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Geehrter Abt Laurentis zu Cluny,

 

wieder einmal muss ich Abbitte leisten, wieder einmal mich Eurer Gnade unterwerfen und gleichzeitig zum Herrn um Vergebung beten für meine furchtbaren Taten. Als mein Beichtvater sind Euch meine Schwächen, meine Unaufrichtigkeit und die Brüchigkeit meines Herzens nur allzu bewusst. Doch bevor ich Euch um die Absolution bitte, will ich Euch getreulich berichten, was sich vor zwei Wochen in den Katakomben zugetragen hat, auf dass die Berichte Eurer Zuträger mit dem meinen ergänzt werden.

 

Schon seit Mai des Jahres 1891 gehörte ich dem Geheimbund der Letzten Dämmerung an; eingeführt hatte mich Baron LeCavosier auf der diskreten Mitternachtsfeier von Monique D'Alembert, zu deren Tischdamen ich damals gehörte. Der Hermetische Orden der Goldenen Dämmerung war zu dieser Zeit schon seit rund drei Jahren in England etabliert und der Baron hielt es für angemessen, hier in Frankreich seine eigene Variante aufzuziehen... nur mit einer etwas extremeren Zielrichtung. Dies war anfangs natürlich nicht so deutlich ersichtlich. Die Gespräche rankten sich um okkulte und mystische Traditionen, um Fragmente der ägyptischen Magie gemäß Dr. Agir, um Pentagrammrituale, das Tarot und verschiedene Arten der Alchimie. Mein Interesse an den geschichtlichen Grundlagen und meine Kenntnisse gewisser Schriften ließen mich in den Augen von LeCavosier nützlich genug erscheinen, mich als eine der wenigen weiblichen Adepten des Ordens aufzunehmen, selbstverständlich nicht ohne die üblichen Verschwiegenheitspflichten. Auch Lady D'Alembert legte ein gutes Wort für mich ein, da sie mich bereits mehrfach in den verschwiegenen Bibliotheken von Tesson, Ascognaire und DaHoncy getroffen hatte. Sie wusste also, welche Themen mir ein Anliegen waren.

 

Und das waren, ich gebe es zu, die verstiegensten, abwegigsten und ketzerischsten Dinge unter dem Licht der Sonne und vor allem in den Schatten der Nacht. Ich studierte schreckliche Rituale, las in Abschriften des Hexenhammers (die deutsche Frakturschrift war nahezu grausiger als der Inhalt) und machte auch vor abergläubischen Überlieferungen aus dem fernen Afrika nicht halt, wo es um Schrumpfköpfe und den Transfer von Seelen durch Verzehr der Asche von Toten ging. Ich entsinne mich noch gut des Lächelns der Lady, als ich ihr das Notambu-Manuskript reichte und sie wissend nickte. Dieser verschwörerische Moment brachte uns als Gleichgesinnte zusammen; seitdem war ich hin und wieder ein Gast in ihrem Hause, dem D'Alembert-Landsitz kurz vor Paris. Einmal hatte ich sogar eine Privataudienz bei ihr, eine kurze aber eindringliche Befragung nach dem Verschwinden von Gustave Ascognaire und, schlimmer noch, seines Hauptschlüssels. Wie froh war sie, als ich ihr danach wenigstens einige Abschriften verschaffen konnte, die ich Wochen zuvor in langen Nächten für den Eigengebrauch kopiert hatte.

 

All diese kleinen Ereignisse müssen es gewesen sein, die mich in ihrer Gesamtheit für den überaus mäßigen Rang einer Adeptin qualifizierten. Aber in der Kirche, geschätzter Abt, ist es mit den Rängen der Frauen ja kaum anders. Doch ich will mein Los nicht beklagen, sondern Euch in aller gebotenen Demut den weiteren Verlauf schildern.

 

Man munkelte damals viel über die Letzte Dämmerung; verdorben sollten die Rituale sein, Menschenblut sei dabei verwendet worden, der Orden sollte beim Verschwinden von mindestens sechs jungen Mädchen die Hand im Spiel gehabt haben, und hochgestellte Persönlichkeiten aus der Politik seien des Öfteren bei den diskreteren Veranstaltungen, zu denen man die Adepten nicht einlädt, dabei gewesen. Unter der Hand sprach man sogar von der Verwicklung eines Ministers oder Grafen in einen unschönen Vorfall, der ebenfalls mit der Dämmerung in Verbindung gebracht worden war. All diese Gerüchte machten in und um Paris die Runde, während die Ordnungskräfte im Dunklen tappten und die Zeitungen sich mit Mutmaßungen überboten, ohne freilich irgendeinen konkreten Anhaltspunkt zu haben. Denn niemand wollte etwas gesehen haben, und wegen der Nanterre-Morde und den Unruhen in Versailles wandte sich das öffentliche Augenmerk diesen weit spektakuläreren Ereignissen zu.

 

In der Zwischenzeit gedieh der Orden jedoch weiter, und ich stieg mit den Monaten weiter auf. Es kam schließlich so weit, dass ich in den inneren Zirkel aufgenommen werden sollte, verbunden mit einem Aufstieg in den Dritten Grad der Erhebung. Dies war im Oktober 1891, und die Adepten des zweiten Grades hatten inzwischen überdeutlich bemerkt, was LeCavosier im Sinn hatte: nicht irgendwelche halbgare Esoterik, sondern einen handfesten Satanskult. Er zeigte uns einige Telegramme von Aleister Crowley, einem der führenden Satanisten, und berief sich auf dessen Vorarbeiten und Autorität, doch mochte er dem Engländer nicht den Vortritt in der Sache lassen.

 

Noch in der Initiatenkammer fragte er uns, wer ihm zur Letzten Dämmerung folgen wolle, und niemand wagte es, einen Rückzieher zu machen. Manche waren gar voll Begeisterung dabei, galt es doch, infames Neuland zu betreten. Und das Mittel zum Aufstieg, das machte LeCavosier mehr als deutlich, sollten die sieben Todsünden sein. Er hatte bereits entsprechende Endrituale vorbereitet, verlangte aber von jedem von uns, sich zunächst durch deren Nachweis zu qualifizieren. Er gab uns drei Tage der Vorbereitung, dann sollten wir unsere gebotene Sündhaftigkeit an einem Gremium beweisen, um hernach den Dritten Grad zu erlangen. Dies, so ahnte ich, würde selbst meine abgrundtiefe Verworfenheit auf eine harte Probe stellen.

 

Es kam der Tag des 29. Oktobers, einer Primzahl also, die sich hartnäckig weigert, in irgendetwas geteilt zu werden, und als sich der Tag zum Abend neigte, war ich endlich an der Reihe, geprüft zu werden. Das Gremium, bestehend aus sieben Personen, hatte sich in der neuneckigen, mit Ritualzeichen übersäten Initiatenkammer eingefunden; ich kniete in meiner scharlachroten Robe vor ihnen und musste Rede und Antwort stehen. Traditionell war das Gremium anonym – offiziell, damit es seine Distanz und Objektivität in der Sache wahren konnte, aber ich vermutete, dass es eher darum ging, die Identität der Beteiligten zu verbergen. In ihren schwarzen Roben mit Kapuzen, die tief ins Gesicht gezogen waren und auf den unbeleuchteten Stufen des ehernen Erzinquisitors war es unmöglich zu erahnen, wen ich da vor mir hatte. Die bedrückende Präsenz der Gestalten wirkte, wie gewiss beabsichtigt, einschüchternd.

 

Die schwarze Robe in der Mitte begann mit dem Verhör. "Patricia de Grecion, seid Ihr willens...?"

 

"Ich bin willens, mich dem Urteil des Gremiums auszuliefern," gab ich entsprechend der Lehrschriften zurück, "und zu beweisen, dass ich würdig des Dritten Grades bin, indem ich meine Beflissenheit durch die Todsünden beweise, die ich auf mich zu nehmen oder auszuüben gedenke."

 

"So beginnt denn!" Der Mann nickte knapp; es war der Stimme nach unverkennbar der Baron. Aber ich wusste, es musste mindestens eine wichtigere Person dabei sein, denn LeCavosier war zwar der Urheber, aber nicht der eigentliche Macher dieses Ordens. Ein großer Teil des Aufbaus der geheimen Anlagen, in denen sich der Orden regelmäßig traf, wie auch der Instruktionen verrieten eine andere Handschrift, zumal der Baron selbst im Sommer auf einer Großwildjagd gewesen war und sich um all das nicht hatte kümmern können.

 

"...und wisset, dass Euch Eure Antworten und Taten bis zum Tode binden werden." fügte er unvermittelt hinzu, bevor er auf einem Ledersessel Platz nahm. Das Gremium starrte mich an, sieben schwarze Roben im Halbdunkel. Ich zögerte kurz... und stand auf. Zwei Roben keuchten erstaunt auf. Von ganz rechts hieß es herrisch: "Die Adeptin hat zu knien!"

 

Ich ließ mich nicht beirren. "Die Anwärterin ist hier, ihren Hochmut zu demonstrieren. Sie ist nicht nur mehr als würdig, den begehrten Grad zu erhalten, sondern sie ist auch den Männern des Ordens gegenüber gleichwertig in jeder Hinsicht."

Die berobten Personen räusperten sich unbehaglich, nur eine kicherte verhalten. Es war Nummer Fünf, die schlankste der Gestalten. Soso.

"Das ist so kühn, dass ich es gelten lassen würde," meinte Nummer Zwei.

Ich zog einen Bleistift und ein Papier aus meiner Robe. "So bestätigt mir dies, damit dieser Punkt abgehakt ist." Auf meiner Liste hatte ich die Saligia, also Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit in ein Diagramm eingetragen, dem man nur noch die Unterschriften oder zumindest Namenskürzel hinzufügen brauchte.

 

Das Gremium wechselte überraschte Blicke, dann nahm Nummer Vier, also LeCavosier, den Bogen verärgert an sich und malte ein X darauf.

"Unsere Namen könnt Ihr nicht erwarten in dieser Sache, de Grecion," setzte er höhnisch hinzu.

"Ich danke Euch, geehrte Richter," gab ich zurück. "Zu Eurer Information bin ich diesem Orden nicht nur aus persönlichem Interesse an abgewandter Theologie beigetreten, sondern auch aus Neid auf die Reichen, Bessergestellten, Adligen wie Euch, die Ihr Euch den Luxus solcher Zeitvertreibe und der Anbetung des Satans leisten könnt. Auch mir soll es vergönnt sein, sich in diese Tiefen hinab zu begeben und ihn als neuen Herrn anzuerkennen!"

 

"Man hat mir zugetragen, dass sie früher ein armes Ding war, das erst durch Kontakte mit Höhergestellten ihr Potenzial entfalten konnte," sagte Nummer Sieben kühl.

"Dieser Umstand ist auch mir bekannt," bestätigte Nummer Eins. "Ihr Neid auf unsere gute Gesellschaft ist damit glaubhaft." Er machte eine Geste mit den Fingern, erhielt das Blatt ausgehändigt und fügte sein X hinzu.

 

"Was den Geiz angeht,“ setzte ich meine Argumentation fort, „so kann Euch der Schatzmeister des Ordens bestätigen, dass ich bisher keine Spende geleistet habe. Und selbst meiner Bürgin, der ehrwürdigen Lady D'Alembert, habe ich trotz unserer Freundschaft nur das Nötigste an Materialien zukommen lassen.“

Nummer Fünf schnaubte leise. Der Rest schien eine starrere Haltung anzunehmen. Nummer Zwei neigte den Kopf zur Seite. Das war eine gefährliche Stelle, und ich beeilte mich fortzufahren.

 

„Selbstverständlich werde ich nach der Aufnahme in den Dritten Grad diese Zurückhaltung fallen lassen, die ich nur zur Demonstration der Intensität meines Bemühens und die Ernsthaftigkeit meiner Hingabe zur Sache aufrechterhalten habe. Das werte Gremium sollte sehen, dass ich selbst unter solch schmerzlichen Umständen die Todsünde schon im Vorfeld einbezogen habe. Umso mehr würde es mich freuen, wenn ich hernach die versteckten Unterlagen mit Ihnen allen teilen könnte, handelt es sich doch um Abschriften aus Werken, die man in Paris inzwischen nicht mehr zu finden vermag. In langen Nächten habe ich diese Kopien angefertigt, und die Frucht meines Geizes soll zunächst der Rang sein, der hier zur Entscheidung steht.“

 

„Geiz und nochmals Hochmut!“, knurrte Nummer Drei, eindeutig ein Mann. „Dieses Weib müht sich redlich, den Anforderungen zu entsprechen!“

„Die Adeptin kann viel behaupten,“ gab Nummer Fünf – eine weibliche, kühle Stimme - zu bedenken, „doch kann sie uns versichern, dass tatsächlich noch mehr vorliegt?“

Die Augenpaare in den Schatten der Kapuzen fixierten mich prüfend.

Ich machte einen devoten Knicks. „Wäre es wirklich ratsam, wenn ich hier ohne Vorbereitung gewisse Texte zitiere? Etwa aus dem De Diabolica von Leo Porelli? Bitte sehr: Grates nunc omnes reddamus domino Deo, qui sua nativitae nos liberavit de diabolica potestate…”

 

“Aufhören!” donnerte Nummer Drei. “Es ist jetzt nicht die Zeit dafür, und fortgeschrittene Rituale sind Sache der Hochmeister des Ordens. Wir werden die Texte, die Ihr uns später übergeben werdet, prüfen und der bestmöglichen Nutzung zuführen. Nun gut. Ich habe genug gehört.“

Die anderen besprachen sich kurz flüsternd und wandten sich dann wieder mir zu.

„Bitte fahrt fort, Anwärterin,“ sagte Nummer Sechs in neutralem Ton, während er sein X aufs Papier setzte. Bis auf Nummer Fünf waren es damit alles Männer, was auch zu erwarten war.

 

„Ich möchte dann zur Völlerei kommen…“ setzte ich an.

„Wir haben da etwas vorbereitet,“ unterbrach mich Nummer Eins und ich kann fast beschwören, ein Grinsen unter der Kapuze gesehen zu haben. Er schnippte mit den Fingern, und zwei Adepten des untersten Grades brachten einen kleinen Tisch herein, der mit Speisen überhäuft war. Da waren Teile eines gebratenen Schweins, mehrere Arten von Wurst, Salat, drei Brotsorten, eine Schale mit Wildbret und sogar Fasan sowie eine weitere Schale mit Weintrauben und Käse. Daneben lagen geschnittene Äpfel. In kleinen Terrinen warteten verschiedene Soßen darauf, den Geschmack des Essens abzurunden, gleichfalls die Gewürzbeutel, aus denen man sich bedienen konnte. Drei Flaschen unterschiedlicher Weine boten sich als Getränkekarte an.

 

„Ihr mögt beginnen!“ forderte mich Nummer Eins auf, und ich griff gierig zu… denn ich hatte in den letzten drei Tagen, den Tagen der Vorbereitung, gefastet. Um eine rechte Schlemmerei daraus zu machen, achtete ich wenig auf die Tischmanieren, sondern stopfte die raren Speisen in mich hinein, als gäbe es kein Morgen. Bei den Flaschen machte ich mir nicht die Mühe, die teuren Weine in die bereitgestellten Gläser zu gießen, sondern setzte sie gleich an den Mund an. Es war ekelhaft und eine Wonne zugleich. Um nicht vom Wein trunken zu werden, spuckte ich allerdings das, was ich aus der einen Flasche trank, in die nächste Flasche wieder hinein. Bei dem dunklen Glas fiel das nicht auf. Das Augenmerk der Prüfer lag auch mehr beim Essen. Schließlich war ich selbst erstaunt, wie viel ich verzehrt hatte.

 

Das Gremium hatte mir schweigend und, wie ich vermute, etwas missmutig zugesehen, denn dieses Essen ging auf ihre Kosten. Oder vielleicht hatten sie jetzt auch selbst Appetit bekommen. Die schwierigste Sünde stand mir zudem noch bevor.

„Eine Nachspeise wäre mir noch recht gewesen,“ merkte ich an, nur um noch einmal auf dem Hochmut herumzureiten, „aber ich möchte diese Prüfung nicht unnötig hinauszögern.“

Nummer Eins machte eine wegwerfende Geste und setzte schwungvoll ein X auf die Liste. „Vielleicht wäre Euch nun auch etwas Bewegung recht?“ meinte er lauernd.

Daher wehte also der Wind!

 

„Falls es Euch genehm ist, meine Wollust zu überprüfen, so bin ich bereit,“ kündigte ich mit klarer Stimme an, „jedoch würde ich es vorziehen, mit einer Person zu beginnen, bevor dann die anderen gemeinsam hinzutreten.“

 

Ich muss zugeben, das schien sogar die abgebrühten Mitglieder des Gremiums ein wenig zu schockieren. Während sie tuschelnd gestikulierten, setzte ich nach: „Habt Ihr einen geeigneten bequemeren Raum als diesen… vielleicht mit einem Bett? Der Genuss soll ja nicht durch einen harten Boden gemindert werden.“

 

Nummer Zwei trat vor. „Ich werde mich persönlich überzeugen… im Nebenzimmer. Ich werde ein Zeichen geben, wenn jemand hinzukommen kann.“

Er führte mich durch einen dunklen Samtvorhang, der eine solide Holztür verbarg, und schloss sie auf. Dahinter zeigte sich ein mittelgroßer Raum mit einem Marmortisch, zwei altertümlichen Stühlen, vergilbten Tapeten, einem altmodischen Schrank, einem Schreibpult und einem Bett, auf das ich mit großen Schritten zuging.

 

„Wartet bitte,“ flüsterte ich, „ich will mich zunächst der störenden Robe entledigen. Ihr könnt derweil zusehen.“

Ich zog die Robe auf die umständlichste Weise aus, die sich denken lässt, damit dieser einfache Prozess möglichst lange dauerte und er etwas zu sehen hatte. Darunter trug ich ein schockierend kurzes Kleid, das mir nur bis etwas über die Knie reichte, und die schwarzen hohen Stiefel, die ich am Abend zuvor bei einer Expertin für nächtliches Zusammensein für einen zu hohen Preis erworben hatte.

 

Ich konnte die Wirkung dieser Kombination an seinem Aufkeuchen hören. Er hielt es nicht mehr aus und kam näher, drängte sich an mich. Da schob ich ihn ein Stück weg, lächelnd.

„Wenn Ihr mich schon wie eine Dirne behandeln wollt, dann seid wenigstens konsequent – und entrichtet die Bezahlung im Voraus. Und ich habe den Kopf frei von den Formalien.“

Mit diesen Worten hielt ich ihm den Bogen und den Stift hin.

Er zögerte.

Ich knöpfte die beiden obersten Knöpfe des Kleides auf.

 

„Wenn Ihr Euer Kreuz nun setzt, werden Euch die Augen übergehen,“ versprach ich ihm, „ansonsten aber entfacht Ihr nicht das Feuer, das Euch umfangen soll.“

Grimmig entriss er mir das Papier, wandte sich zum Schreibpult und schrieb sein X darauf, während ich bereits in das Bett kroch.

„Dann ist ja alles erledigt,“ versetzte ich kühl, „Ihr könnt ja schon mal anfangen. Ich werde mich derweil etwas ausruhen.“

„Wie meint Ihr?“ Er stürmte auf das Bett zu. Dabei rutschte seine Kapuze herunter. Es war Gerard Nepollion, der Richter vom sechsten Bezirk. Ungestüm warf er die Robe ganz ab. „Ihr habt versprochen…“

 

„Was ich versprach, war, dass Euch die Augen übergehen sollen. Was gerade der Fall ist,“ gab ich zurück und wickelte mich in die Bettdecke ein. „Ihr habt den Punkt Wollust abgehakt, und nun habe ich keine Veranlassung mehr, darauf einzugehen. Das ganze Reden und Essen hat mich ermüdet. Ich bin einfach zu träge, mich jetzt mit Euch einzulassen.“

 

„Das… das… das habt Ihr geplant!“ schrie er erbost.

„Selbstverständlich. Schließlich möchte ich dem werten Gremium ja meine diabolische Art beweisen. Und bitte seid jetzt so gut, mir zu bestätigen, dass ich zu faul bin, um mit jemandem im Bett herumzuturnen, wo es nicht nötig ist.“

„Satansbraten!“

„Danke sehr.“

 

Er wandte sich um. „Patricia de Grecion, Ihr seid verflixt einfallsreich. Teuflisch geradezu. Ich denke, wir haben mit Euch einen guten Fang gemacht. Wären die Juristen in meinem Alltag nur halb so geschickt, hätte ich einen schwereren Stand.“

Er atmete grummelnd aus, ergriff den Stift abermals und setzte kopfschüttelnd sein zweites X aufs Blatt. Kaum war dies erledigt, rollte ich mich aus der Decke und zog die Adeptenrobe wieder an, was diesmal ganz problemlos gelang.

„Keine Frau hat mir bisher ein solches Missvergnügen in der Schlafstube bereitet,“ murrte er, während ich Papier und Stift wieder an mich nahm.

„Und ich habe es auch noch schriftlich,“ neckte ich ihn, „doch vielleicht sollte man dies nicht allzu breittreten.“

„Ist wohl besser so,“ stimmte er zu, und wir gingen Seite an Seite zurück in den Initiatenraum, der immer noch lediglich von neun Kerzen erhellt war. Die Adepten von vorhin hatte wohl inzwischen den Tisch abgetragen, jedenfalls war er verschwunden, genau wie die Adepten.

 

„Schon zurück?“ fragte Nummer Sieben verwundert.

„Es ist alles erledigt,“ erklärte ich und wies meinen Bogen vor.

„So schnell? Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen!“ rief Nummer Fünf erbost aus.

Nepollion, der ebenfalls seine Robe wieder angelegt und sich auf seine alte Position gestellt hatte, räusperte sich. „Das hat alles seine Richtigkeit. Die Anwärterin hat die Beherrschung zweier Todsünden hinreichend bewiesen. Eine weitere Diskussion ist nicht notwendig.“

 

„Da bin ich anderer Meinung,“ warf Nummer Sechs ein. Die Sechs hatte ich bisher am wenigsten einschätzen können, weil sie sich nur einmal geäußert hatte. Die beiden zogen sich in eine Ecke zurück, wo man sie nicht hören konnte, aber an den Gesten konnte ich erkennen, dass es ein intensives Gespräch war. Schließlich wich Nummer Zwei etwas zurück und zuckte hilflos die Schultern, während Nummer Sechs ihn anscheinend zurechtwies. Doch dann kamen beide mit ruhigen Schritten zurück zum Podium.

„Jemand hatte hier offenbar ein Problem mit der Praxis der Sündhaftigkeit,“ schnarrte Nummer Sechs höhnisch zu seinen Mitstreitern, „aber es gibt eben immer Personen, für die juristische Winkelzüge mehr Gewicht haben als eine tatsächliche Verworfenheit. Dennoch will ich dem Urteil eines hohen Ordensbruders nicht entgegenstehen. Das Verfahren mag also fortgeführt werden, doch seid versichert, dass ich diesmal keine rhetorischen Spielereien durchgehen lassen werde!“

 

Er wandte sich langsam mir zu. „Die Anwärterin wandelt auf dünnem Eis.“

Ich hielt mein Blatt mit den sechs Markierungen hoch. „Die Anwärterin ist im Angesicht dieses Gremiums schon weit gekommen, und ich werde auch den letzten Beweis erbringen. Dafür möchte ich zunächst die Identitäten der Anwesenden aufdecken.“

Eine Welle der Unruhe lief durch die Reihe der Prüfer. Damit hatten sie offenbar nicht gerechnet.

 

„Ich benenne in der Mitte Baron LeCavosier, rechts von ihm die einzigartige Monique D'Alembert. An zweiter Stelle steht Richter Gerard Nepollion. Jetzt wird es schwieriger… ganz links und rechts stehen diejenigen Herren, die meine Vorgeschichte kannten. Da diese nur in der Gemeinde Saint-Quen bekannt ist, dürftet Ihr von dort sein, entweder aus dem Rat oder dem Klerus. Nummer Drei ist unzweifelhaft selbst ein Hochmeister des Ordens, und da von den dreien LeCavosier und Nepollion bereits genannt wurden, kann er nur Dr. Philippe Montfermeil sein. Und Nummer Sechs… die einzige Person, die in dieser Art, wie wir es eben gesehen haben, mit einem Hochmeister wie Nepollion umgehen kann, ist natürlich der Inquisitor des Ordens. Auch außerhalb der Letzten Dämmerung dürfte er sich nicht vor einem Richter fürchten, und daher schließe ich bei ihm auf den Polizeichef Alain Dugrand.“

 

Das saß. Die sieben Personen waren schier wie gelähmt von meiner Offenbarung… bis Nummer Sechs schließlich vortrat und mit kalter Stimme fragte: „Wohin soll das führen, Anwärterin? Ahnt Ihr nicht, in welche missliche Lage Ihr Euch begebt, wenn Ihr die Statuten der Geheimhaltung in solch eklatantem Maße verletzt?“

Und das war mein Stichwort. „Nicht ich bin in der misslichen Lage. Ihr alle seid es, denn ihr habt bedeutende Mitglieder der Führungsriege des Ordens an einem Ort mit mir versammelt.“

Ich riss die beiden Dolche aus meinen Stiefeln. „Hier ist mein Zorn!“

 

Damit stürmte ich auf die Reihe zu und stach zu. Man erwischt die meisten immer gleich beim ersten Angriff, bevor sie die Lage vollständig erkannt haben. Der Baron griff sich an seine Kehle, aber es war zu spät. Dugrand war das wichtigste Ziel; ich schlitzte ihm den Hals auf, während ich mit dem zweiten Dolch auf den Richter einstach. Dieser brach mit vier Wunden zusammen; ich würde notfalls später auf ihn zurückkommen.

Der Mann aus Saint-Quen war eigentlich unwichtig, aber ich arbeite sorgfältig. Ein Stich ins Bein verhinderte seine Flucht. Während er nach vorne zusammenbrach, sprang ich auf seinen Rücken und jagte beide Dolche in die Seiten seines Halses. Das ging schnell.

 

Ein Geräusch alarmierte mich, und ich fuhr herum, gerade noch rechtzeitig, um einem Kerzenständer auszuweichen, der auf mich zuflog. Die Gegenwehr hatte begonnen.

Jetzt waren noch Montfermeil, D'Alembert und der andere Kerl aus Saint-Quen übrig. Letzterer war es wohl, der den Leuchter geworfen hatte, denn neben ihm hätte sich eigentlich einer befinden müssen. Der Mann trug seine Kapuze nicht mehr und war mir unbekannt. Ich sprang nach vorn, rollte ab und rammte ihm die Dolche in die Oberschenkel.

 

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich der Arzt an der Kleidung von Dugrand zu schaffen machte, der leblos zu mir herüberstarrte. Die Lady hatte sich derweil in eine Ecke verkrochen und zitterte. Aber ich ahnte, sie würde nicht lange dort verharren.

Ich wehrte den Griff des unbekannten Informanten ab und zog die Dolche wieder heraus. Er schrie. Sein Schrei erstarb mit ihm, als die Klingen ihr Ziel zwischen seinen Rippen fanden.

 

Doch was ich befürchtet hatte, war eingetreten: Montfermeil hatte inzwischen die Waffe des Polizeichefs gefunden und zielte auf mich. Ich machte eine weite Rolle zur Seite. Das rettete mich vor dem ersten Schuss, aber in diesem Raum gab es keine Deckung. Ich rannte zum nächsten Kerzenständer und schleuderte ihn auf den Schützen, als schon der zweite Schuss fiel.

Dieser ging nur haarscharf an mir vorbei, und ich warf im Laufen meinen rechten Dolch. In der Ausbildung hatte man mir eingeschärft, niemals meine Waffen wegzuwerfen, aber ich hoffte, den Arzt damit außer Gefecht zu setzen. Doch nur der Griff traf ihn an der Schulter. Das lenkte ihn immerhin so weit ab, dass auch der dritte Schuss danebenging. Ich hechtete nach vorn und riss Montfermeil mit meinem Schwung um. Seinen Arm mit dem Revolver drückte ich weg und stach ihm endlich meinen anderen Dolch ins Auge, so tief es ging.

 

Ein furchtbarer Schlag traf meinen Hinterkopf, so dass ich für einen Moment nur Sterne sah und nach vorn kippte. Wer war noch übrig? Lady Monique? Wie konnte sie so hart zuschlagen?

Ich ließ mich nach links fallen. Metall sauste neben mir nieder. Der zweite Schlag mit dem Kerzenleuchter traf den toten Arzt, nicht mich. Ich kroch desorientiert ein Stück weiter und stellte da erst fest, dass ich meinen letzten Dolch im Schädel vergessen hatte. Monique kreischte und schlug abermals zu. Diesmal traf sie meinen Oberschenkel. Es schmerzte höllisch.

 

„Du Verräterin!“ schrie sie. „Und dir habe ich vertraut!“

Ein weiterer Schlag trieb mir die Luft aus der Lunge. Ich rollte mich auf den Rücken.

„Vertrauen,“ murmelte ich, „ist etwas, das man in einem Satanskult nicht oft antrifft.“

Sie hielt inne, den Leuchter hoch erhoben. Ich kroch rückwärts, von ihr weg. Im Zwielicht der wenigen verbliebenen Kerzen sah sie wie eine Rachedämonin aus. Die Kapuze war längst heruntergerutscht, und ihre Haare hingen ihr halb ins Gesicht. Ich sah sicher nicht besser aus, vor allem war ich blutverschmiert. Es tat weh, einzuatmen.

 

„Wir hätten alles haben können, Patricia,“ erwiderte sie bitter und ließ den Leuchter sinken. „Macht, Einfluss, Geld, sogar Ruhm. Glaubst du, ich bin wegen Satan hier? Du weißt am besten, wie schwer man es als Frau in dieser Gesellschaft hat. Ich habe zwei Jahrzehnte gebraucht, um schließlich an meine Positionen zu kommen, und der Orden hat mir eine Perspektive gegeben.“

„Unter Männern, die dich nur dulden? Sie haben deine Kenntnisse benutzt, genau wie du meine. Du warst ihnen egal.“

„Mag sein,“ räumte sie ein, „aber es war ein Fortschritt.“

 

Ich schüttelte matt den Kopf „Auf dem falschen Weg. Und das hast du gewusst, als du in den Orden eingetreten bist. Hast du geglaubt, die Entführungen, die Quälereien, die ketzerischen Forschungen würden unentdeckt bleiben?“

Lady Monique sah mich von oben herab an. „Das wirst du nie verstehen. Der Orden steht für den Anbruch einer neuen Zeit. Bei jeder Umwälzung gibt es Opfer.“

Diese Frau war verloren, und ich bedauerte sie dafür. Schwer atmend schob ich mich ein Stück weiter, bis meine Finger endlich auf den Dolch trafen, der von der Schulter des Arztes abgeprallt war. Ich glaube nicht, dass sie ihn hinter mir in dieser Düsternis bemerkt hatte. Vorsichtig zog ich die Waffe an mich und hielt sie in meinem Schatten.

„So? Ein Opfer ohne Ritual? Was für eine Verschwendung. Du kennst doch die Riten,“ zischte ich in einem durchsichtigen Versuch, sie abzulenken. Der nächste Schlag mit diesem Leuchter konnte mein Ende sein.

 

Aber tatsächlich warf sie einen prüfenden Blick auf die Symbole und Linien in der Mitte des Raumes, die den Rahmen für etliche Rituale des Ordens bildeten. Dieser Moment genügte mir.

 

Ich sprang auf, während ein dumpfer Schmerz meinen Oberschenkel durchflutete, und ergriff mit der linken Hand den Kerzenleuchter, den sie immer noch umklammerte. Während sie mich noch verblüfft ansah, zog ich sie daran zu mir heran und stieß mit rechts zu, mit dem Dolch, in ihren Bauch, ihre Brust, ihr Herz.

Monique D'Alembert brach zusammen. Ich ließ den Leuchter los und lehnte mich schwer atmend an die Wand. Als ich mich etwas gefasst hatte, prüfte ich bei allen anderen Kultisten nach, ob noch ein Lebensfunke verblieben war, aber dem war nicht so. Meinen zweiten Dolch holte ich mir zurück und ließ beiden in den Stiefeln verschwinden. Dann schleppte mich zur Tür, löste den Innenriegel und zog sie auf. Kühle Luft wehte mir entgegen.

 

Obwohl es heißt, dass man auf seine Arbeit nicht zurückblicken soll, und schon gar nicht mit Stolz, wandte ich mich um. Zwar empfand ich keinen Stolz, aber die kühle Gewissheit, dass diese Menschen keine Schreckenstaten mehr verüben würden, beruhigte mich ein wenig. Mein Blick fiel auf Monique. In einem anderen Leben, unter anderen Umständen hätten wir vielleicht tatsächlich Freundinnen werden können. Aber sie hatte ihre Wahl getroffen und ich meine.

Und damit schlich ich mich aus dem Keller der Familie Le Chanoy, der einen Durchbruch zu den Katakomben von Paris hatte, wo der Baron mit der Einrichtung der Initiatenkammer und weiteren Räumlichkeiten seine geheime Basis des Ordens aufgebaut hatte. Die Mitglieder der Familie hatten wohl zu den ersten gehört, welche der Letzten Dämmerung zum Opfer gefallen waren, denn das Haus war jedes Mal leer gewesen, wenn wir es aufgesucht hatten, so auch jetzt.

 

Ich wusch mir in der Küche das Blut ab und reinigte mein Kleid, so gut es ging. Dann stahl ich mich davon und reiste unerkannt nach Cluny, um Euch Bericht zu erstatten, geehrter Abt. Mir ist klar, dass ich noch einige Tage in dieser Zelle verbringen muss, bis meine Wunden abgeheilt sind und Ihr Euch ein vollständiges Bild der Lage gemacht habt.

Der Auftrag ist erfüllt, die Anführer des Ordens wurden zur Strecke gebracht. Übrigens findet Ihr den Hauptschlüssel zur verfemten Bibliothek von Ascognaire unter dem Fass auf der zweiten Treppe des Glockenturms. Diese Schriften jenem Orden vorzuenthalten, war zwar nicht Teil des Auftrags, aber schon bei oberflächlicher Sichtung kam es mir zu riskant vor, sie ihm zu überlassen.

 

Das “Grates nunc omnes”, aus dem ich zitiert hatte, war natürlich keine Teufelsanbetung, sondern ein ganz normales Kirchenlied aus dem 11. Jahrhundert, das in der Regensburger Abtei St. Emmerarm verfasst worden ist. Es dankte in dieser Passage, wie Ihr wohl bereits übersetzt habt, Gott für die Erlösung von der teuflischen Macht.

 

Und das ist mein Bericht, mein Geständnis. Denn obwohl ich in Eurem Auftrag unterwegs war, sah ich mich gezwungen, die Todsünden zu begehen, um im Verlauf der Untersuchung zu ermitteln, ob ich die richtigen Personen vor mir habe. Ich bekenne mich zu allen schuldig, vor allem aber der des Zorns, der mich erfüllte. Vielleicht war ich das strafende Werkzeug des Allmächtigen, vielleicht auch nur eine Frau, die an ihre Grenzen gelangt ist. Denn es fällt mir jedes Mal schwerer, in diese Organisationen einzutauchen, eine von ihnen zu werden, die Anführer zu erkennen und auszuschalten. Die Sache mag noch so gerecht sein, sie zehrt an mir. Ich weiß, dass es Kräfte geben muss, die im Hintergrund der Kirche wirken, von denen niemand am Sonntag predigen wird und die dennoch notwendig sind, um die Gemeinschaft der Gläubigen zu schützen. Doch ich bete dafür, dass es einst eine Zeit geben wird, in welcher meine Arbeit nicht mehr erforderlich ist.

 

So erteilt mir bitte ein letztes Mal die Absolution, und ich werde nach Eurem Ratschluss in mein Kloster zurückkehren oder, wenn es abermals geboten ist, die Klinge sein, welche das Unkraut vom Antlitz der Erde tilgt. Es liegt bei Euch.

Bis dahin verbleibe ich im Gebet.

 

Schwester Patricia vom Orden der vollstreckbaren Gnade

Cluny, November 1891

 

Impressum

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Anthologie-Wettbewerb April 2021 mit dem Thema "Todsünden" (Platz 1)

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