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5 vor 12


„5 vor 12“ sagte, der Pessimist, dessen Uhr stehengeblieben war. „5 vor 2“ wollte der Optimist gerade erwidern…


Die dünnen Zahlen waren in’s Hintertreffen geraten, die dicken Zahlen hatten sich schwer auf sie gelegt und sie wegzudrücken versucht.

Dereinst hatte man von „5 vor 12“ gesprochen. Jeder wusste, was damit gemeint war, keinen interessierte es; wie die Ratten waren alle hinter dem süßlich flötenden Rattenfänger hergezogen, wie die Lemminge hatten sie sich blindlings dem Abgrund genähert, von dessen Existenz die Wissenschaft mit wechselnder Kompetenz – hier warnend, dort verharmlosend – in einer endlosen Diskussion sprach und damit die Börse hochpuschte.

Die Werte hoben in riesigen Blasen ab und verdunkelten das Licht der Sonne; in der Schweiz wurde an einem Apparat gebastelt, der die nicht existierenden Essenzen einfangen und vernichten sollte.
Alle hofften, dass das verlorene Geld am Ende wieder auf die Erde niederregnen würde wie sonst aus der Bahn geratene Satelliten in ihren Trümmerteilen oder Meteoriten, die der NASA durch die Lappen gegangen waren.

Der menschliche Geist, die menschliche Psyche – beide waren abgebrüht aus der endlosen Angstkampagne hervorgegangen.


Es hatte 12 geschlagen.

Die Erde hatte gebebt, Sintfluten zerstörerischen Wassers waren niedergegangen, Wind hatte sich erhoben und als wütender Sturm ganze Landschaften verwüstet. Ernten waren zerstört, Hunger breitete sich aus. Manche nannten das eine "heilsame Gesundschrumpfung".

Je mehr die Medien davon berichteten, desto stumpfer wurde das Gewissen der Menschen.

Wenn sie selbst betroffen waren, heulten sie schrecklich auf und liefen die Türen der Versicherungen ein. Diese konnten ohne Prämienerhöhung gar nichts mehr machen, hatten sie sich doch ohnehin schon an den Börsen verzockt.

Das Geld war verbrannt. Eine heiße, eine "überhitzte Konjunktur" wurde das von den Fachleuten genannt und mit einem Schulterzucken erklärt, dass die Märkte ausser Rand und Band geraten seien.

Die Zahlen hatten also die Übermacht erhalten. Sie existierten an sich, hatten keinen Inhalt und keinen Wert mehr.

Wert und Werte; immer leiser wurden die Stimmen, die von ihnen sprachen. Man wollte sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Man war clever, hatte möglichst viele Leichen im Keller und möglichst viel Schwarzgeld im Ausland untergebracht. Normal halt.

Presse und Medien wurden zu "Schmutzfinken", zu "Nestbeschmutzern" – ein unappetitliches, dreckiges Pack; einerseits sehr nützlich für die Publicity, andererseits dummerweise die vierte Macht in der Demokratie. Macht teilen: Das war das eigentliche Ärgernis. Wo kommen wir denn da hin?


Der Zeiger rückt voran.

Jetzt wird also sonnenklar: All diese Prognosen waren ein Drecksgeschwätz. Ich Idiot habe mir Gedanken gemacht, Probleme gesehen, mein Gewissen geschärft, versucht, mich anständig zu verhalten, ein besserer Mensch zu werden. Ich hoffnungsloser Idiot!

Alles fällt in’s schwarze Loch, kein Licht mehr am Ende des Tunnels. Die kleine Eiszeit hat uns eingefroren. Der Tod im Schnee ist ein sanfter Bruder.

Es ist 5 vor 2. Die Sonne implodiert.


Der Winter war ausnehmend kalt und lang gewesen. Kein Blatt, keine Blüte war an den Bäumen geblieben, aber eine Frucht hatte er hervorgebracht: die Liebe zwischen Katja und Bernd.


An diesem schönen kalten Wintermorgen war ein Jeder von ihnen aufgebrochen in’s Gebirge, auf die Piste. Heraus aus dem grauen Tal voller schmutzigen Schnees, aus der Kälte, die alle zu Budenhockern machte, waren sie, jeder mit einer Gruppe Freunden, aufgebrochen in das schöne Blau und Weiss, die helle Sonne, die gute Luft.

Für Bernd war es das erste Mal, dass er nach seiner Erkrankung wieder wagen konnte, sich körperlich zu bewegen.

Vor etwas mehr als zwei Jahren war bei ihm eine Leukämie festgestellt worden, die ihn abrupt aus dem Leben gerissen hatte, und das paradoxerweise um zu überleben. Chemotherapie, Bestrahlung und Knochenmarkstransplantation waren die Stationen auf diesem Kalwarienberg gewesen, fast zwei Jahre in Isolation. Nur wenige Male waren Ärzte und Pfleger, vermummt wie Astronauten, zu ihm auf seinen kalten und feindseligen Planeten gekommen. Seine Eltern und Geschwister und die wenigen Freunde, die weiter zu ihm hielten, waren bei ihren Besuchen hinter der Glaswand auf dem Balkon vor seinem Zimmer gestanden – hilflos fast - und hatten über die Sprechanlage mit fremdartig klingender Stimme mit ihm gesprochen.

Er hatte sich nicht geschlagen gegeben. Wenn die Schwäche es zuließ, hatte er seine durch die Schleuse gegangenen Schulbücher durchgearbeitet und über seinen PC mit den Lehrern korrespondiert, Schularbeiten geschrieben und gute Noten mitgeteilt bekommen.

Vor einem Monat hatte er sein Abitur bestanden.

Die Haare waren nach der Tortur nicht mehr richtig nachgewachsen. Seine Glatze hatte er an diesem Tag mit einer lustigen Mütze gekrönt.


Katja erinnerte mit ihren roten Haaren und ihrem porzellanfarbigen Gesicht an Pipi Langstrumpf. Sie war aber keinesfalls so selbstbewusst und frech wie die kleine Romanfigur aus unser aller Kindheit. Eigentlich liebte sie es überhaupt nicht, immer ‚Pipi‘ gerufen und mit ihr verglichen zu werden; sie war sie. Punkt.

Als sie aus dem Kleinbus stieg, mit dem die kleine Freundesgruppe in die Berge gefahren war, hatte sie deshalb ihre lustige bunte Mütze über die Haare gezogen. Es war überhaupt noch viel zu früh am Morgen, und als Morgenmuffel wollte sie unbedingt allen Scherzen aus dem Wege gehen.

Auf dem Gipfel angekommen, hatte sie ihr Snow board untergeschnallt und war mit einem kühnen Schwung gestartet.


Hätte der liebe Gott Bernd und Katja von oben beobachtet, so hätte er sofort gesehen, dass die Spuren der Beiden im Schnee unweigerlich aufeinander zufuhren. Er hätte festgestellt, dass zwei bunte Teufelsmützen aus derselben Produktion wie von einem Magneten angezogen aufeinander zusteuerten.
Kurz vor der Kollision bremsten beide abrupt ab und fielen in schallendes Gelächter. Der erste Blick auf den Anderen war für Beide wie ein Blick in den Spiegel. Der Eindruck, die Bruderseele erblickt zu haben, war für Bernd ebenso erstaunlich wie das Gefühl, das Katja überkommen hatte, als sie so unvermittelt die Schwester ihrer Seele hinter dem kleinen Hügel auftauchen sah.
Ihnen fehlten die Worte und so nahmen Beide wieder Schwung und starteten von neuem.

Die Sonne mit ihrem Licht und ihrer Kraft zauberte einen wundervollen Tag.

Kurz vor seinem Ende ergab es sich, dass Katja und Bernd zusammen im Sessellift nach oben fuhren. In den fünf Minuten der Fahrt entschied sich ihr Schicksal; sie sprachen miteinander – über Belanglosigkeiten, um das tiefe Grummeln zu übertünchen, dass Beide in ihrem Inneren fühlten.

Als sie ein letztes Mal den Berg hinunterfuhren, hinein in die beginnende Dämmerung, hatten Beide sich verändert und waren nicht mehr die, die am Morgen hinaufgefahren waren.

Und es kam ihnen vor, dass die Sonne, die eben unterging, für sie weiterstrahlte, durch die Nacht und durch ihr ganzes Leben.

 

Epilog

Der erste Teil dieser Collage ist in mir gereift durch die Erkenntnis des anhaltenden finanziellen und moralischen Ruins unserer Gesellschaft, der über unsere Köpfe hinweg organisiert wird und an dem sich Wenige unglaublich bereichern, während die Risiken auf die Allgemeinheit abgewälzt werden - und wir können nichts dagegen tun, kapieren wir doch noch nicht einmal die Zusammenhänge.

Als dieser Teil so rabenschwarz dastand, musste ich daran denken, dass es auch Menschen gibt, die dieser allgemeinen Depression entgegensteuern durch die Kraft der Liebe - und der Sonne.

Beide Teile mögen etwas unvermittelt ineinander übergehen, sind sie doch von unterschiedlichster Färbung. Aber es ist eben eine Collage, denn mir erschließt sich noch nicht, wie die Fermentationszone aussehen mag, mit der die Welt des Mammons aufgeweicht werden könnte, und wie wir an deren heilsamer Wirkung mitarbeiten können. Vielleicht auch ein bisschen durch Schreiben?

Impressum

Texte: Copyright bei der Autorin
Bildmaterialien: Cover-Foto Dr.Ulrike Lupi-Fuß
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

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