Es ist für mich inzwischen so selbstverständlich – mein Leben im Wohlstand, in der Demokratie. Und doch denke ich oft an vergangene Zeiten, daran, was für ein Glück (im Unglück) ich hatte, in Russland als Deutsche geboren zu sein. Sonst wäre meine Familie dem totalitären Regime wohl niemals entkommen.
Eigenartig, dass das Land mir erst im Nachhinein wie ein Albtraum vorkommt. Als ich noch dort lebte und keine Alternativen kannte, schien mir mein Leben normal zu sein.
Ich hatte zu arbeiten und meine Kinder zu versorgen, mich um meinen Mann zu kümmern und meine Freundschaften zu pflegen. Natürlich hatte ich reichlich Kummer, aber auch viele Glücksmomente.
Was der Sozialismus wirklich bedeutet, zeigte sich den Menschen erst in den letzten Jahren der Sowjetunion. Denn als das morsche System in sich zusammenbrach, erblickten wir die zahllosen Leichen im Keller. Die ganze Welt erschauderte angesichts der unmenschlichen Verbrechen an der eigenen Bevölkerung.
„Außerhalb deines Vaterlandes gibt es kein glückliches Leben“, propagierten die sowjetischen Schulen und Zeitungen. „Wer es verlässt, wird von schmerzhafter Nostalgie befallen.“ Die meisten glaubten daran, bis zu einem gewissen Grad auch ich.
Doch nun lebe ich schon beinahe 30 Jahre in Deutschland und ich verspürte nicht ein einziges Mal das versprochene Heimweh – nicht einmal in der schweren Anfangszeit.
Ja, ich träume immer wieder von früher. Aber es sind Träume voller Ängste und hässlicher Szenen aus dem Alltag. Oft befinde ich mich wieder im westsibirischen Omsk, stelle mit Entsetzen fest, dass ich nicht mehr wegkommen kann, dass ich meine Arbeit in Deutschland in der Stadtbücherei verloren habe, dass ich keinen deutschen Ausweis mehr besitze. Wenn ich dann aufwache, ist meine Erleichterung riesengroß.
Nie wieder wollte ich einen Fuß auf russischen Boden setzen.
Und doch ergab es sich, dass ich im August 2003 eine „Reise in die Vergangenheit“ unternahm. Seinerzeit wollten meine Lebenspartnerin und eine unserer Freundinnen unbedingt meine alte Heimat kennenlernen. Lange wehrte ich mich dagegen, aber eines Tages gab ich doch nach und sagte: „Gut, wir machen es“.
Von den vielen Erlebnissen auf unserer Russlandreise ist mir ein Tag besonders im Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich noch genau an das bange Gefühl, als wir jenes Dorf ansteuerten, in dem ich aufgewachsen war. Wie würde es wohl sein, sich wieder mitten im Dorf zu befinden, sich der Vergangenheit zu stellen? In meinem Inneren kämpften Angst und Neugier abwechselnd um die Vorherrschaft.
Als wir ankamen, erkannte ich den Ort und … erkannte ihn wiederum nicht. Es fühlte sich an, als wäre ich in einer Parallelwelt gelandet. Manche Dinge sahen anders aus, die Häuser jedoch waren die gleichen, wenn auch ziemlich heruntergekommen. Ich konnte den Gedanken nicht loswerden, dass sie noch von denselben Menschen wie damals bewohnt sind. Gleichzeitig wusste ich, dass dem nicht so ist – diese Menschen sind längst nach Deutschland ausgewandert.
Schließlich stand ich vor dem Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht hatte. Ich sah, wie ungepflegt, geradezu geisterhaft es war. Plötzlich dachte ich, wenn ich da anklopfe, dann würde mir meine Mutter öffnen. Dann würde sie mich vielleicht in den Arm nehmen …
Aber ich klopfte nicht an.
Nein, das Dorf war nicht mehr dasselbe. Auch meine Mutter konnte mich nicht mehr umarmen, lag sie doch schon lange auf dem Friedhof unter der Erde.
Viele Gräber auf dem Friedhof hatten keine Angehörigen mehr, die sie pflegen konnten. Darum war ein großer Teil davon mit hohem Gras zugewuchert. Als wir es durchwateten, konnte ich das Grab meiner Mutter erst gar nicht finden. Ich merkte, wie Panik sich in mir allmählich ausbreitete. Dann entdeckte ich es doch und mein Puls beruhigte sich.
Um den Grabstein herum war es verhältnisweise sauber. Offenbar kümmerte sich einer der Dorfbewohner um ihre letzte Ruhestätte. Mein Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass meine Mutter hier ganz allein geblieben war. Sie wurde nur 58 Jahre alt und hatte nie erfahren, dass das Leben mehr bot als Diktatur, Gewalt und Ungerechtigkeit.
Obwohl es viele Jahre her ist, sehe ich meine Mutter bis heute lebhaft vor mir. Ich sehe ihr bekümmertes Gesicht, höre ihr gebrochenes Russisch. Die Vorstellung versetzt mich stets zurück in meine Kindheit, in eine kalte Atmosphäre voller Sorgen. Dort sind meine Eltern mit ihrem Arbeitsalltag beschäftigt, und ich bin überfordert von meiner kleinen, doch viel zu großen Welt. Irgendetwas quält mich, macht mich unruhig. Bisweilen habe ich das Gefühl, als gehörte ich nicht hierher. Als wäre ich von einem fremden Planeten. Ich fühle mich unbeachtet und einsam. Dann schließe ich meine Augen und flüchte in Gedanken in ein anderes, erfundenes Reich. Dort ist alles so schön und bunt und voller Wärme und Licht. Nicht nur ich bin dort glücklich, sondern auch meine Mama. Sie bringt mich zum Lachen und lacht selbst. Dabei hatte ich sie im wahren Leben so selten lachen gehört …
Als Kind wusste ich nicht, warum sie so unnahbar und oft niedergeschlagen war. Trotzdem fühlte ich mit ihr. Ich sog ihre düstere Stimmung förmlich auf, verspürte dieselbe Müdigkeit vom Leben. Ich war ein schüchternes, sensibles, mitunter depressives Kind. Auf mir lastete aber nicht bloß mein eigenes Päckchen, unbewusst schulterte ich auch das meiner Mutter auf. Weil ich aber ihr Leid nicht mildern konnte, plagten mich noch Jahrzehnte nach ihrem Tod Schuldgefühle.
Inzwischen verstehe ich meine Mutter besser. Wann immer ich an ihren Lebensweg denke, erschaudere ich und bin den Tränen nahe. Wie konnte eine Frau unter solchen Lebensbedingungen glücklich oder auch nur einfach zufrieden sein? Wie konnte sie imstande sein, Liebe zu empfangen oder gar zu erwidern? Wie viele innere Kämpfe hatte sie austragen und an ihre Grenzen stoßen müssen? Wie oft hatte sie keine Kraft mehr und rang um ihren Lebensmut?
Ida Hetterle war zwanzig Jahre alt, als ihr Vater 1933 enteignet und die ganze Familie nur mit dem nötigsten Gepäck gewappnet aus der Ukraine nach Sibirien deportiert wurde. Im Zug lernte Ida einen jungen Mann kennen. Ob das, was beide füreinander empfanden, Liebe war? Jedenfalls hatte diese Beziehung keine Zukunft. Ihren Verbannungsort durften die Betroffenen nicht frei wählen, also fuhr der junge Mann weiter gen Osten. So, kaum zusammengekommen, trennten sich ihre Wege wieder, und meine Mutter trauerte noch lange um den Verlust. Ebenso lange bewahrte sie sein Abschiedsgeschenk auf – eine kleine Holzschatulle.
Nach einer mehrtägigen, leidvollen Reise durfte sich die siebenköpfige Familie Hetterle in Schönfeld im Gebiet Omsk niederlassen. Dank der Dorfbewohner, die mehrheitlich ebenfalls deutscher Nationalität waren, fassten sie schnell Fuß und fanden sich mit der neuen Lage ab. 1935 heiratete Ida den zwei Jahre jüngeren Jakob Schütz. (Ob aus Liebe oder einfach, weil die Zeit dafür reif war – diese Frage bleibt unbeantwortet). Doch die Normalität war nicht von langer Dauer. Der Große Terror der Jahre 1937/1938 stand bereits vor der Tür.
Statt anzuklopfen, fiel das Jahr 1937 mit der Tür ins Haus. Idas Vater Johann Hetterle, dessen ältester Sohn sowie neun weitere deutsche Männer aus dem Dorf wurden als „Volksverräter“ verhaftet. Mitten in der Nacht rissen die NKWD-Männer sie aus den Betten und brachten sie für immer fort. Erst 1989 erfuhr unsere Familie, dass Johann Hetterle kurze Zeit nach seiner Verhaftung hingerichtet wurde, aber auch, dass er schon im Januar 1958 (nach Stalins Tod) rehabilitiert wurde. Man hielt es wohl für unwichtig, die Angehörigen wenigstens zeitnah zu informieren.
Während die Hinterbliebenen noch um den Verbleib ihrer Männer bangten, brach auch schon der deutsch-sowjetische Krieg aus. Als Soldaten waren die deutschen Dorfbewohner nicht zu gebrauchen – zu sehr fürchtete man deren Überlaufen zur Wehrmacht. Doch es heißt nicht umsonst „Jedem das Seine“. So kamen die deutschen Dorfbewohner in die „Arbeitsarmee“, was nichts anderes war als ein Konzentrationslager. Im November 1942 war Jakob Schütz an der Reihe. Seine hochschwangere Frau blieb allein mit zwei kleinen Kindern zurück.
Als Jakob 1949 zu seiner Familie zurückkehren durfte, war der Krieg längst vorbei. Es folgten einige ruhigere Jahre zum „Verschnaufen“, bis mein Vater 1958 aufgrund falscher Anschuldigungen zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Wieder blieb Mama, nun schon mit fünf Kindern, allein. (Die zwei ältesten waren zu dieser Zeit schon aus dem Haus).
Diesmal aber siegte die Gerechtigkeit! Wie sich herausstellte, war Vater unschuldig und wurde nach „nur“ acht Monaten Haft entlassen.
Das Leben, das meine Mutter führte, war voller Entbehrungen und Schmerz. Dass es für sie fast unerträglich war, habe ich erst später verstanden und mir lange Zeit Vorwürfe gemacht. Warum hatte ich nicht versucht, mit ihr zu reden, sie zu verstehen, Anteil an ihren Gedanken und Sorgen zu nehmen?
Heute weiß ich jedoch, dass ich kaum etwas hätte ausrichten können. Es lag nicht an mir. Es lag am System, in dem ein Menschenleben keinen Wert hatte.
So stand ich am Grab meiner Mutter und kämpfte – überwältigt von all den Gedanken – gegen die Tränen an. Ich stellte mir vor, meine Mutter hätte noch die Zeit des Umbruchs erlebt und nach Deutschland kommen können. Wie froh sie wäre, im Land ihrer Vorfahren leben zu dürfen, nie wieder Hunger leiden und keine Verfolgungen mehr fürchten zu müssen, als freier und wertvoller Mensch angesehen zu werden …
Als ich ein Sträußchen Blumen auf die Grabplatte legte, erklang in meinem Kopf unverhofft ihr leises, ach so seltenes Lachen.
Willkommen auch auf meiner Homepage: http://www.rosa-andersrum.de
Mein Blog: https://rosasblog54.com/
Texte: Rosa Ananitschev
Bildmaterialien: Rosa Ananitschev
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2021
Alle Rechte vorbehalten