gänzlich auf den furchterregenden Eindruck, den dasselbe, mit seiner radioaktiven Strahlung und der phallischen Form, auf sein Gegenüber macht.
Er bringt sich in Stellung. Vor dem Kampf hat er noch ein Foto anfertigen lassen, das – absolut unretuschiert – den Horror-Eindruck für die Nachwelt dokumentiert.
In seinem Kopfe dröhnt die Kampfeshymne „We shall overcome“, die Ohren sind daran unbeteiligt. Das magische Auge auf den Gegner gerichtet, - der gerade, nichts Böses denkend, um die Ecke schlendert - das Schwert im Anschlag: Er bietet ein furchterregendes Bild, das, so nimmt er an, das Blut in den Adern dieser lächerlichen Lockentussi sofort würde gefrieren lassen.
Aber: weit gefehlt!
‚Cool! Heisse Katze!’
Nichts kann ihren geschmeidigen Gang bremsen, mit dem sie sich auf ihn zu schlängelt. Ihre blauen Augen fokussieren sich direkt in seine längsovalen Pupillen; die Locken sind vor Erregung gesträubt, wie toupiert: So lernt er die Schönheit einer Haarpracht zum ersten Mal in seinem Leben zu schätzen.
„Schatz!“
Das Schwert sinkt langsam, ungebraucht.
Die Liebe hat, in dessen phosphoreszierendem Schein, von Beiden Besitz ergriffen.
Die Früchte dieser Liebe sind fünf kleine Kätzchen, alle perfekt behaart, mit und ohne Locken und mit einem seidigen Unterfell, in dem sich jeder Floh verirrt und verliert, denn er kann jetzt keine Hautschuppen mehr ausmachen, um seine Eier anzuheften.
Die Rasse des gattus nudipartus „Leuchtendes Schwert von Shanghai“ ist damit ausgestorben, ausradiert, vom Laserschwert nur insuffizient – bis überhaupt nicht – verteidigt.
All die züchterischen Bemühungen aus vielen Jahrtausenden und von unzähligen Meistern der Besamungstechnik sind so in sich zusammengestürzt in einem einzigen Aufbäumen der Liebe.
Die Biologen, quer durch alle Jahrhunderte, - selbst die Spezialisten aus den vorsintflutlichen Zeiten, in denen es noch gar keine Biologen gab, - haben all ihre Wünsche, Gedanken, Träume und theoretischen Ansätze umsonst entwickelt und verquirlt, haben sie vergebens dem weißen, geduldigen Papier und dem halluzinatorisch blinkenden Computer anvertraut, aus dem Papierkorb und dem Absturz des virtuellen Systems gerettet und wiederhergestellt. All diese Wissenschaft muss nun die Segel streichen und akzeptieren, dass die Nacktkatze eine verlorene Spezies ist, so schmerzlich dieser Gedanke auch sein mag.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch. Nicht etwa die Zucht-Fachmänner, sondern die haarigen Katzen mit ihrem weichen Fell, das uns Menschen die Zärtlichkeit eingibt und uns zu Streicheleinheiten befähigt, von denen wir bisher nichts geahnt hatten.
Helena, die süße Maus,
tanzet auf dem Seil.
Siegfried schauet zu mit Graus.
Fühlet, dass er geil.
Fürchtet, dass sie falle
- nicht in seinen Schoß.
Hoch kommt ihm die Galle,
denn sein Schwanz ist groß.
Raffen lässt er nun das Netz
von den andern Schleimern.
Helena – sie ist ein Fetz –
lässet sich nicht leimen.
Sie hält inne, in der Mitt’,
wartet eine Weil,
geht zum End’ mit sich’rem Schritt
auf dem hohen Seil.
Denkt sich: Ich weiss, ich bin fit
und mein Lover ist ein Brit’.
Siegfried soll von mir aus darben.
Er ist sowieso voll Narben.
Der Regisseur war für seine Komödien berühmt.
Damals, vor 40 Jahren, hatte er als Straßenkomödiant begonnen. Seine Mitstreiter für ein nicht-kommerzielles Theater, ein „Theater der Armen“ ohne Nerz und Würgerzwang, ohne brillantenblitzende Damen und geschniegelte Herren - einfach mit Frauen und Männern für Frauen und Männer - hatten jahrelang der Armut standgehalten und ihrem Stolz behalten. Als sie die Zeit der Jugend hinter sich gelassen hatten, fiel dieser und jener ab - aus purer Not - und wechselte an ein staatlich subventioniertes Theater, wo er ein kärgliches Gehalt und einen minimalen Rentenanspruch zu erwarten hatte und die Klassiker in jeweils neuem Gewand aufführte.
Es hiess: Der heutige Mensch muss sich mit King Lear identifizieren können, in dieser unserer Zeit, wo wir eine ausgewachsene Identitätskrise haben. Außerdem sind wir auf unsere Abonnenten angewiesen. Also erschien King Lear in Jeans und Cowboyboots auf der Bühne; nur mit Mühe kam seine königliche Art über die Rampe, denn er räkelte sich wie ein Spätpubertierender auf dem Boden herum und blieb das gesamte Stück über auf dem Teppich. Die Julia (ja, die vom Romeo) war schwer heroinabhängig, was kein Wunder ist bei dieser Sozialisation, und setzte sich am tragischen Ende natürlich den goldenen Schuss, und das nicht etwa aus Liebe, sondern aus Abhängigkeit. Der Prinz von Homburg trat breitbeinig und im Gestapo-Ledermantel auf und ballerte mit Worten und einer goldenen Pistole, und Emilia Galotti war eine Punk mit neonfarbenen Strähnen.
Der Regisseur hatte in seiner Truppe einen besten Freund, einen begnadeten Schauspieler, athletisch gebaut, der aus dem Stand die unwahrscheinlichsten Sprünge und Salti vollführen konnte und mit einer Viertelschraube immer heil auf dem Asphalt aufkam. Er nannte ihn ‚Muscolini’. Überhaupt hatten sie sich in die Commedia dell’arte eingearbeitet; der rüpelhafte Bauer und der raffinierte und wohlerzogene Narr zeigten zirzensische Stücke, die den Zuschauern allen Respekt abnötigten und gleichzeitig dem Auge und dem Geist Nahrung boten. Die Menschen dankten es ihnen und luden sie zum Essen ein, wenigstens aber zu einem Glas Wein. Die kleinen Mädchen strahlten sie an, und das Eis in ihrer Hand zerfloss und tropfte zu Boden.
Muscolini hatte sich in Simone verliebt, die eines Abends in der ersten Reihe der Zuschauer stand; eine wilde und leidenschaftliche Liebe, die die Zeiten überdauert hat. Simone wurde bald darauf schwanger, und sie entschieden, dass er in ein Angestelltenverhältnis wechseln solle, um die kleine Familie zu ernähren. So ging er ans Stadttheater. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine Kunst auch Kunstbanausen überzeugen könnte und dass vor Gott jeder Mensch, ob Banause oder nicht, gleich sei.
Im Laufe der Jahre, im Laufe der Spielzeiten, wurde er in allen großen Rollen des klassischen männlichen Repertoires eingesetzt, aber die Sache langweilte ihn immer mehr. Er gab den Götz, den Wallenstein, Siegfried, den Grafen von Montechristo, Richard den Dritten, Güldenstern und Macbeth, den Faust - er gab und gab und nichts kam zurück. Im Keller seines Mietshauses übte er weiter seine akrobatischen Nummern, und als er eines Tages seinen Freund, den Regisseur, wiedertraf, brauchte dieser keine großen Überredungskünste, um ihn wieder für sein neuestes Straßentheaterprojekt zu begeistern.
Der Regisseur hatte den Slapstick für sich entdeckt. Er war von den Worten abgekommen und hatte sich den Taten zugewandt, den Gesten, die überzeichnet und damit in großer Klarheit bis zur Lächerlichkeit überdehnt wurden. Jeder Zuschauer sollte sich in diesen unglückseligen Figuren wiedererkennen und, im besten Falle, über sich selbst lachen.
Muscolini war der richtige Mann; er konnte Menschliches und Allzumenschliches durch die Kunst der Akrobatik mit der Traurigkeit versöhnen, die jedwedes Versagen in uns hervorruft.
Und Muscolini wuchs über sich selbst hinaus. Er verstärkte die Figuren der Lächerlichkeit, überzog im Stolpern und Fallen wie ein Mistkäfer, schlingerte immer ausladender mit Armen und Beinen wie eine Schlange und drehte den Kopf wie der Uhu um seine eigene Achse.
Eines Tages fühlte er sich sicher und unfehlbar. Sein Sohn hatte das Abitur hinter sich gebracht, Simone liebte ihn über alles, und er hatte wieder eine Bühne gefunden, auf der er seine Zeit nicht umsonst verbrachte. Er fühlte sich von Dionysos, dem griechischen Gott des Theaters („wegsparen!“) geliebt und beschützt. Mit einem Blick zu ihm nach oben setzte er an zu einem Salto, den er zum ersten Mal mit einer ganzen Umdrehung abschließen wollte. Die Luft trug ihn für einen Augenblick, für einen allzu kurzen Moment. Er schlug mit dem Kopf krachend am Boden auf und konnte sich nicht mehr bewegen.
Nun saß er im Rollstuhl; Simone schob ihn, wo immer er hinwollte. An den Nachmittagen saß er vor dem Fernseher; er sah eine Dokumentation über Charly Chaplin.
Charly strampelte in einer Filmsequenz durch die Straßen, auf einen Zirkus zu. Er war arbeitslos und wollte sich als Clown verdingen. Der gestrenge Zirkusdirektor verlangte eine Probe seines Talents. Der Zirkusclown spielte ihm Szenen vor, er spielte Szene um Szene nach; der Clown übertrieb maßlos und langweilte, er aber reduzierte jedem Akt auf eine Andeutung und machte die Szene plötzlich lustig und gleichzeitig so menschlich, dass man darüber lachen musste und weinen konnte.
Und so - beeindruckt von Charlys großer Kunst, die das Kleine liebte -, dachte er an seinen gefährlichen Eifer, seine verzweifelte Risikobereitschaft, die ihn zu immer schwierigeren Stunts verführt hatten. „Herausforderung“ suchen ! Er hatte sein Haupt bis in den griechischen Götterhimmel gesteckt, jetzt steckte er im Rollstuhl fest.
Aber der Regisseur schrieb ein Stück für ihn: ‚Roll on, Rock’. Für seinen Freund fand er starke Worte, mit denen dieser seinen Schabernack treiben konnte, so akrobatisch wie eh und je.
Bildmaterialien: Cover: Christof Froning by pixelio; Clownsbild: Mandy Stockmann by pixelio; Foto Gattus nudipartus: ©Takkoda 2011; Foto Zirkuswagen:Jörg Brinckheger by pixelio
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2014
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