Die hohen Temperaturen der letzten Hitzeperiode sind noch immer zu spüren und die zweite Regenzeit des Jahres beginnt bereits. Eine stinkende, trübe Masse scheint an diesem schwülen Abend durch die engen, dunklen Gassen der Friedrichstadt zu ziehen. Das verrufene Viertel ist eine Gegend der Armen und Ärmsten. Angrenzend an den Stadthafen, den riesigen Güterbahnhof und die Schlachthöfe leben hier Hilfsarbeiter neben Dieben und viel schlimmeren Subjekten, die ohne zu zögern für ein paar Mark einen Mord begehen würden. Auch eine kleine Gruppe aufstrebender und heruntergekommener Künstler hat sich in den baufälligen Häusern niedergelassen.
Es sind es nicht nur die undefinierbaren Gerüche, die sich in den, von der nahen Elbe herüberziehenden, dichten Nebel mischen, sondern auch jede Art von Geräuschen. Darunter viele, die man wirklich nicht hören will.
Ich ziehe mit einer Hand den hellen Trenchcoat enger um mich, um meine teure Kamera vor neugierigen Blicken zu verbergen, und rücke mir den Hut tiefer ins Gesicht. Immer, wenn mich ein Auftrag in diese Gegend treibt, habe ich ein mulmiges Gefühl. Wartet im nächsten Hauseingang ein übler Bursche mit einem Messer auf mich oder laufe ich an der nächsten Straßenkreuzung einer Horde betrunkener Schläger in die Arme? Unabsichtlich atme ich vorsichtiger und sehe mich bei jedem dritten Schritt um. Der Schweiß auf meiner Stirn ist auch nicht nur den heißen Temperaturen und der hohen Luftfeuchtigkeit geschuldet.
Gerade gehe ich am „Schwarzen Dampfer“ vorbei, als die Tür aufgerissen wird. Eine Welle trüben Lichtes beleuchtet die vier Stufen davor und eine Mischung aus Zigarettenrauch und wüstem Geschrei dringt auf die Straße. Dann stolpert, oder vielmehr: fliegt, ein beleibter, etwa fünfzigjähriger Mann die Stufen hinunter auf den Gehweg und fällt mir direkt vor die Füße.
Im gleichen Augenblick erscheint auch ein hochgewachsener breitschultriger Mann in der Tür, der um ein Vielfaches jünger wirkt. Mit seinen erhobenen Händen und den geballten Fäusten steht er wie ein Boxer da. „Verpiss dich, Alter“, brüllt er, „und wenn du noch einmal solche Reden führst, erkennst du morgens dein Gesicht nicht mehr im Spiegel, merk dir das!“
Ich sehe den jungen Mann kopfschüttelnd an und hocke mich neben den Gestürzten, um ihm aufzuhelfen. Doch ich werde grob zurückgestoßen und der massige Mann kämpft sich alleine hoch. Blut läuft aus seiner Nase und färbt die grauen Bartstoppeln rot. Er nuschelt etwas, das ich als „Lass mich in Ruhe, du Arsch“ verstehe. Dann taumelt er die Straße entlang und biegt in die nächste dunkle Gasse ab. Ich wende meinen Blick wieder dem jungen Mann zu, der inzwischen die Tür hinter sich geschlossen hat und jetzt neben dem Eingang an der Hauswand lehnt.
„Was ist?“ fragt er und sieht mich herausfordernd an.
„War das notwendig?“ frage ich zurück und meine Augen suchen seinen Blick.
„Er hat Tilda als dreckige Schlampe bezeichnet.“ Ohne eine Miene zu verziehen, verschränkt er die Arme vor der Brust.
„Weißt du, wer das war?“ frage ich und deute mit dem Kopf in die Richtung, in die der Alte verschwunden ist.
Da er keinerlei Reaktion zeigt, nehme ich an, dass er es nicht weiß. „Das war Tildas Vater“ sage ich dann, aber auch das scheint ihn nicht zu interessieren. Langsam kramt er eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche, zündet sich eine davon an und kommt die Stufen herunter auf den Bürgersteig.
„Gehst du zu ihrer Vernissage?“ fragt er.
Ich nicke und öffne den Trenchcoat ein wenig, um ihn die Kamera sehen zu lassen. „Dienstlich, sozusagen.“
Er grinst. „Dienstlich also... naja“ Es klingt mehr als anzüglich. „Nimmst du mich mit, Brüderchen?“
„Habe ich eine Wahl?“ frage ich und er schüttelt den Kopf.
„Wie ich dich kenne, brauchst du Begleitschutz, Tom“ meint er lachend und legt einen Arm um meine Schulter. „Ist eine raue Gegend hier.“
„Du musst das ja wissen“, gebe ich zurück. Max, eigentlich heißt er Maximilian, aber so nennt ihn keiner, ist mein großer Bruder. Seit mehr als fünf Jahren lebt er in diesem Viertel und arbeitet mal auf dem Güterbahnhof, mal im Hafen, wo er gerade gebraucht wird. Ich habe auch schon Gerüchte gehört, dass er das eine oder andere Mal Aufträge übernimmt, von denen ich lieber nichts wissen will. Aber ich traue ihm durchaus zu, dass er für Geld Alles tut.
Schweigend gehen wir nebeneinander die Straße entlang in Richtung Hafen. Es wird dunkler, denn Laternen gibt es schon ewig nicht mehr. Nur schwacher Lichtschein aus dreckigen, teilweise mit Zeitungspapier verklebten Fenstern fällt auf die Straße. Die Geräusche unserer Schritte hallen von den Wänden in den engen, hohen Straßenschluchten wieder.
Endlich bleibt Max vor einer hohen Toreinfahrt stehen. „Hier ist es“ meint er und deutet mit dem Kopf in die finstere Einfahrt.
„Ich weiß“, antworte ich, denn ich bin nicht das erste Mal hier.
Wieder schweigend durchqueren wir den großen Hof und das Hintergebäude. Wir gelangen in einen viel kleineren, engeren Hof, in dem es stockdunkel wäre, wenn nicht über der schmalen Tür eines niedrigen Seitengebäudes eine schwach flackernde, blaue Leuchtschrift angebracht wäre. „Galerie Kaspar“ steht an der grauen Fassade, von der zum größten Teil der Putz schon abgeplatzt ist und die blanken Ziegel zu sehen sind. Die Läden vor den kleinen, staubigen Fenstern sind geschlossen.
Als Max und ich eintreten, blendet uns das ungewohnt grelle Licht im Inneren des Gebäudes. Jetzt ist zu erkennen, dass es sich um eine ehemalige Werkstatt handelt. Eine Drehbank steht noch in der Ecke und eine Bohrmaschine in einer anderen. Die hölzernen Dielen sind von altem Öl durchtränkt und es riecht auch so. Aber das scheint die Anwesenden kaum zu stören. Es sind etwa fünfundzwanzig Leute, die in Gruppen zusammenstehen und sich unterhalten. Alle geben sich den Anschein, zur gehobenen Gesellschaftsschicht zu gehören, aber kaum einem kann ich das abnehmen. Der Geruch von billigem Parfüm vermischt sich mit stinkendem Zigarettenrauch, den Ausdünstungen ungewaschener Menschen und irgendetwas anderem, das an Opium erinnert.
Während Max sich sofort unter die Leute mischt, bleibe ich in der Nähe der Tür stehen und sehe mich um. An den Wänden hängen verschieden große Bilder, die aber mit Tüchern abgedeckt sind. In der rechten hinteren Ecke führt eine Wendeltreppe aus Metall in die nächste Etage hinauf.
Plötzlich ertönt von irgendwoher ein Gong und gleichzeitig erscheint ein Mann von etwa fünfundsechzig Jahren auf der oberen Plattform der Wendeltreppe. Er ist nicht sehr groß und hat volles, weißes Haar. Sein dunkelroter Anzug hat schon bessere Zeiten erlebt, ist aber wahrscheinlich kostbarer als die Bekleidung der Gäste hier unten zusammen. Seinen Hals schmückt ein dunkelblaues Seidentuch.
„Meine Damen und Herren, sehr verehrte Gäste“, beginnt der alte Herr mit lauter Stimme zu sprechen, „Ich sehe, Sie alle fiebern einem großen Augenblick entgegen. Einem Augenblick, den ich als Sternstunde der modernen Kunst bezeichnen möchte.“ Er macht eine kunstvolle Pause und blickt lächeln nach unten, auf sein Publikum herab. „Nun, ich möchte Sie nicht allzu lange auf die Folter spannen, aber lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen. Wie Sie alle wissen, bin ich als Förderer verschiedenster Kunstrichtungen immer bestrebt, jungen, talentierten Künstlern ein Zuhause zu geben. Ein künstlerisches Zuhause wohlgemerkt.“
Ich mache mir ein paar Notizen, denn mein Chef will morgen einen Artikel über diese Vernissage in der „Elbe-Post“ bringen. Auch wenn es mir widerstrebt, werde ich doch auf die Eröffnungsrede Michael Kaspars eingehen müssen, der übrigens tatsächlich seit Jahren bemüht ist, in diesem heruntergekommenen Viertel für so etwas wie Kultur zu sorgen.
„Nun liebe Freunde“, fährt er gerade fort, „wird es Zeit, einer jungen Künstlerin Raum zu geben, die ich schon längst nicht mehr nur als Talent bezeichnen kann. Nein, uns erwarten hier die Werke einer begnadeten Künstlerin, die es in nicht allzu ferner Zukunft, und das kann ich mit Gewissheit sagen, die in nicht sehr ferner Zukunft Weltruhm erlangen wird. Meine Damen und Herren, freuen sie sich mit mir auf – Mathilda Eisenberg!“
Unter dem Applaus des Publikums steigt er die Treppe hinunter und macht den Weg frei für eine junge, schlanke Frau mit welligem schwarzem Haar. Sie trägt ein eng anliegendes beigefarbenes Kleid, das ihre Oberschenkel kaum bedeckt und den Blick auf die Ränder ihrer dunkelbraunen, durchsichtigen Strümpfe frei gibt. Um die nackten Schultern liegt ein zartes, rosafarbenes Tuch und ihre kleinen Füße stecken in roten Lackschuhen mit halbhohen Absätzen.
Sie lächelt und legt die Handflächen vor der Brust wie zum Gebet aneinander. Erst als der Applaus verebbt, beginnt sie zu sprechen. „Ich danke euch, Freunde“, sagt sie mit leiser, sanfter Stimme. „denn ich weiß, dass ihr jetzt viel lieber in einer der Kneipen sitzen würdet um euren tristen Alltag für ein paar Stunden zu vergessen.“ Eine Frau kichert und beifälliges Gemurmel ist zu vernehmen. „Nun, ihr habt euch entschieden, eine Stunde eurer wertvollen Zeit hier mit mir zu verbringen, dafür danke ich euch. Denn, auch wenn Herr Kaspar Recht behalten sollte, und aus mir mal eine bekannte Künstlerin werden sollte, was ich selbst übrigens noch bezweifle, so hättet ihr alle dazu beigetragen. Mit eurem Interesse an meiner Arbeit, aber auch mit eurer Arbeit, die ich darstellen durfte, oder eurem Einverständnis, euer Gesicht zu porträtieren beziehungsweise sogar euren Körper zu zeichnen.“ Die junge Künstlerin breitet ihre Arme aus, als wolle sie alle Anwesenden umarmen. „Herzlichen Dank für das alles, denn ihr seid es, die diese Ausstellung erst möglich gemacht haben.“ Sie steigt die Treppe ein paar Stufen hinunter, bleibt noch einmal stehen und setzt hinzu: „Und nun lasst mich endlich Bild für Bild enthüllen und zu jedem ein paar Worte sagen. Damit das nicht zu langweilig wird, stehen auf dem Tisch neben der Tür Wein, Sekt und auch Bier bereit. Greift zu, Freunde und bedient euch.“
Als sie zu dem besagten Tisch blickt, sieht sie auch mich neben der Tür stehen. Unsere Blicke treffen sich für eine Sekunde und ich sehe die Freude in ihren Augen aufflackern, ehe sie sich wieder den anderen Gästen zuwendet.
Mathilda und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Wir waren als Kinder eng befreundet. Schon in der Schulzeitung habe ich über ihre ersten Ausstellungen berichtet. Ihre Arbeiten haben mich damals begeistert. Wie oft habe ich bedauert, dass ich nicht so malen und zeichnen konnte, wie sie. Auch später habe ich ihre künstlerische Entwicklung immer verfolgen können. In jeder ihrer Ausstellungen bin ich gewesen. Allerdings habe ich in dieser Zeit auch viele Arbeiten von ihr gesehen, von denen ich nicht mehr so begeistert sein konnte.
Während Tilda, wie angekündigt, nach und nach ihre Bilder enthüllt und erklärt, mache ich mir weiter Notizen. Dann dränge ich mich zwischen ein paar Leuten hindurch und frage Mathilda, ob ich nachher ein Foto von ihr und Michael Kaspar für die Elbe-Post machen darf. „Warum nachher erst?“ fragt sie und streicht sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. Dann dreht sie sich um und ruft laut in den Raum: „Michael, kommst du mal, bitte!“
Auch der Galerist ist natürlich sofort bereit, sich mit seiner begnadeten Künstlerin ablichten zu lassen. Die anderen Gäste machen bereitwillig etwas Platz, so dass ich ein gestochen scharfes, schönes Foto hin bekomme.
Die Zeit vergeht und langsam leert sich der Raum. Auch Kaspar hat sich zurückgezogen. Max und ich stehen vor einem Bild und betrachten es nachdenklich. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sei einfach nur schwarz. Doch wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass es aus unterschiedlichen dunklen Tönen besteht. Dunkelgraue und dunkelblaue Flecken verlaufen in Tiefschwarze. An manchen Stellen scheinen etwas hellere Rauchschwaden aufzusteigen.
„Na, was meinst du, Tom?“ fragt Tilda, die plötzlich neben uns steht. Erschrocken fahre ich herum. Ich habe nicht gehört, dass sie näher gekommen ist. Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ich sehe das Schillern in ihren schönen dunkelbraunen Augen, das ich als Kind schon immer gemocht habe. Vom Sekt sind ihre Wangen leicht gerötet, ihre Lippen sind leicht geöffnet, so dass ihre blendend weißen Zähne zu sehen sind. Ich spüre beinahe, wie ihre Brust sich unter dem engen Kleid hebt und senkt. Außerdem geht ein betörender Duft von ihr aus. Dieses Parfum war bestimmt nicht billig, denke ich.
„Ich weiß nicht so Recht“, sage ich nachdenklich und zwinge mich, meine Blicke wieder dem Bild zuzuwenden. „Wenn du mich fragst, würde ich sagen: Industriegelände bei Nacht, vom Heller aus gesehen.“
Von Max kommt ein leises Prusten, Tilda sieht mich mit ihren hübschen braunen Augen verständnislos an und schüttelt den Kopf. „Und was denkst du, Max?“ fragt sie dann und sieht meinen Bruder an.
„Wenn ich das Bild da ansehe, beschleicht mich das gleiche Gefühl, als wenn ich in einer stockdunklen Nacht aufwache und aus dem Dachfenster über mir sehe.“ Max sieht Tilda an und setzt hinzu: „Mich beschleicht Angst, Tilda. Angst vor der Dunkelheit, vor der Einsamkeit in der Tiefe der Nacht.“
Mir verschlägt es die Sprache. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Bruder zu solch einer Ausdrucksweise fähig wäre. Und wie Tilda ihn ansieht! So habe ich ihre Augen kurz vor unserem ersten Kuss auf dem dunklen Schulhof nach der Abschlussfeier zum letzten Mal glitzern sehen.
Tilda zwinkert mir zu und verlässt uns, um die letzten anderen Gästen zu verabschieden. Ich frage mich, was mir dieses Augenzwinkern sagen sollte.
"Kommt ihr beiden noch ein paar Minuten mit zu mir hoch?" reißt mich Michael Kaspars Stimme aus meinen Gedanken.
Hinter ihm steigen wir die eiserne Wendeltreppe nach oben auf die Galerie. Mathilda folgt uns, nachdem sie die Tür hinter den letzten Gästen verschlossen hat.
In Kaspars kleiner Wohnung ist es fast funkel, nur eine alte Deckenlampe spendet ein schwaches Licht. Die Dachbalken und die alten Holzsäulen verströmen einen modrigen, feuchten Geruch. Sowohl die Sitzgarnitur in der Ecke wie auch alle anderen Möbel scheinen aus einer anderen Epoche zu stammen. Sie wirken uralt und sind es bestimmt auch.
"Ihr trinkt doch einen Tee mit, oder?" fragt Kaspar und holt Teetassen aus dem Küchenschrank. Er stellt die auf den niedrigen Couchtisch und wir setzen uns.
"Ich ziehe mich nur schnell um", sagt Tilda und verschwindet im Nebenzimmer. Kaspar gießt Tee ein und setzt sich zu uns. Genau in diesem Augenblick beginnt das Deckenlicht zu flackern und aus der Halle unten ertönt ein tiefer Sirenenton. Schulterzuckend sehen wir uns an. Kaspar kramt eine Packung Streichhölzer aus einem Schränkchen und brennt den Docht einer dicken Kerze an, die auf dem Tisch steht. Dann geht das Licht aus.
Kurz darauf kommt Mathilda zurück und lässt sich in einen der beiden Sessel fallen. Sie trägt jetzt abgenutzte Jeanshosen und einen rot-blau gestreiften Strickpullover. Tilda legt ihre nackten Füße neben mich auf die Couch. "Verdammte Stromsperrungen", knurrt sie.
Seit die VSG vor drei Jahren die letzten verbliebenen Energieversorgungsunternehmen aufgekauft hat, wird Strom nur noch kontingentiert abgegeben und in den ärmeren Vierteln zwischen zweiundzwanzig und sechs Uhr komplett abgeschaltet.
"Ja, damit müssen wir nun mal leben", meint Kaspar ruhig. "Zu Zeiten meiner Großeltern gab es genug Strom für alle und man lebte in Saus und Braus. Ihr jungen Leute kennt das gar nicht mehr."
"Strom wurde aus Wind, Wasser und Sonne gewonnen, aber die Erzeugung selbst war kostenintensiv und die Speicherung so gut wie unmöglich", ergänze ich. "Wer in die Schule gehen darf, lernt das."
Michael Kaspar sieht mich aufmerksam und nachdenklich an. Dann sagt er: "Wenn die Menschen sich einig geworden wären und ihre Energie, aber auch ihr Wissen, miteinander geteilt und sich gegenseitig geholfen hätten, wäre Alles möglich gewesen. Aber man musste sich ja lieber zerstreiten und sogar bekämpfen, weil jeder aus irgendeinem Grund neidisch auf den anderen war."
"Ist ja gut, Micha", sagt Tilda und zwinkert mir wieder zu. "Die tolle Staatengemeinschaft zerfiel, Konzerne machen aus allem, was sich ihnen bietet, Profit und gehen dabei über Leichen. Wir wissen das. Lasst uns jetzt bloß nicht mit Politik anfangen, Leute, der Tag war anstrengend genug. Hast du nicht noch was Härteres als Tee, Micha?"
Als dieser aufsteht, um eine Flasche Selbstgebrannten aus dem Schrank holt, sieht Tilda zu mir und sagt: "Und du könntest mir mal die Füße massieren, Tom. Ich komme sonst nachher nicht mehr nach Hause."
*****
Das schrille Klingeln des Telefons in der Diele reißt mich aus dem Schlaf. Ein Blick auf den historischen Wecker zeigt mir, dass es vier Uhr zweiunddreißig ist. Ich habe also etwas mehr als drei Stunden geschlafen. Na Klasse, denke ich. Aber wenn mein Telefon klingelt, muss etwas Wichtiges passiert sein, denn nur mein Chef würde es wagen, mich aus dem Bett zu holen.
Ich stehe also auf und tappe schlaftrunken in die Diele. Das Telefon schellt noch immer. "Ja, hallo. Was gibt's, Herr Bendler?"
"Machen Sie sich auf die Socken, Tom", mein Chef klingt mächtig aufgeregt, als er mir die Adresse gibt. "Da soll ein Mord passiert sein. Ich kann aber noch nichts Konkretes sagen. Aber die Quelle ist zuverlässig. Wenn Sie bis um sieben den Artikel fertig haben, kommt er noch in die Mittagsausgabe. Also ab die Post." Er legt auf.
So schnell es geht, ziehe ich mir was über. Den Artikel bis sieben Uhr fertig? Der Alte ist wohl verrückt. Ich habe keine Ahnung, wie ich das machen soll. Die Adresse ist ganz in der Nähe des Hafens. Ich habe fast fünfundvierzig Minuten Fußweg vor mir. Mein Fahrrad ist mir vorige Woche geklaut worden, und Bendler weiß das.
Die nächste böse Überraschung erwartet mich, als ich vor die Haustür trete. Es gießt in Strömen! Das geht echt nicht mehr zu toppen.
Ich setze zu einem Dauerlauf in Richtung Innenstadt an. Dabei muss ich aufpassen, dass die Kamera nicht nass wird. Eigentlich müsste es jetzt langsam hell werden, aber bei dem Wetter ist daran nicht zu denken.
Kurz vor dem Stadtzentrum gebe ich auf. Ich bin fix und fertig. Vor ein paar Stunden erst habe ich Tilda nach Hause begleitet, die in einem elenden Viertel im Westen der Stadt lebt. Vielleicht hätte ich auf ihr Angebot eingehen sollen, bei ihr zu schlafen. Bei ihr, wohlgemerkt, mehr ist nicht drin, nie drin gewesen, besser gesagt. Wir waren mal mörderisch verknallt in einander, aber das war noch in der Schulzeit. Seit dem sind wir einfach gute Freunde. Für eine längere Beziehung hat es bei keinem von uns beiden gereicht.
Aber wenn ich bei Tilda übernachtet hätte, hätte mich Bendlers Anruf nicht erreicht, und wer weiß, vielleicht hängt ja doch eine gute Story dran. Außerdem hätte ich mir einen neuerlichen Anschiss von meinem Chef eingefangen, wenn er mich nicht erreicht hätte. Ich glaube, er hat es sowieso schon auf mich abgesehen.
Endlich erreiche ich den Pirnaischen Platz. Am Innenstadtring stehen ein paar Fahrradtaxen. Ich gehe auf das vordere Vehikel zu. Der Fahrer, ein vielleicht fünfzehnjähriger Bengel, blickt mich müde an und hält die Hand auf. Ich drücke ihm einen Zehner hinein und klettere auf die Sitzbank unter dem Verdeck. Der Junge grinst unverschämt, als ich sage, dass ich zum Hafen will, und lässt den Schein in seiner Hosentasche verschwinden. Erst will ich noch anmerken, dass das viel zu viel ist, doch dann lasse ich es sein. Der Bengel schwingt sich in den Sattel und tritt wie ein Wilder in die Pedale.
Keine Viertelstunde später sind wir am Ziel. Die normalerweise einsame, um diese Zeit stockfinstere Straße ist in zuckendes Blau getaucht, überall wuseln Uniformierte herum. Vor den Eingang zu einem Firmengrundstück ist ein gelb-schwarzes Absperrband gespannt. Es scheint also tatsächlich etwas passiert zu sein. Über dem versperrten Torweg prangt ein schmiedeeisernes Schild mit der Aufschrift "Maschinen- und Anlagenbau Weber und Co. KG, seit 2187".
Ich gehe auf die beiden uniformierten Polizisten zu, die das Absperrband bewachen.
"Moin, moin" grüße ich höflich, doch die Beiden sehen mich an, als spräche ich Chinesisch. Ich zücke also meinen Presseausweis und halte ihnen den vor die Nase. "Berger, Elbe-Post", sage ich, "lassen Sie mich durch, bitte."
Einer der beiden Polizisten deutet auf das Absperrband. "Das ist ein Tatort ", sagt er, "und Sie bleiben schön hier stehen."
Gerade will ich ihm was von Pressefreiheit und so erzählen, da kommt ein schlanker gutaussehenden Mann aus der Tür des Gebäudes und auf uns zu. In wenigen Sekunden ist sein hellgrauer Anzug total durchgeweicht. "Lasst Herrn Berger durch", knurrt er die Uniformierten an, von denen einer sofort das Band anhebt, das mich bis jetzt von meiner Story getrennt hat. Ich reiche dem Zivilisten die Hand
"Guten Morgen, Herr Rosenthal", sage ich. Wir kennen uns seit ein paar Jahren. Wenn der Oberkommissar hier ist, muss es tatsächlich was Interessantes sein, denke ich. "Ich frage mich nur, wie ausgerechnet die Elbe-Post schon wieder Wind davon bekommen hat", meint Rosenthal. "Aber was soll's, wir sind hier sowieso gleich fertig."
In diesem Augenblick schleppen zwei Herren vom Bestattungsinstitut eine Bahre aus dem Haus, auf der eine zugedeckte Leiche liegt. "Moment, warten Sie mal" sage ich und trete an sie heran. Ich schlage das Tuch etwas zurück und sehe in das Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Mannes. Seine Züge sind panisch verzerrt, die weit geöffneten Augen starren in den Himmel. Auch sein Mund ist weit aufgerissen, in der einsetzenden Dämmerung kann ich seine schlechten Zähne sehen. Dann bemerke ich, dass auch sein Hals sperrangelweit offen steht. Offensichtlich hat ihm jemand mit viel Kraft und Schwung die Kehle durchgeschnitten.
Schnell ziehe ich meine Kamera unter dem Mantel hervor und mache zwei, drei Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln. Wie gut, denke ich dabei, dass es keine solchen Beschränkungen für uns Reporter mehr gibt, wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Im Gegenteil, es gibt nur noch wenige Situationen, in denen Andere bestimmen dürfen, über was wir berichten und was wir fotografieren dürfen.
"So, das reicht jetzt aber", meint Oberkommissar Rosenthal dann und deckt das Gesicht des Toten wieder zu. "Kommen Sie, Berger, ich zeige Ihnen den Tatort. Die Spurensicherung ist gerade fertig geworden." Er deutet auf den Hauseingang und ich folge ihm hinein. Kaum dass wir das Gebäude betreten haben, nehme ich meinen Hut ab, nicht etwa aus Pietätsgründen, sondern um das Regenwasser abzuschütteln, das mir von der Hutkrempe in den Kragen tropft. Dann kämpfe ich mich durch jede Menge Leute, die sich in dem engen Flur aufhalten.
Der eigentliche Tatort ist ein kleines Büro, das durch die starken Scheinwerfer der Spurensicherung komplett ausgeleuchtet wird. Das Dröhnen des Generators auf dem Hof ist bis hierher zu hören und lässt sogar die Wände des Büros vibrieren.
Ich muss sagen, ich habe schon jede Menge Tatorte gesehen, auch ziemlich schlimme. Aber dieser Anblick ist im ersten Moment selbst für mich zu viel. Kurz presse ich mir die Hand vor den Mund, muss einen Brechreiz unterdrücken und für ein paar Sekunden die Augen schließen. So viel Blut habe ich noch nie gesehen. Es ist über den gesamten Schreibtisch gelaufen, an Schränke, auf Aktenregale und sogar bis an die Decke gespritzt und hat sich dann auf dem Fußboden in riesigen Lachen gesammelt. Deutlich ist zu sehen, dass der Tote vom Stuhl hinter dem Schreibtisch auf den Boden gesackt ist. An genau dieser Stelle ist der Boden frei von Blut. Nachdem der Mörder seinem Opfer die Kehle aufgeschnitten hatte, hat er vermutlich etwas gesucht. Aus dem Schreibtisch sind alle Schubladen herausgerissen. Ihr Inhalt liegt auf dem Boden verstreut und ist in die Blutlachen gefallen, genauso wie die aus den Regalen gerissenen Akten. Einzelne Blätter liegen auf dem Fußboden verteilt, dazwischen Geldscheine, die aus einer offensichtlich aufgehebelten Kassette stammen, die noch auf dem Schreibtisch steht.
Nachdem ich ein paar Fotos gemacht habe, verlasse ich so schnell es geht, diesen grausigen Ort.
Rosenthal steht am geöffneten Fenster des Treppenhauses, eine halbe Treppe höher und raucht. Ich geselle mich zu ihm. "Können Sie mir schon was zu dem Opfer sagen", frage ich.
Der Oberkommissar sieht mich kurz an und sagt dann: "Viel weiß ich auch noch nicht. Der Tote heißt Friedhelm Walther, dreiundfünfzig, verheiratet, keine Kinder, wohnte in der Friedrichstadt und hat hier als Hauptbuchhalter gearbeitet. Der Einzige, mit dem ich bis jetzt sprechen konnte, ist der Pförtner, der ihn heute früh gefunden hat. Walther soll schon ewig hier gearbeitet haben und keine näheren Kontakte mit jemandem aus der Firma gepflegt haben. Also dürfte er auch keine Feinde gehabt haben."
"Auf den ersten Blick sieht es für mich wie ein Einbruch aus", sage ich und starre in den noch immer strömenden Regen hinaus.
Rosenthal schüttelt den Kopf. "Zwei Tatsachen sprechen dagegen", meint er und sieht mich dabei ebenfalls nicht an. "Es gibt keinerlei Einbruchsspuren", er schnippt seine Kippe zum Fenster hinaus, "aber gut, Haustür und Bürotür werden beide nicht abgeschlossen sein, da Walther noch gearbeitet zu haben scheint, aber er muss auch am Schreibtisch sitzen geblieben sein, als der Täter das Büro betrat. Also gehe ich davon aus, dass er den Täter kannte. Vermutlich ist es ein Mitarbeiter der Firma gewesen."
"Oder aber er ist über seiner Arbeit am Schreibtisch eingeschlafen", sage ich, "und hat das Kommen des Mörders nicht bemerkt. Dann könnte es jeder gewesen sein."
Der Oberkommissar sieht mich überrascht an. Dann zieht er langsam die Schultern hoch und lässt sie wieder sinken. "Möglich", meint er dann nachdenklich.
Ich will noch mit dem Pförtner reden und muss dann schnell den Artikel schreiben, darum verabschiede ich mich von Rosenthal und gehe durch den Regen zu der kleinen Loge neben dem Tor.
Gerhard Wendland ist schon über siebzig, hat kein einziges Haar mehr auf dem Kopf, dafür aber einen dichten, schlohweißen Bart, der ihm bis fast auf die Brust reicht. Er hockt in der engen, dunklen Bude neben dem Eingangstor. Ich habe sie vorhin gar nicht bemerkt. Der Alte blickt kurz zu mir herüber und murmelt einen Gruß, ehe er wieder aus dem kleinen Fensterchen starrt, wo gerade die ersten Arbeiter der Frühschicht das Tor passieren. Die beiden Polizisten haben ihren Posten inzwischen verlassen.
"Morgen, Herr Wendland", grüße ich freundlich und stelle mich vor. "Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Darf ich?" Ich deute auf einen dreibeinigen Hocker, der neben der Tür steht und setze mich, nachdem der Alte genickt hat.
"Hab aber dem Kommissar schon alles gesagt, was ich weiß", meint Wendland ohne mich anzusehen.
"Nun, so wie ich gehört habe, arbeiten Sie schon ewig hier", sage ich und fahre fort, da keine Reaktion seinerseits erfolgt. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit Friedhelm Walther nie gesprochen haben. Oder gehörte er zu den Eingebildeten, den Leuten, die mit solch einfachen Menschen wie Ihnen nicht reden?"
"Nee, der Friedhelm nicht", sagt Wendland nach einer kurzen Pause und sieht mich dann an. "Der war ganz in Ordnung. Ab und zu haben wir uns schon unterhalten, aber mehr so belangloses Zeug eben, Wetter und so, naja, Sie wissen schon." Ja, denke ich, was man eben so sagt, wenn man eigentlich nichts sagen will. "Der hat immer davon geträumt, mal nicht mehr arbeiten zu müssen", fährt Wendland plötzlich fort, "wollte verreisen und so, die letzten paar Jahre genießen, hat er gesagt. Würde aber wohl nichts draus werden, hat er gemeint. Kann er sich doch nicht leisten. Es sei denn, er würde mal so ein richtig krummen Ding drehen." Wendland lacht. "Aber das hat der nur so dahergeredet, hätte der nie gemacht, nicht der Friedhelm, der nicht."
"So, wer denn dann?" frage ich. Mein Interesse ist geweckt.
Der Alte schüttelt den Kopf. "Kann ich so genau nicht sagen", meint er dann ernst, "traue aber keinem hier über den Weg. Sind viele Ganoven unter den Arbeitern und bestimmt auch unter den Chefs, denke ich. Die machen doch alle irgendwelche krummen Geschäfte."
"Aber der Friedhelm nicht, oder?" frage ich nach und Wendland sieht mich nachdenklich an.
"Nee, der nicht", sagt er dann und fährt sich mit den gespreizten Fingern einer Hand durch den Bart. Es knistert ganz leise. "Der nicht", betont er noch einmal und versinkt dann in Schweigen. Ich habe den Eindruck, er versucht, sich an Etwas zu erinnern und warte noch einen Moment lang ab. Aber von dem Alten kommt nichts mehr. Also verabschiede ich mich und gehe in den Regen hinaus. Im Kopf schreibe ich schon an dem kurzen Artikel über den Mord im Büro.
In der Friedrichstraße kenne ich eine nette, saubere Schreibstube. Hier kann ich mich aufwärmen, meinen Artikel schreiben und auch gleich versenden. Früher konnte man das von zu Hause oder sogar unterwegs erledigen, aber das kann sich kaum noch jemand leisten. Die Kommunikationstechnik steht wieder einmal am Anfang, die Rohstoffreserven sind genauso begrenzt wie die Energie. Ja, die Wohlstandesepoche hat nur wenige Jahrzehnte Bestand gehabt. Die Menschen haben gelebt, als gebe es kein Morgen und alle Ressourcen seien unerschöpflich. Die Realität war allerdings eine andere und wir müssen nun seit über einhundert Jahren damit klarkommen, was unsere Vorfahren uns übriggelassen haben.
Bettinas Schreibstube ist angenehm warm, keines der fünf Pulte ist um diese Zeit besetzt. Ich ziehe meinen nassen Trenchcoat aus und hänge ihn zusammen mit meinem Hut an die Garderobe. Dann setze ich mich an das Pult an der linken Wand und schalte es ein.
Bettina Arnhold, die Inhaberin, lehnt mit dem Rücken an der Tür zum Nebenraum. Sie wird knapp über fünfzig sein, ist untersetzt und stämmig, hat aber ein noch immer ausgesprochen hübsches Gesicht. Auch das Blond ihrer langen Locken scheint tatsächlich noch echt zu sein.
"Hallo, Fremder", sagt sie mit rauer Stimme und lacht, denn wir kennen uns schon viele Jahre, "magst du einen Kaffee? Siehst ganz so aus, als könntest du einen brauchen."
Ich hebe die Schultern und schüttle den Kopf. "Es sei denn, du gewährt mir Kredit", sage ich, "bin gerade knapp bei Kasse."
"Wann denn mal nicht." Sie grinst, geht in den Nebenraum und kommt gleich darauf mit einem großen Pott heißen Kaffee zurück. "Hier", meint sie, "geht auf's Haus, mein Guter."
Inzwischen leuchtet das in die Rückwand des Schreibpultes eingelassene Display auf und die Tastatur in der Tischplatte blinkt, um anzuzeigen, dass sie gleich einsatzbereit sein wird. Ich nehme einen Schluck des schwarzen, heißen und verteufelt bitteren Getränks und sogleich fühle ich mich besser. Das Blinken vor mir stabilisiert sich zu einem schwachen Leuchten und ich beginne zu schreiben.
Das vorhin Gesehene ist in wenigen Sätzen geschildert, aber mich erfasst selbst beim Tippen des Textes wieder das Grauen, das ich an diesem Tatort verspürt habe. Dementsprechend plastisch fällt meine Schilderung aus. Während ich wieder den Geruch des vielen Blutes in der Nase spüre und erneut ein Brechreiz in mir aufsteigt, stelle ich die Kamera auf die Verbindungsfläche des Pultes und füge ein paar Bilder in das Dokument ein. Welche davon später in den Artikel aufgenommen werden, entscheidet dann Ludwig Petermann, mein Redakteur bei der Elbe-Post.
"Schreibst du über den Mord bei Webers, Tom?". Bettina beugt sich neben mir nach vorn um auf das Display zu schauen und mein Blick fällt umgehend, wie magisch angezogen, in den tiefen Ausschnitt ihrer Bluse.
"Woher weißt du denn schon davon?" Ich frage nur rhetorisch, da ich mir die Antwort auch selbst geben könnte. Solcherart Neuigkeiten verbreiten sich noch immer so schnell wie ein Lauffeuer, gerade in diesem Viertel. Bettina grinst nur und zuckt die Schultern.
Ich schließe meinen Artikel und versende ihn sofort an die Redaktion. Dann werfe ich einen Blick auf die nostalgische Uhr an der Wand. Es ist zehn Minuten vor um Sieben, ich habe es gerade noch so geschafft. Dann lächle ich Bettina an und zwinkere ihr verschwörerisch zu, bevor ich in Ruhe meinen kalt gewordenen Kaffee austrinke.
*****
Das kleine Café am Ende des Großen Gartens ist um diese Zeit so gut wie leer. Außer mir ist nur ein junges Liebespaar im Raum, das an einem Tisch in der Ecke sitzt und das ich kaum beachte. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt der Mittagsausgabe der Elbe-Post. Ehrlich gesagt lese ich die Zeitung, für die ich arbeite, sonst nie, aber der Mordfall vorgestern hat mich doch mehr mitgenommen, als ich gedacht habe. Gestern und heute Vormittag war ich voll und ganz mit einer anderen Aufgabe beschäftigt, die Bendler mir übertragen hat. Dabei habe ich Stunden auf einem stinkenden Fischerkahn zugebracht und anschließend ewig gebraucht, um den Gestank wieder loszuwerden. Ich frage mich, warum der Chef in letzter Zeit immer mir solche Aufträge gibt. Manchmal habe ich richtig Lust, alles hinzuschmeißen und mir was Neues zu suchen, aber das ist heutzutage nicht so einfach, wie man denkt. Den Leitartikel hat übrigens wieder einmal Annalena Wiegand schreiben dürfen, die junge, hübsche Kollegin aus der Tratsch- und Klatschredaktion. Es geht um die Liebschaften irgendeines unbedeutenden Schauspielers. Unsere Zeitung verkommt eben immer mehr, sage ich mir, während ich auf das bräunliche, fleckige Papier starre. Es wird neuerdings aus irgendwelchen Pflanzenfasern und Bioabfällen hergestellt, wodurch es so merkwürdig aussieht. Aber es muss ja auch schnell wieder biologisch abbaubar sein, da kein Mensch auf die Idee käme, die Zeitung länger als ein paar Minuten aufzuheben. Mit dem Niedergang der digitalen Medien hat die Papierindustrie zwar einen unerwarteten Aufschwung erhalten, aber zu welchem Preis!
Auf Seite fünf entdecken ich dann endlich die kleine Notiz, auf die mich Ludwig heute hingewiesen hat. "Grauenhafter Mordfall aufgeklärt" lautet die Überschrift. In wenigen Zeilen berichtet er darüber, dass die Polizeiinspektion mitgeteilt hat, der Mord an dem Buchhalter der Maschinenbaufirma in der Friedrichstadt sei bereits aufgeklärt und die Verhaftung des Täters stünde unmittelbar bevor. Näheres folge in der Abendausgabe.
Das leise Quietschen der Eingangstür lässt mich Aufblicken, denn ich warte hier auf Max und er ist schon spät dran heute. Doch nicht mein Bruder betritt das Café, sondern Kriminaloberkommissar Rosenthal. Ohne sich groß umzusehen, steuert er auf meinen Tisch zu und setzt sich auf einen freien Stuhl. "Gut, das ich Sie hier antreffe, Berger", sagt er ohne einen Gruß. "Ich muss mit Ihnen reden."
Er hat ganz genau gewusst, dass ich um diese Uhrzeit hier bin, denke ich. Und er hat auch genau gewusst, an welchem Tisch ich immer sitze. Als ich ihn ansehe, erschrecke ich. Rosenthal sieht um Jahre gealtert aus. Sein Gesicht ist aschfahl, die Augen trüb, als hätte er seit unserem letzten Treffen am Tatort nicht geschlafen, dafür aber ausgiebig gesoffen, und seine Hände zittern auch als er sie in den Manteltaschen zu verstecken sucht.
Die Bedienung kommt an den Tisch, ehe ich antworten kann, und fragt nach seinen Wünschen. Rosenthal starrt auf die Tischplatte und murmelt dann: "Einen Pott Kaffee und eine Bockwurst, bitte." Die Kellnerin ist schon im Weggehen, als er sich umdreht und ihr hinterherruft: "Aber ohne diesen blöden künstlichen Senfersatz!" Dann wendet er sich mir zu und sagt: "Dann esse ich die Wurst lieber so. Dieses eklige Zeug kriege ich nicht runter."
"Naja", sage ich, "Dann sollten Sie die Wurst aber auch weglassen, Rosenthal, da wollen Sie erst recht nicht wissen, woraus die besteht, aus Fleisch jedenfalls nicht."
Rosenthal winkt ab und schweigt. Ich tippe auf die Zeitung und sage: "Das ging aber schnell. Glückwunsch. Ist man gar nicht mehr gewohnt, solch schnellen Ermittlungserfolge."
"Leg bloß dieses Mistblatt weg", fährt Rosenthal mich an, urplötzlich ins Du wechselnd. "Ist das Scheißpapier nicht wert, auf dem der Mist gedruckt wird, verdammt noch mal."
Erstaunt, ja auch etwas erschrocken, falte ich das Blatt zusammen und lege es auf den freien Stuhl neben mir. So habe ich den Oberkommissar noch nie sprechen hören. Ich erwidere aber nichts und so schweigen wir uns an, bis die Bedienung seine Bestellung bringt.
Rosenthal trinkt einen großen Schluck des heißen Kaffees und beißt in die Bockwurst. Dann legt er sie auf dem Teller ab, grinst mich plötzlich an und sagt: "Hast Recht, Berger." Er schiebt den Teller weg und wendet sich mir zu.
"Von wegen: Aufgeklärt", sagt er dann leise. Seine Stimme klingt jetzt fest und ungewöhnlich hart. "Eingestellt, ist wohl der bessere Ausdruck. Sie haben die Ermittlungen einfach eingestellt."
"Ich dachte, Sie sind der zuständige Ermittler, Rosenthal", sage ich verwirrt.
Er nickt und grinst wieder so merkwürdig. "Dachte ich auch", meint er dann, "bis mein Chef mir heute Mittag gesagt hat, dass der Fall abgeschlossen ist."
"Aber", ich deute auf die Zeitung neben mir. "ich denke, die Verhaftung des Täters steht kurz bevor?"
"So sah es heute früh auch noch aus." Rosenthal reibt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er sieht echt fertig aus. Wahrscheinlich hat er rund im die Uhr Ermittlungen angestellt. Dann seufzt er und erzählt, dass sie bei den ersten Befragungen einen Zeugen gefunden haben, der einen Tag vor dem Mord mitbekommen hat, wie sich Friedhelm Walther mit einem seiner Mitarbeiter unterhielt. "Der Zeuge fand das nicht besonders interessant, da die beiden sich nicht etwa gestritten, sondern nur lauter als gewöhnlich gesprochen haben", meint Rosenthal. "Es ging wohl um Irgendetwas, das dem Mitarbeiter aufgefallen oder zu Ohren gekommen war, und das Walther prüfen, beziehungsweise der Geschäftsleitung mitteilen sollte. Walther habe das auch versprochen, und dann seien sie auseinandergegangen." Der Kriminalist sieht mich achselzuckend an. "Also eigentlich nichts Besonderes, doch in der nächsten Nacht wurde der Hauptbuchhalter ermordet."
"Und?", frage ich und weiß nicht so richtig, worauf Rosenthal hinaus will.
"Der Mitarbeiter, der mit Walther gesprochen hat, hieß Falk Rosenthal." Der Oberkommissar schweigt einen Augenblick und mir wird ganz seltsam zu Mute. Langsam beginne ich zu begreifen. Schließlich spricht Rosenthal weiter. "Falk ist mein jüngerer Bruder. Er kam noch am selben Abend zu mir und erzählte, er habe vor ein paar Wochen von einem Freund erfahren, dass irgendwer in der Firma irgendwelche krummen Geschäfte macht, die über die Buchhaltung laufen müssen. Um was es dabei im Einzelnen handele, wisse er aber noch nicht." Rosenthal unterbricht sich erneut und sieht mich an.
"Okay", sage ich, "jemand macht also krumme Geschäfte, und der Hauptbuchhalter soll prüfen, ob er Unstimmigkeiten in der Buchhaltung finden kann. Und weiter?"
"Falk hat ein paar Wochen auf eigene Faust recherchiert, ehe er Walther eingeweiht hat, ist aber nicht vorangekommen. Nachdem er mit seinem Vorgesetzten sprach, hatte er aber den Eindruck, dass dieser ihm keinen Glauben schenken wollte oder aber, dass der selbst seine Finger im Spiel haben könnte. Deshalb kam er an diesem Abend zu mir und erzählte mir das alles." Rosenthal zieht ein kleines, schwarzes Notizbuch aus der Manteltasche und schiebt es mir über den Tisch. "Falk gab mir seine Aufzeichnungen. Für den Fall, dass ihm etwas passieren würde, sagte er."
Noch immer kann ich nicht ganz folgen. Fragend sehe ich den Oberkommissar an und warte darauf, dass er weiterspricht. Rosenthal trinkt langsam seinen Kaffee aus und fährt dann fort. "Sie können sich vorstellen, Berger, wie betroffen ich war, als ich nur etwas mehr als vierundzwanzig Stunden später mit den Ermittlungen zum Mord an Friedhelm Walther beauftragt wurde. Falk hatte also Recht gehabt. Irgendetwas geht in der Firma nicht mit rechten Dingen zu. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Nach den ersten Zeugenbefragungen wurde ich von dem Fall abgezogen, da mein Vorgesetzter Falk als Verdächtigen ansah."
"Wieso das denn?" Mein Interesse ist geweckt. "Er hat seinen Chef doch nur auf mögliche Missstände hingewiesen und ihn um Unterstützung bei der Klärung der Sache gebeten."
Rosenthal nickt. "Das stimmt, Berger. Aber er hat auch anderen Kollegen gegenüber durchblicken lassen, dass er Walther nach dem Gespräch nicht mehr ganz traut. Dadurch geriet er in Verdacht, Walther noch einmal aufgesucht und ihn zur Rede gestellt zu haben. Das Gespräch sei dann möglicherweise aus dem Ruder gelaufen und Falk hätte Walther getötet." Wieder versinkt Rosenthal in Schweigen und reibt seine Schläfen.
"Das lässt sich doch aber alles klären", sage ich, "Ihr Bruder wird doch bestimmt etwas dazu sagen können. Bestenfalls hat er ja auch ein gutes Alibi."
Rosenthal schüttelt den Kopf und sieht mich jetzt voller Verzweiflung an. "Nein", sagt er leise, "Als meine Kollegen ihn zur Vernehmung auf die Dienststelle holen wollten, fanden Sie ihn tot in seiner Wohnung. Falk muss sich gestern Abend erhängt haben."
Mir verschlägt es die Sprache. Jetzt kann ich auch den grässlichen Zustand verstehen, in dem Rosenthal hier aufgetaucht ist. Eine ganze Weile sehen wir uns wortlos an, dann sage ich: "Sie glauben aber nicht daran, oder?"
"Falk wäre zu einem Mord nicht fähig gewesen." Rosenthals Stimme klingt gepresst, seine Worte kommen nur stockend aus seinem Mund. "Angenommen, es stimmt, was meine Kollegen vermuten, und Falk ist mit Walther in Streit geraten, dann hätte er vielleicht ein Messer genommen und auf ihn eingestochen. Aber das, Sie haben den Tatort ja gesehen, Berger, das zeugt doch nicht von einer Tötung im Streit! Das war doch ein eiskalter, geplanter Mord. So tötet man doch nicht in einem Streit!" Er schüttelt verzweifelt den Kopf.
"Das müssen Ihre Kollegen doch aber auch gesehen haben."
"Sicher haben sie das", Rosenthal senkt den Kopf, "aber wir haben viel Arbeit, Berger. Jeder aufgeklärte Mord ist gut für's Image und gut für die Statistik. Falks Tod wird als Geständnis angesehen und der Fall als erledigt zu den Akten gelegt." Dann sieht er sich um. Das Pärchen ist längst gegangen und wir sind allein im Raum. "Ich kann nicht weiter an der Sache dranbleiben", sagt er ganz leise. "Sie als Journalist können sich frei bewegen und jeden befragen, den Sie wollen. Deshalb bitte ich Sie, Berger, führen Sie die Ermittlungen für mich fort. Klären Sie auf, auf was mein Bruder herausgefunden hat und wem er auf die Füße getreten ist. Ich muss wissen, wer ihn auf dem Gewissen hat, verstehen Sie das?"
"Ja, das verstehe ich." Ich bin mehr als überrascht von dem, was Rosenthal da von mir verlangt. "Aber wieso soll ihn jemand auf dem Gewissen haben? Ich denke, er hat..."
"Falk hat sich nicht umgebracht", fällt Rosenthal mir ins Wort. "Mein Bruder hätte sich nie das Leben genommen, unter gar keinen Umständen. Und außerdem..." Seine Stimme wird noch leiser, er flüstert nur noch. "Der Gerichtsmediziner hat mir gegen zehn ES anvertraut, dass er am Hals meines Bruders eine doppelte Strangmarke festgestellt hat."
Die besagten Energiescheine sind zwar keine offizielle Währung, werden aber oft als solche eingesetzt. Das System funktioniert folgendermaßen: Man schließt einen Vertrag mit seinem Stromversorger, also der VSG, einen anderen gibt es ja kaum noch, über eine bestimmte Anzahl Stunden, in denen man im Monat mit Strom versorgt wird, ab. Ist das vereinbarte Kontingent aufgebraucht, wird der Strom einfach abgestellt. Spart man allerdings Strom ein, erhält man von der VSG Gutscheine über die eingesparten Stunden. Diese kann man dann bei Bedarf einlösen, oder aber jemand anderen übertragen. Die VSG fragt nicht, ob die eingelöst Gutscheine an die Person ausgegeben wurden, die sie einlöst.
"Also hat vermutlich jemand Ihren Bruder erdrosselt und dann aufgehängt", stelle ich sachkundig fest.
"Genau. Oder er hat es erst einmal erfolglos versucht, und dann den Versuch wiederholt, wie es im Abschlussbericht steht." Rosenthal klingt total verbittert. "Mir sind aber die Hände gebunden. Deshalb muss ich Sie bitten, herauszufinden, was genau da passiert ist. Aber bitte: Kein Wort davon in die Zeitung, Berger! Jedenfalls nicht, bevor die Sache endgültig aufgeklärt ist."
Ich nicke. Es ist eh nicht mein Ding, über Etwas zu schreiben, von dem noch nicht einmal ich selbst weiß, was ich davon halten soll. In Gedanken blättere ich das kleine Notizbuch durch. Ein paar Namen, teilweise durchgestrichen, sehe ich, wenige Telefonnummern, Adressen, manche nur teilweise, dazu Anmerkungen wie: möglich, nein, unbedingt fragen und so. Ich sehe Rosenthal an. "Hat Ihr Bruder was dazu gesagt? Ich würde gerne wissen, ob sich das alles auf diesen Fall bezieht, oder ob der Inhalt mehr oder weniger allgemeiner Natur ist."
"Falk hat nur gemeint, er hat schon mit einigen Leuten über die Sache gesprochen." Rosenthal zuckt mit den Schultern, "Ich gehe davon aus, dass sich die Notizen nur darauf beziehen, was er überprüft hat. Allerdings habe ich beim Durchsehen nichts gefunden, was uns weiterhelfen könnte."
Ich nehme das Büchlein an mich und stecke es ein. "Ich werde mein Bestes versuchen", sage ich, "aber versprechen kann ich nichts."
"Was willst du versuchen?" Ohne dass ich es bemerkt habe, ist Max hereingekommen und an den Tisch getreten. Auch Rosenthal schaut erschrocken auf. Keiner von uns hat in den letzten Minuten auf die Tür geachtet.
Max setzt sich und winkt der Kellnerin. Als die kommt, bestellt Max sich ein Bier und Rosenthal zieht seine Geldbörse aus der Manteltasche. "Zahlen, bitte" knurrt er, drückt der jungen Frau einen Schein in die Hand und steht auf. Als er fast an der Tür ist, dreht er sich noch einmal um und sagt: "Sie sollten auf jeden Fall mit diesem Georg Kaltenbach reden, von dem soll Falk den Tipp bekommen haben, Berger."
"Was für einen Tipp?" fragt Max. Kaum dass der Oberkommissar das Café verlassen hat.
Ich warte, bis die Bedienung das Bier gebracht und sich wieder zurückgezogen hat, dann weihe ich Max kurz und knapp in die Sache ein, die Rosenthal mir da gerade angetragen hat.
Mein Bruder pfeift leise durch die Zähne. "Sei bloß vorsichtig, Tom", meint er dann, "wenn da was dran ist, kann es ganz schön gefährlich werden. Dass die Burschen keinen Spaß verstehen, siehst du ja. Zwei Morde in so kurzer Zeit? Scheint sich tatsächlich um was Großes zu handeln." Dann sieht er mich eine Weile nachdenklich an. "Du wirst Hilfe brauchen, Tom", meint er. "Ich habe gerade keinen anderen Job, also, wenn du willst, ich bin dabei."
"In Ordnung. Denke, dass ich deine Hilfe brauchen kann", sage ich, auch wenn ich noch nicht so genau weiß, wie ich vorgehen soll. Zuerst werde ich wohl tatsächlich mal mit diesem Kaltenbach sprechen müssen, dann sehe ich weiter.
"Ich habe übrigens die ganze Zeit gegrübelt, woher ich den Typ kenne", sagt Max und deutet auf die Zeitung neben mir. "Diesen Walther meine ich. Gerade eben ist es mir eingefallen."
"Ja, und? Du hast ihn irgendwo gesehen oder mal getroffen, wie soll uns das helfen? Wer die beiden Opfer sind, wissen wir ja."
"Nicht wer", Max grinst, "die Frage ist: Wo haben wir ihn gesehen und mit wem?"
Verständnislos sehe ich meinen Bruder an. Wie meint er das?
"Na, überleg doch mal." Max sieht mich erwartungsvoll an.
"Keine Ahnung", sage ich, "als ich den Kerl zum ersten Mal gesehen habe, hatte jemand seinen Hals so weit es geht aufgeschnitten. Sah nicht gerade schön aus."
Max schüttelt den Kopf. "Stimmt nicht, Tom." Er beugt sich etwas nach vorn und sagt leise: "Der Typ war auf Tildas Vernissage, Tom. Und er hat dort mit einer äußerst heißen Braut gesprochen, mein Lieber. Jetzt habe ich wenigstens einen Grund, die kennenzulernen."
*****
Obwohl es noch zeitiger Nachmittag ist, beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wie immer in dieser Gegend. Mathilda wohnt noch immer in dem Haus, in dem sie schon als Kind mit ihren Eltern gelebt hat. Die Siedlung im Westen der Stadt ist fast völlig verfallen und verwahrlost. Triste, sechsgeschossige Betonbauten reihen sich hier aneinander, viele stehen leer oder sind zum Teil abgerissen worden, ehe sie dem Verfall preisgegeben wurden. Vor fast hundert Jahren hat man dieses Stadtviertel dem Erdboden gleich machen und neu aufbauen wollen, aber beim Wollen ist es dann auch geblieben. Jetzt leben hier nur noch wenige Menschen, die meisten ohne Strom, manche sogar ohne Wasserversorgung. Die alten Häuser scheinen schweren, stinkenden Dunst auszuatmen und über ihnen liegt ein Hauch von Verwesung und Unrat. Und trotzdem ist es jetzt am Tage noch lange nicht so unheimlich, ja gruselig, wie nachts. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich daran denke, was ich gefühlt habe, als ich Tilda nach der Vernissage nach Hause gebracht habe.
"Wie kann man nur hier leben", frage ich und schaue Max von der Seite her an. "Ich habe nie verstanden, warum Tilda nicht wenigstens in die Friedrichstadt hinüber gezogen ist." Max antwortet mir nicht, zuckt nur kurz mit den Schultern. Also sinniere ich weiter. "Klar, die alten Buden hier gehören niemandem mehr und man braucht also keine Miete zu zahlen, aber dafür muss man doch täglich damit rechnen, dass das Haus abends nicht mehr steht, wenn man von Arbeit kommt. Eines Tages fällt das hier doch alles zusammen."
Vor einer Ruine, von der nur noch die untersten beiden Etagen vorhanden sind, von Efeu fast total überwuchert, bleibt Max stehen. Türen und Fenster sind nur noch Löcher in den Wänden und wo früher das Treppenhaus war, wächst jetzt eine Birke. "Das war mal unser Zuhause", sagt Max nachdenklich, "Kaum zu glauben, dass das gerade mal etwas mehr als zwanzig Jahre her ist."
"Da hast du Recht, Max", sage ich, "aber ich würde auf keinen Fall wieder hier her zurückwollen. Komm weiter, wir sind gleich da."
Das Haus, das wir nach wenigen Schritten betreten, ist in weniger baufälligem Zustand als die anderen der Straße. Die Haustür ist unverschlossen und wir steigen die Treppe in die vierte Etage hinauf. Ab der zweiten fehlt das Geländer und es tut sich ein gefährlicher Abgrund rechts von uns auf.
"Verflucht", schimpft Max und hält sich links, nah an der Hauswand. Ich denke mir meinen Teil. Dass er Höhenangst hat, weiß ich schon lange.
Tilda öffnet auf mein Klopfen sofort, als habe sie bereits hinter der Tür gewartet. Sie hat heute ein selbstgestricktes Kleid aus dunkelblauer, und Strumpfhosen aus hellgrauer, Wolle an. "Hallo, kommt rein", sagt sie und streicht sich mit einer Hand durch das lange, dunkle Haar und gibt die Tür frei.
Im Gegensatz zum maroden Zustand des Hauses ist die Wohnung hell und sauber. Alle Möbelstücke, die wir sehen können, sind aus hellem, echtem Holz, an dem Wänden hängen Bilder, die aber nicht von ihr gemalt worden, und im Wohnzimmer stehen in großen Holzkübeln mehrere gewaltige Grünpflanzen. Erstaunt bleibe ich in der Tür zum Wohnzimmer stehen, während Max bereits auf dem Sofa Platz nimmt. Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren eine so schön eingerichtete Wohnung gesehen zu haben.
"Setz dich doch", sagt Mathilda und deutet auf einen Sessel. "Sagt, wenn es euch kalt ist, ich habe drüben ein paar Decken. Die Heizung funktioniert nämlich schon ewig nicht mehr richtig."
Während ich mich setze, nimmt sie auf dem anderen Sessel Platz. Sie zieht die Knie an und die Füße auf die Sitzfläche. "So, nun sagt, wie ich euch helfen kann", sagt die dann.
Ich schildere ihr kurz, warum wir hier sind. Als ich sie gestern Abend in der Galerie aufgesucht habe, war mir noch zu viel Betrieb. Deswegen haben wir uns für heute hier bei ihr verabredet.
"Der Name Walther sagt mir zwar nichts", meint sie dann, "aber zeig mir mal sein Bild. Vielleicht erinnere ich mich an sein Gesicht."
Ich ziehe die ausgedruckten Fotos aus der Tasche und lege sie auf den Tisch. "Die Papierqualität ist zwar nicht besonders, aber ich denke, die Personen sind gut zu erkennen."
Tilda nimmt die wenigen Bilder in die Hand und nickt dann. "Den Mann habe ich gesehen, kenne aber seinen Namen nicht. Er war schon zu anderen Ausstellungen in der Galerie und ich habe auch schon ein oder zwei Mal mit ihm gesprochen. Er vertritt merkwürdige Ansichten, besucht aber trotzdem die Ausstellungen. Mir war er immer etwas suspekt."
"Und die Frau?" Max sieht Tilda gespannt an. "Siehst du die Rothaarige? Einmal steht sie im Hintergrund, dann scheint sie in ein Gespräch mit Friedhelm Walther vertieft zu sein."
"Ja", sagt Tilda, nachdem sie die Fotos noch einmal durchgesehen hat, "die ist mir an dem Abend besonders aufgefallen, schon allein deshalb, weil sie nicht wirklich dazu zu gehören schien. Sie wirkte irgendwie, wie soll ich sagen, deplatziert dort."
"Ich weiß, was du meinst", erwidere ich. "Dieses lange rote Kleid, die feinen Lackschuhe und überhaupt ihre ganze Art lassen eher auf eine gehobene Stellung schließen. Ich frage mich, was sie dort zu suchen hatte."
"Ich weiß es auch nicht." Tilda seufzt. "Sie muss dann auch zeitig wieder gegangen sein. Dass sie mit dem Mann gesprochen hat, habe ich gar nicht mitbekommen."
"Schade, ich hatte gehofft, du kennst sie." Max sieht enttäuscht aus. "Das wäre ein guter Ansatz gewesen."
"Tut mir Leid, dass ich euch nicht weiterhelfen kann. Aber ich werde mal Michael Kaspar fragen. Vielleicht kennt er sie ja. Darf ich die Fotos haben, Tom?"
"Klar, natürlich Mathilda." Ich blicke zu meinem Bruder. "Da müssen wir wohl anders beginnen. Ich werde sehen, ob ich diesen Kaltenbach ausfindig machen kann. Kommst du mit?"
Max schüttelt den Kopf. "Geht nicht, Tom. Ich muss noch was erledigen. Aber vielleicht kann Tilda dich ja begleiten."
"Von mir aus, wenn es nicht zu spät wird. Ich will heute Abend noch zu Micha. Um was geht es denn?"
Ich sehe Max an und schüttle den Kopf. Dumme Idee, denke ich dabei, jetzt müssen wir Tilda auch noch in die Geschichte einweihen. Mein Bruder zieht die Schultern hoch und macht eine schuldbewusste Mine. Dann erkläre ich Tilda ganz kurz, womit Rosenthal uns beauftragt hat. Sie sieht uns abwechselnd an und fragt dann etwas ungläubig: "Und ihr zwei wollt jetzt also Detektiv spielen, verstehe ich das richtig?"
"Wir wollen Rosenthal helfen, den Mord an seinem Bruder aufzuklären", sagt Max, ehe ich antworten kann. "Wenn Tom etwas passieren würde, würde ich mir auch wünschen, dass jemand dem nachgeht. Er selbst und seine Kollegen können es ja nicht."
"Gut", Tilda lächelt, "ich bin dabei. Das ist doch mal was Anderes. Ich gehe mich nur schnell umziehen, in den Klamotten kann ich ja wohl kaum mit." Sie steht auf und geht ins Nebenzimmer.
"Musstest du sie mit hineingehen?" frage ich Max, kaum dass Tilda nach Nebenan verschwunden ist.
"Ich dachte nur, es wäre gut, wenn du nicht alleine in dieser Sache unterwegs bist, sonst verschwindet du vielleicht auf einmal spurlos, Tom." Er klingt sehr ernst und auf einmal kann ich ihn verstehen. Vielleicht hat er ja sogar Recht, denke ich.
Eine Viertelstunde später nehmen Tilda und ich am nächsten Einkaufsmarkt ein Fahrradtaxi in Richtung Innenstadt. Georg Kaltenbach wohnt in dem alten Viertel in der Pirnaer Vorstadt. Die grauen, noch mit der Hand gemauerten Häuser sind zwar fast dreihundert Jahre alt, aber im Gegensatz zu Tildas Wohngegend gut erhalten und voll bewohnt. Kaltenbach scheint es sich was kosten zu lassen, hier zu leben.
"Das muss es sein", sagt Mathilda und deutet auf einen Eingang in einer viergeschossigen Häuserzeile. Sie geht darauf zu und studiert bereits die Beschriftung der Klingelanlage, während ich ihr noch folge. Tilda sieht richtig gut aus, finde ich. Sie hat einen kurzen dunkelbraunen Mantel und schwarze Stoffhosen an, die, der neuesten Mode entsprechend, ihre langen, schlanken Beine wie eine zweite Haut umschließen. Ihre Füße stecken in knöchelhohen schwarzen Absatzschuhen. Ich könnte sie stundenlang ansehen, sogar von hinten.
Als ich bei ihr ankomme, drückt die gerade einen Klingelknopf. Ohne dass jemand dich meldet, ertönt der altmodische Türsummer und die Haustür wird geöffnet.
Wir steigen die alte Sandsteintreppe in die zweite Etage hinauf und Klopfen an der Wohnungstür. Als sie geöffnet wird, steht ein etwa fünfjähriges Mädchen mit kurzen blonden Locken und strahlend blauen Augen vor uns. "Seid ihr Freunde von Papa", fragt sie und blickt uns ernst an, "warum ist er nicht mitgekommen?"
In diesem Augenblick erscheint hinter dem Kind eine junge Frau. Sie wird noch keine dreißig Jahre sein, hat kurze, hellbraune Haare und ein rundliches schönes Gesicht. Ihre hübschen dunklen Augen drücken tiefste Besorgnis aus. "Geh spielen, Ricarda", sagt sie und legt dem Mädchen ihre Hand auf die Schulter. Als das Kind sich nicht von der Stelle rührt, dreht sie es sanft um und schiebt es ein tiefer in den dunklen Flur hinein. Dann sieht sie uns an und fragt leise: "Sind Sie von der Polizei?"
"Nein. Wie kommen Sie darauf?" frage ich und Mathilda fügt schnell hinzu: "Ist Georg denn nicht da?"
Frau Kaltenbach blickt Tilda an, lässt uns aber noch immer nicht in die Wohnung. Ihr Misstrauen scheint groß zu sein. "Und wer sind Sie dann?"
"Wir sind Kollegen Ihres Mannes", sage ich schnell und Frau Kaltenbach lächelt spöttisch. "So, so, Kollegen also. Na, dann kommt mal rein, Kollegen." Wie sie das letzte Wort betont, macht mir klar, dass sie uns kein Wort glaubt.
Sie deutet auf die Tür zu ihrer Rechten und lässt uns ein. Dann betreten wir ein helles, einfach aber geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer. Frau Kaltenbach weist auf das Sofa und wir setzen uns. "Also, wer seid ihr wirklich und was wollt ihr hier? Das ich euch kein Wort glauben werde, könnt ihr euch denken. Kollegen von Georg seid ihr jedenfalls nicht, da bin ich mir sicher. Die meisten von denen kenne ich und ihr seht beide nicht so aus, als würdet ihr den ganzen Tag im Lager mit Kisten und anderem schweren Zeug zu hantieren."
"Gut, Sie haben natürlich Recht, Frau Kaltenbach", sage ich, nachdem ich einen kurzen Blick mit Tilda gewechselt habe und sie mir zugenickt hat. "Vor einiger Zeit hat Georg einem Freund von mir erzählt, dass er vermutet, in der Firma würden irgendwelche krummen Geschäfte abgewickelt werden. Nun ist mein Freund unter ungewöhnlichen Umständen ums Leben gekommen und ich wollte Georg fragen, ob er mir noch mehr dazu sagen kann, was in der Firma vorgefallen ist."
Frau Kaltenbach macht auf einmal große Augen und dann glitzern diese feucht. "Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen", meint sie leise, "Georg ist seit zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Ich mache mir schon große Sorgen. Und nachdem ihr mir jetzt erzählt habt, warum ihr hier seid, noch viel mehr als vorher. Jetzt bin ich mir schon fast sicher, dass auch ihm etwas passiert ist."
"Nun das ist nicht gesagt Frau Kaltenbach", ich schüttle den Kopf und sehe, dass Tilda ihre Hand nimmt, "Wir gehen eher davon aus, dass er sich versteckt hält, sicherlich auch, um Sie zu schützen." Aber es ist nicht auszuschließen, dass sie Recht hat, denke ich dabei. Wir müssen uns beeilen, wenn wir ihn rechtzeitig finden wollen. "Haben Sie denn gar keine Vermutung, wo er sein könnte, Frau Kaltenbach", frage ich, "hat er nicht gesagt, wo er hin will, oder was er vorhat?"
Resigniert schüttelt sie den Kopf. "Nein, nicht dass ich wüsste." Doch dann scheint ihr etwas einzufallen. "Doch", sagt sie nachdenklich, "von einer Höhle hat er mal gesprochen, in der irgendwelche Leute leben. Die hatte so einen seltsamen Namen, irgendwas mit einer Frau, oder so. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Jedenfalls hat er vor etwa einer Woche mal gesagt, dass er da hin muss."
"Sie meinen die Ingrid-Höhle?" frage ich verblüfft und Frau Kaltenbach nickt.
"Genau. Das hat er gesagt: Ingrid-Höhle!"
Ich sehe Tilda an und sie macht ein genauso fragendes Gesicht wie ich. Was sollte Kaltenbach dort gewollt haben? Die Ingrid-Höhle liegt an einer alten Handelsstraße zum benachbarten Freital. Die ehemalige Industriestadt ist heute fast nicht mehr existent, nur noch ein paar Hundert Menschen wohnen in den alten Häusern, einen großen Teil der Stadt hat die Natur sich längst zurückerobert. Über viele Kilometer erstrecken sich überwucherte Ruinen und immer dichter werdender Urwald. Ähnlich sieht es entlang der ehemaligen Verbindungsstraße aus, die durch ein enges Tal führt, das zu beiden Seiten von hohen, steilen Felswänden begrenzt wird. Zudem fließt neben der Straße ein ehemals kleines, schmales Flüsschen, das aber durch den Klimawechsel immer weiter anschwillt, oft über die Ufer tritt und zu einem reißenden Fluss wird. Deswegen hat man vor Jahrzehnten auch die Straße aufgegeben. Die Ingrid-Höhle war bis dahin eigentlich ein Straßentunnel gewesen. Wie er zu seinem Namen gekommen ist, weiß heute keiner mehr. Beim Abrutsch eines Berghanges wurde er vor etwa fünfzig Jahren zerstört und teilweise verschüttet. Inzwischen wird er von Obdachlosen und Vagabunden als Unterkunft genutzt. Dem Gerede nach sind seine Bewohner nichts anderes als Wegelagerer und Räuber. Kaum ein Mensch wagt sich noch, die alte Verbindungsstraße zu nutzen, um nicht ausgeraubt oder gar erschlagen zu werden. Was also wollte Georg Kaltenbach dort?
"Nun gut", Tilda steht als erste auf, "Wir danken Ihnen für Ihre Auskunft, Frau Kaltenbach, aber wir wollen Sie nicht weiter belästigen. Wie gesagt, wir werden unser Möglichst tun, ihren Mann zu finden." Sie geht zu Tür und ich folge ihr. Im Flur treffen wir auf das kleine Mädchen, das ganz offensichtlich an der Tür gelauscht hat.
Wir verabschieden uns und sind gerade im Begriff die Wohnung zu verlassen, als Frau Kaltenbach doch noch etwas einfällt. "Warten Sie, Georg hat doch noch etwas gesagt. Er hat von einem alten Windpark dort in der Nähe erzählt. Den wollte er sich auch noch ansehen."
Als wir vor dem Haus stehen, meint Tilda: "Was denn für ein Windpark? Ich kenne nur den Windberg. Vielleicht hat sie sich verhört. Aber der ist doch ein ganzes Stück weg von der Ingrid-Höhle, oder?"
Ich schüttle den Kopf und sage dann: "Sie hat sich wahrscheinlich nicht verhört, Tilda. Oberhalb der Höhle gab es mal einen Windpark, so ein Kraftwerk, wo Strom aus Wind erzeugt wurde. Aber der ist seit Jahrzehnten stillgelegt. Ich nehme ehe an, dass von den alten Anlagen nichts mehr vorhanden ist. Also stellt sich mir die gleiche Frage wie bei der Höhle: Was zum Teufel wollte Kaltenbach dort?"
*****
Wieder regnet es seit Stunden. Ich muss daran denken, dass es früher eine Zeit gegeben hat, in der manche Menschen gedacht haben, die Erde würde eines Tages austrocknen oder so. Es kam aber ganz anders. Inzwischen wechseln sich Hitzeperioden mit über 40 Grad Celsius und ausgiebige Regenzeiten in kurzer Folge ab.
Ich ziehe meinen Mantel enger um mich und den Hut tiefer ins Gesicht. Wenn das so weitergeht, sind wir in einer halben Stunde nass bis auf die Haut. Ich kann einen heftigen Fluch nicht unterdrücken. Dieses Wetter ist mir einfach zuwider.
Max hingegen scheint der Regen nichts auszumachen. Die Hände tief in die Manteltaschen vergraben, stapft er neben mir durch die Pfützen und plaudert die ganze Zeit. Als ob wir gerade in einer gemütlichen Eckkneipe beim Bier sitzen würden. Ich höre gar nicht richtig zu, doch plötzlich bin ich voll da.
"Ich habe mich bei Weber und Co. auf die freie Stelle im Lager beworben", sagt er gerade. "Und ich habe sie auch bekommen. Ich will mal sehen, ob ich über die Arbeiter was in Erfahrung bringen kann, was in der Firma läuft."
"Und", frage ich, "schon was herausgefunden?"
"Nein, keiner scheint was zu wissen. Ich gehe mal davon aus, dass ich einfach zu neu für die bin." "Halte dich an den Pförtner. Ich hatte das Gefühl, der weiß viel mehr, als er zugibt." Innerlich räume ich meinem Bruder aber keine großen Chancen ein, in der Firma etwas in Erfahrung bringen zu können. Die wenigsten Arbeiter werden etwas wissen, was uns weiterhelfen könnte, und die, die etwas wissen, werden kaum mit einem Fremden darüber reden.
Während wir weitergehen, wird der Weg immer schlechter. Längst hat Unkraut den ehemals schwarzen Asphaltbelag der Fahrbahn durchbrochen und inzwischen die gesamte Fläche zurückerobert. Kleinere und auch ein paar größere Sträucher säumen den Weg, wilde Birken erschweren das Vorankommen und bei jedem Schritt muss man auf Unebenheiten des Bodens achten um nicht zu stolpern.
In wenigen Tagen wird auch der Fluss wieder über die Ufer treten und den Weg für Wochen unpassierbar machen.
Schon bald rücken die steilen Felswänden zu beiden Seiten immer näher an uns heran. Wir befinden uns jetzt tief im Plauenschen Grund. Früher wurden hier Steine gebrochen, später hatte sich sogar etwas Industrie hier angesiedelt, aber davon ist nichts mehr zu sehen. Die Felswände sind bewachsen und nicht zu erklettern, oder nur an ein paar wenigen Stellen, die nur noch wenige Eingeweihte erkennen können.
Inzwischen ist auch Max schweigsam geworden. Aufmerksam beobachten wir die Umgebung. Wahrscheinlich habe nicht nur ich das Gefühl, dass wir schon lange beobachtet und jederzeit angegriffen werden könnten. Aber nichts geschieht. Wir scheinen die einzigen Menschen in dieser verdammten Gegend zu sein.
Dann taucht die weite, dunkle Öffnung der Ingrid-Höhle vor uns auf. Das wir unbehelligt bis hier her gekommen sind, grenzt an ein Wunder. Aber wie es aussieht, wurde unser Kommen tatsächlich schon angekündigt. Am Eingang erwartet uns ein alter, langhaariger Mann mit grauem Bart. In seiner rechten Hand hält er ein beidseitig geschliffenes, etwa zwanzig Zentimeter langes Messer. Aus tiefliegenden schwarzen Augen blickt er uns an.
"Was wollt ihr hier?" knurrt er grimmig und wechselt die Waffe unablässig von einer Hand in die andere.
Da er uns nicht gegrüßt hat, halte ich es auch nicht für nötig, das meinerseits zu tun. Aus meiner Manteltasche krame ich Kaltenbachs Bild. "Wir müssen Ihre Leute fragen, ob jemand diesen Mann gesehen hat", sage ich.
"Seid ihr Polizei?" Der Alte dreht uns noch immer im Weg und spielt mit seinem Messer.
"Presse" sage ich und will meinen Ausweis zeigen, doch der Alte winkt ab.
"Dasselbe", meint er achselzuckend, tritt dann aber beiseite. "Wenn ihr euch traut, kommt rein", sagt er und deutet in das Dunkel der Höhle.
Nur wenige Kerzen und vereinzelte Öllampen erhellen spärlich die riesige Halle. Auf dem Boden hocken etwa zwanzig Gestalten. Ich kann nicht erkennen, ob alle Männer sind, oder sich auch ein paar Frauen darunter befinden.
"He", ruft Max da, "werft mal einen Blick auf das Foto da", er zeigt auf das Bild in meiner Hand, "und sagt uns, ob ihr den Kerl schon mal gesehen habt."
Ich gehe durch die Menge und halte jedem das Foto unter die Nase, doch von keinem kommt eine Reaktion. Schließlich winke ich ab und wende mich wieder der hellen Öffnung zu, durch die wir hineingekommen sind. Es ist zwecklos, denke ich. Doch kurz bevor wir den Ausgang erreichen, hält mich eine der Gestalten am Ärmel fest. Ich sehe hinunter und blicke in das Gesicht einer Frau. Sie wird etwa vierzig sein, sieht halb verhungert und krank aus. "Der war hier", sagt sie, "muss zwei Wochen oder so her sein, hat sich nach dem alten Windpark da oben erkundigt, und ob sich da manchmal jemand rumtreibt. Danach hab ich ihn nicht mehr gesehen."
Ich bedanke mich und drücke ihr zwei Münzen in die Hand. In diesem Augenblick taucht ein Mann neben ihr auf und zerrt sie grob zurück. "Wirst du wohl dein Maul halten, Miriam", knurrt er und sieht uns an. Auch er wird Mitte Vierzig sein, hat langes, ehemals schwarzes Haar, durch das sich graue Strähnen ziehen. Seine Augen sind grau und haben dunkle Ringe, als habe er nächtelang wachgelegen. Ein kurzer Vollbart umschließt seinen Mund, kann jedoch die große wulstige Narbe an der linken Wange nicht ganz verbergen. "Da oben ist nichts", meint er, "habe ich ihm auch gesagt. Die Anlage da oben wird seit vielen Jahren nicht mehr betrieben. Gibt nichts zu holen da. Außerdem bricht man sich eher den Hals, wenn man versucht, hinaufzusteigen."
"Aber man kommt hoch?" Mein Interesse ist geweckt."Von oben, von Coschütz aus", der Mann nickt. "Wird aber alles streng bewacht, kommt man nicht rein. Gibt's auch nichts zu holen, wie gesagt. Nicht mal mehr Schrott." "Okay, danke" sage ich und gebe Max mit einem Handzeichen zu verstehen, dass es Zeit ist zu gehen.Draußen vor der Höhle sage ich: "Ich bin mir sicher, es gibt einen Weg da hoch. Irgendwas ist dort oben, das wir uns ansehen sollten. Der Kerl hat zu offensichtlich versucht, uns das Gegenteil weiszumachen."Max nickt. "Das Gefühl hatte ich auch." Er blickt zum Himmel und sagt dann: "Wenn wir es versuchen wollen, dann jetzt. Es hat aufgehört zu regnen."Wir gehen den Weg, den wir gekommen sind, ein Stück zurück und schlagen uns dann in die Büsche. Nasse Zweige klatschen uns ins Gesicht und unsere Schuhe versinken bei jedem dritten Schritt bis zum Rand in Dreck und Schlamm. Was für eine blöde Idee, denke ich, als direkt vor meinen Füßen plötzlich das Wasser der Weißeritz fließt. Ich blicke fragend meinem Bruder an, und der hebt nur die Schultern.Dann deutet er den Fluss entlang und sagt: "Da vorn war mal eine Brücke, glaube ich jedenfalls.""Na gut, versuchen wir es." Missmutig und äußerst skeptisch kämpfe ich mich wieder minutenlang durch dichtes, nasses Gestrüpp. Ich könnte ihn verfluchen. Doch dann stehen wir tatsächlich vor so etwas Ähnlichem wie einer Brücke. Zwei dünne Baumstämme liegen quer über dem Wasser, darauf sind ein paar einzelne Bretter genagelt. Wenn das Wasser weiter ansteigt, existiert sie morgen nicht mehr, da bin ich mir sicher.Max schiebt sich an mir vorbei und betritt als erster diese seltsame Konstruktion. Ich folge ihm und erstaunlicherweise erreichen wir beide lebend das andere Ufer.Dort ist das Gelände noch wilder und undurchdringlicher als auf der anderen Seite. Direkt vor uns ragt jetzt die steile Felswand auf, total überwuchert mit wilden Brombeersträuchern und anderen dornigen Ranken. Der Mann in der Höhle hat Recht behalten. Hier ist ein Hinaufkommen unmöglich.Ich will gerade umkehren, als Max, der sich ein paar Schritte den Fluss entlang in Richtung Freital bewegt hat, plötzlich stehenbleiben und auf den Boden neben sich deutet. "Was ist", frage ich, "hast du was gefunden?" Max nickt. "Ein Pfad", ruft er leise. "Da ist jemand lang gegangen, kann nicht lange her sein. Siehst du? Das Gras ist an den feuchten Boden gedrückt und hat sich noch nicht wieder aufgerichtet. Die Zweige an den Büschen hier sind teilweise gebrochen und die Bruchstellen noch ganz hell."Ich gehe bis zu der Stelle, auf die er zeigt und muss zugeben, dass Max richtig beobachtet hat. Also folgen wir diesem schmalen Pfad und erreichen nach wenigen Minuten die Reste eine uralten Treppe, die hier steil nach oben führt. Max und ich tauschen einen kurzen Blick, dann beginnt mein Bruder vor mir, die alten Stufen hinaufzusteigen. Sie sind rutschig, mit nassem Dreck bedeckt und teilweise schon geborsten. Bei fast jedem unserer Schritte brechen kleine Steinchen heraus und kullern ins Tal hinunter. Während Max sich schnell und sicher nach oben bewegt, habe ich bei jedem Schritt Angst zu stolpern und in die Tiefe zu stürzen. Wenn es doch wenigstens ein Geländer gäbe, an dem man sich festhalten könnte! Aber die hölzernen Holme sind längst verfault und gebrochen, nur ein paar völlig verrostete Eisenstreben ragen hier und da aus dem Boden. Nach wenigen Metern bleibe ich erst einmal erschöpft stehen."Na, wo bleibst du denn?" fragt Max, der schon mindestens zehn Meter über mir steht. Ich habe keine Ahnung, wie er das gemacht hat. Keuchend und mich teilweise auf allen Vieren fortbewegend kämpfe ich mich weiter nach oben.Max hat auf mich gewartet und hält mich an den Mantelärmeln fest, während ich etwas verschnaufe. "Wehe, wenn wir da oben auf einen Zaun stoßen und nicht auf das Gelände kommen", schnaufe ich. "Hier klettere ich jedenfalls nicht wieder runter."Max grinst. "Ich kann dich ja runter tragen, wenn du willst."Okay, das Angebot nehme ich an, denke ich. Sagen kann ich nichts, denn ich muss erst einmal wieder zu Luft kommen.Nach ein paar Minuten Pause setzen wir unseren Aufstieg fort. Entweder habe ich mich daran gewöhnt, oder es geht hier oben einfach leichter, jedenfalls kommen wir jetzt gut voran und erreichen eine Viertelstunde später die Felskante. Als wir uns umdrehen und nach unten sehen, wird mir ganz flau im Magen. Verdammt, ist das tief, geht es mir durch den Kopf.Nur etwa einen Meter von der Kante entfernt verläuft ein schmaler, aber seltsamerweise nicht überwucherter Pfad an einem hohen Eisenzaun entlang."Und wie wollen wir jetzt auf das Gelände kommen?" frage ich und sehe Max ratlos an."Es muss eine Möglichkeit geben", meint er achselzuckend. "Du gehst links entlang und ich rechts. Vielleicht finden wir was." Er wartet meine Antwort nicht ab und läuft einfach los.Ich gehe in die andere Richtung, sehe aber nur die Maschen des Zaunes. Keine Ahnung, wie man den überwinden sollte, denn zum Klettern sind die eisernen Maschen viel zu eng.Da höre ich Max plötzlich rufen. "Komm her, Tom, ich hab hier was!"An einer Stelle ist der Draht durchtrennt und das Gitter so weit aufgebogen worden, dass man, auf dem Bauch liegend, hindurch schlüpfen kann.Als wir auf der anderen Seite angekommen sind, sehen wir beide aus wie Schweine, die sich gerade ausgiebig im Schlamm gesuhlt haben. Na prima, denke ich, bin gespannt, ob es das Wert gewesen ist. Dann sehe ich mich um.Die Landschaft sieht erschreckend trostlos aus und erinnert mich irgendwie an einen Friedhof. In weiten Abständen ragen, in zehn oder mehr Metern Höhe abgesägt Bäumen gleich, die Reste der altertümlichen Windkraftanlagen auf, über einhundertfünfzig Meter hohen Stahltürmen, an deren Spitzen sich riesige, wie Propeller aussehende, Flügel gedreht haben. Diese sind im Laufe der Jahrhunderte verrottet und abgebrochen, die Türme geborsten und abgeknickt oder gar zusammengebrochen. Überdies gesamte Fläche verstreut liegen noch ein paar der alten Flügel, längst mit Erde bedeckt und bewachsen, eben gigantischen Grabhügeln gleich. Dazwischen stehen die Reste modernerer Anlagen, die nicht mehr so hoch waren und mit einer anderen Technik dem Wind seine Energie abgetrotzt haben. Aber auch die sind mittlerweile Geschichte und rosten nur noch vor sich hin. Hier und da liegen noch einige der Kabinen am Boden, in denen früher die gewaltigen Generatoren verbaut gewesen sind, mit denen der Strom erzeugt wurde.Plötzlich reißt Max mich aus meinen Gedanken. "Da hinten" sagt er und deutet auf den Rest einer der moderneren Anlagen. Ich kann nichts Besonderes sehen. "Los, komm mit", kommandiert Max und läuft los. Ich folge ihm durch dortigen Gestrüpp, an jungen Birken und anderen kleinen Bäumen vorbei, durch tiefe, schlammige Pfützen und kniehohes nasses Gras.Nach etwa zweihundert Metern bleibt er vor einem der Hügel stehen, der genaugenommen der inzwischen bewachsene Rest einer alten Steuerkabine ist. Davor liegt reglos ein menschlicher Körper. Ich frage mich, wie Max das auf diese Entfernung hat sehen können.Dann hocke ich mich hin um den Toten näher betrachten zu können. Es scheint sich um einen Mann zu handeln, der auf dem Bauch liegt und dessen Hinterkopf nur noch eine einzige, breiige Masse ist. In der großen tiefen Wunde hat sich bereits Regenwasser gesammelt und mit Blut und grau-weißer Gehirnmasse vermischt."Du weißt, wer das ist?" Max sieht mich an. Sein Gesicht spiegelt das Grauen wieder, das ihn erfasst hat. Meines wird nicht besser aussehen.Ich nicke. Trotzdem hebt Max den Oberkörper des Toten etwas an und gemeinsam drehen wir ihn auf die Seite. Das Gesicht des Mannes ist noch einigermaßen zu erkennen. Vor uns liegt eindeutig Georg Kaltenbach."Jemand hat ihn erschlagen", sagt Max. "Damit", er deutet auf ein blutverschmiertes Stahlrohr, das nur etwa einen Meter weiter weg im Gras liegt. "Ich möchte nur wissen, was er hier gewollt hat." Max sieht sich um und zuckt die Schultern.Ich starre noch immer in Kaltenbachs Gesicht. Irgendetwas irritiert mich. Sein Mund ist wie zu einem Schrei geöffnet, seine Augen jedoch geschlossen. Als Max ihn wieder auf den Rücken dreht, ist mir, als würde Kaltenbach etwas aus dem geöffneten Mund fallen. "Zurück", sage ich, "dreh ihn noch mal zurück Max." Er kommt meiner Bitte nach und tatsächlich sehe ich etwas kleines, Glänzendes im Gras liegen. Es scheint eine Art Speicherchip zu sein.In dem Augenblick, als ich ihn aufheben, spüre ich einen scharfen Luftzug neben meinem linken Ohr und vernehmen gleichzeitig einen lauten Knall. Ehe ich begreife, was los ist, brüllt Max: "Deckung Tom!" und hechtet in zwei Sprüngen hinter die alte Kabine. Ich werfe mich zur Seite und kriechen ebenfalls in die Deckung. In der Zwischenzeit knallt es noch zwei weitere Male. "Jemand schießt auf uns", keucht Max überflüssigerweise, denn das habe ich inzwischen auch begriffen."Ein Wachmann?" fragt ich, doch Max schüttelt den Kopf."Nicht ohne uns vorher anzurufen", sagt er und hält plötzlich selbst eine Pistole in der Hand. Damit habe ich nicht gerechnet, aber irgendwie ist es zu erwarten gewesen, dass Max bewaffnet ist. „Na komm schon, trau dich" knurrt Max, hebt die Waffe und blickt um die Kante der Kabine herum. Dann knallt es direkt neben mir. Die Antwort folgt auf dem Fuß. Es kracht zwei Mal und ein helles Pling sagt mir, dass der Schütze die Wand der Kabine getroffen hat."Wir müssen weg hier", sagt Max und schießt erneut."Wohin denn?""Richtung Coschütz raus. Oder willst du zurück?" Er feuert einen dritten Schuss ab und läuft geduckt, ohne auf mich zu warten, los."Weißt du, wie weit das ist?" frage ich und starre über die Ebene. Dabei frage ich mich, ob es dort einen Wachschutz gibt und ob wir unbehelligt hier herauskommen. Dann stürze ich meinem Bruder hinterher, so gut es geht, jede Deckungsmöglichkeit ausnutzend.Noch drei oder vier Schüsse fallen hinter uns, die Max nicht alle erwidert, dann ist endlich Ruhe. Unser Verfolger scheint aufgegeben zu haben.Schließlich erreichen wir den Zaun auf der anderen Seite. Hier ist niemand zu sehen. Max bricht zwei der Holzlatten heraus und wir klettern hindurch. Dann lässt Max die Pistole in der Tasche seines Mantel verschwinden. Er sieht mich von oben bis unten an, grinst dann und sagt: "Wir sehen aus wie Schweine.""Ja", nicke ich, "und dreckig sind wir außerdem."
*****
„Für die Polizei ist Kaltenbachs Tod das Resultat einer Schlägerei unter rivalisierenden Schrottdieben", beende ich meine Ausführungen. Wir sitzen im Café "Zum Sachsen", gleich bei mir um die Ecke, Tilda, Max und ich, und wollen unser weiteres Vorgehen besprechen.
"Quatsch", kommentiert Max meine Äußerungen. "Kaltenbach hatte einen guten Job. Warum hätte er zum Schottdieb werden sollen?"
"Nun, ich kann dir soweit Recht geben", entgegne ich, "aber Rosenthal hat mir erzählt, dass sie schon öfter Hinweise über Einbrüche in den ehemaligen Windpark bekommen haben und annehmen, dass er von eben solchen Schrottdieben heimgesucht wird. Bedauerlicherweise hatten sie noch keine Gelegenheit, sich darum zu kümmern."
"Keine Gelegenheit!" Mathilda lacht kurz auf und sieht mich dann an. "Hast du rausfinden können, was auf dem Speicherchip ist?"
Ich kann ein bisschen Theater nicht lassen und ziehe mit großer Geste mein Arbeitstableau aus der Aktentasche. Dann schalte ich es ein und tippe auf das Display. "Es waren ein paar Notizen drauf und einige wenige Fotos. Aber die reichen, glaube ich, um nachvollziehen zu können, mit was wir es zu tun haben." Grinsend nehme ich zur Kenntnis, dass beide mich erstaunt ansehen. "Hier, seht ihr?" Ich rufe das erste Bild auf das Display und vergrößere es etwas. "Das ist die Zeichnung eines alten Windkraftwerkes, oder Windrades, wie man es damals genannt hat. Das nächste Bild zeigt eine Anlage der letzten Generation dieser Dinger." Ich erscheint schnell das nächste Bild auf den Schirm. "Das hier ist die Innenansicht einer Kabine, in der die Windkraft in Strom verwandelt wurde", sage ich. "Das geschah mit Hilfe von Turbinen. Kaltenbach hat eine solche hier markiert." Ich deutet auf einen eingezeichneten roten Pfeil. "Ganz früher waren dieser Dinger mal gigantisch groß. Bei den modernsten Windkraftanlagen aber nur noch etwa so lang wie ein Unterarm und etwa fünfzig Zentimeter im Durchmesser." Ich mache eine kurze Pause und rufe das nächste Foto auf. "Und hier seht ihr den Blick in eine Transportkiste der Firma Weber und Co., wie ihr deutlich an dem Logo auf der Kiste erkennen könnt."
"Siehst du denn nicht", sagt Max leise, "dass genau so eine Turbine, wie Tom die gerade beschrieben hat, dort in der Kiste liegt?" Er tippt mit dem Finger auf die betreffenden Stelle und nach einem kurzen Augenblick nickt Tilda.
"Das heißt also", versucht sie zusammenzufassen, "jemand bricht in ehemalige Windparks ein, stiehlt alte Turbinen und verkauft sie an Weber und Co., verstehe ich das richtig?"
"Könnte man meinen, ja", ich nicke. "Aber wartet, jetzt kommt's." Ich hole das nächste Foto auf den Bildschirm. "Das ist eine Aufnahme von einer Seite des Geschäftsbuches der Firma. Georg Kaltenbach hat die wichtigen Stellen wieder markiert, seht ihr?"
Max schnauft leise. "Die haben die Dinger nicht an-, sondern verkauft", sagt er dann. "Das heißt, jemand hat sie in Webers Auftrag geklaut."
"Möglicherweise", stimme ich ihm zu. "Vielleicht war es aber auch Friedhelm Walther, der hinter dem Rücken seines Chefs krumme Geschäfte gemacht hat. Was aber noch viel wichtiger ist: habt ihr gesehen, an wen die Turbinen verkauft wurden?"
Jetzt ist es Tilda, die als erste reagiert. "Käufer ist die VSG", sagt sie erstaunt. "Aber das heißt ja..." "Ganz genau." Ich nicke und sehe zu Max. "Weber und Co. bestehlen die VSG, denn denen gehören die alten Windkraftanlagen ja, und verkaufen ihnen die gemausten Turbinen. Wenn das mal kein Mordmotiv ist!"
"Was ich aber nicht verstehe", meint Max daraufhin nachdenklich, "ist, ob diese Dinger überhaupt noch was wert sind. Alte, verrostete Turbinen von vor fast hundert Jahren, also ich weiß ja nicht. Und außerdem müsste die VSG doch wissen, dass die Teile ihnen gehören."
"Gut gesagt, Max. Aber zum Einen gebe ich zu bedenken, dass die Verantwortlichen der VSG nicht unbedingt wissen werden, wo die Teile herkommen, die in ihre Anlagen verbaut werden oder was aus ihren ungenutzten Liegenschaften gestohlen wird, und zum Anderen ist es so, dass diese alten Turbinen, wenn sie überholt und gewartet wurden, heute tatsächlich noch zur Stromerzeugung genutzt werden können. Ich war auch erstaunt, als ich das gelesen habe, aber das scheint tatsächlich so zu sein."
"Ich gehe mal davon aus, dass man bei der VSG den Beschiss mitbekommen hat und Walther deshalb sterben musste", sagt Tilda da nachdenklich. "Ich weiß nämlich inzwischen, wer die Frau auf dem Foto ist."
Jetzt ist es an uns, sie verblüfft anzustarren. "Warum sagst du das erst jetzt?" frage ich und Tilda grinst.
"Weil ich bis jetzt noch nicht dazugekommen bin", meint sie dann. "Also: Ich habe das Foto Michael Kaspar gezeigt, und der hat gesagt, dass er die Frau schon in einigen anderen Ausstellungen gesehen hat. Ihren Namen wusste er allerdings nicht. Darum habe ich ein paar andere Künstler in unserem Viertel aufgesucht und es hat keine Stunde gedauert, bis ich wusste, wer sie ist. Es handelt sich bei unserer Unbekannten um Saskia Consuela von Winterberg zu Beerenstein, oder, wie sie sich jetzt nennt, Saskia Winterberg." Tilda schweigt und sieht uns erwartungsvoll an.
"Und, soll uns der Name irgendwas sagen?" frage ich nach. Zum Dank für ihre Bemühungen erwartet sie sicher ein dickes Lob. Als das nicht kommt, seufzt sie. "Ihr habt keine Ahnung, stimmt's? Gut, ich kläre euch auf. Die Familie von Winterberg zu Beerenstein war bis vor wenigen Jahren eine der reichsten Industriellenfamilien. Saskias Urgroßvater Wilhelm von Winterberg ist es gewesen, der die Wind- und Solarenergie vor dem endgültigem Zusammenbruch bewahrt und das neue Vermarktungskonzept entwickelt hat."
"Ja, und der damit für den Untergang fast aller bis dahin bestehender Energiefirmen gesorgt hat", falle ich ihr ins Wort.
"Und damit auch dafür, dass sich heute kaum noch jemand daran erinnern kann, wie es war, stets genügend Strom zur Verfügung zu haben" ergänzt Max bitter.
"Ja, auch das stimmt", gibt Mathilda zu, "aber darum geht es hier ja nicht. Jedenfalls ist diese Saskia von Winterberg also als Erbin eines Millionenvermögens aufgewachsen. Nur leider hat ihr Vater das gesamte Vermögen der Familie verspielt, seine Immobilien versetzt und sich anschließend das Leben genommen. Das war vor über zehn Jahren. Ihr müsst davon gehört haben. Gerade du, Thomas, es war lang und breit in allen Medien damals. Na, sei es wie es sei, statt auf Millionen sitzen die Erben jetzt auf einem Riesenberg Schulden. Deshalb verwendet Saskia auch nicht mehr ihren eigentlichen Titel und nennt sich nur noch Winterberg. Das ist auch der Grund, warum die Frau jetzt arbeiten muss, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können." Tilda macht eine Pause und lächelt. "Und nun ratet mal, als was sie arbeitet."
Max und ich sehen uns an und zucken mit den Schultern.
"Saskia von Winterberg ist die Hauptbuchhalterin der VSG. Wie findet ihr das?"
Eine Weile herrscht tiefes Schweigen, dann sagt Max nachdenklich: "Mal angenommen, diese Saskia hat mitbekommen, was Friedhelm Walther da abzieht, dann könnte sie so sauer gewesen sein, dass sie ihm die Kehle aufschlitzt."
"Unsinn Max", Mathilda schüttelt den Kopf. "Keine Frau würde so eine Sauerei veranstalten, glaub mir. Nein, Saskia war das nicht. Aber vielleicht hat sie ja Falk Rosenthal engagiert."
"Und ihn anschließend aufgehängt?" frage ich. "Das kann ich mir nun wieder nicht vorstellen. Und wie passt überhaupt Georg Kaltenbach in das Bild? Wir sind uns doch einig, dass alle drei Morde zusammenhängen, oder?"
"Vielleicht war Kaltenbach tatsächlich sozusagen der Schrottdieb", meint Max. "Er besorgt die Turbinen aus den ehemaligen Anlagen, lässt sie aufarbeiten oder macht das selbst, und übergibt sie dann an jemanden, der sie zum Transport fertig macht. Walther wiederum fälscht die Transportunterlagen für die VSG. Dort muss es dann aber jemanden geben, der die Teile in Empfang nimmt. Ich frage mich, ob diese Saskia davon gewusst hat."
"Das ist aber unwahrscheinlich", sage ich. Als Hauptbuchhalterin geht sie doch nicht hin und überprüft die Lieferungen. Dafür gibt es doch bestimmt andere Leute. Wie ihr gesehen habt, waren die Turbinen einfach als Maschinenteile deklariert. Was das genau für Dinger waren, hat die Winterberg bestimmt nicht interessiert."
"Aber irgendwie hat sie davon Wind bekommen und Walther auf der Vernissage zur Rede gestellt. Aber egal, wie er darauf reagiert hat, er musste beseitigt werden. Ob sie es selbst getan hat, oder nicht, bleibt mal dahingestellt. Aber dann ist immer diese Sache mit Rosenthal. Vielleicht hat der dem Walther später tatsächlich gedroht, ihn auffliegen zu lassen und der hat es der Winterberg erzählt, vorausgesetzt, die hing da mit drin." Max seufzt. "Wir können es betrachten, wie wir wollen", sagt er dann, "wir wissen einfach zu wenig."
"Richtig", ich muss ihm Recht geben, "Wir müssen erst mehr Fakten sammeln. Wenn ich nur wüsste, wo wir da anfangen sollen."
"Vielleicht solltet ihr mich einfach mal ausreden lassen, Jungs", Mathilda lehnt sich lächelnd zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich habe nämlich noch längst nicht richtig angefangen zu erzählen."
Max und ich sehen uns an und müssen lachen. "Das stimmt, Tilda", gebe ich zu. "Also, was hast du noch in Erfahrung bringen können?"
"Nun, nachdem ich erfahren hatte, wer unsere Unbekannte ist, habe ich mich erneut bei meinen Freunden und Bekannten umgehört. Dabei habe ich herausbekommen, dass diese Saskia Winterberg oft in einer kleinen Bar am Blauen Wunder verkehrt. Ich bin also noch am selben Abend hingefahren und hatte Glück. So konnte ich direkt Kontakt mit ihr aufnehmen."
"Du hast sie einfach angesprochen?" will Max wissen. "Wie hat sie darauf reagiert?"
"Na wie schon? Sie hat sich gefreut, als ich ihr sagte, dass ich sie bei der Vernissage gesehen habe und sie gerne näher kennenlernen würde. Und dann ist mir eine Idee gekommen." Tilda sieht uns an und lächelt.
"Ich habe sie gefragt, ob sie sich von mir malen lassen würde. Saskia hat nicht lange nachgedacht und gleich zugesagt. Ich musste allerdings versprechen, kein Aktbild zu zeichnen, das könne sie sich nicht erlauben." Seufzend hebt Mathilda die Schultern. "Wäre mir auch nie eingefallen", meint sie dann. "Wir haben uns also auf ein Porträt geeinigt."
Tilda unterbricht sich und trinkt einen Schluck Wein. Wir sehen ihr gespannt zu und warten, ob noch was kommt. Tilda tut so, als bemerke sie das gar nicht. Dann lacht sie plötzlich laut auf. "Was ist", fragt sie, "wollt ihr noch mehr wissen? Na gut", sie stellt ihr Glas wieder auf den Tisch und beugt sich etwas nach vorn. Bevor die weiterspricht, sieht sie sich aber noch einmal im Gastraum um.
Die wenigen Tische sind gut besetzt, die Gäste mit sich selbst beschäftigt und die junge Kellnerin ist gerade im hinteren Bereich beim Abkassieren einer Gruppe von vier älteren Damen.
"Wir haben uns dann noch eine Weile unterhalten", fährt Tilds schließlich fort, "Nachdem ich Saskia noch einen Drink spendiert und sie sich auf der Stelle dafür revanchiert hat, haben wir uns richtig gut verstanden. Ich hätte gar nicht gedacht, dass eine Frau wie sie so aufgeschlossen und einfach sein kann."
"Ihr habt euch also angefreundet", stelle ich lachend fest und zu meinem Erstaunen nickt Tilda.
"Kann man so sagen, ja. Sie ist ja auch nur ein paar Jahre älter als ich, noch keine vierzig. Naja, jedenfalls ist sie ganz sympathisch. Im Laufe des Abends habe ich sie dann auf ihr Verhältnis zu Friedhelm Walther angesprochen. Ich habe ihr erzählt, dass ich auf der Vernissage eine gewisse Vertrautheit zwischen den Beiden bemerkt hätte. Und tatsächlich scheine ich den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Saskia ist fast zusammengebrochen. Unter Tränen hat sie mir erklärt, dass sie Walther geliebt hat. Sie seien seit Jahren ein Paar gewesen und sein Tod hat sie zutiefst erschüttert."
"Und, glaubst du ihr das?" frage ich nach. Ich kann mir das nicht vorstellen. Was soll die beiden den verbunden haben? Der Beruf, ja, aber das ist auch die einzige Gemeinsamkeit die ich sehe.
"Wenn nicht, dann ist die eine erstklassige Schauspielerin", meint Tilda nachdenklich. "Ich kaufe es ihr jedenfalls ab. Sie war nach meiner Frage jedenfalls völlig fertig und ich habe sie regelrecht trösten müssen. Auf keinen Fall habe ich mit einer solchen Reaktion gerechnet. Aber vielleicht sollten wir das sicherheitshalber noch mal überprüfen."
"Ich kann mich ja mal umhören", sagt Max. "Vielleicht weiß jemand in der Firma, ob Walther eine Geliebte hatte." Dann blickt er Tilda nachdenklich an. "Hast du deine neue Freundin mal gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, dass Friedhelm Walther in krumme Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte?"
"Nein", Mathilda schüttelt den Kopf, "das hebe ich mir für unser nächstes Treffen auf. Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und lieber erst mal ihr Vertrauen gewinnen. Heute Abend treffen wir uns schon wieder. Ich möchte mit den ersten Skizzen anfangen. Vielleicht komme ich da ja schon etwas weiter."
"Na gut, Leute", ich winke der Kellnerin, "das wärst wohl für heute. Machen wir es wie besprochen. Max, du bleibst in der Firma an der Sache dran und Tilda kümmert sich um Saskia Winterberg. Ich werde wohl morgen noch mal mit Bertram Rosenthal reden. Die Verbindung zwischen seinem Bruder und diesem Georg Kaltenbach muss ich mir noch mal ansehen. Ich frage mich nämlich immer noch, was Kaltenbach in der alten Windanlage zu suchen hatte und warum er diesen Datenträger im Mund gehabt hat."
*****
Ganze zwei Tage sind seit unserem Treffen vergangen und es hat sich noch nicht viel Neues ergeben. Immer wieder habe ich versucht, an Bertram Rosenthal heranzukommen, aber vergebens. Der Oberkommissar ist ständig unterwegs oder wird richtiggehend abgeschirmt. Selbst auf dem Revier, wo ich versucht habe, ihn unter einem Vorwand zu sprechen, hatte ich keinen Erfolg.
Doch nun kommt mir ein Zufall zu Hilfe. Heute Mittag rief mich Bendler an und schickte mich zu einem Bahnunfall in der Nähe des Haltepunktes Trachau. Ein alter Mann soll dort überfahren worden sein.
Zum Glück regnet es gerade ausnahmsweise nicht und habe ich genügend Geld zur Verfügung, um mit der Straßenbahn zum Unfallort zu fahren. Meine Ausgaben werde ich Ludwig Petermann Als Spesen in Rechnung stellen.
Nachdem ich mir wiedereinmal mit Nachdruck Zugang zur Unfallstelle verschaffen musste, treffe ich dort auf Rosenthal. "Na", frage ich, "wieder einer von Weber und Co.?"
Der Oberkommissar schaut mich zweifelnd an. Vielleicht denkt er, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe. Er sieht müde aus, finde ich. Wahrscheinlich ist er tatsächlich im Dauereinsatz.
"Nein, das Opfer ist ein alter Mann, neunzig Jahre ungefähr, der hier ganz in der Nähe gewohnt hat. Nach ersten Erkenntnissen gibt es keine Hinweise auf ein Fremdverschulden." Rosenthal seufzt. "Schon der vierte Suizid in dieser Woche, und dabei ist es erst Dienstag Mittag."
Ich werfe einen ersten Blick auf das Gleis und die Böschung. Ein grässlicher Anblick. Die Bahn hat den Alten voll getroffen, wie es aussieht. Schon der Aufprall muss ihn in Stücke zerrissenen haben, die Räder haben dann den Rest übernommen. Es wird eine Weile dauern, das alles einzusammeln, denke ich.
Dann nehme ich meine Kamera und will ein paar Bilder machen, doch Rosenthal hält meinen Arm fest. "Das will keiner sehen, glauben sie mir."
"Doch, mein Chefredakteur", entgegne ich. "Bendler will unbedingt Fotos, nicht nur vom Unfallort, sondern auch von der Leiche."
Rosenthal deutet auf den Teil eines oberhalb des Ellenbogen abgefetzten Armes. "Soll er doch herkommen und sich das ansehen", sagt er und weist dann nach vorn, wo hinter einer Biegung der Zug stehengeblieben ist, nur der letzte Waggon ist noch zu sehen. "Den Zug können Sie von mir aus fotografieren und von dort aus auch die Unfallstelle. Detailliertere Fotos würde ich Ihren Lesern nicht zumuten."
Ich muss ihm irgendwie Recht geben und verspüre selbst auch keine Lust, näher an die Leichenteile heranzugehen. "Gut", sage ich, "ich werde meinem Chef sagen, dass ich leider zu spät gekommen bin. Als ich hier eintraf, war der Tote bereits abtransportiert."
Etwas später, als ich von der Stelle, von der ich den verunfallten Zug fotografiert und eine nichtssagende Übersicht vom Bahndamm gemacht habe, zurückkomme, steht Rosenthal etwas abseits und raucht. Ich nutze die Gelegenheit, um ihn noch einmal auf den Tod seines Bruders anzusprechen.
"Sagen Sie, hat Falk sich Ihnen gegenüber einmal näher zu seiner Freundschaft mit Georg Kaltenbach geäußert?", frage ich. "Mich würde nämlich interessieren, was Kaltenbach dort oben bei dem ehemaligen Windpark gemacht hat und wie Falk darauf gekommen ist, dass Friedhelm Walther mit der Sache zu tun hat."
"Viel hat Falk nicht erzählt", meint Rosenthal. "Kaltenbach hat ihn wohl eines Tages angesprochen und angedeutet, dass er glaubt, irgendwelche alten Schrottteile würden in der Firma aufgearbeitet und als neuwertig wieder verkauft werden. Er selbst war ja an der Herstellung von energieerzeugenden Maschinenteilen beteiligt. Dabei ist ihm aufgefallen, dass ab und zu ein paar uralte Teile aufzuarbeiten waren. Er hat Falk, der ja in der Buchhaltung arbeitete, gebeten, zu überprüfen, als was und an wen diese verkauft wurden."
"Soweit verstehe ich das. Aber wie kommt Georg Kaltenbach ausgerechnet auf den ehemaligen Windpark in Coschütz, und was hatte er dort zu suchen?"
Rosenthal zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder sinken. "Das kann ich Ihnen auch nicht sagen, Berger. Ich weiß nur, dss Falk auch davon gesprochen hat und dass er Georg noch kurz vor seinem Tod versprochen hat, nachzuforschen, ob die Teile dort entwendet wurden."
"Gut. Ich nehme an, dass Ihr Bruder das nicht mehr geschafft hat und Kaltenbach deswegen selbst dorthin gegangen ist, um das zu überprüfen."
"Möglich", der Oberkommissar nickt, "aber wenn Kaltenbach die Teile nicht gestohlen hat, wer dann?"
"Das finden wir schon noch raus", sage ich und gebe ihm die Hand. "Ich muss aber jetzt, mein Chefredakteur wartet auf den Artikel." Mit dem Kopf deute ich zu den Gleisen hinüber, wo die Bestatter gerade die Teile des Leichnams zusammensuchen und verpacken. Ich will so schnell wie möglich weg hier. Manchmal hasse ich meinen Beruf einfach.
Etwa eine halbe Stunde später sitze ich in Bettinas Schreibstube bei einem Topf Kaffee. Meinen Artikel habe ich gerade abgeschickt. Jetzt denke ich darüber nach, wer Kaltenbach ins Jenseits befördert haben könnte und warum. Dass es ein Wachmann gewesen sein könnte, halte ich für ausgeschlossen. Aber auch ein Schrottdieb, wie die Polizei denkt, kommt für mich nicht in Frage. Kaltenbach hätte keinen Grund gehabt, den Speicherchip in den Mund zu stecken, denn einen Dieb hätte das Ding nicht interessiert. Nein, er muss denjenigen erkannt haben, der ihn umgebracht hat. Inzwischen gehe ich davon aus, dass er den Chip, als er seinem späteren Mörder gegenüberstand, verschluckt und im Todeskampf wieder hochgewürgt hat.
"Na, so tief in Gedanken?" Bettina setzt sich mir gegenüber auf einen Stuhl und sieht mich an. "Soll ich dich vielleicht auf andere Gedanken bringen?" fragt sie und lässt mal wieder tief blicken. Unwillkürlich muss ich grinsen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich sie ins Hinterzimmer begleite. Aber heute ist mir überhaupt nicht danach.
Zum Glück klingelt genau in diesem Augenblick das Telefon. Bettina sieht mich an und hebt dann theatralisch seufzend die Schultern. Nachdem sie den Hörer abgenommen, sich gemeldet und einen kurzem Augenblick gelauscht hat, blickt sie zu mir und sagt: "Für Sie, Herr Berger." Dabei verzieht Sie das Gesicht, als ob die Zahnschmerzen habe. Ich ahne Schlimmes.
"Sind Sie noch bei Trost, Berger?" Bendler scheint vor Zorn Feuer zu spucken. "Einen blöderen, nichtssagenderen Artikel habe ich noch nie gelesen! Was soll ich mit solch amateurhaften Fotos anfangen, können Sie mir das sagen? Und dann besitzen Sie auch noch die Unverschämtheit, Spesen für diesen Mist einzufordern. Ich hätte Lust, Sie sofort zu entlassen, Berger! Wie können Sie es wagen... Sie... Sie... Der Artikel geht so wie er ist in den Papierkorb Berger. Entweder Sie liefern mir in einer Stunde was Ordentliches oder für heute war's das. Und sollten Sie mir noch einmal, nur noch einmal, solchen Unsinn anbieten, sind Sie gefeuert! Haben Sie verstanden?"
Ehe ich antworten kann, legt er auf.
Genau das hatte ich befürchtet. Aber irgendwann musste das mal so kommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Tage bei der Elbe-Post gezählt sind. "Arrogantes Arschloch", knurre ich vor mich hin und gehe dann an meinen Platz zurück.
Ich habe mich gerade hingesetzt, als Max die Schreibstube betritt. Er lässt sich neben mir auf einen Stuhl sinken und wendet sich an Bettina. "Hast du einen Kaffee für mich, schöne Frau?"
"Für dich doch immer, mein Großer", sagt sie und geht nach hinten.
Max sieht mich an. "Scheint nicht dein Tag gewesen zu sein", meint er, "du siehst aus, als ob dein Kaffee versalzen gewesen wäre heute früh."
Ich winke ab und kläre ihn dann kurz über das Vorgefallene auf.
"Mach dir mal keine Sorgen", sagt Max, "dein Alter kriegt sich schon wieder ein. Er braucht dich schließlich. Und wenn nicht, dann findest du eben was Anderes. Glaube mir, alles ist besser, als für dieses Wurstblatt schreiben zu müssen."
Auch wenn Max Recht hat, hilft mir das nicht wirklich weiter. Von irgendwas muss ich ja leben. Aber für's Erste verdränge ich diesen Gedanken. "Bist du weiter gekommen bei deinen Recherchen in der Firma?" frage ich um das Thema zu wechseln.
"Wie man's nimmt", sagt Max ausweichend. "Bei den Arbeitern kommt nicht viel raus. Kaum einer will mit mir reden. Es scheint, als ob die alle Angst haben. Wenigstens habe ich alle Leute bekanntmachen können, die Falk Rosenthal in seinem Notizbuch stehen hatte. Nur drei Männer fehlen mir da noch. Allerdings scheint niemand von denen etwas zu wissen." Max unterbricht sich und nimmt nickend den Kaffeetopf entgegen, den Bettina ihm reicht. Vorsichtig trinkt er einen ersten Schluck und stellt den Topf dann auf dem Tisch ab. "Dafür war das Gespräch mit Wendland ziemlich interessant", fährt Max dann fort. "Es hat zwar ein paar Tage gedauert und mich auch ein paar Bier und eine Flasche Schnaps gekostet, aber dann ist der Alte gesprächig geworden. Ich habe dann versucht, etwas über Friedhelm Walther in Erfahrung zu bringen. Frauengeschichten soll er gar nicht gehabt haben, meint Wendland. Also scheint eine Liebesbeziehung zu Saskia Winterberg unwahrscheinlich. Aber nun kommt's, Tom: Ich habe mich dann ziemlich weit aus der Deckung gewagt, und Wendland gefragt, ob er die Winterberg kennt. Siehe da, er konnte sich noch gut an die Dame erinnern. Saskia Winterberg hat vor vielen Jahren bei Weber und Co. gearbeitet, und zwar als Buchhalterin. Friedhelm Walther war damals ihr Chef. Falk Rosenthal hat die Stelle übernommen, als sie die Firma verließ. Angeblich weiß keiner, was sie heute macht."
"Walther könnte es durchaus gewusst und seine ehemalige Mitarbeiterin übers Ohr gehauen haben. Dafür musste er letztendlich bezahlen", sage ich nachdenklich.
"Dagegen spricht aber, dass die Unterhaltung der beiden bei der Vernissage ziemlich entspannt und freundschaftlich wirkte, oder?"
Mein Bruder wiegt den Kopf. "Ich glaube eher, dass die beiden zusammengearbeitet haben." Er wirft einen Blick auf die analoge Wanduhr über Bettinas Tresen und meint dann: "Wird aber Zeit, dass wir aufbrechen, Tom. In einer halben Stunde wollen wir bei Tilda sein."
Er hat Recht, wir wollen uns heute noch einmal treffen, um die Ergebnisse unserer Recherchen zusammenzutragen und das weitere Vorgehen zu besprechen.
Ein paar Minuten später laufen wir in Richtung Westen, erst durch die Gassen der Friedrichstadt, die am Tage nur ein klein wenig angenehmer aussieht, als in der Nacht, und dann durch das große Industriegebiet, das in den letzten Jahren hier entstanden ist. Lärm und Staub begleiten uns und obwohl es heute ausnahmsweise mal nicht stundenlang regnet, ist der Boden schlammig und es haben sich stellenweise tiefe Pfützen gebildet. Überall riecht es nach Abgasen und Chemikalien, über die ich auf keinen Fall Näheres wissen will.
Ich bin froh, als wir diesen Bereich hinter uns gelassen haben und die ersten Häuser Löbtaus auftauchen. Trotz dass sie uralt sind, scheint hier noch alles wohnlich und sogar luxuriös zu sein. Die alten, meist dreistöckigen Gebäude sind von kleinen Gärten oder Höfen umgeben, die fast alle einen gepflegten Eindruck machen.
Bis hierher haben Max und ich kaum miteinander gesprochen. Jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft.
Dann lassen wir auch diese noble Wohngegend hinter uns, um fast Übergangslos in die heruntergekommene, verfallene Gegend zu kommen, die einmal unser Zuhause gewesen ist. Endlich bricht Max das Schweigen. "Wir haben es fast auf die Minute geschafft, Tom" meint er, als wir an dem stark verrotteten Wohnturm vorbeikommen, der fast genau auf der unsichtbaren Grenze zwischen den beiden Wohngebieten steht. Die meisten der unzähligen Fenster haben längst keine Scheiben mehr, die ehemaligen Wohnungen dienen Tauben und anderen Vögel als Behausung. Über der leeren Öffnung der Eingangstür kann man noch die Reste der alten LED-Buchstaben erkennen. Mit viel Fantasie kann man sogar Schrift sogar deuten. "7. Himmel" steht da. Nachdem die Wohnungen nicht mehr gebraucht wurden, fand sich vor über einhundertzwanzig Jahren ein Investor, der ein riesiges Bordell aus dem siebzehnstöckigem Gebäude machte. Damit hat er sich aber völlig übernommen, denn schon nach wenigen Jahren war klar, dass die Unterhaltung dieses Etablissements mit den Einnahmen nicht zu decken gewesen war. Keine fünfzehn Jahre später war das Haus dem Verfall preisgegeben. Als wir Kinder waren, hat es uns und unseren Freunden als Versteck und Abenteuerspielplatz gedient.
Kurz darauf erreichen wir das Haus, in dem Tilda wohnt und steigen wieder die baufällige Treppe nach oben.
"Kommt rein, es ist offen", ruft Tilda auf mein Klopfen und wir betreten ihre Wohnung. Weder im Flur noch in ihrem Wohnzimmer kann ich Tilda finden. Schließlich höre ich ihre Stimme. "Ich bin auf dem Balkon, kommt ruhig mit raus, Jungs."
Max und ich sehen uns an und durchqueren das Wohnzimmer. An der Balkontür bleibe ich stehen. "Du bist nicht lebensmüde, oder?" frage ich und wage nicht, auch nur einen Fuß hinaus zu setzen. Ich male mir stattdessen aus, wie der raue, graue Betonboden unter mir bröckelt, reißt und dann zusammenbricht.
"Der hält uns aus, vertrau mir Tom", lacht Mathilda, die, mit einem kuscheligen, hellblauen Hausanzug bekleidet, auf einem der altertümlichen Korbsessel in der Ecke sitzt, ein Glas orangefarbenen Fruchtsaftes in der Hand haltend.
Als ich zögernd hinaustrete, bemerke ich eine zweite junge Frau, die auf einer kleinen Bank direkt an der Brüstung des Balkons sitzt. Sie wird höchstens Mitte Zwanzig sein, ist kleiner als Tilda und sieht irgendwie unscheinbar aus. Ihre schwarzen Haare sind ganz kurz geschnitten, das Gesicht weist keine Besonderheiten auf und wäre sie mir auf der Straße begegnet, hätte ich sie vielleicht für einen Jungen gehalten. Erst als sie mir die Hand gibt und mich ansieht, fallen mir die großen dunkelbraunen Augen auf.
"Das ist Paola Hartmann, eine Freundin von mir", sagt Tilda. "Und zurzeit auch meine Mitbewohnerin", ergänzt sie und wirft Max einen merkwürdigen Blick zu, den ich nicht zu deuten vermag. Dann sagt sie: "Aber setz dich doch" und deutet auf den freien Platz neben ihrer Freundin. Sie wendet sich dann an Max, der sie mit offenem Mund anstarrt. "Holst du euch auch was zu trinken, Max? Du weißt ja, wo alles steht."
Mein Bruder nickt und lächelt ihr zu, dann geht er zurück in die Wohnung. Ich sehe ihm erstaunt nach. Was geht hier vor, denke ich, wieso kennt Max sich hier aus? Doch ich komme nicht dazu, länger darüber nachzudenken. "Na komm schon, setz dich her, ich tue dir nichts", sagt Paola, deren sanfte, dunkle Stimme mich fasziniert. Sie zieht meinen Blick magisch an, während ich mich langsam neben sie setze.
"Das ist Tom", sagt Mathilda, "sonst ist er nicht so schüchtern."
Verdammt, ich merke, dass ich verlegen werde und wegen Tilda einen bösen Blick zu.
"Ärgere dich nicht, du kennst Tilda doch bestimmt länger als ich", sagt Paola und lacht. "Sie hat mir schon gesagt, dass sie uns verkuppeln will." Ihre hübschen braunen Augen blitzen lustig. "Aber mit uns macht sie so was nicht, oder?"
Zum Glück kommt Max zurück ehe ich zu antworten gezwungen wäre. So nehme ich ihm dankbar die Flasche Bier ab, die er mir reicht, und trinke einen Schluck.
Max setzt sich in den freien Sessel, Tilda gegenüber.
"Na los. Dann erzählt mal, was ihr herausgefunden habt", sagt Tilda und schaut uns an. Ich blicke zu Paola und sehe Tilda dann fragend an.
"Ihr könnt ruhig alles erzählen", meint Tilda, "ich musste Zwecke sowieso schon einweihen. Ihr könnt Saskia Winterberg ja nicht observieren, denn euch hat sie bei der Vernissage gesehen. Ich kann es erst recht nicht, denn mich kennt sie ja nun. Also musste ich jemand anderes finden. Und Zwecke erschien mir die geeignetste Person zu sein."
Ich sehe zu Max und der hebt einfach nur die Schultern. Mir doch egal, soll das heißen, denke ich. "Wenn du nennst, Tilda", sage ich dann und blicke wieder zu Paola. Irgendwie bezweifle ich, dass sie das hinbekommt. Aber was soll ich noch dazu sagen, wenn Tilda schon alles mit diesem Mädchen besprochen hat.
Dann berichten Max und ich, was wir herausbekommen haben.
"Also, so wie ich das sehe", meint Tilda, nachdem wir unsere Berichte beendet haben, "hat irgendwer, den wir noch nicht kennen, die Teile im Auftrag von Friedhelm Walther geklaut. Der brauchte Geld, um sich noch ein paar der offenen Wünsche erfüllen zu können. Georg Kaltenbach arbeitet die Teile auf und Walther verkauft sie an die VSG. Er verzeichnet die Dinger dabei als teure Einkäufe und steckt sich das überschüssige Geld in die eigene Tasche. Damit das Geschäft aber funktioniert, und keiner bei der VSG etwas mitbekommt, weiht er seine ehemalige Mitarbeiterin in die Sache ein. Die braucht auch dringend Geld und beide teilen sich die Gewinne. Davon ahnt natürlich Kaltenbach nichts, der irgendwann auch ein Stück von den Kuchen abhaben will. Da Walther das ablehnt, will er ihn auflaufen lassen, fängt an, Beweise zu sammeln und wendet sich an Rosenthal, von dem er weiß, dass sein Bruder Polizist ist. Rosenthal will das in Ruhe mit Walther klären, oder vielleicht erpresst er ihn auch. Als Walther sich weigert, kommt es zum Streit und Rosenthal tötet den Buchhalter. Soweit könnte die Polizei sogar Recht haben. Das passt alles zusammen."
"Na gut", sage ich, "aber wer bringt dann Rosenthal um und erschlägt dann den Kaltenbach, und warum? Außer den Beteiligten hat doch keiner gewusst, dass er da mit drin hing. Es sei denn..."
"Genau", unterbricht mich Paola, "außer Saskia Winterberg. Die wäre durchaus in der Lage gewesen, Georg Kaltenbach zu erschlagen. Ich weiß nur noch nicht, wie er von ihr erfahren haben könnte. Möglicherweise war aber auch sie es, die ihn mit dem Ziel aufgesucht hat, zu verhindern, dass er weitermacht."
"Genau", Tilda nickt ihrer Freundin zu, "Sie hat ihn im Windpark abgepasst und ihn aufgefordert, den Speicherchip mit den Beweisen herauszugeben. Kaltenbach hat sich geweigert, den Chip verschluckt und die Winterberg hat ihn eins über den Schädel gegeben. Klingt logisch, finde ich."
"Nein." Ich muss ihr widersprechen. "Rosenthal hat weder Friedhelm Walther noch sich selbst getötet, da bin ich sicher. Es muss noch ein weiterer Akteur im Spiel sein."
Paola, oder Zwecke, wie Tilda sie nennt, sieht mich an. "Ich werde sie auf alle Fälle im Auge behalten", sagt sie.
"Na gut. Treffen wir uns übermorgen wieder hier", ich sehe die anderen der Reihe nach an. "Und jetzt machen wir es uns etwas gemütlich, oder Tilda?"
"Ohne mich", meint Max, "ich muss los." Er steht auf und verabschiedet sich. Dann sieht er zu Tilda und fragt: "Bringst du mich zur Tür?"
Tilda nickt und sie verlassen gemeinsam den Balkon. Ich sehe ihnen hinterher und frage mich, was da zwischen den beiden läuft.
*****
"Was läuft da eigentlich zwischen dir und Tilda?" frage ich Max, der schweigend neben mir durch die Gassen der Friedrichstadt läuft. Ganze zwei Tage sind seit unserem Treffen vergangen und es hat sich noch nicht viel Neues ereignet. Die Gedanken an Tilda und Max haben mich aber nicht ruhig schlafen lassen. Ich habe mich sogar gefragt, ob ich eifersüchtig auf meinen Bruder wäre, wenn er etwas mit Tilda angefangen hätte. Eigentlich ist das ja Unsinn, da ich bei ihr sowieso nie landen konnte, aber aus irgendeinem Grund macht mich der Gedanke daran verrückt.
Max antwortet nicht gleich, bleibt dann aber plötzlich stehen und sieht mich an. "Na was schon", knurrt er mich an, "was soll schon sein? Tilda und ich sind zusammen. Wir wollen es aber noch nicht an die große Glocke hängen, verstehst du?"
Im ersten Augenblick verschlägt es mir die Sprache. Obwohl ich damit gerechnet habe, trifft mich seine Antwort wie ein Schlag mit einem Hammer vor die Brust. Ich habe das Gefühl, mein Herz zerspringt und ich müsste jeden Augenblick zu Boden gehen. "Seit wann?" frage ich und höre meine eigene Stimme kaum, so sehr rauscht es in meinen Ohren.
"Seit ein paar Wochen." Max scheint verlegen zu sein. "Das war ja auch der Grund dafür, dass ich ihrem Alten am Abend der Vernissage eine verpasst habe", meint er dann zögernd. "Gegen so einen Künstlertypen habe er nichts, hat er gesagt, aber dass seine Tochter sich mit einem Hilfsarbeiter abgibt, das würde er nicht dulden. Und dann hat er sie eben als Schlampe bezeichnet. Da bin ich halt ausgerastet."
Ich starre ihn noch immer fassungslos an. Max und Tilda, ich kann und will es mir einfach nicht vorstellen.
Schließlich gehen wir weiter. Die Luft ist drückend heiß und so schwül und das ist für Mitte Oktober auch äußerst ungewöhnlich. Normalerweise ist es jetzt nur kalt und nass. Heute aber scheint ein Gewitter kurz bevorzustehen. Nachdenklich richte ich meinen Blick zum Himmel. Er ist merkwürdig blau und kein Wölkchen ist zu sehen. Vielleicht täusche ich mich ja auch und das beklemmende Gefühl ist nur meiner seelischen Verfassung zuzuschreiben.
"Vor mir braucht ihr euch nicht mehr zu verstellen", sage ich, als wir bei Tilda eintreffen und sie uns die Hand zur Begrüßung entgegenstreckt. Erstaunt sieht sie erst mich, dann Max an. Der grinst verlegen und nimmt sie dann in den Arm. Es tut schon noch weh, merke ich, aber nicht mehr so sehr. Als ich dann Paola erblicke, die hinter Tilda in dem engen Flur steht, sehe ich, dass sie mir zuzwinkert und dabei lächelt. Merkwürdigerweise geht es mir danach etwas besser. Dieses unscheinbare Mädchen hat etwas an sich, dass mich fasziniert. Es kommt mir vor, als würden wir uns schon ewig kennen.
Wir gehen wieder auf den Balkon hinaus. Während sich die anderen setzen, stelle ich mich an die Brüstung und blicke hinaus auf das Wohngebiet meiner Kindheit. Viel ist davon nicht geblieben. Der größte Teil der alten Plattenbauten ist längst abgerissen, aber nie ersetzt worden. Der Rest verfällt immer mehr. Die wenigsten Häuser sind noch bewohnt, und wenn, dann nur teilweise. Die anderen sind nur noch Ruinen, genau wie der Siebente Himmel, der alles überragt. Auf den eingestürzten Dächern und aus tiefen Rissen in den Wänden wachsen Efeu und wilde Birken. Menschen sehe ich keine.
"Wie kannst du nur hier leben?" frage ich ohne Tilda anzusehen. "Selbst deine Eltern sind schon vor Jahren weggezogen.
"Hier habe ich wenigstens meine Ruhe", meint Tilda, "und die brauche ich, sonst könnte ich nicht arbeiten." Sie zuckt mit den Schultern. "In der Wohnung unter mir habe ich mir ein Atelier eingerichtet. Ich brauchte niemanden zu fragen und muss auch keine Miete zahlen. Wo bekomme ich so etwas sonst? Selbst in der Friedrichstadt drüben kostet alles Geld." Dann seufzt sie. "Na los, was gibt es Neues? Erzählt!"
"Viel ist es nicht", beginne ich. "Max und ich haben inzwischen fast alle Namen und Adressen aus Falks Notizbuch überprüft. Aber da war nichts dabei, was uns weiterhilft."
"Alle Personen, die Falk aufgeschrieben hat, haben entweder ein Alibi oder zweifellos nichts mit ,,der Sache zu tun", ergänzt Max. "Nur drei Namen blieben noch übrig. Karsten Wengler, Volker Rathenow und Hans-Martin Vollmer. Bei Rathenow sind wir vorhin gerade gewesen, den können wir auch streichen. Der hat sich vor vier Wochen das Bein gebrochen und hockt seit dem zu Hause." Bleiben also noch Wengler und Vollmer."
"So langsam habe ich aber die Hoffnung aufgegeben, dass einer von denen etwas mit den Morden zu tun hat", sage ich, "vielleicht sollten wir woanders suchen."
"Okay, das wäre möglich." Mathilda sieht mich an. "Setz dich doch, du machst mich nervös, wenn du so rumsteht." Sie deutet auf den einzigen freien Platz und das ist wieder der neben Paola. Die trägt heute übrigens trotz der Hitze lange, hautenge, schwarze Lederhosen und ein dunkelblaues Shirt mit dem Logo einer berüchtigten Motorradgang, was sie wie einen jugendlichen Rocker wirken lässt. Ich schüttle den Kopf und bleibe lieber stehen.
"Wie du willst", kommentiert Tilda und fährt fort. "Ich habe mich also wie besprochen mit Saskia getroffen und mit den Arbeiten zu einem Portrait begonnen. Dabei habe ich versucht, etwas über ihr Verhältnis zu Friedhelm Walther in Erfahrung zu bringen. Sie bleibt dabei, eine Liebesbeziehung mit ihm gehabt zu haben. Das sei aber in letzter Zeit nicht mehr so gut gelaufen. Auf meine Frage, warum, meinte Saskia, sie habe in den letzten Monaten immer mehr das Gefühl gehabt, Walther würde ihr was verheimlichen. Vielleicht sei er sogar in krumme Geschäfte verwickelt gewesen. Ich hab dann nicht mehr viel gefragt, weil ich nicht zu viel Interesse zeigen wollte, doch Saskia hat dann von sich aus mehr erzählt. Obwohl es ihr schwer gefallen sei, sagt sie, habe sie ihren Chef über ihren Verdacht unterrichtet. Ich bin hellhörig geworden und habe sie gefragt, ob sie den Verdacht gehabt hat, ihr Geliebter hätte die VSG betrogen. Warum sonst hätte sie ihren Chef informieren sollen? Das war wahrscheinlich etwas zu direkt, denn Saskia ist dann sofort misstrauisch geworden und hat das Thema für den Rest des Abends gemieden." Tilda sieht mich so schuldbewusst an, dass ich beinahe lachen muss.
"Na gut", sage ich dann, "dann kommen wir dort also auch erst einmal nicht weiter. So kompliziert habe ich mir die Sache, ehrlich gesagt, nicht vorgestellt. So langsam begreife ich, warum Rosenthals Vorgesetzte den Fall so schnell wie möglich zu den Akten legen wollten."
"Nun gebt mal nicht so schnell auf", meint Paola fröhlich. "Ihr habt ja noch mich. Und ich habe da etwas, das euch bestimmt interessiert."
Mathilda schaut auf. "Das hast du mir noch gar nicht erzählt", stellt sie erstaunt fest.
Paola lehnt sich lächelnd zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. "Nö", meint sie, "ich wollte damit warten, bis der Chef da ist." Sie zwinkert mir wieder zu und ich sehe, wie Mathilda nach Luft schnappt. Jetzt muss ich tatsächlich grinsen. Die Kleine gefällt mir immer mehr und irgendwie freut es mich, dass Tilda sich ärgert.
"Schön, was hast du herausgefunden Paola?" frage ich.
"Nenn mich lieber Zwecke", meint die dann, "auf Paola höre ich nämlich so gut wie nie. Ich würde meine Eltern hassen, weil sie mir so einen dämlichen Namen gegeben haben, aber sie leben ja schon lange nicht mehr." Sie macht eine kurze Pause im sich zu sammeln und spricht dann weiter. "Ich habe mich also gestern an ihre Fersen geheftet. Sie ist mit der Bahn in die Sächsische Schweiz gefahren. Während der Fahrt hat sie mit niemanden gesprochen. In Rathen ist sie ausgestiegen, mit der Fähre übergesetzt und ein Stück gelaufen. Zum Glück waren viele Leute dort unterwegs, so dass ich wahrscheinlich nicht aufgefallen bin. Schwieriger wurde es, als sie nach zwei Stunden in ein kleines Café ging. Ich habe Glück gehabt, und einen Platz am Nebentisch ergattert. Die Familie, die da saß, hat zwar komisch geguckt, als ich fragte, ob ich mich zu ihnen setzen dürfe, es aber schließlich gestattet.
Dann kam ein Mann rein, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er setzte sich ungefragt an den Tisch gesetzt, an dem bis jetzt nur Saskia saß. Sie haben dann Eis gegessen und Kaffee getrunken. Dabei unterhielten sie sich. Wegen des Lärms im Raum habe ich nicht alles verstehen können. Sie wirkten aber sehr vertraut. Hatte ich zuerst den Eindruck, dass es sich um ein geheimes, sozusagen konspiratives, Treffen handelte, merkte ich dann, dass es doch eher privat war."
"Du meinst", unterbreche ich sie und Zwecke nickt.
"Genau. Er ist eindeutig ihr Geliebter. Sie scheint auf viel ältere Männer zu stehen. Er wird so um die Fünfundsechzig sein, sieht aber richtig gut aus. Höchstwahrscheinlich ist er verheiratet. Das könnte jedenfalls ein Grund dafür sein, dass sie so geheimnisvoll tun."
"Ist ja auch egal", mischt Tilda sich ein. "Hast du was in Erfahrung bringen können, was unsere Ermittlungen betrifft?"
"Sei doch nicht so ungeduldig", mault Zwecke und sagt dann: "Nicht wirklich. Aber ein paar Mal sind die Namen der Ermordeten gefallen, auch der Kaltenbachs. Dann habe ich aber deutlich gehört, dass die Winterberg ihrem Liebhaber erzählt hat, dass sie das Gefühl hat, beobachtet zu werden. Darauf hat er gemeint, dass er sich darum kümmern würde. Sie solle sich mal keine Sorgen machen, auch das ließe sich klären."
"Denkst du, sie hat dich bemerkt?" frage ich, doch Zwecke schüttelt den Kopf und sieht zu Tilda. "Ich glaube eher, sie hat dich gemeint."
"Wenn das stimmt, bist du in Gefahr", sage ich und sehe Tilda an. Doch ehe sie reagieren kann, legt Max seinen Arm um ihre Schulter.
"Keine Sorge, Schatz", sagt er, "ich passe gut auf dich auf." Dann wendet er sich an Paola. "Kannst du mir beschreiben, wie der Kerl aussieht?"
"Besser als das", meint Paola, steht auf und geht ins Wohnzimmer.
Ich sehe zu Tilda, die von Max noch immer festgehalten wird. Jetzt empfinde ich keinerlei Eifersucht mehr, nur so etwas wie Furcht. Ist das, worauf wir uns eingelassen haben möglicherweise doch eine Nummer zu groß für uns?
Als Max Tilda noch enger an sich zieht, schaue ich weg und blicke wieder über die Balkonbrüstung hinaus. Am Himmel schieben sich plötzlich dichte, graue Wolken zusammen und das mit enormer Geschwindigkeit. Wir haben gar nicht bemerkt, wie schnell es dunkel geworden ist. In der Ferne zucken Blitze über den Himmel und ein leises Grollen ist zu hören.
In diesem Augenblick kommt Paola zurück und reicht Max ein ausgedrucktes Foto. "Auf dem Heimweg habe ich dann ihn verfolgt", sagt sie, "und nicht mehr die Winterberg. Ich bin ihm nach Hause gefolgt und konnte ihn sogar fotografieren. Er heißt übrigens Konrad Beermeister und wohnt..."
"Konrad Beermeister?" falle ich ihr ins Wort. "Aber das ist doch..."
"Ja, der Chef der VSG", ergänzt Max. "Die Winterberg ist also die Geliebte ihres Chefs." Er hält nachdenklich inne. Vermutlich gehen ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf wie mir, denn nach ein paar Sekunden meint er dann: "Das könnte ja heißen, wir haben dir ganze Zeit in die falsche Richtung ermittelt."
"Oder besser gesagt, am falschen Ort", ergänze ich. "Womöglich hat der Täter gar nichts mit Weber und Co. zu tun, sondern arbeitet für die VSG. Nicht Friedhelm Walther hat die Winterberg warnen wollen, da er gemerkt hat, dass sie verraten würden, sondern sie hat ihn warnen wollen. Bliebe nur die Frage, wer es dem Beermeister gesteckt hat."
Paola sagt daraufhin leise: "Vielleicht hat sich die Winterberg in einer Liebesnacht verplappert. Aber egal, das ändert nicht an der Frage, wer die Leute umgebracht hat. Ich frage mich allerdings, ob es Sinn macht, die Winterberg weiter zu verfolgen oder besser den Beermeister." Fragend sieht sie mich an. Ich weiche ihrem Blick aus und schaue nach draußen, wo der Wind die Birken hin und und her wedelt und auf den Straßen lose Blätter und eine Menge Abfall vor sich her treibt. Der Himmel hat sich nahezu verdunkelt und erste dicke Tropfen klatschen auf die Erde.
"Bleib du erst mal an Beermeister dran", sage ich schließlich. Noch immer kann ich ihr nicht in die Augen sehen. "Max, du kümmerst dich weiter um Wengler, Tilda bleibt an Saskia dran, vielleicht ergibt sich ja doch noch was, und ich nehme mir mal diesen Vollmer vor."
Dann schaue ich noch einmal kurz nach draußen und füge hinzu: "Jetzt sollten wir aber besser reingehen. Hier wird gleich die Hölle los sein."
Gerade haben wir die Balkontür hinter uns geschlossen, als ein greller Blitz, gefolgt von einem Donnerschlag, der die Scheiben erzittern lässt, ganz in der Nähe einschlägt. Zufällig blicke ich gerade in Paolas Richtung. Sie ist leichenblass geworden, ihre Augen sind weit aufgerissen und sie zittert am ganzen Körper. Wie ein kleines Kind, denke ich und muss lächeln. Sie scheint das aber anders zu deuten und zwingt sich ebenfalls ein schwaches, aber ängstliches, Lächeln auf das Gesicht.
Mathilda hat inzwischen einen vierarmigen Leuchter auf den Couchtisch gestellt und zündet die Kerzen an. "Mein Stromkontigent für diesen Monat ist aufgebraucht", meint sie entschuldigend. Dabei ist erst der Siebzehnte, denke ich, dann setze ich mich neben meinen Bruder auf die Couch.
*****
"Heute früh rief Ludwig Petermann bei mir an. Er habe einen Auftrag von Bendler erhalten und ich solle zur Alten Messe fahren und über eine Kochmesse berichten. Ich habe ihm gesagt, ich hätte Wichtigeres zu tun und aufgelegt. Keine fünf Minuten später klingelte es erneut und der Chef war dran. Ob ich denke, dass ich mir das leisten könne und so weiter. Mir schmerzen jetzt noch die Ohren von dem Gebrüll."
Max sieht mich grinsend an und meint nur: "Und, kannst du?"
"Du hast selbst gesagt, Bendler weiß ganz genau, was er an mir hat", entgegne ich. "Aber selbst wenn er mich feuern sollte gibt es ja noch jede Menge anderer Zeitungen. Auf seine Elbe-Post bin ich nicht angewiesen. " Ich sehe meinen Bruder an. "Können wir?" Wir haben ausgemacht, heute zu Wengler und Vollmer zu gehen und ihre Alibis zu überprüfen.
Max seufzt und schüttelt dann den Kopf. "Im Gegensatz zu dir bin ich auf meine Arbeit angewiesen. Ich habe heute Spätschicht und muss in zehn Minuten los."
"Na prima. Da muss ich eben alleine gehen. Ich will es nicht auf die lange Bank schieben."
"Wengler kannst du dir allerdings sparen", Max grinst wieder, "den habe ich gestern Abend schon erledigt. Er war in der Nacht, in der Friedhelm Walther umgebracht wurde, mit fünfzehn Bekannten und Freunden im Bierkeller am Altmarkt. Der Kellner kann sich gut daran erinnern, da Wengler gegen Morgen so besoffen war, dass er nicht mehr laufen konnte. Zwei Kumpels haben ihn dann nach Hause geschleppt. Das bestätigt auch seine Frau. Sie kann auch das Datum mit Sicherheit bezeugen, da Wengler Geburtstag hatte."
"Okay. Dann ist es ja jetzt tatsächlich an mir, Vollmer aufzusuchen. Weißt du, wo er wohnt?"
"Keine Ahnung. Seine Adresse stand nicht in Kaltenbachs Notizbuch. Oder besser gesagt: nur ein Hinweis auf die Klinik hier in der Friedrichstadt. Ich denke, wir müssen dort in der Umgebung suchen. Aber willst du wirklich alleine los?" Er sieht mich nachdenklich an. "Warte", meint er dann und verschwindet im Schlafzimmer.
Als er nach ein paar Augenblicken wieder herauskommt, drückt er mir eine schwere Pistole in die Hand. "Nimm die lieber mit", sagt er. Ich will protestieren, doch Max fügt hinzu: "Vollmer ist unser Mann, da bin ich mir ganz sicher und er hat schon drei Leute umgelegt. Du musst vorsichtig sein, Thomas." Wenn er mich so nennt, macht er sich echt Sorgen, denke ich. Trotzdem ist mir unwohl bei dem Gedanken, schießen zu müssen.
"Wir wissen gar nicht..." wende ich ein, doch Max unterbricht mich sofort.
"Ich bin mir sicher" wiederholt er, als ob das Begründung genug wäre. "Du kennst dich aus damit?"
Ich schaue mir die Waffe an und nicke. "Eine Goldmann 9.0 SF", sage ich, "hab ich bei der Armee schon mal geschossen". Das ist zwar eine ganze Weile her, denke ich dabei, aber ich glaube auch nicht, dass ich sie brauchen werde. Jedenfalls ist es eine gute, sehr teure Pistole. Die einzige Faustfeuerwaffe, mit der man auch kurze Feuerstöße abgeben kann, soweit ich weiß. "Wo hast du die..." her, will ich fragen, doch Max hebt abwehren eine Hand.
"Das willst du nicht wissen", meint er und sieht mich ernst an. Dann drückt er mit noch ein Ersatzmagazin mit weiteren neun Patronen in die Hand. "Nimm das besser auch noch mit."
Ein paar Augenblicke später bin ich wieder unterwegs. Obwohl es heller Tag ist, scheint hier ein grauer Schleier über Alles gebreitet zu sein. Die Ausdünstungen des Hafens und des nahen Industriegebietes verpesten die Luft und säuerlicher, manchmal stechender Geruch nimmt mir den Atem. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es mal eine Zeit gegeben hat, zu der das ganz anders gewesen ist. Saubere Luft gibt es heutzutage noch noch in einigen wenigen privilegierten Gegenden der Stadt, wie zum Beispiel am Weißen Hirsch.
Dazu kommt der ständige feine Nieselregen, der seit dem Gewitter letztens nicht aufzuhören scheint.
Es ist nicht mehr weit bis zur Klinik, als ich plötzlich aufgehalten werde. Aus einer Toreinfahrt strömt gerade eine Gruppe von vielleicht zwanzig Personen, sich laut unterhalten und lachen. Ich werfe einen Blick auf das Blechschild über dem Torbogen. "Tivoli", steht da, und darunter: "Das beste Theater der Stadt". Ich muss grinsen. Das ist ja wohl stark übertrieben, denke ich, typisch Künstler eben.
Ich will gerade weitergehen, als sich eine einzelne Gestalt aus der Gruppe löst und auf mich zugelaufen kommt. "Hallo Tom, was machst du denn hier?" Kurz überlege ich, wer der junge Mann sein könnte, doch dann erkenne ich Paola. Sie trägt schwarze Lederhosen, rote Stiefel, einen weiten dunklen Mantel und einen Hut. Mit einem strahlenden Lächeln reicht sie mir die Hand und ich habe das Gefühl, dass sie mich am liebsten umarmen würde.
"Sag mir lieber, was du hier machst", entgegne ich. "Um die Zeit sind doch bestimmt noch keine Vorstellungen hier."
Paola schüttelt lachend den Kopf. " Nein, ich arbeite hier." Sie deutet auf das Schild über dem Eingang. "Ich bin Schauspielerin. Hast du das nicht gewusst?"
Erstaunt schüttle ich den Kopf. Nein, das hatte mir bis jetzt noch niemand gesagt. "Ich bin auf der Suche nach Vollmer", sage ich dann. "Max kann nicht mitkommen. Er muss arbeiten."
"Ich hätte Zeit", meint Paola. "Darf ich mitkommen? Ich begleite dich gern."
So richtig gefällt mir dieser Gedanke nicht. Was, wenn Max recht hat und Vollmer tatsächlich bewaffnet ist? Ich will dieses Mädchen doch keiner Gefahr aussetzen. Aber andererseits erscheint es mir auch sicherer, nicht alleine zu gehen. Schließlich stimme ich zu. "In Ordnung, komm mit Paola."
Sie sieht mich mit gerunzelter Stirn an. "Kannst du bitte Zwecke sagen? Oder irgendetwas anderes von mir aus. Dieses blöde Paola kann ich nicht leiden. Das habe ich dir schon mal gesagt."
"Wie du willst, Zwecke", sage ich. "Aber das finde ich wieder blöd. Das macht dich so klein." Sie antwortet nicht darauf, aber ein schwaches Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht.
Dann gehen wir in Richtung der Klinik. Wir suchen an den Hauseingängen nach Vollmers Namen, können ihn aber nirgends finden. "Es scheint uns nichts anderes übrig zu bleiben, als Leute nach ihm zu fragen", sage ich nachdem wir drei der engen, kurzen Seitenstraßen erfolglos abgesucht haben. Dann spreche ich einen alten Mann an, der wohl einen seiner Küchenstühle neben den Hauseingang auf den Fußweg gestellt hat und darauf die Mittagsausgabe der Elbe-Post liest. "Verzeihung, kennen Sie einen Herrn Vollmer?" frage ich. "Er soll irgendwo hier wohnen." Der Alte sieht mich an, als ob ich eine fremde Sprache sprechen würde. "Hans-Martin Vollmer?" hake ich nach. "Kennen Sie den?"
Der Alte schüttelt den Kopf. "Nee", knurrt er, "nie gehört. Aber fragt mal im Goldenen Becher da drüben, Jungs." Er deutet auf die Kneipe am anderen Ende der Straße. "Der Achim kennt fast jeden hier." Dann schaut er wieder in seine Zeitung und würdigt uns keines Blickes mehr.
Ich sehe zu Paola und sie nickt. "Keine schlechte Idee", meint sie dann, "hätten wir auch selbst drauf kommen können."
Obwohl es noch nicht einmal Mittag ist, umhüllt uns Zigarren- und Zigarettendunst, sowie der Gestank von verschüttetem Bier, als wir die kleine Kneipe betreten. Stimmengewirr und die klagenden Klänge eines Akkordeons dringen durch den Nebel. Die kleinen, verdreckten und teilweise verhangenen Fenster lassen kaum Licht in den Gastraum, wodurch dieser noch enger und stickiger wirkt, als er so schon ist.
"Man, wer kann um diese Zeit schon hier rumsitzen und saufen?" flüstert Paola und sieht sich um.
"Die meisten Leute haben eben nichts anderes zu tun", antworte ich genauso leise. "Sie warten jeden Tag darauf, dass jemand reinkommt und Hilfskräfte sucht. Komm." Ich schiebe die vorsichtig weiter in den Raum hinein und trete an den Tresen.
Der Wirt, ein gewaltiger, bestimmt zweihundert Kilogramm wiegender Glatzkopf sieht uns an. Er will gerade ein frisches Bier zapfen, als ich abwinke. "Habe nur eine Frage", sage ich, "kennen Sie den Hans-Martin Vollmer?"
"Weiß nicht." Der Wirt stellt das Glas beiseite und trocknet sich die Hände an deiner Schürze ab. Dann blickt er uns mit einem vielsagenden Grinsen an.
Ehe ich reagieren kann, zieht Paola fünf Energiestundenscheine aus der Manteltasche und legt sie auf den Tisch. "Meine Mutter behauptet nämlich, dass er mein Vater ist", sagt sie mit erstaunlich tiefer Stimme. "Und ich würde ihn gerne mal kennen lernen."
Der Wirt mustert sie skeptisch und grinst dann. "Sehe ihm ähnlich, dem Hans. Du hast aber Pech mein Junge. Hat bis vor etwa einem halben Jahr zwei Häuser weiter gewohnt, in der Einundzwanzig, unterm Dach. Ist aber weg, weiß echt nicht, wohin und hab ihn auch nicht mehr gesehen seitdem."
Wir bedanken uns für die Auskunft und machen, dass wir rauskommen. Die ersten Gäste fangen schon an zu tuscheln. Wahrscheinlich befürchten sie, dass wir von der Polizei sind. In dieser Gegend gibt es kaum jemanden, der nichts suf dem Kerbholz hat, geht es mir durch den Kopf.
"Schauen wir mal nach", sage ich draußen, "ob seine Wohnung schon wieder belegt ist, oder ob wir was finden, das uns weiterhilft."
Das Haus, das uns der Wirt des "Goldenen Becher" beschrieben hat, ist uralt, macht aber einen sauberen und ordentlichen Eindruck. Selbst als wir das Treppenhaus betreten, muss ich erstaunt feststellen, dass es sauberer ist als das, in dem ich wohne.
Paola und ich steigen bis ganz nach oben. Die Wohnung unter dem Dach ist leer, die Wohnungstür steht sperrangelweit offen. Schon, als wir hineingehen, ist mir klar, dass wir umsonst hierher gekommen sind. Wir werden hier nichts mehr finden, das und einen Hinweis auf den Verbleib von Vollmer gibt.
Frustriert durchquere ich den Flur und das völlig leerstehende Wohnzimmer, öffne die Balkontür und trete hinaus auf den winzigen Balkon, auf dem gerade einmal zwei Menschen eng beieinander stehen können. Von dem Ausblick bin ich nahezu überwältigt. Mein Blick schweift per die Dächer und engen Hinterhöfe der Friedrichstadt. Im Westen ballen sich schon wieder dicke Wolken zusammen. Die Luft ist zwar nicht viel besser als unten zwischen den Häusern, aber irgendwie fühle ich mich hier oben besser.
"Komm mal mir raus, Zwecke", rufe ich in die Wohnung hinein. "Man kann richtig weit sehen, nicht so weit wie von Tildas Wohnung, aber immerhin." Ich bekomme keine Antwort.
Als ich mich umdrehe, sehe ich Paola mitten im Wohnzimmer stehen. Sie ist blass und ich habe den Eindruck, dass sie zittert. "Was ist los mit dir?" frage ich und weil sie nicht antwortet, setze ich hinzu: "Na, komm schon raus, die Luft ist ganz gut hier oben."
Doch Paolo schüttelt den Kopf. "Keinen Schritt", sagt sie leise, starrt mich aber weiter unentwegt an.
Dann begreife ich langsam. "Hast du etwa Höhenangst?" frage ich und wieder nickt Paola. "Aber bei Tilda sitzt du doch auch draußen mit auf dem Balkon." Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu und schließe die Balkontür hinter mir.
"Das ist was Anderes", sagt Paola, "da sitze ich mit dem Rücken an der Brüstung und sehe Tilda oder euch an und muss nicht da hinaus sehen." Die deutet auf den Balkon. "Und dann... die Brüstung... Es geht einfach nicht."
Ich drehe mich noch einmal um und sehe hinaus. Im Gegensatz zu der brusthohen Mauer, die Tildas Balkon umgibt, ist dieser hier nur mit hüfthohen, total verrosteten Gitterstäben begrenzt. Das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen.
"Okay, verstehe ich", sage ich und gehe noch näher an Paola heran. Sie scheint sich langsam zu beruhigen. "Komm, gehen wir. Hier gibt es nichts zu holen für uns. Ich habe aber auch keine Idee, wo wir weitersuchen könnten."
"lch hab' da vorhin was gesehen", meint Paola und deutet mit dem Kopf auf die Tür eines Nachbarzimmers. "Ich weiß zwar nicht, ob uns das weiterhilft. Aber du solltest es dir mal ansehen."
Das Zimmer, in das wir jetzt kommen, scheint Vollmers Schlafzimmer gewesen zu sein. Paola deutet auf ein buntes Plakat, das er an die Wand geklebt hat. Darauf ist ein schwerer, elektrisch angetriebenen, LKW zu sehen. Darüber steht, in die weißen Wolken geschrieben: "Die VSG macht’s möglich - schnell und sauber transportieren".
"Du meinst, er hat davon geträumt, so einen Truck zu fahren?"
Paola zuckt die Schultern. "Schon möglich", sagt sie dann. "Ich meinte aber eher das." Sie deutet auf ein kleines Foto, dass Vollmer in die rechte untere Ecke des Plakates geklebt hat. Darauf ist ein mittelgroßer Transporter mit der Aufschrift "Weber und Co. Maschinenbau zu sehen.
"Du hast Recht", sage ich, "wir haben bis jetzt einen Produktionsarbeiter gesucht, Vollmer scheint aber Transporte für Weber und Co. zu fahren. Wir sollten uns noch mal mit dem Pförtner unterhalten, was meinst du, Zwecke?"
Paola nickt zustimmend. "Machen wir das."
Als wir am Werktor ankommen, ist für die Tagschicht gerade Feierabend. Zwischen den vielen Männern, die durch das Tor strömen, fallen die paar wenigen Frauen gar nicht auf.
"Tag, Herr Wendland", grüße ich den alten Mann, der neben der Tür zu seiner Pförtnerloge an der Bretterwand lehnt und eine Zigarette raucht. Er sieht mich an und tippt mit zwei Fingern an den Rand seiner dunkelblauen Schirmmütze.
"Ach, der Herr von der Zeitung" knurrt er mürrisch und sieht kurz zu Paola. "Heute Verstärkung mitgebracht, was? Ich kann Ihnen aber nichts Neues mehr erzählen. Außer vielleicht, dass neuerdings hier jemand rumzuschnüffeln scheint. Die Leute murren schon."
Ich ahne, dass er Max damit meint, tue aber ahnungslos. "Ach so. Nein nein. Mein Kollege und ich wolten nur fragen, ob Sie einen gewissen Hans-Martin Vollmer kennen. Möglicherweise arbeitet er als Kraftfahrer oder so."
Wendland scheint zu überlegen. "Ich glaube, nach dem hat der Schnüffler die Leute auch schon ausgefragt. Aber der Name sagt mir gar nichts." Er nimmt die Mütze ab und kratzt sich den kahlen Kopf. Ich will mich schon verabschieden, da meint Wendland, ich solle mal kurz warten, denn gerade hält ein grauer Transporter, genauso einer wie auf dem Foto vorhin, an der Schranke.
Der Fahrer steigt aus, als Wendland ihm ein Zeichen gibt, und kommt auf uns zu. "Sag mal Hannes, kennst du einen gewissen Vollmer?" fragt der Alte.
Der Fahrer, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann von vielleicht fünfzig Jahren wiegt nachdenklich den Kopf. Dann lacht er. "Klar! Hans-Martin Vollmer, genannt Hans die Narbe. Den kennst du doch auch." Er sieht zu und und meint dann: "Wenn ihr den sucht, seid ihr umsonst gekommen. Der arbeitet schon seit Monaten nicht mehr hier."
"Hans die Narbe", sage ich und mir schwant Böses, "warum?"
Der LKW-Fahrer grinst. "Na warum wohl? Der Hans hat schon immer ordentlich einen weggezischt, sage ich euch. Zuerst nur nach der Arbeit, später auch davor. Und dann... Na, jedenfalls war er einmal so besoffen, dass er beim Laden aus dem Transporter geflogen ist. Mit dem Gesicht ist er genau auf einen Stahlträger geknallt. Wer's gesehen hat, war sich sicher, dass es das für ihn war. Aber die Ärzte in der Klinik haben ihn ganz gut wieder hingekriegt. Nur die lange Narbe ist eben geblieben." Er deutet auf seine linke Wange und zieht einen Strich vom Ohr hinunter zum Kinn. Ich glaube zu wissen, über wen er spricht.
"Dieser Hans arbeitet nicht mehr hier, sagen Sie", frage ich, "warum und wissen Sie vielleicht, wo er jetzt arbeitet?"
"Naja. Wir hatten eigentlich alle gehofft, dass ihm der Unfall eine Lehre gewesen ist und er mit dem Trinken aufhört. War nämlich ein guter Kerl, der Hans. Aber eher das Gegenteil war der Fall. Er kam fast nur noch blau zur Arbeit. Dem Chef blieb irgendwann nicht weiter übrig, als ihn zu entlassen. Tja, und wo er jetzt arbeitet, weiß ich nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er überhaupt mal wieder was findet." Er klettert wieder in seinen Transporter. "Mehr weiß ich auch nicht", ruft er uns zu und lässt den Motor an, "ich muss jetzt aber los, Leute. Schönen Tag noch!" Dann öffnet Wendland den Schlagbaum und der Transporter rollt vom Hof.
Wir verabschieden uns von dem alten Pförtner und verlassen das Firmengrundstück. Nach etwa einhundert Metern bleibe ich stehen und sehe Paola an. "Ich weiß jetzt, wo wir Vollmer finden."
"Na los", meint Paola daraufhin. "Schaffen wir es heute noch? Wir sollten ihn so schnell wie möglich dingfest machen."
Ich lege meine Hand auf ihren Oberarm als ob ich sie festhalten will. "Langsam, Zwecke, bleib ruhig. Erstens ist Vollmer gefährlich, zweitens können wir ihm gar nichts beweisen. Wir haben im Moment nur einen Verdacht. Außerdem werde ich dich nicht mit in die Höhle nehmen. Dieser Gefahr werde ich dich auf keinen Fall aussetzen. Da gehe ich mit Max hin. Vorher muss ich mit ihm aber besprechen, wie wir vorgehen wollen."
"Die Höhle?" fragt Paola nach. "Du meinst die Ingrid-Höhle, wo die ganzen Obdachlosen leben?"
"Genau. Dort haben Max und ich vor ein paar Tagen einen Mann gesehen, auf den die Beschreibung ganz genau passt. "
Schweigend gehen wir eine Weile nebeneinander her. Dann frage ich, ob ich sie nach Hause begleiten soll.
"Gern." Paola strahlt richtig, als sie mich ansieht. Ich frage mich plötzlich, wie sie wohl in einem Kleid aussieht, denn bisher habe ich sie nur in Männersachen gesehen.
*****
Als ich das kleine Büro der "Elbe-Post" im achten Stock des Pressehauses betrete, richten sich sofort alle fünf Augenpaare der anderen Mitarbeiter auf mich. Sogar die sonst so hochnäsige Wiegand sieht mich mitleidig an. "Du sollst sofort zum Chef kommen", sagt sie ohne eine Spur Boshaftigkeit in der Stimme.
Es ist also soweit, denke ich. Eigentlich kann ich schon meinen Kram zusammenpacken. Doch ich nicke nur und gehe dann die paar Schritte zu der verspiegelten Wand am Ende des Büros.
"Reinkommen", ruft Bendler auf mein Klopfen hin und ich betrete sein kleines Heiligtum.
Der Alte, fünfundsiebzig Jahre, massig und mit dichtem grauen Haar, lehnt sich in seinem gewaltigen Ledersessel zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Da er mir keinen Platz anbietet, bleibe ich an der Tür stehen, nachdem ich sie hinter mir geschlossen habe.
Bendler mustert mich eine Weile schweigend und fragt dann, ob ich mir denken könne, warum er mich hergestellt hat.
"Ich nehme an, Sie sind mit meiner Arbeit unzufrieden", sage ich und sehe ihm direkt ins Gesicht. Er verzieht keine Mine und scheint mich nicht gehört zu haben. "Nun, ich bin es ja auch", sage ich deshalb. Ich habe nichts mehr zu verlieren. "Sie wollen mich feuern, und dazu haben Sie ja auch jeden Grund..."
"Bilden Sie sich nicht zu viel ein, Berger." Bendler verzieht den Mund zu einem angedeuteten Grinsen. "Nein. Die Sache ist die", er zögert kurz, "ich trage mich mit dem Gedanken, in ein paar Monaten in den Ruhestand zu gehen. Als meinen Nachfolger werde ich bis dahin Herrn Petermann einarbeiten. Ab nächste Woche besser gesagt." Er deutet auf den Polsterstuhl vor seinem Schreibtisch. "Setzen Sie sich, Berger."
Langsam und vorsichtig nehme ich Platz. Ich habe das Gefühl, mir jeden Augenblick den Hintern verbrennen zu können. Will er mich etwa zum Redakteur machen? Soll ich Petermanns Stelle bekommen? Aber das hieße ja, ich käme nie mehr raus aus dem Büro, wäre für die gesamte Arbeitszeit an meinen Schreibtisch gefesselt.
"Für mich stellt sich daher die Frage, wer Petermann ersetzen soll", fährt Bendler fort. "Wäre das was für Sie, Berger? Hätten Sie Interesse?" Fragend sieht er mich an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es wäre mir selbst nie in den Sinn gekommen und irgendwie fühlt es sich falsch an. "Nun, Sie sollen sich nicht gleich entscheiden", sagt Bendler dann. "Bis übermorgen lasse ich Ihnen Zeit, Berger. Dann erwarte ich Ihre Antwort." Er deutet auf die Tür.
Ich will gerade sein Büro verlassen, da sagt Bendler leise: "Die Alternative wäre Frau Wiegand, und der wollen wir das ja wohl beide nicht gönnen, oder?"
Erstaunt drehe ich mich um. Bendler grinst breit und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch. "Ich hoffe auf Ihre Verschwiegenheit, Herr Berger", meint Bendler dann noch. "Die junge Dame weiß noch nichts davon, verstanden?" Ich nicke und verlasse sein Büro.
"Wie ein Rausschmiss hat sich das aber nicht angehört', meint Ludwig Petermann.
"War's ja auch nicht", sage ich, "musste nur was klarstellen."
Okay, dann habe ich hier was für dich." Ludwig reicht mir einen Zettel. Eine Adresse steht darauf, die mir absolut nichts sagt. "Ich brauche ein paar Hintergrundinformationen über diesen Typ. Annalena schreibt an einem Artikel über ihn."
"Aber sprich ja nicht mit dem Kerl selber", mischt sich die Wiegand ein, "ich muss noch mehr dazu wissen, was er in seiner Freizeit macht, wo er am liebsten isst, in welche Kneipen er geht, wie er sich dort verhält und so weiter. Na, du weißt schon."
Ich kann es nicht fassen. Bin ich jetzt schon der Laufbursche für die junge Dame? Empört schnappe ich nach Luft. "Bitte", sagt sie da leise und sieht mich mit ihren großen blauen Augen ernst an, "ich muss bis heute Mittag fertig sein und schaffe es aber nicht, wenn du mir nicht hilfst, Tom."
Ich habe ihr die erbetenen Informationen gerade noch rechtzeitig übermitteln können und mache jetzt meine Mittagspause in dem Café am Großen Garten. Eigentlich wollte ich Max hier treffen. Wir haben uns schon wieder fast drei Tage nicht sehen können, da er eine Arbeit bei Weber und Co. Schon wieder aufgegeben hat und jetzt auf einem Schlepper auf der Elbe unterwegs ist. Dabei hätte ich so gerne mit ihm darüber gesprochen, wie wir Vollmer überführen können. Ihn einfach nur zur Rede zu stellen, können wir uns schenken.
"Gut, dass du hier bist", plötzlich steht Tilda neben meinem Tisch. Sie scheint völlig aufgelöst und in großer Sorge zu sein. "Max hat mir mal erzählt, dass du hier oft Pause machst." Sie lässt sich schwer atmend auf einen Stuhl fallen. Nachdem sie etwas Luft geholt hat, fragt sie: "Zwecke war also nicht bei dir, oder?"
Ich verstehe nicht, was sie meint. Warum sollte Paola bei mir sein? "Nein. Ich dachte, sie wäre bei dir. Schließlich habe ich sie bis zur Haustür gebracht und gesehen, wie sie hineingegangen ist."
"Sie ist gleich danach wieder weg", meint Tilda. "Sie müsse noch was überprüfen, hat sie gesagt. Seit dem meldet sie sich nicht mehr. Das ist seltsam." Sie schaut mich an und ich sehe die Angst in ihren Augen. "Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir für Sorgen um sie mache."
"Doch, ich denke, das kann ich." Langsam wird auch mir bewusst, dass etwas passiert sein muss. Und dann wird mir schlagartig klar, in welche Gefahr sich Paola begeben hat. "Scheiße, verdammte!" Ich kann diesen Ausruf nicht zurückhalten. Tilda sieht mich erschrocken an. "Ich habe ihr an diesem Nachmittag erzählt, dass Max und ich den Vollmer schon mal gesehen haben, und zwar in der Ingrid-Höhle. Sie wird doch nicht..."
Mathilda schlägt sich eine Hand vor den Mund und ihre Augen weiten sich noch mehr. "Sie ist tot", flüstert sie. Ich habe sie noch nie so aufgelöst gesehen.
"Bleib ruhig", sage ich und fasse nach ihren Händen. "Noch wissen wir gar nicht, ob sie überhaupt dorthin gegangen ist. Wir können uns auch nicht sicher sein, dass es sich bei dem Mann um Vollmer gehandelt hat oder um einen anderen Obdachlosen mit einer Narbe im Gesicht. Und ein wenig müssen wir auf Zweckes Instinkt und ihre Vorsicht bauen. Nichts desto Trotz sollten wir heute Abend mal nachsehen. Ich muss noch etwas arbeiten und dann treffen wir uns, wenn du mitkommen willst, heißt das."
"Klar komme ich mit." Mathilda sieht mich nachdenklich an und kaut auf ihrer Unterlippe herum. Ich merke, dass sie noch etwas auf dem Herzen hat.
"Was ist los?" frage ich vorsichtig.
Sie seufzt. "Saskia ist auch spurlos verschwunden", sagt sie dann. "Ich war vorgestern mit ihr verabredet, um weiter an den Porträt zu arbeiten. Die war aber nicht zu Hause. Darum habe ich eine Nachricht an die Tür geheftet. Als ich vorhin nachgesehen habe, war diese aber noch völlig unberührt. Saskia ist also seit mindestens zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen. Hoffentlich hängt das nicht zusammen, Tom."
"Zwei Frauen können doch nicht einfach so spurlos verschwinden, Tilda" versuchen ich sie zu beruhigen, aber so richtig gelingt mir das nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Sache immer undurchsichtigen wird, je weiter wir vordringen.
"Ich muss wieder in die Redaktion" sage ich dann, "wenn du heute mitkommen willst zur Höhle, warte vor dem Pressehaus auf mich."
Tilda nickt und zusammen verlassen wir das Café.
"Du musst sofort zum Hafen", empfängt mich Ludwig Petermann, kaum dass ich die Redaktion betreten habe. "Sie haben da gerade eine Frauenleiche im Wasser gefunden. Na los, was stehst du hier noch rum? Beeil dich!"
Ich greife schnell nach meiner Kamera, die auf dem Tisch liegt, und stürme wieder hinaus. Zwecke, denke ich, bist du Vollmer zu nahe gekommen und hat er dich etwa auch getötet? Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken.
Auf der Straße halte ich das erste Fahrradtaxi an, das mir entgegen kommt. Ich drücke dem Fahrer fünf ES in die ausgestreckte Hand und lasse mich, so schnell er kann, zum Hafen fahren.
Diesmal lassen mich die Polizisten kommentarlos durch die Absperrung, als ich meinen Presseausweis zücke.
Die Spurensicherung ist noch am Arbeiten, die Leiche aber mit einer Plane abgedeckt. Nur ihre Füße sehen darunter hervor. Sie sind fest mit einem Seil umwickelt, an dem außerdem ein großer Betonblock angebunden ist.
Langsam gehe ich auf die Stelle zu, an der die Tote liegt und mache dabei die ersten Fotos.
Neben der Leiche hockt Oberkommissar Rosenthal und betrachtet interessiert die Knoten, mit denen der Block an dem Seil befestigt wurde.
"Sieht nicht wirklich nach Selbstmord aus, oder?" frage ich und hocke mich ebenfalls hin.
Rosenthal schaut mich kurz an und meint trocken: "Es sei denn, die junge Frau hätte den Klotz selbst her getragen, ihn sich an die Füße gebunden und es dann noch geschafft, damit ins Wasser zu springen und bis zur Mitte des Hafenbeckens zu schwimmen. Ich halte das für unwahrscheinlich."
"Wissen Sie schon, um wen es sich handelt?" frage ich und muss mich bemühen, ruhig und professionell zu klingen, denn ich habe dabei Paolas jungenhaftes Gesicht vor mir. Bitte nicht, denke ich.
"Die Identität der Frau ist noch nicht bekannt", meint Rosenthal und blickt auf die Gestalt unter der Plane. "Eine junge Frau", sagt er dann, "so Ende dreißig, denke ich. Sie ist ziemlich elegant gekleidet und macht auch so einen nicht gerade armen Eindruck."
Gott sei Dank, denke ich, das klingt ganz und gar nicht nach Paola. Sofort werde ich ruhiger. "Darf ich?" frage ich und deute auf die Plane.
Rosenthal nickt. Ich mache meine Kamera fertig und hebe dann die Plane in Kopfhörer der Leiche an. Eine Flut roter Haare quillt darunter hervor. Als ich das Gesicht der Toten sehe, pralle ich erschreckt zurück.
"Kennen Sie sie etwa?" Rosenthal sieht mich erstaunt an.
"Kennen ist übertrieben", sage ich, "Das ist Saskia Winterberg, oder genauer gesagt Saskia Consuela von Winterberg zu Beerenstein."
Oberkommissar Rosenthal stößt einen leisen Pfiff aus. "Eine Millionenerbin also", sagt er nachdenklich, "Wer hatte wohl einen Grund, die um die Ecke zu bringen?"
Ich habe inzwischen zwei, drei Fotos gemacht und das Gesicht wieder bedeckt. "Wohl eher keine Millionenerbin", sage ich und stehe auf. "Ihr Vater hat das gesamte Vermögen der Familie durchgebracht. Die Ärmste musste sogar arbeiten gehen."
Rosenthal sieht überrascht aus. "Woher wissen Sie das Berger? Ich meine..."
"Ich bin eben Journalist", sage ich und zwinkere ihm zu. "Nein, das hängt mit dem Fall ihres Bruders zusammen. Die Winterberg scheint darin verwickelt zu sein. Ich weiß nur noch nicht genau, was für eine Rolle sie da spielt. Oder gespielt hat, muss ich da ja jetzt sagen."
Rosenthal nickt und zündet sich eine Zigarette an. Er wirkt auf einmal fahrig und nervös. "Sie kommen damit also voran?"
"Lassen Sie mich schnell noch ein paar Bilder machen, dann reden wir", sage ich.
Ein paar Minuten später treffe ich ihn in der Nähe der Lagerhallen. Wir setzen uns auf einen niedrigen Bretterstapel. Die Bestatter sind gerade dabei, Saskias Leiche in ihren Transporter zu verladen. Ich setze den Oberkommissar kurz darüber ins Bild, wie weit wir mit unseren Ermittlungen sind. "Leider fehlt uns jeder Beweis dafür, dass dieser Vollmer der Mörder ist und wir kennen auch sein Motiv noch nicht." beende ich meinen Bericht.
"Jemand wird ihn beauftragt haben", meint Rosenthal, "ich hätte auch gedacht, dass diese Winterberg etwas damit zu tun hat. Aber nun ist die selbst ermordet worden." Er sieht nachdenklich zu den Bürogebäuden des Hafens auf der anderen Seite des Hafenbeckens hinüber. "Ich möchte wetten, die Lösung liegt bei den Energieversorgern", sagt er dann, "wenn sie tatsächlich ein Verhältnis mit diesem Beermeister hatte, dann könnte es sein, dass er der Drahtzieher ist und den Vollmer mit den Morden beauftragt hat."
"Und Saskia Winterberg musste sterben, weil sie in den Betrug verwickelt gewesen ist?"
"Möglich", Rosenthal nickt. "Aber auch das können wir nicht beweisen."
"Nein, aber mein Team und ich bleiben dran, versprochen."
Der Oberkommissar lächelt. "Ihr Team, ja? Seien Sie bloß vorsichtig Berger. Wenn Sie Recht haben, ist der Mann mehr als gefährlich. Ich halte es, gelinde gesagt, für unklug, ihn in seinem Unterschlupf, noch dazu im Kreise seiner Leute, aufzusuchen. Sie sollten besser versuchen, ihn irgendwo alleine anzupassen und zur Rede zu stellen."
"Die Worte Rosenthals haben mich dann doch nachdenklich gemacht. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, Vollmer mit unserem Vorwurf zu konfrontieren", sage ich zu Tilda, als wir uns drei Stunden später vor dem Pressehaus treffen. Vom Tod Saskias habe ich ihr gerade erzählt. Mathilda hat die Nachricht unaufgeregt gelassen. Ich habe den Eindruck gehabt, sie hat bereits damit gerechnet, dass Saskia etwas zugestoßen ist.
"Ein Grund mehr, so schnell es geht nach Zwecke zu suchen", meint sie daraufhin
"Ich will nicht, dass ihr auch noch was passiert."
"Denkst du ich? Wir sollten aber so tun, als ob wir nur Paola suchen, und uns dabei unauffällig nach Vollmer umsehen, was meinst du?"
Mathilda nickt. "Gut Tom, so machen wir es."
Bis zum Stadtrand fahren wir diesmal mit der Straßenbahn, dann laufen wir. Gerade, als wir auf die ehemalige Landstraße einbiegen, beginnt es wieder heftig zu regnen. Während wir innerhalb weniger Minuten komplett durchgeweicht werden, stapfen wir schweigend nebeneinander her.
Dann halte ich es nicht mehr aus und muss eine Frage loswerden, die mich seit Tagen bewegt. "Sag mal Tilda", frage ich, "warum trägt Paola eigentlich immer nur Männersachen? Ich habe sie noch nie anders gesehen. Ist sie etwa..."
Lachend unterbricht mich Tilda. "Ich könnte ja jetzt sagen: Probiere es einfach aus. Aber nein Tom, mit ihrer Sexualität hat das gar nichts zu tun. Zwecke spielt in dem neuen Stück gerade einen jungen Mann und sie ist nun einmal Schauspielerin durch und durch und will immer alles perfekt machen. Deshalb gibt sie sich zur Zeit auch privat als junger Mann aus. Sie kann aber ganz anders, glaub mir. Nein, Zwecke ist eine tolle Frau und eine gute Freundin, Tom. Sie hat dir ja schon gesagt, dass ich der Meinung bin, ihr beiden passt richtig gut zusammen."
Ich antworte nicht darauf und lenke das Gespräch auf ein anderes Thema.
Als wir den Eingang der Höhle erreichen, dämmert es schon. Zu unserem Pech ist sie wieder gut bewacht. Wir werden durch die Posten schon gut zwanzig Meter vor dem Eingang angehalten. Sie erklären uns mit wenigen Worten, dass wir hier nichts zu suchen haben und verschwinden sollen, wenn uns unser Leben wichtig wäre.
Ich bleibe gelassen und ziehe ein Foto von Paola aus der Manteltasche. "Wir suchen die hier", sage ich und zeige den beiden Männer das Bild. "Ist von zu Hause fortgelaufen und sie könnte ja hier sein, oder?"
Die Kerle werfen nicht mal einen Blick auf das Foto. "Ist nicht hier", einer von beiden zieht ein Klappmesser aus der Hosentasche und lässt es ein paar Zentimeter vor meiner Nase aufspringen. "Und wenn, würden wir es euch nicht sagen. Und nun haut endlich ab!"
Uns bleibt nichts anders übrig, als ihrer Aufforderung nachzukommen. Gerade als wir uns umdrehen wollen, kommt eine alte Frau aus der Höhle geschlurft. Sie geht gebeugt, auf einen altmodischen Gehstock gestützt. Verfilzte graue Haare hängen ihr ins Gesicht. Langsam humpelt sie auf das Gebüsch zu, das sich am Weg entlang zieht und verschwindet darin.
Tilda und ich kehren der Höhle den Rücken und gehen langsam zurück in Richtung der Stadt. Nach etwa fünfzig Metern höre ich von links einen leisen Pfiff und als ich hinüber sehen, streckt sich eine Hand aus dem Gesträuch und ein Finger winkt mit zu. Mathilda hat davon nichts mitbekommen. Ich sehe sie an und sage: "Ich glaube, ich muss auch mal. Wartest du hier?"
Seufzend bleibt sie stehen und ich gehe zu dem dichten Gebüsch hinüber. Kaum bin ich dort angekommen, flüstert jemand: "Vollmer ist nicht mehr oft hier. Er soll sich im 7. Himmel ein neues Versteck gesucht haben. Er weiß, dass wir ihm auf der Spur sind."
Ich hätte Zwecke in ihrer Verkleidung nie erkannt. Sie ist wirklich gut, denke ich. Zugleich aber mache ich mir nur noch größere Sorgen. "Dann verschwinde hier so schnell du kannst, Zwecke." Ich flüstere ebenfalls. "Was willst du denn noch hier?"
"Vollmer soll heute Abend noch mal herkommen. Ich hoffe, dass ich noch etwas mehr in Erfahrung bringen kann. Dann versuche ich ganz schnell abzuhauen, versprochen. Wir treffen uns morgen bei Tilda, ja?" Ein leises Rascheln und sie ist verschwunden.
Ich gehe zu Mathilda zurück und während wir unseren Weg in Richtung Stadt fortsetzen, erzähle ich ihr, was ich von Zwecke gerade erfahren habe.
"Wenigstens geht es ihr gut", sagt Tilda, "Da bin ich schon ein wenig beruhigt. Aber es war trotzdem ziemlich leichtsinnig von ihr, auf eigene Faust hier Nachforschungen anstellen zu wollen. Naja, zum Glück ist alles gut gegangen. Da müsste sie ja im Laufe der Nacht oder spätestens morgen früh nach Hause kommen."
*****
Für diesen Tag habe ich mich in der Redaktion krank gemeldet. Zwar haben Tilda und ich Zwecke gestern Abend gesund und gut gelaunt vorgefunden, aber auf dem Heimweg haben wir uns dann doch Sorgen gemacht. Was, wenn jemand Verdacht geschöpft hat? Ich hoffe nur, dass sie gut bei Tilda angekommen ist.
Max war auch nicht zu Hause, als ich vorhin bei ihm geklingelt habe. Vielleicht ist auch er schon bei Tilda, denke ich, während ich durch die Straßen der Friedrichstadt gehe. Heute sieht hier alles ganz erträglich aus, finde ich wieder, wie vor ein paar Tagen, als ich hier mit Max unterwegs gewesen bin. Vielleicht liegt es daran, dass ausnahmsweise mal wieder die Sonne für ein paar Stunden scheint. Nur, dass dieser penetrante Geruch aus Industrieabgasen und den Ausdünstungen der Elbe sowie des Hafens mir dadurch noch mehr auffällt, finde ich schlimm.
Später, nachdem ich die Enge und das Grau des Hafenviertels und des angrenzenden Industriegebietes hinter mir gelassen habe und der Weg von einzeln stehenden Häusern mit Gärten gesäumt ist, kommt es mir beinahe so ordentlich vor wie in der Gegend, in der ich wohne.
Da ich mir heute des schönen Wetters wegen mal die Zeit nehme, meine Umgebung etwas genauer als sonst wahrzunehmen, fällt mir heute allerdings zum ersten Mal auf, dass die Mieter hier in den kleinen Vorgärten und ehemaligen Höfen fast überall Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anbauen, manche auch Getreide. Nur selten sehe ich noch Rasenflächen, Sträucher und bunte Blumen oder kleine Pavillons mit Sitzgelegenheiten, wie ich sie von alten Fotos her kenne. In meiner Gegend hat dieser Trend ebenfalls schon begonnen, ist aber längst nicht so verbreitet wie hier, wo die Menschen sicher noch mehr auf Eigenversorgung angewiesen sind, als woanders.
Ein paar Minuten später habe ich auch dieses Stadtviertel hinter mir gelassen und komme in den Bereich der tristen, grauen, halb zerfallenen Plattenbauten.
Als ich an dem riesigen Betonturm des Siebenten Himmels vorbeikomme, verspüre ich ein ungutes drückendes Gefühl. Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick an der kalten grauen Fassade hinaufgleiten. In den ersten beiden Etagen sind fast alle Scheiben der Fenster eingeschlagen, weiter oben werden es weniger. Vermutlich haben Kinder getestet, wie hoch sie Steine werfen können.
Auch die riesigen Glasscheiben des Hauseinganges, einem flachen Vorbau vor dem eigentlichen Gebäude, sind längst zerstört, die Scherben aus den Rahmen gebrochen. Durch die leeren Rahmen betrete ich vorsichtig das Haus. Durch die Öffnung einer ehemaligen Tür fällt mein Blick in das Dunkel des Treppenhauses.
Langsam gehe ich näher. Ein muffiger, feuchter Geruch schlägt mir entgegen, noch ehe ich das Haus betrete. Viel hat sich hier drin nicht verändert, denke ich, seit wir als Kinder hier verstecken gespielt haben. Nur die Grafittis an den Wänden sind mehr geworden, alte teilweise übersprüht. und das Treppengeländer fehlt, stelle ich besorgt fest. Das haben Schrottdiebe bestimmt schon vor Jahren abgesägt und zu Geld gemacht.
Mein Blick fällt auf den Fußboden. Im Eingangsbereich ist er erstaunlich sauber. Ganz so, als wäre er in letzter Zeit mindestens einmal gekehrt und ziemlich oft begangen worden. Der Wind hat etwas Dreck von der Straße herein geweht, der sich mit altem Betonstaub und ein paar fast zerfallen Blättern vermischt, aber es sind keinerlei Abdrücke von Schuhsohlen zu erkennen. Dabei soll Vollmer sich doch seit kurzem oft hier aufhalten.
Erst, als ich den Gang weiter nach hinten gehe, ist der Boden mit einer dicken Staubschicht bedeckt, wie ich sie auch weiter vorn vermutet hätte. Daraus schließe ich, dass doch jemand da vorn sauber gemacht hat. Das kann nur Vollmer gewesen sein, denke ich. Sicher wollte er nicht, dass jemand auf seine Spuren aufmerksam wird.
Ich sehe mich nur kurz in dem dämmrigen Gang um. Hier ist seit Jahren niemand mehr gewesen, soviel steht fest. Die Wohnungstüren sind vor langer Zeit aus den Rahmen gerissen und verkauft oder verheizt worden. Die schwere Stahltür, die die Treppe zum Keller verborgen hat, ist längst verschwunden. Sie fehlte schon, als Max und ich hier noch gespielt haben. Auch die Türen des Fahrstuhls fehlen inzwischen.
Nachdenklich stehe ich vor der breiten Öffnung und starre eine Weile in die dunkle Tiefe und dann nach oben. Nur ein paar wenige Drähte hängen noch in der Dunkelheit herum, soweit ich es erkennen kann. Sowohl nach oben wie auch nach unten verliert sich mein Blick in völliger Finsternis. Unmöglich zu sagen, wie tief es hinuntergeht und was da unten, am Grund dieser schier bodenlosen Finsternis liegt.
Ich wage nicht, lange darüber nachzudenken. Vorsichtig trete ich zwei Schritte zurück und drehe mich um. Plötzlich ist da ein leises Geräusch. Das leise Kratzen halte ich im ersten Moment für das Scharren kleiner, scharfer Krallen auf dem Boden. Doch dann folgt ein leises, dumpfen Klicken. Ich fahre herum und starre wieder in den finsteren Schacht. Meine rechte Hand gleitet wie von selbst in die Tasche meines Mantels und umfasst den Griff der Pistole, die Max mir letztens zugesteckt hat. Ich bin noch nicht dazugekommen, sie ihm zurückzugeben.
Mit der entsicherten Waffe in der Hand lausche ich in die Dunkelheit. Nichts passiert mehr. Wahrscheinlich ist nur weiter oben ein Stück Putz abgebröckelt, denke ich, oder ein winziges Stück Beton abgebrochen und in den Schacht gefallen.
Doch ich muss mir auch eingestehen, dass mich das Geräusch mehr als ich mir zugeben will, beunruhigt.
Immer noch mit der Pistole in der Hand gehe ich leise wieder nach vorn zur Treppe. Auch die Stufen sehen merkwürdig sauber aus, fällt mir auf, als ich vorsichtig in die erste Etage hinaufsteige. Nach jeder Stufe bleibe ich stehen und lausche, aber alles bleibt still.
Schritt für Schritt, immer wieder stehenbleiben und horchen, steige ich in die erste Etage hinauf. Dort erwartet mich das gleiche Bild wie unten. Der Fußboden des Ganges scheint grob gekehrt worden zu sein, alle ehemaligen Wohnungstüren fehlen.
So gut, wie es in dem leeren Treppenhaus möglich ist, versuche ich, in Deckung zu bleiben. Mit beiden Händen strecke ich die Pistole nach vorn durch die Türöffnungen, ehe ich eine Wohnung betrete, immer einen Angriff befürchtend. Der aber bleibt aus. Alle Wohnungen sind leer und verlassen, genauso, wie ich es in Erinnerung habe. In ein paar wenigen stehen noch Reste von alten Möbeln, ein Bettgestell etwa oder ein uralter Sessel. Hier und da wurden Vorhänge oder Tücher zurückgelassen, selten sind noch Dinge zu sehen, die auf die Benutzung als Bordell hinweisen. Das, was davon brauchbar war, ist gewiss schon kurz nach der Schließung des Etablissements entwendet worden. Nur ein paar längst verblichen Bilder und Poster zeugen noch von dieser Zeit.
In einigen Wohnungen haben sich im Laufe der Zeit Tauben und andere Vögel eingenistet, wie man an ihren Hinterlassenschaften, verlassenen Nestern und ein paar Knochen, die auf dem Boden liegen, deutlich erkennen kann. Aber auch die scheinen weiter oben schon lange bessere Bleiben gefunden zu haben. Auf jeden Fall machen alle Wohnungen den Eindruck, als habe seit Jahrzehnten kein Mensch mehr seinen Fuß hineingesetzt.
Nachdem ich diese erste Etage durchsucht habe, werde ich ruhiger. Nichts deutet darauf hin, dass sich Hans-Martin Vollmer oder irgendjemand anderes sich hier aufgehalten haben könnte.
Auch in den nächsten beiden Etagen kann ich nichts dergleichen finden. Eine noch, denke ich, dann gebe ich auf. Ich kann Max und Tilda beruhigen. Das Vollmer sich hier aufhält, sollte ein Gerücht sein, denke ich. Niemand ist so verrückt und steigt täglich mehrmals diese verdammten siebzehn Etagen hinauf, um sich zu verstecken.
Gerade will ich umkehren und gar nicht erst in die vierte Etage steigen, als ich plötzlich wieder Geräusche höre. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber mir ist, als ob ich hoch oben leise Stimmen und ein Rascheln vernehmen kann.
Vorsichtig nähere ich mich dem Rand der Treppe, immer in Sorge, der bröcklige Beton könnte unter meinen Füßen nachgeben und ich könnte in die Tiefe stürzen. In Ermangelung eines Geländer stütze ich mich mit beiden Händen an den Stufen der weiter nach oben führenden Treppe ab, nachdem ich meine Waffe wieder eingesteckt habe. Angestrengt starre ich nach oben, sehe aber nur völlige Leere. Auch zu hören ist nichts mehr. Ich frage mich, ob ich mich getäuscht habe oder meine Fantasie einen Streich gespielt hat.
Nur ein paar Minuten später bin ich mir sicher, dass ich nicht geträumt habe. Eine der Wohnungen in der vierten Etage ist noch vor kurzer Zeit benutzt worden. Die Decken auf dem Fußboden sind nicht neu, aber auch nicht alt und vermodert, Kerzenwachs ist auf den Boden getroffen und wurde nicht beseitigt, auch ein paar abgebrannt Zündhölzer liegen herum. Im Bad entdecke ich dann eine Zeitung von letzter Woche. Das es die Elbe-Post ist, die über die bevorstehende Ergreifung des Mörders von Friedhelm Walther berichtet, wundert mich nicht.
Ich setze mich auf einen wackeligen alten Hocker, der neben der Eingangstür steht und und starre auf die Zeitung in meinen Händen. War es diese Nachricht, die Vollmer dazu gebracht hat, die Höhle zu verlassen und such einen neuen Unterschlupf zu suchen, oder erst unser Auftauchen dort? Ich bin mir jetzt aber sicher, dass er hier gewesen sein muss. So sehr ich mich aber auch umschaue, nichts deutet darauf hin, dass er sich noch hier aufhält.
Dann sage ich mir, dass ich hier aber erst einmal abbrechen muss. Die Anderen werden schon auf mich warten.
Ehe ich gehe, werfe ich noch einen Blick auf die Treppe, die in die fünfte Etage führt. Im Gegensatz zu den anderen ist sie dreckig und verstaubt. Auf den ersten Blick scheint es, als ob hier schon ewig niemand hier hinaufzusteigen ist. Doch dann ist mir, als würde ich hier und da ein paar Abdrücke auf den Stufen erkennen können. Wieder schaue ich zweifelnd nach oben. Alles bleibt still. Ich muss die anderen holen, denke ich, alleine werde ich heute nicht fertig damit. Dann erst fällt mir wieder ein, dass wir uns ja bei Mathilda treffen wollten. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht, seit ich dieses unheimliche Haus betreten habe. Ich bin garantiert schon viel zu spät! Ohne weitere Verzögerung steige ich die Treppen hinab und trete auf die Straße hinaus.
*****
Schweigend nähern wir uns dem grauen Betonriesen. Ich glaube, jeder ist mit seinen Gedanken mehr bei Paola, als bei Vollmer. Was ist mit ihr geschehen? Hat sie auf eigene Faust versucht, ihn zu stellen? Ich kann und will das einfach nicht glauben. Hat er bemerkt, dass sie ihn beobachtet, vielleicht sogar verfolgt und sie deswegen getötet? Liegt ihre Leiche irgendwo da draußen im Plauenschen Grund oder woanders? Oder hat er sie hierher, in sein Versteck, geschleppt und ihr etwas angetan? Diese Fragen beschäftigen ganz bestimmt jeden von uns.
Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das ich verspürte, als ich vorhin feststellen musste, dass Paola nicht bei Tilda angekommen war, wie ich gehofft hatte. Das Wort Angst reicht nicht aus, es zu beschreiben. Dass es Tilda und Max genauso ging, konnte ich deutlich sehen. Keine fünf Minuten haben wir gebraucht, uns kurz abzusprechen und auf den Weg zum Siebenten Himmel zu machen. Wir müssen einfach hoffen, dass sie noch lebt und Vollmer sie bei sich hat.
Plötzlich beschleicht mich das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Instinktiv ziehe ich meinen Mantel fester um meinen Körper. Max bleibt und sieht mich an. „Er beobachtet uns“, sagt er. Ohne zu dem Gebäude hinzusehen, fügt er hinzu: „Irgendwo da oben steht er und starrt auf uns hinunter. Ich kann es spüren.“
„Mir geht es genauso“ sage ich leise. Meine Augen suchen die kahle Fensterfront der siebzehn Etagen ab, ohne wirklich etwas sehen zu können.
„Kommt ihr?“ Mathilda steht schon mitten in dem kleinen Vorbau, durch den man in das Haus gelangt. Eine Figur, ein Satz aus einem Theaterstück, das ich als Junge einmal gesehen habe, kommt mir in den Sinn als ich sie da stehen sehe, beide Hände in den Taschen ihres langen schwarzen Ledermantels vergraben, mit ihren schwarzen Locken, die das bleiche Gesicht umrahmen, und den schwarzen Schnürstiefeln. Ein Racheengel ist gekommen, denke ich, um das Böse aus der Welt zu schaffen und mit sich zu nehmen.
Im Treppenhaus empfängt uns diese seltsame, düstere Atmosphäre, die ich vorhin schon verspürt habe. Keiner von uns wagt, laut zu sprechen. Ich sehe, wie mein Bruder seinen Blick schweifen lässt. „Gruselig“, flüstert er dann, „ich kann mich gar nicht dran erinnern, dass wir uns hier drin je gefürchtet hätten.“ Dann sieht er mir ins Gesicht. Zu meinem Erstaunen bemerke ich, dass er tatsächlich Angst zu haben scheint. Das habe ich noch nie zuvor bei ihm gesehen. Langsam zieht er seinen Revolver aus der Manteltasche. „Und du hast wirklich schon alles abgesucht?“ fragt er mich.
„Wie gesagt: Bis zur vierten Etage war ich vorhin“, sage ich genauso leise. „Bis dahin nichts Auffälliges, außer, dass der Boden irgendwie sauber aussieht. Dann liegt überall Dreck auf den Stufen. Es sieht aber so aus, als ob die Treppe benutzt wird.“
„Und diese Wohnung in der Vierten.“ Max sieht nachdenklich aus.
„Lasst uns endlich gehen!“ Tildas Stimme ist trotz des Flüstertons die Anspannung und die Sorge um ihre Freundin anzumerken. Ich weiß immer noch nicht, woher sie die Gewissheit nimmt, dass Paola hier ist.
Wir steigen in die vierte Etage hinauf und ich zeige ihnen die Wohnung, die ich meine. Max geht hinein und sieht sich um. Dann wendet er sich wieder zur Tür und sagt: „Hier ist absolut nichts, Tom. Bist du dir sicher, dass es diese Bude war?“
Ich bin mir völlig sicher und trete ebenfalls in den kleinen Flur. Der Hocker neben der Wohnzimmertür ist genauso verschwunden wie die alten Decken und die Zeitung, die ich vorhin in der Hand gehalten habe. Selbst das Kerzenwachs und die Streichhölzer sind verschwunden. Verwirrt trete ich näher. Sollte ich mich doch geirrt haben? Aber dann entdecke ich ein paar Reste des Wachses auf dem Fußboden. „Da, siehst du?“ flüstere ich und deute auf die Stelle. „Hier war es. Ich bin mir absolut sicher, Max.“
Er schaut auf und sieht sich um. „Sie sind hier“ sagt er bestimmt und nickt. Dann geht er leise wieder auf den Gang hinaus.
„Woher nehmt ihr nur die Gewissheit, dass er Paola bei sich hat?“ frage ich leise.
Die beiden sehen sich an und zischen, wie aus einem Mund, zurück: „Ich weiß es eben.“
Ich zucke mit den Schultern und steigen weiter nach oben. Max und ich gehen mit gezogenen und entsicherten Waffen voran, Tilda folgt uns. In jeder Etage überprüfen wir die Wohnungen. Max geht rechts den Gang entlang, ich links. Doch nirgends finden wir Anzeichen von Vollmer oder einem anderen Menschen. Das gesamte Haus wirkt völlig leer.
Plötzlich bleibt Max auf einem Treppenabsatz zwischen der sechsten und siebenten Etage stehen und hält sich einen Finger vor den Mund. Tilda und ich spitzen die Ohren und lauschen angestrengt. Es ist nichts zu hören.
Gerade wollen wir weitergehen, als Max uns durch eine heftige Bewegung daran hindert und nach oben deutet. Fragend sehe ich ihn an. Was will er denn nur? Doch dann höre ich es auch. Ein Scharren und Schurren, dazwischen ein leises Stöhnen und keuchen. Es hört sich an, als ob ein paar Etagen über uns zwei Personen miteinander kämpfen würden. Dann nähern sich die Geräusche hörbar dem Fahrstuhlschacht. Max und Tilda sehen sich an. Beide sind kreideweiß geworden, stehen aber wie versteinert da.
Genau in diesem Moment sehe ich, wie Etwas durch den Schacht stürzt. Dann schlägt es mit einem leisen Poltern irgendwo unten auf den Boden. Tilda erstickt einen Schrei, indem sie sich beide Hände vor den Mund presst. Ihre Augen sind vor Entsetzen weit aufgerissen. Max lässt mit offenem Mund seinen Revolver sinken. Beide stehen so, dass sie nicht in den Schacht hineinsehen konnten. Oben folgt ein lauteres Geräusch. Es klatscht, als habe jemand eine Ohrfeige bekommen. Dann ist wieder absolute Stille. Ich sehe sie an und schüttle den Kopf. „Kein Mensch“, flüstere ich, „Was ganz Kleines.“
Beide atmen auf und entspannen sich ein wenig. „Ich gehe nachsehen.“ Max flüstert ebenfalls. „Ihr bleibt hier und rührt euch nicht von der Stelle.“ Dann geht er die Treppe hinunter.
Tilda und ich sehen uns an. „Was war das?“ wispert Tilda.
„Ich weiß es nicht“, gebe ich zu. „Es ging viel zu schnell. „Aber Zwecke war es nicht, auf keinen Fall, Tilda. Sei ganz ruhig.“
„Ich bin ruhig“, knurrt sie. Ihr Gesicht sagt aber etwas anderes aus.
Es scheinen Stunden zu vergehen, bis Max wieder auf dem Treppenabsatz steht. Staub hat sich mit dem Schweiß auf seiner Stirn vermischt. In der rechten Hand hält er einen flachen Halbschuh.
„Jede Menge Müll liegt da unten“, sagt er schnaufend, „wahrscheinlich hat man einen Haufen Gerümpel einfach nach unten geworfen. Aber das hier scheint neu zu sein. Alles andere ist total verdreckt.“ Er hält Tilda den Schuh hin. „Der ist von Zwecke, oder?“ fragt er.
Tilda nickt stumm. Sie nimmt den Schuh in die Hand und betrachtet ihn von allen Seiten. „Eindeutig“, sagt sie dann leise. „Die hat sie letztens angehabt, als sie die Wohnung verlassen hat.“ Sie blickt nach oben. „Ich hab’s doch gewusst. Halte durch, Zwecke, wir sind unterwegs.“ Sie sagt es so leise, dass kaum wir es hören können, geschweige denn Paola.
„Na, dann los“. Ich gehe die nächsten Stufen hinauf, nehme immer zwei auf einmal und denke nicht an den Abgrund auf der linken Seite.
Max überholt mich. „Es war ziemlich weit oben“, sagt er, jetzt nicht mehr flüsternd, „bestimmt zehnte Etage oder höher.“
Die anderen Etagen brauch wir nicht mehr durchsuchen, denke ich und muss mir Mühe geben, mit meinem Bruder Schritt zu halten. Tilda hält sich direkt hinter uns.
Plötzlich, wir sind gerade zwischen der elften und zwölften Etage, fällt ein Schuss. Ein lauter Knall hallt durch das Haus, der mir noch Minuten später in den Ohren klingt. Ihm folgt ein langgezogenes Pfeifen. Wahrscheinlich ist die Kugel von einer Wand abgeprallt. Max bleibt stehen und hebt die Hand. Er dreht sich um und sieht Tilda an. „Schnell wenigstens noch in die Zwölfte. Komm direkt hinter mich.“ Ich nicke und stelle mich dicht an Tildas linke Seite. So ist sie einigermaßen geschützt.
So schnell es geht, bewältigen wir die nächste halbe Treppe. Dann schiebt Max Tilda durch die erste offene Wohnungstür auf der rechten Seite. „Du bleibst hier“ sagt er und unterdrückt den Ansatz zum Widerspruch mit einer schnellen Handbewegung. „Rühr dich ja nicht von der Stelle. Wir machen das schon.“
Widerwillig tritt Tilda in die leere Wohnung. Ich sehe ihr an, dass ihr das gar nicht gefällt. Aber Max hat schließlich Recht. Vorsichtig steigen wir dann immer höher. Wir haben gerade die vierzehnte Etage erreicht, als plötzlich eine halbe Treppe höher zwei Gestalten auf dem Absatz über uns stehen.
„Keinen Schritt näher“, blafft Vollmer uns an. In seiner rechten Hand hält er eine Becker 08, eine schöne, aber in die Jahre gekommene Pistole, die bestimmt älter ist, als er selbst. Diese Dinger werden seit über fünfzig Jahren nicht mehr hergestellt, weiß ich. Das ändert aber nicht daran, dass es eine tödliche Waffe ist.
Mit der Linken presst er Paola eng an sich, sie schützt so gezwungenermaßen sein Herz. Sie trägt noch immer das alte Kleid, das sie gestern in der Höhle anhatte. Ihre Augen fixieren mich. Ich sehe keine Spur von Angst in ihnen. Sie öffnet den Mund und ihre Lippen formen lautlos das Wort „Schießt!“ Ich kann es beinahe hören, so deutlich ist es zu sehen. Doch weder Max noch ich reagieren.
„Was soll das, Vollmer?“ fragt Max da in die gespannte Stille hinein. „Ich ballere dir ein Loch in deinen hässlichen Schädel, da hilft dir auch deine Geisel nicht.“
„Versuch’s doch“ knurrt Vollmer und drückt Paola die Mündung seiner Waffe an die Schläfe.
Ehe ich es verhindern kann, reißt Max den Revolver hoch, doch Vollmer ist schneller. Seine Hand schwenkt kurz herum und als es knallt, greift Max sich schon an die Brust. Mit einem lauten Scheppern knallt sein Revolver auf den Boden. Ich habe noch nicht einmal begriffen, was gerade passiert ist, da hat Vollmer die Pistole schon wieder auf Paola gerichtet. „Na, willst du’s nicht auch versuchen?“ faucht er mich an. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich meine Goldmann aus der Manteltasche ziehen soll, sage mir dann aber, dass Paola tot wäre, bevor ich die Pistole auf Vollmer richten kann.
Ein paar Sekunden lang starren wir uns an. Ich kann sein Gesicht im Dämmerlicht des Treppenhauses kaum erkennen, habe aber das Gefühl, dass er meines eingehend studiert. Er versucht wohl einzuschätzen, wie weit ich gehen werde. Dann zerrt er Paola weiter nach oben.
Ich gehe in die Hocke und wende mich zu Max, der auf der untersten Treppenstufe hockt, den Rücken an die Wand gelehnt, und sich eine Hand auf die linke Brust presst. Sein Gesicht ist aschfahl und nass vom Schweiß. Durch seine Finger sickert Blut. Ich will seine Hand wegnehmen und den Mantel öffnen, um zu sehen, wie schlimm die Wunde ist, doch Max schüttelt den Kopf. „Geh“, stöhnt er, „hinterher. Du musst dich um Zwecke kümmern und Vollmer zum Reden bringen. Ich kann dir nicht helfen... Ich...“ ein trockener Husten unterbricht ihn.
„Ich bringe ihn um!“ Plötzlich steht Tilda neben uns. Sie bückt sich und hebt die Pistole meines Bruders auf. Ihrem Gesicht sehe ich an, dass sie fest entschlossen ist.
„Tilda“, es fällt mir schwer, ruhig zu bleiben. „Lauf nach unten und hole Hilfe. Max braucht sofort einen Arzt, verstehst du? Ich kümmere mich um Vollmer.“ Ich sehe, wie sie mit sich kämpft. „Lauf, Tilda“, sage ich, „beeile dich. Das ist jetzt wichtiger. Vielleicht kann ich Vollmer so lange hinhalten. Aber kümmere dich erst einmal um Max.“ Dann haste ich die Treppe hinauf und schaue nicht zurück.
Ich hole die Goldmann-Pistole hervor und lade sie im Laufen durch. Dann knallt es oben. Zwecke, geht es mir durch den Kopf. Doch dann registriere ich, dass Vollmer auf mich geschossen hat. Die Kugel ist wenige Zentimeter vor mir rechts in die Wand eingeschlagen. Ohne wirklich etwas sehen zu können, schieße ich in die Dunkelheit nach oben. Dann fällt mir ein, dass ich dabei Paola töten könnte und lasse es lieber. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, haste ich nach oben.
In der obersten Etage angekommen, sehe ich mich um. Die Dachluke, zu der eine schmale Eisenleiter hinaufführt, steht offen. Bin ich vielleicht an ihnen vorbei gerannt, geht es mir durch den Kopf. Hat er Paola in eine der Wohnungen der oberen Etagen gezerrt und kann mich jetzt hinterrücks abknallen? Ich verfluche meine Dummheit. Doch dann entschließe ich mich, zuerst auf dem Dach nachzusehen, bevor ich mich der Absuche der restlichen Wohnungen widme.
Vorsichtig steige ich die schmale Leiter hinauf und stecke meinen Kopf durch die Luke. Niemand ist zu sehen. Trotzdem klettere ich hinaus, da ich von hier nur einen Teil des Daches überblicken kann.
Genau in dem Augenblick, als ich auf dem flachen Dach stehe, fallen hinter mir wieder zwei Schüsse. Ich spüre beinahe den Luftzug, den die Kugeln verursachen, als sie an meinem Kopf vorbeifliegen. Im Umdrehen werfe mich zu Boden. Dann sehe ich Vollmer nur ein paar Schritte vom Rand des Daches entfernt stehen. Paola wirft sich ständig hin und her, um ihn am Zielen zu hindern.
Trotzdem liefern wir uns jetzt einen kurzen Schusswechsel. Ich versuche dabei, Paola nicht zu treffen. Obwohl ich mich zwischen den Schüssen mehrmals auf dem Boden herum wälzen muss, gelingt mir das sogar. Doch dann erklingt statt des Schussgeräuschs nur ein leises Klicken. Verdammt, mein Magazin ist leer. Das Zweite steckt in meiner Manteltasche und ich werde einen Moment brauchen, um nachzuladen. In dieser Zeit bin ich Vollmer hilflos ausgeliefert.
Er weiß das und ein breites Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit. „Das war’s, Schnüffler“, sagt er und richtet die Waffe auf mich. „Steh auf. Dann gebe ich dir noch eine Chance, schnell zu sterben. Wenn nicht, geht es dir, wie dem Anderen da unten.“ Er deutet mit dem Kopf auf die Dachluke.
Langsam richte ich mich auf. Meine Hand gleitet dabei in die Manteltasche, doch Vollmer bemerkt das. „Denk gar nicht dran.“ Seine Stimme trieft vor Hohn und vor Spott. „Du könntest dir nicht mal aussuchen, wer von euch beiden zuerst stirbt. Also: Waffe weg, Schnüffler. Lass sie fallen und in meine Richtung damit.“
Mir wird klar, dass ich verloren habe. Ich lasse die Pistole fallen und stoße sie mit dem Fuß zu ihm hinüber. Vollmer grinst und gibt ihr einen Tritt, der sie über die Dachkante nach unten befördert. Ich glaube zu hören, wie sie unten aufschlägt.
„Lass wenigstens das Mädchen gehen“, sage ich und gehe langsam zwei Schritte auf ihn zu.
„Damit sie mich bei den Bullen verpfeift, oder wie denkst du dir das?“ Seine Waffe ist direkt auf Paolas Gesicht gerichtet, die etwa zwei Meter von ihm entfernt steht. Ihr Gesicht ist weiß und sie zittert jetzt am ganzen Körper. Die Augen sind starr auf den Fußboden gerichtet, wo sich langsam eine dunkle Pfütze zwischen ihren Beinen und um ihre Füße herum ausbreitet. Ihre Höhenangst fällt mir plötzlich ein. Wie muss dieses Mädchen hier auf dem Dach eines siebzehn Etagen hohen Hauses leiden. Ein Wunder, dass sie noch steht.
„Komm her“, herrscht Vollmer mich an, „stell dich neben sie.“ Kurz winkt er mit seiner Waffe und deutet mir an, wo ich mich hinstellen soll.
Zähneknirschend folge ich ihm und stelle mich direkt neben Paola. Jetzt bedaure ich es, dass ich meine Pistole so schnell weggeworfen habe. „Was für ein schönes Paar.“ Vollmer grinst. Dann greift er mit der freien Hand blitzschnell in seine Tasche, zieht ein schmales, rosafarbenes Band hervor und wirft es mir zu. „Binde eure Handgelenke aneinander“ fordert er mich auf.
„Vergiss es!“ Ich versuche, meiner Stimme einen festen Klang zu geben, doch ganz gelingt es mir nicht.
„Wie du meinst.“ Mit dem Daumen seiner rechten Hand spannt er den Hahn seiner Waffe und geht einen Schritt auf Paola zu. „Dann stirbt das Mädchen hier vor deinen Augen.“ Er sieht ihr ins Gesicht und fügt grinsend hinzu: „Seine Schuld. Ich hätte euch ja am Leben gelassen. Aber wenn er nicht will. Ich kann’s nicht ändern.“
Paola schaut zu mir und fasst nach meiner Hand. „Bitte“, flüstert sie, „mach, was er sagt.“
Obwohl ich Vollmer kein Wort glaube, nicke ich und lege das Band über unsere Handgelenke, Vorsichtig ziehe ich den Knoten fest. Ich will ihr nicht wehtun. Dann sehe ich Vollmer an. Wo bleibt nur Tilda, denke ich. Ich muss ihn noch eine Weile hinhalten, egal, was passiert. „Warum“ frage ich. „Warum hast du hast du die ganzen Leute umgebracht: Walther, Rosenthal, Kaltenbach und die Winterfeld? Was hast du mit dieser Sache zu tun, Vollmer?“
Bei dem letzten Namen zuckt Vollmer sichtlich zusammen. „Die Winterfeld? Mit der hab‘ ich nichts zu tun, Mann. Die ist auch tot?“ Dann zwingt er sich aber zur Ruhe und sagt kalt lächelnd: „Was denkst du, he? Der Bürohengst brauchte noch etwas Geld und hatte eine gute Idee, wie er dazu kommt. Er hat mich eines Tages gefragt, ob ich in der Lage wäre, alte gebrauchte Teile aufzutreiben. Ich hab‘ ja gesagt und dann hat er mich gebeten welche zu besorgen und in die Firma zu schmuggeln, gegen ein kleines Entgelt, versteht sich. Was er damit gemacht hat, weiß ich nicht. Nehme an, er hat sie aufpolieren lassen und als neu verkauft. Damit habe ich aber nichts zu tun, hab das Zeug nur besorgt. Das ging etwas mehr als ein Jahr gut. Dann hat man mich entlassen, warum, kann dir ja egal sein. Vorige Woche kam eine Frau auf mich zu, die Winterfeld eben, die ich vorher noch nie gesehen hatte und sagte mir, ihr Boss würde mich sofort einstellen, wenn ich vorher etwas für ihn erledigen würde. Worin der Auftrag bestand, kannst du dir denken. Warum und was der Grund dafür war, hat mich nicht interessiert. Es war mir einfach egal, Hauptsache ich hatte wieder Arbeit. Die Winterfeld habe ich aber nicht auf dem Gewissen, ehrlich.“
Vollmer sieht mich an und grinst breit. „Mehr gibt es nicht zu sagen, Schnüffler. Du wirst es nicht weitererzählen. Und du auch nicht“, wendet er sich an Paola Ich habe das Gefühl, sie verliert gleich das Bewusstsein. Meine Finger schließen sich fest um ihre Hand. Sie ist kalt und schweißnass. „Umdrehen“ befiehlt Vollmer und hebt die Waffe erneut.
„Was hast du vor, verdammt noch mal?“ knurre ich, von einer bösen Ahnung erfüllt, während ich mich, gefesselt an Paola, mit dieser langsam umwende und auf den Abgrund vor uns starre. Ich höre Paolas ersticktes Schluchzen und versuche sie, so gut es geht, zu stützen.
„Vor, zur Dachkante“, kommandiert Vollmer und lacht ein böses, raues Lachen. „Und dann fliegt, ihr beiden Vögelchen. Eure Liebe ist leider nur von kurzer Dauer gewesen. Schade eigentlich, dass ihr euch entschlossen habt, gemeinsam zu sterben.“
„Vergiss es.“ Ich bin langsam genervt und versuche, das Band, mit dem ich uns vorhin aneinandergefesselt habe, zu lösen. „Das glaubt doch eh keiner.“
„Aber warum denn nicht?“ Vollmer klingt belustigt. „Man wird euch zermatscht da unten, und ihren Abschiedsbrief hier oben finden. Morgen steht ein Artikel in deiner Elbe-Post und übermorgen redet kein Mensch mehr davon.“
Verwirrt sehe ich zur Paola hinüber. „Hast du wirklich...?“ frage ich und sie nickt. Ihr wird nichts anderes übriggeblieben sein, denke ich, bestimmt hat sie fest daran geglaubt, dass wir sie retten. Beinahe hätte es ja auch geklappt.
„Na los jetzt, ich habe nicht ewig Zeit“.
In diesem Augenblick fällt hinter uns ein Schuss. Im ersten Moment denke ich, Vollmer hat wieder auf uns geschossen, dann höre ich sein dumpfes Stöhnen und das Klappern, als seine Waffe auf den Boden fällt. Ich reiße das Band von unseren Handgelenken und drehe mich um.
Vollmer hockt auf dem Boden, beide Hände vor den Bauch gepresst. Vor der Dachluke steht Mathilda, hoch aufgerichtet, mit wehendem Haar und der Goldmann von Max in den ausgetreckten Händen. Sie geht zwei Schritte auf Vollmer zu. Ihr Gesicht ist eisig grau und zeigt keine Regung. „Das war’s Vollmer“, sagt sie leise. Der rutscht ein Stück zurück und hinterlässt dabei eine dicke, rote Blutspur auf dem Dach. Seine Hände tasten nach der verlorenen Waffe. Paola macht einen Schritt auf sie zu und will sie aufheben, doch Vollmer ist schneller. Grinsend richtet er die Pistole jetzt auf Tilda. Er drückt ab, doch es klickt nur leise. Auch seine Patronen sind verschossen.
Dann sehe ich auf einmal alles wie in Zeitlupe: Wie sich Tilda Finger um den Abzug krümmt, ihn durchzieht, wie Vollmer entsetzt die Augen aufreißt, wie die Kugel fliegt und Vollmer genau mittig in die Brust trifft. Sie tritt am Rücken wieder aus, gefolgt von einem Schwall seines Blutes. Dann verschwindet sie irgendwo hinter uns.
Vollmer wird durch den Aufprall zurückgestoßen, ein Fuß rutscht über die Dachkante und er verliert den Halt. Verzweifelt, mit einem unbeschreiblichen Entsetzen im Gesicht, krallen sich seine Finger in den Boden, rutschen aber auf dem schmierigen Blut immer wieder ab. Schließlich aber verliert er diesen Kampf und stürzt nach unten. Keiner von uns hat sich gerührt, keiner hat versucht, ihn festzuhalten.
Als sein Körper unten auf dem Vordach aufschlägt, bricht Paola in die Knie und übergibt sich. Tilda ist sofort bei ihr und nimmt sie schweigend in die Arme.
„Was ist mit Max?“ frage ich und merke selbst, wie schwer mir diese Frage fällt.
Tilda sieht kurz zu mir hoch und sagt dann: „Ein Steckschuss in der Brust, unterhalb der Schulter. Nicht lebensgefährlich. Sie bringen ihn gleich ins Krankenhaus. In ein paar Tagen ist er wieder okay.“
Ich setze mich zu den beiden Frauen auf den Boden. Mein Blick schweift über die Dächer der Stadt. Weit im Osten ist der Himmel schon wieder tiefschwarz und aus den Wolken schlagen erste Blitze. Wie es aussieht, steht uns wieder ein unruhiger Abend bevor. „Ich muss Rosenthal treffen“, sage ich, „auch wenn es an der Sache nichts ändern wird. Wir kennen die genauen Zusammenhänge immer noch nicht. Er soll aber wissen, dass sein Bruder kein Mörder gewesen ist.“
„Und Saskia von Winterfeld?“ Tilda sieht mich fragend an.
Wir werden es wohl nie erfahren, denke ich und zucke nur mit den Schultern.
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2023
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