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Wie die meisten meiner Geschichten beginnt diese an einem verregneten Abend im Oktober 1952. Das ist mein Nullpunkt, zu dem ich immer wieder zurückkehre, solange meine Aufgabe nicht erledigt ist. Und wie es aussieht, wird sie das nie sein.

Für diejenigen, die meine bisherigen sogenannten Abenteuer noch nicht kennen: mein Name ist Scott Baxter, und ich bin Geisterdetektiv. Genauer gesagt, der Geisterdetektiv. Einen anderen habe ich nie kennengelernt, und der arme Hund könnte einem auch leid tun, wenn es ihn gäbe. Aber so geschieht es, dass sie alle zu mir kommen, wenn es ein Problem gibt.

Oh, und es gibt viele Probleme.

Der häufigste Fall sind die Mordopfer, die wissen wollen, wer ihnen das angetan hat. Das sind nicht die Leute, die nach einem Beziehungsstreit ihr Leben auf gewalttätige Weise ausgehaucht haben; sie wissen sehr wohl, wer ihnen das Messer in den Bauch gerammt, den Schädel eingeschlagen oder sie aus dem Fenster gestoßen hat. Nein, es sind jene, die nach einer Zechtour tot aufwachen und keine Ahnung haben, was geschehen ist. Oder die in einer dunklen Gasse hinterrücks erstochen wurden. Und all die, welche in Bandenkriegen im Kugelhagel an der falschen Stelle gestanden haben.

Bandenkriege sind hier in Chicago nicht selten. Selbst zu meiner Zeit.

Aber Geister – also diejenigen, welche nicht sofort das Luxuspaket wegen guter Führung bekommen, welches sie zum legendären Licht führt – sind meist desorientiert, ziellos und von vagen Erinnerungen an eine verlorene Vergangenheit getrieben. Sie ziehen umher, fragen sich durch, und irgendein Trottel erzählt ihnen irgendwann von mir. Dann kommen sie an, mit ewig demselben Auftrag.

Als ob ihnen das noch irgendetwas bringen würde.

Aber ich habe eine Aufgabe hier… hier im Fegefeuer, dem Schatten der Welt der Lebenden. Nun, reden wir nicht von mir. Ich bin auch nur ein Geist unter vielen. Und es gibt wesentlich prominentere Tote als mich. Zugegeben, die meisten hängen nicht mehr im Fegefeuer herum, sondern in der Phase danach, oder der Endstation, wie man hier sagt. Eigentlich bin ich nie einem Prominenten begegnet. Aber das war genauso, als ich noch lebte.

Kurz und gut, ich nehme Aufträge an, weil das mein Job ist. Und mein Fall, von dem ich diesmal erzählen möchte, dürfte Sie interessieren. Wenn nicht, lesen Sie halt eine alte Ausgabe. Aber diesmal ging es nicht um einen Mord, nicht einmal um einen vertrackt kniffligen, sondern um ein Artefakt. Und vielleicht ahnen Sie, dass es für uns Geister hier kaum etwas Wertvolleres gibt.

Als ich die Bar durch die Hintertür betrat, durch die ich sie in den letzten Sekunden meines Lebens verlassen hatte, bevor ich von einem wütenden Ehemann, dem meine Fotos von ihm und seiner Geliebten nicht gefallen hatten, erschossen wurde, winkte mich Archie, der Barmann, mit seiner charakteristischen Zwei-Finger-Geste zu sich heran.

Erholen Sie sich erst mal von diesem Satz. Nehmen Sie vielleicht einen Gin. Archie hatte sowas wie das Monopol auf Alkohol in diesem Stadtteil, weil er in dieser Bar bei einem Überfall zwei Jahre vor mir ebenfalls erschossen worden war und die Bar ihm viel bedeutet hatte. Daher gehörte sie zu seinem spirituellen Umfeld und wurde bei seinem Tod in gleichermaßen spiritueller Form ins Fegefeuer transferiert. Ich erzähle Ihnen das, weil es für das Verständnis der Verhältnisse hier drüben wichtig ist. Also noch mal: wenn jemand stirbt, dann reißt er sozusagen seinen Kontext mit, und seine postmortale Repräsentation (kurz: seine Geistgestalt) ist dadurch geprägt und er hat weiterhin Zugriff auf diese Gegenstände.

Bei Archie war das seine Bar. Bei fast allen Geistern ist das ihre Kleidung und natürlich ihr Aussehen. Bei mir ist es über meine Kleidung hinaus meine Smith & Wesson Chiefs Special, meine Zigaretten, mein Feuerzeug, vierzehn Dollar dreiundzwanzig in Münzen und ein Foto von Claudette. Leider umfasst mein Kontext nicht mein schäbiges Büro, aber immerhin meinen Chrysler, den ich in der Gasse nur ein paar Schritte weiter geparkt hatte. Hätte er näher an der Kreuzung gestanden, wäre er nicht mitgekommen. Wie Sie sich vorstellen können, sind die meisten Geister, die ein Auto besitzen, Unfallopfer, und so sehen sie auch aus. Mit meinem kleinen Loch in der Brust, das meist von meinem Trenchcoat verdeckt wird, mache ich dagegen sogar einen recht passablen Eindruck.

Aber wir wollten ja nicht von mir sprechen. Jetzt haben Sie einen Schnelldurchgang für Übertrittsobjekte – wie diese Kontextrepräsentationen offiziell genannt werden – erhalten und können das nachfolgende Gespräch besser einordnen.

Archie winkte mich also zu sich und hatte das schiefe Grinsen im Gesicht, das sich immer dann zeigte, wenn er ein Geschäft witterte.

„Du solltest dir ein besseres Pokerface zulegen, Archie,“ murmelte ich. Für einen Moment überlegte ich mir, ob ich eine Pall Mall entzünden sollte, aber die Luft hier war schon stickig genug. Manchmal ist es gar nicht so toll, wenn jemand seinen Kontext bis hin zu den kleinsten Details mitnimmt.

„Und du solltest dir bessere Sprüche zulegen, Scott,“ gab er zurück und grinste weiter. „Hör mal, ich habe da von einer Sache gehört.“

„Ah, von einer Sache. Da musst du noch ein wenig vager werden. Hinterher versteht noch jemand, was du meinst.“

Er beugte sich verschwörerisch vor. „Das muss unter uns bleiben. Die Typen da drüben sind eben reingekommen und haben sich über einen frischen Unfall unterhalten, oben am Highway. Es ging um einen Mann mit einem Umzugswagen.“

Ich pfiff durch die Zähne. „Das wird die Geier anziehen.“

Wenn der Fahrer einen starken persönlichen Bezug zu seinen Sachen gehabt hatte, dann war das eine große Ladung an Nachschub, die unsere kleine Geisterstadt erreicht hatte. Sowas kam nicht sonderlich oft vor. Natürlich würden die Ratten alles wegschleppen, bevor der arme Kerl auch nur die Hälfte von seiner neuen Existenz begriffen hatte.

Archie fuhr sich über die Glatze. „Bis dahin ist das nichts Neues. Aber man munkelte von einem Musiker.“

Ich starrte den Barmann elektrisiert an. „Instrumente?“

Er nickte. „Möglich. Wenn du mir was für die Bar beschaffen kannst, hast du was gut bei mir.“

Das konnte alles oder nichts bedeuten. Aber bei einem Auftraggeber, der auf den einzigen Fässern und Flaschen im ganzen Viertel saß, war das gar nicht so schlecht.

„Hm. Am Highway? Der ist lang.”

Archie kratzte sich am Kinn. „Versuchs mal an der Kreuzung zwischen der US20 und I294.“

Ich brummte etwas über Pfadfinder und Barkeeper, während ich zu meinem Wagen lief. Jetzt kam es auf jede Minute an. Von Maywood war die Kreuzung gar nicht so weit weg, aber als ich durch den Nebel fuhr, der unsere Geisterebene so legendär gemacht hat, sah ich schon von fern das Blinken der Lichter von Polizei, Rettungsdiensten – und das Blitzen von Mündungsfeuer.

Der Kampf hatte bereits begonnen.

Sie dürfen sich so einen Notfalleinsatz in der Geisterebene nicht so vorstellen wie einen Verkehrsunfall im Reich der Lebenden. Bei uns kümmern sich die Rettungsdienste um die spirituelle Hülle des Verstorbenen, versuchen ihn zu finden, aus dem Konfliktbereich zu holen und ihm die neue Situation zu erklären. Derweil ist die Polizei damit beschäftigt, die Geier abzuwehren, die dem frischgebackenen Geist seine spärlichen und nur in seltensten Fällen umfangreichen Güter abnehmen wollen. Wahrscheinlich haben Sie sich die Nachwelt nicht so vorgestellt. Am besten ersparen Sie sich den Ärger für ein paar Jahre und bleiben vorerst einfach am Leben. Besser wird es jedenfalls nicht.

Die Mannschaft aus zwei Polizeiautos lieferte sich ein Gefecht mit Gestalten, die aus drei Zivilfahrzeugen ausgestiegen waren: einem zerbeulten Dodge Pickup und zwei Fords ohne Scheinwerfer. Der Fall war klar.

Auf der rechten Spur stand der Umzugslaster; er hatte sich in die Leitplanke gebohrt. Zwei Sanitäter schleppten einen verwirrten, blutüberströmten Mann zu einem weiß lackierten Van. Sanitäter sterben selten in ihren Einsatzwagen, daher muss man nehmen, was man bekommt.

Insgesamt sah es so aus, als würden die Geier doch klein beigeben und sich von den Polizisten verjagen lassen, aber dann kam ein Abschleppwagen die Auffahrt entlanggedonnert und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Wrack. Zwei Männer sprangen heraus und machten sich daran, schwere Ketten am Laster anzubringen.

Ein Klassiker. Während die Obrigkeit hinten beschäftigt wurde, stahl man vorne den ganzen Wagen. Ich hielt den Chrysler auf halber Höhe der Auffahrt an, zog die Smith & Wesson und sprintete vor. So einfach sollten sie es nicht haben. Ich kam sogar ganz gut an dem Pulk der Schützen vorbei, die sich inzwischen hinter den Autos verbarrikadiert hatten und nervös nachluden. Aber dann wurde ich vorwitzig und versuchte mich am Lastwagen vorbei zum Abschleppwagen zu pirschen. Wenn ich den Zündschlüssel an mich bringen konnte, dann saßen die beiden Kettenmechaniker auf dem Trockenen.

Aber als ich auf ein paar Schritte an den Wagen heran war, glotzte mir ein dritter Kerl vom Fahrersitz entgegen und schob ein Gewehr durchs Fenster. Ich warf mich zur Seite, aber es war zu spät. Der Schuss erwischte mich am Hals, und ich starb wieder mal. Mist.

Runter zum Nullpunkt.

Wie alle Geister mit der Zeit erfahren, ist der Nullpunkt die Achse, um die sich das Nachleben dreht. Es ist der Punkt, an dem man die Geisterwelt betreten hat, und wenn ein Umstand eintritt, der bei Lebenden zum Tode führen würde, dann wacht man einige Stunden später mit der ursprünglichen Ausstattung und im selben Zustand wie am Anfang wieder am Nullpunkt auf. In meinem Fall also in der Gasse hinter Archies Bar. Selbst mein Auto war brav mitgekommen und parkte nicht weit entfernt von mir.

Nur: es war Zeit vergangen, und die ist gerade bei einer Artefaktjagd kostbar. Ohne weitere Umstände (und glücklicherweise ohne ein Loch im Hals) setzte ich mich in den Wagen und fuhr wieder zur Unfallkreuzung.

Falls Sie sich wundern, welche Arten von Fahrzeugen eigentlich auf den Straßen unterwegs sind: das ist eine gute Frage, doch die Antwort ist einfach. Da sich die Geisterwelt in einer Überlagerung mit der realen Welt befindet, herrscht normaler Straßenverkehr, nur dass die meisten Fahrzeuge für uns schlecht wahrnehmbar und unstofflich sind. Wie Geister eben. Ja, die Lebenden erscheinen uns als Geister. Ist schon ironisch.

Aber sobald sie ihr Leben beenden, werden sie für uns stofflich, ganz normal sichtbar und damit zu einem Teil des Fegefeuers.

Diese Überkreuzung wird fachlich als Reziprozität bezeichnet. Ich habe mich anfangs ganz schön mit diesen Dingen beschäftigt. Mit den Jahren gewöhnt man sich daran. Selbst an den Umstand, dass mitunter Verstorbene aus anderen Zeiten umherlaufen; meist aus der Vergangenheit, mitunter aus der Zukunft. Die Geisterwelt ist da durchlässiger als die Realität.

Inzwischen war ich an der Kreuzung angelangt. Wie erwartet, war niemand mehr da. Den Reifenspuren nach war der havarierte Lastwagen Richtung Norden weggezogen worden. Von den Geiern und den Polizisten gab es keine Spur. Entweder waren sie weggefahren oder zurück zu ihrem jeweiligen Nullpunkt befördert worden. Was bedeutete: ich hatte nichts. Gar nichts. Archie würde nicht begeistert sein. Meist kümmerte es mich zwar nicht, was er dachte, aber er verschaffte mir bisweilen Aufträge – und verfügte durch die Bar über einen unerschöpflichen Alkoholvorrat. Das war schon praktisch.

Ich seufzte, stieg aus und sah mir den Unfallort näher an, während irreale Fahrzeuge aus der Welt der Lebenden durch mich hindurchfuhren. Je mehr man getrunken hat, desto weniger nimmt man von ihnen wahr. Ich hätte eine Flasche Gin oder Scotch mitnehmen sollen.

Es gab noch verblassende Bremsspuren und Patronenhülsen. Die Leitplanke hatte sich schon zur Hälfte geradegebogen, denn sie war nicht Teil des persönlichen Umfelds des Unfallopfers, der Polizei, der Geier oder mir. Es ist hart als Detektiv zu arbeiten, wenn sich die Tatorte nachträglich normalisieren.

Hier konnte ich nichts mehr tun. Niemand hatte mir den Gefallen getan, seine Visitenkarte, einen Zettel oder ein markantes Schmuckstück fallenzulassen. So viel Nachlässigkeit hätte ich auch nicht erwartet. Aber manchmal trifft man auf das Unerwartete.

In meinem Fall lungerte es an meinem Wagen herum, als ich wieder zurückging, und versuchte gerade die Tür aufzuhebeln. Das Unerwartete hatte die Form einer typischen Straßenratte: ausgefranste Hosen, offenes Hemd und eine zu große Jacke, deren Kapuze weit über den Kopf gezogen war.

Ich zog die Chief Special und ging auf den Autodieb zu. „Mal langsam, Freundchen!“

Der Kerl warf seinen Schraubendreher nach mir und zog eine Pistole aus dem Hosenbund. Ich machte einen Satz zur Seite und schoss. Die Kugel traf seinen Oberschenkel, und er klappte zusammen. Straßenratten sind nicht besonders gewitzt. Ich nahm ihm die Waffe ab. Leider enthielt sie keine .38er special Munition, die ich hätte verwenden können. Kurz entschlossen warf ich die Pistole über die Brüstung; sie verschwand im Grün des Seitenstreifens der unteren Fahrspur.

Ich drehte den Kerl auf den Rücken und stellte meinen Fuß auf seine Brust. „Ich habe nur ein paar Fragen. Woher wusstest du von meinem Wagen?“

„Mein Bein! Du hast mein Bein zerschossen!“

„Jammer nicht, du hast ja noch eins. Du wolltest meinen Wagen klauen und hast auf mich angelegt, was hast du erwartet?“

„Wenn Grigorij dich erwischt, macht er dich fertig!“ krächzte er.

„Ich kenne Grigorij,“ log ich, „wenn er von deinen Stümpereien erfährt, macht er eher dich fertig.“

Das brachte ihn für einen Moment zum Nachdenken.

„Aber so weit muss es ja nicht kommen,“ fuhr ich fort, „erzähl mir von der Sache hier, und ich lasse dich laufen.“

„Grrr, ahrg… ahm, also da war doch vorhin dieser Unfall. Jake hat dich gesehen und zu mir gesagt, Mo, dieser Typ kommt wieder. Ist ein hartnäckiger Schnüffler. Sieh doch mal zu, ob du dann was abgreifen kannst. Ja, das hat er gesagt. Also bin ich hier.“

„Und Jake ist mit dem Lastwagen abgehauen?“

„Klar. Er is´ doch der Fahrer, isser.“

„Yeah. Letzte Frage: wo ist er jetzt?“ Das lief besser als ich gehofft hatte.

„Hrrr, ich hab‘ schon genug gesagt, Schlapphut!“

„Nicht ganz. Weißt du was, ich werde wohl doch nachher mit Grigorij sprechen müssen. Und er wird mich fragen, wie sein Kumpel Mo an die Löcher in beiden Beinen gekommen ist.“

Die Ratte starrte mich groß an. „In beiden Beinen?“

Ich gab ihm Zeit, den Gedanken sacken zu lassen, und zuckte mit den Schultern.

„Verdammt!“ zischte er dann. „Ein Lagerhaus in Bensenville, zwischen Main Street und West Roosevelt Avenue. Nummer 17. Aber das hast du nicht von mir.“

„Hau schon ab. Ich habe dich nie gesehen. Aber komm nicht nochmal auf die Idee, meinen Wagen zu klauen, okay?“

Ich nahm meinen Fuß weg. Der Verletzte rappelte sich auf und humpelte fluchend davon, die Auffahrt hinunter. Mir war gleichgültig, ob er hier auf mich gewartet hatte oder mit einem eigenen Auto gekommen war. Mit einem verhaltenen Grinsen hob ich sein Werkzeug auf und steckte es ein. Munition wäre mir zwar lieber gewesen, aber es ist immer gut, Waren für den Tauschhandel zu haben.

Von Hillside bis Bensenville waren es rund sieben Meilen, ich war also rasch da. Ein Missgeschick wie vorhin wollte ich nicht nochmal erleben, also parkte ich ein Stück entfernt und schlich mich durch das Industrieviertel, das erstaunlich vollständig stofflich war, selbst für eine Stadt wie Chicago. Todesfälle schienen hier an der Tagesordnung zu sein. Und ich hatte nur noch vier Schuss Munition!

Ich schüttelte die trüben Gedanken ab und kam Lagerhaus 17 näher. Davor stand eine einsame Wache mit einem Gewehr. Hier brauchte ich mich nicht formal vorstellen. Stattdessen schlug ich den Weg zwischen einigen Müllcontainern zur Längsseite der Halle ein und kletterte über Tonnen und Paletten an der Seite nach oben, bis ich durch eines der dreckigen Fenster schauen konnte.

Im Inneren brannte Licht. Mehrere Fahrzeuge standen hier; alle gestohlen, vermutete ich. Drei Personen machten sich an dem größten davon zu schaffen. Es war der Umzugswagen. Vieles von seinem Inhalt war bereits ausgeräumt: neben der Hecktür standen etliche typische Umzugskartons, die von den Geiern gerade durchwühlt wurden.

Jetzt erkannte ich auch den Mann, der im Fahrerhaus gesessen und auf mich geschossen hatte: das musste Jake sein. Er hob gerade einen großen Spiegel aus einem länglichen Karton und zeigte ihn den anderen. Als er ihn drehte, konnte ich durch die Spiegelung einen kurzen Blick in den Laderaum des Lastwagens werfen. Und mir wurde klar, dass ich jetzt nicht nur mit einer Information davongehen konnte, sondern etwas unternehmen musste. Ich durfte den Verbrechern den Inhalt des Lasters nicht überlassen. Aber ich konnte nicht einfach die Polizei rufen. Das wäre nicht nur stillos gewesen, sondern auch zu riskant. Bis ich an einer Telefonzelle war und die Polizei dann irgendwann hier eintreffen würde, könnte der ganze Transporter längst weg sein, und diesmal ohne irgendeine Spur. Zweitens könnte das Artefakt im Ladebereich bei der unweigerlichen Schießerei beschädigt werden. Dass beide Seiten nicht gerade zimperlich waren, hatte ich ja schon vorhin gesehen. Es war eigentlich immer so.

Nein, ich musste selbst eine Lösung finden. Aber mit vier Kugeln gegen vier Verbrecher vorgehen, ist kein guter Plan, und außerdem erschieße ich nicht gern Leute. Es ist auch immer noch illegal, selbst wenn man nur zum Nullpunkt gelangt. Die Gesellschaft kann das einfach nicht hinnehmen.

Ich kletterte wieder hinunter und umrundete das Lagerhaus. Sonst war niemand da. Ich lief ein Stück, um wieder in bewohnteres Gebiet zu kommen, und in der North Addison Street fand ich genau die Person, die ich gesucht hatte: einen Obdachlosen, der mich zwar misstrauisch ansah, mir aber dann doch die Hand hinstreckte. „Haben Sie etwas Wechselgeld, Sir?“

„Mehr als das. Kannst dir vier Dollar verdienen, wenn du einem Kumpel von mir eine Nachricht gibst.“

„Echt? Und wo?“ Die Dollars hatten sein Interesse geweckt.

„Da, die Straße lang. Er steht vor Lagerhaus 17. Kann man gar nicht verfehlen. Sag ihm nur, Mo hat dich vorausgeschickt und kommt gleich mit einem neuen Auto an. Er wird aber verfolgt und braucht vielleicht Hilfe.“

Diese Geschichte ergab überhaupt keinen Sinn, aber das war auch nicht ihr Zweck.

Der Mann hob die Schultern. „Wenn das alles ist…“

„Okay. Hier ist das Geld.“ Ich gab ihm knapp ein Drittel meines Vermögens und lief zurück nach Süden. Rund achtzig Meter vor dem Lagerhaus schlug ich mich nach links zwischen andere Gebäude und schlich an der Nordseite der Halle entlang, bis ich den Vorplatz mit dem Aufpasser sehen konnte. Nur kurze Zeit später traf mein Bote ein und ging müde, aber zielstrebig auf den Mann zu.

„He, halt!“ rief der Wächter, „Das ist Privatbesitz!“

„Ich hab‘ ne Nachricht von Mo,“ meinte der Neuankömmling.

Die Wache ließ das Gewehr ein wenig sinken. „Ja? Dann lass mal hören, aber komm nicht näher!“

Während der Obdachlose seinen Spruch aufsagte, schlich ich mich von hinten an die Wache heran. Die letzten Schritte rannte ich, da ich dem Boten nicht eingeschärft hatte, auf mich nicht zu reagieren. Sein verdutztes Gesicht sagte alles.

Aber da war ich auch schon heran und hatte dem Aufpasser die Smith & Wesson über den Schädel gezogen. Das kleine Ding würde ein wenig Schlaf und eine Beule verursachen, aber nicht mehr.

Mein Bote sah mich zweifelnd an. „So haben wir das aber nicht vereinbart.“

„Ist doch alles prima gelaufen,“ versicherte ich ihm. „Und es ist sogar noch ein Bonus drin, wenn du noch etwas für mich tust.“

Er verschränkte die Arme. „Das wird aber mehr kosten.“

Hier auf dem beleuchteten Vorplatz der Verbrecherhöhle wollte ich keine langen Verhandlungen aufnehmen. „Schon klar. Es wird auch ganz einfach. Pass auf, nimm einfach das Gewehr, versteck dich da drüben im Schatten zwischen den Containern, und zähle bis fünfhundert. Dann schießt du in die Luft, bis die Munition alle ist. Fertig. Und… zehn Dollar auf die Hand.“

Er grübelte. „Hm. Und das Gewehr kann ich behalten?“

„Sicher. Viel Spaß damit. Machst du mit?“ Ich hielt ihm das Geld hin.

Der Mann grinste breit und nahm es an sich, genau wie das Gewehr. „Bis fünfhundert also.“

Während er sich auf die andere Straßenseite zurückzog, schleifte ich den Wächter in das Dunkel zwischen den Gebäuden und pirschte dann zum Eingang der Halle. Das alte Schiebetor hatte schon bessere Zeiten gesehen, und in seiner Mitte war eine normale Tür angebracht. Glücklicherweise war sie nicht verschlossen. Ich trat unbemerkt ein.

Die drei Autodiebe hatten inzwischen die Kartons komplett aus dem Transporter ausgeräumt und in ein Regal einsortiert. Nur das große, mit Stoff verhüllte Objekt harrte noch im Gepäckbereich. Ich verstand, warum sie es nicht gewagt hatten, es herauszunehmen. Es war unermesslich wertvoll und wahrscheinlich genau so empfindlich.

Ich stahl mich an der Wand entlang, kroch hinter Kisten und unter einem Tisch durch, bis ich den Transporter zwischen mir und den Kerlen hatte. Vor allem Jake wollte ich nicht noch einmal näher begegnen. Es konnte zudem gut sein, dass auch die anderen bewaffnet waren.

Halblaut war ein Gespräch zu hören, das sich wohl um das Übertrittsobjekt drehte, aber ich war zu weit weg, um den genauen Wortlaut zu verstehen. So leise wie ich konnte stieg ich in den Umzugswagen und setzte mich auf den Fahrersitz. Der Zündschlüssel steckte noch. Das hatte ich gehofft.

Jetzt blieb mir nichts übrig, als zu warten. Lange konnte es nicht mehr dauern…

Die Sekunden dehnten sich, doch dann ertönten von draußen die Schüsse. Ich hörte, wie die drei fluchten und zur Tür liefen. Dann schrien sie durcheinander.

„Was ist denn da los?“

„Kann das Mo sein?“

„Greift man uns an?“

Ich lächelte und ließ den Motor an. Rückwärtsgang… und gute Geschwindigkeit. Der Transporter röhrte auf, und mit quietschenden Reifen beschleunigte er Richtung Tor. Im Rückspiegel sah ich, dass die Verbrecher mit entsetzten Blicken zur Seite liefen. Als ich sah, dass sie aus dem Weg waren, gab ich Vollgas, und der Lastwagen durchbrach das Hallentor, als wäre es nicht mehr als ein Gartenzaun. Draußen bremste ich vorsichtig ab, weil die Hecktüren ja immer noch offen waren, schaltete, kurbelte am Lenkrad und gab wieder Gas. Diesmal ging es mit ordentlicher Geschwindigkeit nach Süden.

Ein paar Schüsse pfiffen hinter mir her, aber das war alles. Ich fuhr eine Viertelstunde durch breite und schmale Straßen, wechselte oft die Richtung und hielt schließlich auf dem verlassenen Parkplatz eines Supermarktes in Montclare.

Dort stieg ich aus und zündete mir erst einmal eine Zigarette an. Ich glaube, die hatte ich mir verdient. Der Umzugswagen war vorn immer noch ziemlich verbeult. In der linken Hecktür bemerkte ich ein Loch, aber so hoch, dass das Artefakt nicht getroffen sein konnte. Aber ich wollte endlich sehen, was genau ich den Autodieben entzogen hatte. So stieg ich in den Laderaum und schlug die dicken Stoffe zurück, welche das unverkennbare Objekt eingehüllt hatten.

Es war tatsächlich ein Steinway. Er war nachtschwarz, an seiner Seite sah ich eine kleine Metallplakette mit der Bezeichnung D-274. Kein Wunder, dass die drei diesen Flügel nicht ausgeladen hatten: er wog eine halbe Tonne.

Ich wagte es nicht, die Tastenabdeckung anzuheben und auch nur einen einzigen Ton zu spielen. Dieses Instrument gehörte in die Hände eines Meisters, und das bedeutete: seines wahren Besitzers. Vorsichtig deckte ich das Klavier wieder mit den Decken ab, schloss die Hecktüren sorgfältig und durchsuchte die Fahrerkabine. Im Handschuhfach fand sich nichts Aufschlussreiches, aber hinter der Sonnenblende steckte ein Zettel mit einer Adresse hier in Chicago. Das war doch mal eine Spur.

Ich fuhr ein paar Straßen weiter, bis ich eine Telefonzelle fand. Mit meinen restlichen Cents rief ich Archie an. Er wirkte noch brummiger als sonst, aber ich ignorierte es.

„Hör mal, Archie. Die Sache ist zu groß für uns.“

„Red´ keinen Unsinn! Du hast doch nicht etwa eine Harfe aufgegabelt? Du weißt ja, Saiteninstrumente sind die besten…“

„Nein. Aber fast. Ein komplettes Klavier. Steinway, neunzehntes Jahrhundert.“ Ich konnte es selbst kaum fassen. Das konnte das wichtigste Artefakt von Chicago für die nächsten Jahre sein.

„Was? Bring es her! Wenn wir es hier aufstellen, ist die Bude immer voll!“

„Deine Bar ist auch so gut besucht,“ wehrte ich ab, „aber dieser Flügel gehört in eine Konzerthalle. Das ist nichts für eine zwielichtige Bar.“

„Wen nennst du hier zwielichtig?“ Archie tobte ein wenig herum, während meine Cents durch den Apparat klackten.

„Du weißt, was ich meine,“ sagte ich schließlich, „es ist am besten für das Gemeinwohl.“

„Und an mein Wohl denkst du nicht, Scott? Bitte!“

„Ich muss los,“ gab ich zurück und legte auf. Wie hatte ich auch annehmen können, dass er es verstand. Ich schüttelte den Kopf, stieg in den Transporter und fuhr nach Lincolnwood, wo – wenn meine Schätzung zutraf – der Musiker wohnte, dem das Instrument gehörte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit dem vermutlich größten Übertrittsobjekt in der Geschichte der Stadt unterwegs zu sein. So vielen Leuten konnte es Zuversicht und Hoffnung geben, zumindest vorübergehend, wenn es in den richtigen Händen war.

Und das waren weder Archies noch meine, erst recht nicht die von Artefakthändlern und Geiern.

Eine halbe Stunde später hatte ich mein Ziel erreicht. Rund zwei Drittel der Häuser waren stofflich, darunter auch das an der angegebenen Adresse. Ich stieg aus und schellte einfach bei allen Klingeln. Als die Haustür aufsprang, ging ich hinein und sah mir die Bewohner an, welche den Kopf aus ihren Wohnungen steckten.

„Ist ein Pianist unter Ihnen?“ Bedauerndes Kopfschütteln. Ich versuchte es im ersten Stock. Auch nichts. Ich fragte mich, wie jemand einen D-274 in ein höheres Stockwerk bringen wollte. Vielleicht war ich hier doch falsch?

Aber dann trat mir ein Mann, der unverkennbar von einem Unfall gezeichnet war, im zweiten Stock entgegen. „Mein Name ist Laurence Harris. Ich bin Konzertpianist.“

Ich machte eine ausholende Geste. „Sind Sie neu hier?“

Er nickte. „Seit einigen Stunden. War kurz im Krankenhaus und bin dann mit dem Taxi hergefahren. Das ist meine ursprüngliche Zweitwohnung, in die ich nun umgezogen bin… sind Sie von der Polizei? Gibt es was Neues von…“

„Moment,“ unterbrach ich ihn, um den neugierigen Ohren in der Nähe kein Material zu verschaffen, „wir sollten besser in Ihre Wohnung gehen. Die Ermittlungen sind vertraulich.“

„Oh, natürlich.“ Er bat mich in ein geräumiges Loft. Der Mann wusste gar nicht, wie gut er es hatte, überhaupt über eine eigene Wohnung zu verfügen. Ich übernachtete meist in meinem Auto, manchmal auch nur in der Bar am Tresen oder im Hinterzimmer. Und die meisten Geister irrten einfach nur so herum.

„Mr. Harris, ich bin Scott Baxter, Detektiv. Sie hatten heute Nachmittag einen Unfall…“

„Ja, ja, und dabei wurde der Transporter gestohlen. Das habe ich alles schon der Polizei erzählt.“

„Aber was Sie nicht wissen, ist der Wert Ihres Instrumentes. Das ich übrigens wiederbeschafft habe.“

„Was?“ Er warf einen Blick aus dem Fenster. „Wo ist der Flügel? Ist er intakt?“

„Es ist alles in Ordnung,“ beruhigte ich ihn. „Aber bevor ich zu den Details komme: was wollen Sie damit machen?“

Er sah mich irritiert an. „In mein Wohnzimmer stellen, natürlich. Ich muss ja üben.“

„Mr. Harris, Sie sind tot.“

„Offensichtlich habe ich noch meine Wohnung, und Sie haben den Steinway, warum sollte ich also nicht wie geplant weitermachen?“

Wie sollte ich es ihm erklären? „Dies ist nicht nur eine absonderliche Geisterwelt, dies ist das Fegefeuer. Es kommt auf Ihre künftigen Taten an, wie man über Sie entscheiden wird. Den Flügel allein für sich zu behalten, wird Ihnen nicht nützen.“

Harris ging auf und ab. „Und was würde nach Ihrer Ansicht nützen?“

„Spielen Sie. Spielen Sie darauf, aber vor Publikum. Je mehr Zuhörer, umso besser.“

„Aber…“

„Sie sind wahrscheinlich momentan der einzige professionelle Pianist der Stadt, und was noch schwerer wiegt, Sie haben ein Artefakt mitgebracht.“

Ich erklärte ihm kurz, was es mit Übertrittsobjekten auf sich hatte.

„Aber was ich noch nicht verstehe,“ wandte er danach ein, „ist die große Bedeutung, die Sie meinem Klavierspiel zumessen. Was ist daran so Besonderes, verglichen mit Radiomusik oder irgendwelchen anderen Instrumenten?“

Da musste ich ein wenig ausholen. „Wahrscheinlich kennen Sie zumindest zum Teil die psychologischen Auswirkungen von Musik auf die Menschen. Klänge – und oft auch Gerüche – rufen Erinnerungen hervor. Es hat sich gezeigt, dass Saiteninstrumente hierbei am besten geeignet sind, eine gewisse Resonanz mit dem Zuhörer zu erreichen. Harfen gelten als die idealen Instrumente für diesen Zweck, gefolgt von Klavieren. Wir sind alle nur Geister hier, getrennt von der echten Welt, von unserem Vorleben, und mit der Zeit schwinden die Erinnerungen, bis man nur noch eine leere Hülle ist, ein sinnloser Spukgeist. Musik bringt die Momente unseres Lebens zurück; sie frischt sie auf und hilft uns, unsere Identität zu behalten. Daher sind alle so hinter Instrumenten her. Nur echte, authentische Musik – mit Seele sozusagen – hat diesen Effekt. Radiomusik ist eine Konserve und zählt nicht mehr als Rauschen im Hintergrund. Das mag Ihnen ungewohnt vorkommen, aber so läuft das hier. Ich besuche seit Jahren eine Bar, in der Livemusik geboten wird, aber die ist natürlich nicht vergleichbar mit der Qualität, die eines Ihrer Konzerte uns geben könnte.“

Er sah mich ungläubig an. „Sie meinen, ohne Musik wird man hier zu einem seelenlosen Monster? Ich meine, sicher hänge ich an der Musik, aber so…“

„Ihnen als Künstler dürfte das schneller einleuchten als den meisten anderen Neuankömmlingen. Außerdem würde ich nicht unbedingt von Monstern sprechen. Man verblasst einfach.“

„Das ist ja schrecklich.“

Ich nickte. „Und genau deswegen brauchen wir Sie. Und Ihren D-274.“

Er lächelte. „Na gut. Ich kann mir vorstellen, damit aufzutreten… etwa im Symphony Center - oder der alten Orchestra Hall.“

„Sehr gut.“ Ich drückte ihm den Autoschlüssel in die Hand. „Der Wagen steht etwa hundert Meter rechts die Straße runter. Reden Sie mit der Polizei oder meinetwegen auch dem Bürgermeister, man wird sich um alles kümmern.“

Dann wandte ich mich zum Gehen, aber er hielt mich am Arm fest. „Hören Sie, Mr. Baxter… wie kann ich mich erkenntlich zeigen?“

Ich grinste schief. „Sagen wir, dauerhaft freien Eintritt bei Ihren Konzerten. Für mich… und meine Begleitung.“

Er lächelte und schüttelte mir die Hand. „Ich werde mich dafür einsetzen.“

Dann ging ich, bevor mir noch irgendeine Dummheit einfiel. Ich denke, für einen Abend hatte ich einen ganz guten Job im Fegefeuer abgeliefert. Es würde sicher nicht reichen, aber ich war meinem Ziel vielleicht ein Stück nähergekommen.

Irgendwo außerhalb, hoch im Licht, wartete Claudette auf mich. Ich war auf dem Weg.

 

Impressum

Cover: unsplash.com / Craig Whitehead. Free to use under the Unsplash License.
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Anthologie-Wettbewerb Mai 2021 mit dem Thema "Momente unseres Lebens" und dem Foto "Klavier" (Platz 1)

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