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Prolog: Über den Orden

Vor Jahrhunderten, als nunmehr namenlose Stämme sich zusammenschlossen und aus den Bergen auszogen um die weiten Ebenen zu besiedeln, begann die Geschichte des Reichs, das nun den Namen Goris trägt.


Menschen hatten die Ebenen gemieden, waren diese doch das Heim vieler, unterschiedlicher und allesamt tödlicher Kreaturen. Die Gelehrten streiten heute noch woran es gelegen hat dass ausgerechnet dieser eine Versuch geglückt ist. War es die große Zahl an Menschen, die sich zusammengeschlossen hatten? Lag es daran, dass sie sich gut organisieren konnten? Oder einfach an den starken Kriegern? In einem sind sich die Geschichtskundigen jedoch einig: Nämlich dass ein gewisser Kreis an Menschen eine entscheidende Rolle bei diesem Vorhaben gespielt hat.
Diese Männer und Frauen waren die engsten Vertrauten des Häuptlings, der die Stämme geeint hatte. Sie widmeten ihr Leben der Eroberung, dem Erfolg und der Sicherheit dieser ersten Siedler. Sie waren Statthalter, Krieger und Denker. Aber auch Helden leben nicht ewig, und so wurden andere, junge, fähige Menschen rigoros ausgebildet in allem was für wichtig gehalten wurde. So manche Kriegerlegende und die ersten Erzmagier entstammten dieser Vereinigung, welche als der „Erste Orden“ in die Geschichte eingehen sollte. Über Jahrhunderte hinweg breiteten sich die  Menschen aus, erschlossen weitere Gebiete, drangen durch Wälder und über Flüsse weiter vor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf andere Menschen stießen. Und auch wenn mit manchen eine friedliche Koexistenz möglich war, zog es andere wiederum in den Konflikt. Denn die Ländereien, über die Goris verfügte, waren reich an Nährböden und die Gebirge aus denen die Goriser stammten reich an Erz, Gold und Silber.

Doch nie ist Goris eingenommen worden. Ganz gleich wie viele Gegner, wie viele Stämme und Staaten versuchten das Land zu überfallen oder gar einzunehmen – alle scheiterten. Denn der Orden hatte in den Jahrhunderten seiner Existenz nie seine AUfgabe vergessen. Noch immer bildete man Menschen aus, die an vorderster Front ihr Land sowohl gegen Bestien, als auch gegen Menschen verteidigen konnten.
Mit der Zeit bildete sich der Stand der Adeligen, der die Verwaltung im Reich übernahm. Magier schlossen sich zusammen und gründeten die Arkane Akademie von Goris, wo sie dann weitere Magier ausbildeten, die sich der Erforschung und Erfindung verschiedenster Dinge widmeten. Mit diesen zwei Institutionen blieb dem Orden nur noch eine einzige, letzte Aufgabe: nämlich für die Sicherheit des Landes zu sorgen. Diese ihm ureigene Aufgabe erfüllte der Orden über die Jahrhunderte voller Eifer, und es ist ihm zu verdanken, dass zur Zeit dieser Geschichte Goris noch immer unbezwungen dasteht. Obwohl nun keine Zeit des Krieges herrscht, hält der Orden noch immer an seiner Bestimmung fest, zu der immer noch die fortführende Ausbildung neuer Generationen an Wächtern und Kriegern gehört.

Obwohl in nahezu jeder Stadt ein Haus des Ordens steht, befinden sich dort keine Ausbildungsstätten. Alle Auszubildenden werden zur Ordensfeste gebracht – einer gewaltigen Burganlage im nördlichen Gebirge. Mächtig befestigt gegen jeden möglichen Angriff, konstruiert von den fähigsten Architekten und Steinmetzen die Goris zur Zeit der Erbauung zu bieten hatte. Mehrere Höfe teilen die Anlage, alle mit bestimmten Funktionen. Die Meisten davon sind getrennt, um einzelne Altersgruppen separat auszubilden. Der größte Platz ist dabei der Gruppe der Rekruten vorbehalten. Der Titel des Rekruten ist für die letzten drei Jahrgänge vorgesehen, die danach zu vollwertigen Mitgliedern des Ordens werden. Über einen solchen Jahrgang an Rekruten möchte ich in dieser Schrift berichten - denn dieser eine Jahrgang prägte Goris wie kein anderer vor oder auch jemals nach ihm.

Kopfzerbrechen

Er kam langsam zu seinen Sinnen.
Konstantin konnte sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Oder sich einen Grund denken, aus dem er solche Kopfschmerzen hatte... Schmerzen die so stark waren, dass er seine Augen fürs Erste geschlossen ließ.
Er versuchte sich an das Letzte zu erinnern, das ihm einfiel... Die Feier! Sie hatten ihren Werdegang zu vollwertigen Rekruten des Ordens gefeiert, in der großen Halle. Es hatte viel zu essen gegeben, auch ein wenig zu trinken – doch keinen Alkohol. Was war dann der Grund für diesen Zustand? Konstantin wurde nicht schlau aus seinen Erinnerungen, die schon kurz nach Beginn des Festmahls aufhörten. Zusammen mit knapp vierzig anderen Anwärtern ist er zuvor in den Rang eines Rekruten erhoben worden. Sie hatten es geschafft alle Prüfungen zu bestehen, die ihnen gestellt worden sind... sie sind von Anwärtern zu Rekruten aufgestiegen! und nun konnte er sich nicht einmal daran erinnern wie die Feierlichkeiten ausgegangen sind!
„Aargh...“
Grummelte er und richtete sich ein stückweit auf. Es machte keinen Sinn sich den Kopf zu zerbrechen, wenn er sich schon so zerbrochen anfühlte.
„Na, wurde ja langsam Zeit.“
Konstantin riss die Augen auf und sah sich im Raum um. Es war nicht der Anblick des gewohnten, kleinen Einzelzimmers knapp unter dem Erdboden, der ihm geboten wurde. Er befand sich nicht in seinem alten Zimmerchen, sondern in einem Neuen. Im Bau für die Rekruten. Wesentlich großflächiger, mit einem eindrucksvollen Fenster, viel höherer Decke und, wie Konstantin jetzt bemerkte, einem wesentlich gemütlicheren Bett. Doch das alles verblasste in Anbetracht der Tatsache, dass er nicht alleine war. Ein anderer Junge stand, an das Fenster gelehnt, im Zimmer. Und sah Konstantin mit einer Mischung aus Mitleid und Amüsement an.
„Was... wer..?“
Der Andere gluckste leise. Konstantin konnte ihn nicht gut erkennen, weil die Sonne durch das Fenster strahlte und den Anderen folglich zu einer schattigen Silhouette machte.Dieser bemerkte es und schritt gemächlich vom Fenster zum Stuhl, der Konstantins Bett gegenüberstand. Der Junge war nicht wirklich groß, etwas dünn, trug kurze, braune Haare und hatte überraschenderweise recht feine Gesichtszüge. Das war nicht vielen im Orden eigen.
„Angus. Ich bin Angus. Warte schon seit mindestens drei Stunden darauf, dass du aufwachst. Hast das Mittagessen verschlafen.“
Langsam wurde Konstantins Blick klarer, genau wie die Gedanken. Angus... den Namen kannte er. Hatte er wohl irgendwann mal aufgeschnappt, während der morgendlichen Rundenläufe. Da man Schüler (und später Anwärter) meist auseinander hielt um Ablenkung durch übermäßigen Kontakt zu vermeiden kannten sich die Meisten nur vom Sehen. Es gab einfach viel zu selten die Gelegenheit mit anderen zu reden. Etwas, was Konstantin nie wirklich bereut hatte - ihm war es nur zu Recht, wenn er sich nicht ständig unterhalten musste.
„Angus... ich kenne den Namen...“
„Na, immerhin etwas. Aber bilde dir nur nichts drauf ein, mich kennt fast jeder. Und umgekehrt. So weiß ich zum Beispiel, dass du Konstantin bist.“
„Richtig. Und...“
„Und du hast Kopfschmerzen, stimmt's?“
Konstantin nickte langsam und griff sich an die Schläfe. Er hatte gerade nicht wirklich Lust sämtliche Fragen auszudiskutieren die ihm im Kopf herumschwirrten. Die Kopfschmerzen setzten ihm zu sehr zu und hatten deswegen oberste Priorität.
„Hatte ich beim Aufwachen ebenfalls. Hier,“
Sagte Angus, und reichte Konstantin einen Holzkrug.
„Die Älteren haben den vorbeigebracht. Von den Ausbildern. Scheinbar haben die in unsere Getränke ordentlich was reingemischt, bei der Feier... und schicken uns dieses Zeug um die Kopfschmerzen zu lindern. Hälfte für jeden, ich habe aber nicht viel genommen. Mir ging es noch ganz gut, im Gegensatz zu dir... du siehst aus, als hätte man mit dir die Große Trepe geputzt. Allem voran mit deinem Gesicht.“
„Danke.“
Ob nun für die nette Geste mit dem Trank oder sarkastisch für die weniger nette Bemerkung, das konnte man aus dem erschlagenen Ton Konstantins nicht heraushören. Aber der Krug wurde genommen und in einem Rutsch leergetrunken. Die Ausbilder hatten also in die Getränke Alkohol gemischt? Das passte nicht wirklich zu ihnen, aber immerhin gab es diesen Trank zur Abhilfe. Auf jeden Fall erklärte das die Kopfschmerzen und die bruchstückhafte Erinnerung. Seltsam nur, dass Konstantin sich nicht an den verräterischen Geschmack erinnern konnte, aber dafür war dann wohl auch wieder der Alkohol verantwortlich. Die Aufseher dürften ihren Spaß gehabt haben... Der Trank begann seine Wirkung zu entfalten und Konstantin legte sich wieder hin.
Angus schien auf diese Ruhehaltung jedoch nicht sonderlich viel Rücksicht zu nehmen und sprach einfach weiter...
„Rekruten... Wir sind jetzt ganz offiziell Rekruten! Du glaubst gar nicht, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe!“
Konstantin wollte widersprechen – sie alle sind ihr ganzes Leben lang erst Schüler, dann Anwärter gewesen und haben darauf gewartet endlich zu Rekruten zu werden – doch der Trank hatte die Schmerzen noch nicht zur Gänze gelindert, also hielt er sich mit dem Kommentar zurück. Außerdem schien Angus nicht wirklich auf ein Gespräch bedacht zu sein. Er wollte einfach nur jemanden haben der zuhört.
„Und nun ist es endlich so weit. Unsere Ausbildung beginnt. Die wahre Ausbildung. Ab jetzt können wir zeigen, was in uns steckt. Nicht, dass du es müsstest...“
„Hm?“
„Na, du bist einer von denen, die immer noch eine Runde mehr laufen. Die fünf Minuten vor der Zeit da sind und sich über keine Aufgabe beschweren. Übungen mit Waffen scheinen dir ebenfalls leicht zu fallen. Außerdem gehörst du zu denen, die Magie wirken können... ich hab' das Glück nicht.“
„Woher..?“
„Ich sagte doch, ich kenne alle.“
„Fast alle...“
„Macht doch keinen Unterschied!“
Erklärte Angus, und winkte ab.
„Auf jeden Fall kannst du Magie wirken. Feuer, wenn ich mich nicht irre. Kannst du mir mal einen solchen Magietrick zeigen?“
„Nicht jetzt.“
„Dann eben später. Zeit genug werden wir ja haben, immerhin wohnen wir ja beide hier.“
„Was?!“
„Ja. Immerkalte Einzelzimmer mit diesen handhohen Gitterfenstern knapp unter der Decke gehören nun der Vergangenheit an. Aber diese luftigen Räume mit tollem Ausblick muss man sich teilen. Zwei Rekruten in jedem Zimmer.“
„Mhm.“
Und bei diesem gegrummelten Kommentar blieb es. Konstantin war kein Mann vieler Worte... wobei Mann hierbei doch etwas zu viel des Guten war.
Erst wurde man Schüler im Orden, lernte die Sprache, die Karten und die Rechenkunst. Natürlich mit stetiger Disziplin. Dann, im Jahr in dem das dreizehnte Lebensjahr eintrat, wurde man zu einem Anwärter. Den Anwärtern wurde zwei Jahre lang die Handhabung verschiedenster Kriegswaffen, die Kenntnisse der Politik und die Reparatur sowie Herstellung und Handhabung einfacher Dinge zum Reisen wie auch Kämpfen beigebracht.
Diejenigen die diese Prüfungen meisterten (was nahezu alle waren) durften dann zu Rekruten werden. Konstantin und Angus hatten das geschafft, doch sie mit fünfzehn Jahren schon zu gestandenen Männern zu erklären wäre wohl verfrüht.
Die Rekruten wurden in den Kampfkünsten, in der Schmiedekunst und natürlich in Strategie und Taktik unterwiesen. Über drei Jahre zog sich diese Ausbildung hin, die bei Magiern noch das intensive Auseinandersetzen mit ihrer Kunst beinhaltete. Wer alles das absolvierte, der galt als ein vollwertiges Mitglied des Ordens. Solche Mitglieder durften dann Offiziere im Heer, Konsultanten bei Hofe, Spione des Reiches und vieles mehr werden. Auch die weitere Schulung bei großen Gelehrten des Landes wurde ihnen ermöglicht und für Magier standen noch weitere Berufsfelder offen.
Der Orden kümmerte sich um seine Mitglieder, das wusste man im Land. Ein wichtiger Grund, aus dem Familien die sich den Unterhalt ihrer Kinder nicht leisten konnten eben jene Säuglinge beim Orden abgaben. In der Hoffnung auf eine gute Zukunft... die hohen Adeligen taten das für gewöhnlich nicht, denn im Orden legte man seinen Familiennamen ab. Für manche ein zu hoher Preis.
„He, schläfst du wieder?“
Konstantin grummelte etwas unverständliches zur Antwort und erhob sich. Die Kopfschmerzen waren mittlerweile zum Großteil verflogen.
Lange hatte es Angus auf jeden Fall nicht im Schweigen ausgehalten. Konstantin hatte das Gefühl, dass es nun sehr selten still werden würde... besser also, wenn man Angus die richtigen Themen zum Reden vorgab.
„Du meintest, dass Ältere den Krug vorbeigebracht haben... haben sie denn noch etwas gesagt? Zum Beispiel was heute noch ansteht? Sicherlich hätte man uns längst hier rausgeschleift wenn bereits Übungen stattfinden würden – aber das muss ja nicht heißen dass den ganzen Tag lang nichts los ist.“
„Nichts los? Was, sind denn nur die Übungseinheiten Beschäftigungen für dich?“
Angus erntete einen leicht verwirrten Blick von Konstantin, der sich eine Strähne des schwarzen Haars aus dem Gesicht wischte. Zeit, das Stirnband anzulegen oder sich zumindest mal die Haare zu schneiden. Sie fielen ihm  mittlerweile über die Ohren... wenn man nur wüsste wo das Band abgeblieben ist! Auf jeden Fall antwortete er nicht, was Angus zu einem Seufzen verleitete. Er hatte sich wohl einen gesprächigeren Mitbewohner gewünscht.
„Wir haben heute frei. Morgen geht es los mit den regulären Übungen. Unsere Pläne bekommen wir heute Abend.“
„Ah, verstehe. Dann danke ich dir, dass du hier gewartet hast um mir das alles zu sagen.“
„Was meinst du?“
„Na, du hättest einfach einen Zettel schreiben und gehen können. Um dich mit anderen Rekruten zu treffen und zu unterhalten. Stattdessen hast du hier darauf gewartet dass ich aufwache.“
„He, wir sind Zimmergenossen. Was wäre das denn für ein Verhalten, dich hier einfach so zurückzulassen? Besonders in deinem Zustand.“
„Wie gesagt, danke. Aber ich habe nicht vor, hier weiter herumzuhocken.“
„Perfekt! Einige treffen sich unten beim -“
„Nein, du hast mich missverstanden. Ich gehe auch nicht mit den Anderen nachfeiern. Ich gehe üben.“
„Oh.“
Stille. Konstantin war sich sicher, dass Angus vieles, jedoch nicht das erwartet hatte. Doch nach ein paar Augenblicken grinste der Zimmergenosse.
„Wundert mich nicht. Ich nehme an, du hast deine freie Zeit schon immer darauf ausgelegt besser zu werden?“
Konstantin seufzte und stand endlich auf. Genug herumgelegen. Außerdem waren die Schmerzen mittlerweile fort, da durfte man nicht einfach so untätig herumliegen. Seine neue Uniform hatte Konstantin schon an, wie er bemerkte. Musste er wohl vor dem Einschlafen angelegt haben... dennoch begab es sich zum Garderobenspiegel quer gegenüber dem Bett um sich anzuschauen, ehe er die Frage des Zimmergenossen beantwortete. Er bemerkte dass ihm langsam ein dünner Bart wuchs und war sich einen Augenblick lang sicher, dass seine eigentlich hellbraunen Augen irgendwie... eine leichte Goldtönung aufwiesen. Er schob es auf das Licht.
„Ja. Ja, das habe ich.“
Antwortete er dann schließlich, sich zu Angus wendend. Angus war tatsächlich einen halben Kopf kleiner als er, wie Konstantin feststellte.
„Ich habe nicht vor, diese Ausbildung einfach nur hinter mich zu bringen. Ich habe vor sie zu meistern. Alles zu meistern. Den Nahkampf, die Magie, die Schlachtplanung – einfach alles. Denn warum sollte man sich um etwas bemühen, wenn man nicht die besten Ergebnisse erzielen möchte?“
Diese ziemlich offene Antwort überraschte den Zimmergenossen dann doch.
„Hm... so habe ich das noch nie betrachtet. Aber wo bleibt denn der Reiz, wenn man alles kann? Wenn man der Stärkste, Mächtigste und Klügste ist, was bleibt dann noch?“
„Keine Ahnung... Aber ich würde es ziemlich gerne herausfinden.“

Rekruten

Es gab vier große Übungsplätze. Einmal das Staubfeld: Das war im Grunde nur ein größeres Feld unter freiem Himmel, auf dem Kampfformen durch Nachahmung und Zielübungen fürs Schießen geübt wurden. Richtige Kämpfe fanden dort nicht statt. Dann gab es die Halle im Untergrund, die nur durch Fackeln beleuchtet wurde. Die Decke dort war zugegebenermaßen nicht hoch und das Licht durch die kleinen Fenster an der Decke nicht wirklich ausreichend, doch um auf eine Übungsattrappe draufzuschlagen oder einfachste Magie zu wirken war der Ort ideal. Außerdem gab es dort mehr als genug Platz, denn die Halle war sehr lang und auch ziemlich breit. Genau darüber befand sich die Halle des Wettstreits. Diese hatte eine unglaublich hohe Decke, und diente den richtigen Kampfübungen. Mit oder ohne Waffen. Auch die Prüfungen der Kampfformen und der Zielgenauigkeit fanden dort statt. Die letzte Räumlichkeit zum Üben dürfte gar nicht Räumlichkeit genannt werden – es war nämlich das Dach der Halle des Wettstreits, auch Platz des Himmels genannt. Dieser Platz war reserviert für besondere Übungen. Was genau man unter diesen besonderen Übungen verstehen sollte war allerdings den Rekruten oftmals unklar bis es soweit war.
Konstantin hielt sich in der Untergrundhalle auf. Nach dem kurzen Gespräch mit Angus hatte er sich dort hin zurückgezogen. Der Zimmergenosse mochte Recht haben, wenn er meinte dass es sinnvoller war die Kommunikation mit Anderen zu suchen. Nun war es ihnen ja erlaubt. Als Rekrut hatte man diese Freiheit. Doch Konstantin machte sich nichts daraus. Er wusste, dass seine Ausbildung in der Kunst der Feuermagie bald beginnen würde, doch er hatte bisher nicht viel mehr als einen Haufen Funken hervorgebracht. Von der ein oder anderen, seltenen und kleinen Stichflamme mal abgesehen. In seinem Einzelzimmer hatte er häufig genug versucht bessere Ergebnisse zu erzielen. Dort sah man ihn aber auch nicht und die Wände waren aus Stein. Im neuen Zimmer würde er dabei unter der Beobachtung seines Zimmergenossen stehen oder könnte von draußen gesehen werden, und unter den Augen eines Anderen zu versagen lag nicht wirklich in Konstantins Interesse. Die Wände waren zu allem Übel auch noch mit Holz versehen. Nein, da konnte er nicht üben.

Dafür bot sich nun aber die Halle im Untergrund an. Alles war aus Stein, von den Übungsattrappen mal abgesehen. Konstantin stand in einer Ecke und konzentrierte sich. Außer ihm war keine Menschenseele in der Halle, was es ihm wesentlich erleichterte. Die Einstimmung war abgeschlossen, Konstantin holte tief Luft, atmete aus... dann hob er die Hand, und streckte sie mit einer gewohnten Geste nach vorne. Ein routinierter Ablauf, einfach um sich ein wenig aufzuwärmen. Umso überraschter war Konstantin, als die nicht gerade klein zu nennende Flamme aus seiner Hand ausbrach und die zwei Meter vor ihm befindende Wand traf. Die Flamme war sehr kurzlebig und hinterließ nicht einmal Spuren am Stein, doch Konstantin verblieb einige Augenblicke in Starre.
„Was..?“
Murmelte der Rekrut, und sah sich seine Hand an. Sie zitterte kaum merklich. Er hatte es gerade geschafft, mit einer ganz herkömmlichen aufwärm-Geste richtiges Feuer zu beschwören. Das ist ihm noch nicht einmal bei den komplexeren Beschwörungen gelungen!
„Nochmal.“
Sprach er zu sich selbst, um die aufkommende Aufregung zu dämpfen. Ein Zufall? Eine einfache, glückliche Fügung? Die Geste wurde wiederholt, diesmal mit etwas mehr Elan...Und die Flamme brach erneut hervor, konzentrierter als zuvor. Die nächste Geste folgte, und er verfiel in seinen herkömmlichen Ablauf an Bewegungen, von denen nun jede Einzelne von einem Feuerstoß begleitet wurde. Nach einer Minute stand Konstantin da, verschwitzt wie selten, aber auch höchst zufrieden. An der Wand vor ihm waren deutliche Spuren von Feuer, genau wie an manchen Stellen des Bodens. Er merkte, das ihn das wesentlich mehr erschöpft hatte als früher, doch nun waren es auch keine Funken mehr, die er beschwor. Es waren Flammen. Feuer und Flamme. Nur eine Frage blieb offen – wie genau hatte er es geschafft? Die Bewegungsabläufe waren noch immer dieselben...
„Nicht schlecht, Kleiner.“
Die Stimme ließ Konstantin herumfahren. Er war so sehr vertieft in seinen Übungen und der Zufriedenheit über den Erfolg, dass er nicht mehr auf seine Umgebung geachtet hatte. Knappe zwanzig Meter von ihm entfernt, im Halbdunkel der Halle lehnte ein Mädchen an einer der Säulen. Sie hatte schulterlange, rote Haare und ein eher unheilverkündendes Lächeln auf den Lippen.
„Nicht schlecht. Ich habe gehört, dass es noch einen Feuermagier unter uns gibt. Dass ausgerechnet du es bist... Konstantin, richtig?“
Konstantin nickte vorsichtig. Wieso kannte ihn eigentlich jeder? Er hatte zwar vorgehabt aufzufallen, aber noch hatte er sich ja nicht so sonderlich hervorgetan... oder doch? Nun, wie es aussah, schon. Das Mädchen hatte er auch schon des Öfteren gesehen, auch wenn er so gut wie nie mit ihr gemeinsam Übungsstunden gehabt hatte. Eine solche Haarfarbe blieb einfach nicht verborgen und klein war sie auch nicht gerade. Fast so groß wie er selbst, schätzte Konstantin, und er war nicht gerade klein.
„Du schweigst. Weißt du, wer ich bin?“
„Nein.“
Eine ehrliche, aber doch ziemlich knappe Antwort. Irgendwie hatte Konstantin kein allzu gutes Gefühl bei dieser Jahrgangsgenossin. Angus war ein offener und geselliger Mensch – sie erweckte diesen Anschein nicht. Eher den einer lauernden Raubkatze. Obwohl sie recht locker an der Säule anlehnte und die Arme unter der brust verschränkte ging von ihr eine gewisse Spannung aus. Als wäre sie jeden Augenblick bereit anzugreifen.
„Seltsam. Die meisten Jungen kennen meinen Namen.“
Sprach sie in einem leicht amüsierten Ton, ihn dabei nicht einmal anschauend. Dann richtete sie die Hand in seine Richtung und schnippte. Ein einziges mal, jedoch ziemlich laut. Das Schnippen nutzte sie für eine Art der Feuermagie, die Konstantin neu war – sie beschwor mit dem Schnippen einige Funken, die in der Nähe ihrer Handfläche verblieben und nicht erloschen. Ein Fingerzeig folgte, und er verstand. Die Drehung zur Seite erfolgte fast zu spät: Ihre beschworene Stichflamme war zwar ziemlich dünn, doch sie überbrückte die zwanzig Meter unglaublich schnell und hörte dort auf, wo gerade eben noch Konstantins Brust gewesen ist.
„Was soll das?!“
Ein leises Lachen war die Antwort, und Konstantin war sich nicht sicher, ob er sich nun tatsächlich auf ein Duell gefasst machen musste. Gegen jemanden, der mit Feuer schon so präzise umgehen konnte, hatte er auf die Entfernung eher schlechte Chancen seine Flammen waren groß, reichten jedoch nicht weit... doch Duelle waren abgesehen von seltenen, formell begründeten Fällen verboten. Verrückt genug gegen diese fundamentale Vorschrift zu verstoßen war sie doch sicher nicht! Oder..?
Konstantin linste zu einer Säule, etwas weiter rechts von ihm. Dahinter konnte er in Deckung gehen, sollte das Mädchen einen erneuten Zauber wirken. Doch nichts dergleichen folgte, sie grinste Konstantin nur höchst amüsiert an.
„Adda.“
Sprach sie dann nach einer Weile, und stieß sich von der Säule ab.
„Das ist mein Name, und du tätest gut daran ihn dir zu merken. Solltest du versuchen mich in der Feuermagie zu übertrumpfen, werde ich dich nämlich einäschern.“
Darauf richtete sie sich zufrieden die Haarpracht und verließ fröhlich pfeifend die Halle. Konstantin sah ihr noch eine Weile nach, wobei er zur Feststellung kam dass es wirklich ganz gut war mit manchen überhaupt nicht erst ein Gespräch zu suchen.
Die Drohung hielt ihn allerdings nicht davon ab, weiter zu üben. Diesmal achtete er aber wesentlich mehr auf den Eingang. Addas Trick mit dem Schnippen gelang ihm nicht, aber er versuchte neben seinen gewohnten Gesten nun auch Zauber auf größere Entfernung zu wirken. Wesentlich weiter als fünf Meter kam er dabei  nicht, doch er zählte es trotzdem als Erfolg.

 

 


Angus war noch nicht zurückgekehrt, stellte Konstantin fest als er nach seinen Übungen ins Zimmer zurückkehrte. Bald würden sie zum Abendessen gerufen werden, davor wollte Konstantin sich aber noch etwas vertrauter mit der Umgebung machen. Zum Beispiel nachsehen, was alles in den Schränken und Nachttischen war, er hatte bisher nämlich nur in den Kleiderschrank geschaut... kaum hatte er ein paar Schritte ins Zimmer getan, hörte er ein lautes – und vor allem nahes - „BUH!“
Der Ausruf ließ ihn herumfahren, jedoch nicht erschrocken, sondern kalkuliert, mit einem schon halb ausgeführten Feuerzauber. Funken folgten bereits der Umdrehung, bereit bei der nächsten Geste in Flammen überzugehen und dem Erschreckenden wenigstens mal die Haare abzubrennen. Doch Konstantin erkannte Angus früh genug um den Zauber abzubrechen. Angus hatte sich hinter der Tür versteckt und sah nun selbst so erschrocken aus wie er Konstantin erschrecken wollte.
„Warte, nein, HALT!“
Rief er, die Hände vors Gesicht gestreckt.
„Angus! Warum hast du das denn getan?!“
„Ich wollte nur mal schauen, wie du dich verhältst wenn du überrascht wirst...“
„Irgendwie werde ich heute nur überrascht. Mach das nicht wieder, sonst schaffe ich den Zauber beim nächsten Mal vielleicht nicht zu unterbrechen.“
„Meinst du nicht, dass diese Reaktion ein wenig... naja... übertrieben ist?“
„Mir wurde eben angedroht mich zu Asche zu verbrennen – also nein. Vorsicht ist besser als Nachsicht.“
Angus schien verwundert, also erklärte Konstantin was es mit dieser Drohung auf sich hatte. Die Geschichte war nicht sonderlich lang, wobei Konstantin seinem Zimmergenossen verschwieg, dass er vor heute nur Funken zustande bringen konnte.
„Adda also, wie?“
Fragte Angus nach, mit einem spitzbübischen Lächeln.
„Ja, Adda. Schulterlanges, rotes Haar, unheimliches Grinsen und Freude am Drohen.“
„So kann man sie natürlich auch beschreiben. Na, sei's drum. In der Zeit in der du dich mit deiner Hexerei beschäftigt hast sind unsere Pläne angekommen. Sind unter der Tür durchgeschoben worden, deiner liegt dort.“
Sagte Angus und deutete auf den Nachttisch bei Konstantins Bett.
„Na, da bin ich ja mal gespannt.“
Immerhin, von den zu absolvierenden Übungen wussten die neuen Rekruten ziemlich wenig. Konstantin kam es häufig vor, als wüssten sie weniger von den Strukturen innerhalb des Ordens als von den politischen Spielen im Reich. Und dabei war es weder Anwärtern noch Schülern gestattet das Gebiet des Ordens zu verlassen. Ihre Kenntnisse hatten sie aus den Unterrichtungen in verschiedenen Fächern, die ihnen die Ausbilder für Geschichte und Politik beigebracht hatten. Vom Orden wurde allerdings nicht viel erzählt...
„Jeden Tag haben wir Unterricht im unbewaffneten Nahkampf?“
Wunderte sich Konstantin dann, mit schiefgelegtem Kopf. Er wusste ja, dass man als Rekrut auch mal gegen andere kämpfen musste, aber jeden Tag?
„Nun, du vielleicht. Ich nur zwei Mal in der Woche. Aber aus irgendeinem Grund habe ich Unterricht in Magie... bei Ausbilderin Madeb. Noch nie gehört...“
„Seltsam, diese Ausbilderin sagt mir auch nichts. Ausbilderin Alba ist für die Magie verantwortlich, und Alberic für die Heiler. Madeb ist mit neu. Sagtest du nicht, dass du kein magisches Talent hast?“
„Habe ich auch nicht. Vielleicht liegt da ein Irrtum vor? Oder es ist ein schlechter Scherz...“
„Steht denn da wenigstens wo dieser Unterricht stattfinden wird?“
„Ja... ich werde morgen dort vorbeischauen müssen. Mal sehen, vielleicht stimmt es ja doch. Ist ja nicht so, als ob uns hier alles erzählt werden würde, hm?“
Konstantin nickte zur Antwort und sah wieder auf seinen Plan. Unterricht in der Magie hatte er auch – bei der Ausbilderin Alba. Der Name kam von ihren weißen Haaren, die angeblich dank einem missglückten alchemistischen Versuch in ihrer Ausbildung ihre Farbe verloren hatten. Welche Form der Magie beherrschte wusste Konstantin nicht, aber sie unterrichtete alle kämpferischen Elemente: das Feuer, die Erde und die Luft. Dass sie sie alle beherrschte war unmöglich, jedes Wesen konnte nur ein einziges Element nutzen... vielleicht beherrschte sie ja auch keines davon, sondern kannte sich nur in den Theorien aus? Er würde sich überraschen lassen müssen. Ähnlich wie Angus, dessen Lage allerdings wesentlich verwunderlicher war. Dem grüblerischen Ausdruck auf dessen Gesicht nach verwunderte ihn die Situation tatsächlich. Konstantin glaubte seinem Zimmergefährten, wenn er sagte dass er keine Magie beherrschte. Nun, man würde wohl sehen müssen, was hinter alledem steckte.
Die beiden Rekruten wurden durch einen lauten Glockenschlag gerissen, welcher durch das gesamte Gelände des Ordens hallte. Es läutete zum Abendessen. Angus wickelte das Blatt auf dem sein Plan stand zu einer Rolle und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. Jacken für das frische Frühlingswetter gab es für Schüler und Anwärter nicht, sie hatten nur Jacken zur WInterkleidung. Jacken galten schon als Privileg der Rekruten... zumindest unter den Auzubildenden. Ihre Uniformen unterschieden sich auch von der Machart deutlich von denen der unteren Ränge – man sollte sie ja erkennen. Daneben hatten sie aber auch den Vorteil deutlich bequemer zu sein, wie Konstantin festgestellt hatte. Seine Jacke zog er jedoch nicht an, ihm war nicht kalt – im Gegensatz zu vielen anderen. Hatte wahrscheinlich etwas mit seiner Herkunft zu tun, dachte Konstantin sich, auch wenn er nicht wusste wo er eigentlich herkam. Oder wer seine Eltern waren. Kinder wurden früh in den Orden gebracht, und ihnen wurden solche Dinge nie erzählt.
„Warum nimmst du den Plan mit?“
„Vielleicht finde ich jemanden, den ich nach dieser Ausbilderin fragen kann. Zum Beweis habe ich dann den Plan dabei.“
„Hauptsache du verlierst ihn nicht. Nun lass uns gehen, ich will nicht zu spät sein.“
Angus schnaufte belustigt. Sie hatten noch mindestens zehn Minuten um rechtzeitig beim Essen zu sein, und hatten nur ins nächste Gebäude zu gehen. Aber er widersprach nicht und folgte Konstantin.

 

 
„Wir sind wohl zu früh dran.“
Kommentierte Angus, als er nach Konstantin in die Speisehalle trat. Der Grund dafür war deutlich zu erkennen – es waren nicht einmal dreißig Rekruten anwesend, die die hinteren Bänke füllten. Bei den Rekruten gab es unterschiedliche Jahrgänge, und die Jüngsten saßen immer an den hinteren beiden Reihen. Das wurde bei den Schülern und Anwärtern ähnlich gehandhabt, aber die speisten in einem anderen Gebäude. In der Speisehalle die für die Rekruten gedacht war gab es acht Tischreihen: Zwei für jeden der drei Rekrutenjahrgänge, eine Bank für die anwesenden vollwertigen Mitglieder des Ordens und eine erhöht, am Ende der Halle stehende Tafel für die Ausbilder.
„Nein. Aber es sind verdächtig wenige anwesend. Wo ist der Rest? Wer zu spät kommt, bekommt kein Essen – das gilt doch auch für Rekruten?“
„Jup. Soweit ich weiß, schon. Aber mir ist schon heute Nachmittag aufgefallen, dass einige nicht da sind. Ich dachte sie seien einfach nur wo anders und kämen dann zum Abendessen. Aber ich sehe sie nirgends.“
„Wir sind doch knapp vierzig gewesen, oder?“
„Fünfundvierzig, um genau zu sein. Im Augenblick fehlen...“
Angus zählte rasch die Anwesenden durch,
„Sechzehn. Das ist eine Menge.“
„Und du hast nicht gehört wo die hin sind?“Angus schüttelte den Kopf. Konstantin hörte Schritte hinter ihnen und wandte sich um, Angus tat es ihm gleich. Die Halle betraten vier weitere Rekruten, wobei drei von ihnen einem einzelnen, größeren Rekruten folgten. Dieser war wohl ihr Anführer, und Konstantin schätzte dass dieser Junge ihm in Sachen Stärke in nichts nachstand. Er hatte diese Gruppe auch schon des Öfteren gesehen, sie schienen sich schon eine Weile zu kennen. Wie auch immer sie das geschafft hatten. Der Anführer dieser Gruppe ist zu manchen Gelegenheiten als ziemlich ungehobelter Klotz aufgefallen...
„Sieh an, sieh an.“
Meinte besagter Rädelsführer und richtete seinen spöttischen Blick auf Angus.
„Dass ausgerechnet du Wiesel zu denen gehörst, die hier geblieben sind... ich bin überrascht. Aber Unkraut vergeht nicht, was?“
Die Aussage fand er wohl clever genug um stolz zu grinsen, während er von seinen drei Begleitern ein zustimmendes Gekicher erntete.
„Dorian. Hochnäsig wie immer. Nur zu gut dass wir hier ein Dach haben, sonst würde es in deine Nase regnen.“
Entgegnete Angus trotzig, doch Konstantin erkannte, dass Angus nicht einmal halb so selbstsicher war wie er aufzutreten versuchte. Dorian entging das genausowenig.
„Heh. Nie um Worte verlegen, was, Wiesel? Mal schauen was du sagen wirst wenn wir uns im Kampf messen werden. Dieses Jahr ist es ja endlich soweit, wir dürfen uns messen. Oder, besser gesagt, ich darf dir die Macht des Stärkeren zeigen.“
Auch das wurde mit hämischen Gekichere kommentiert, worauf Dorian die Sache als beendet ansah und sich mit seiner Anhängerschaft zum Essen begab. Nicht ohne im Vorbeigehen Angus anzurempeln, versteht sich - er stolperte einen Schritt zurück. Nan, was sollte man sagen: Dorian war wesentlich kräftiger gebaut als Angus.
Konstantin sagte dazu nichts, weil er den Konflikt der Beiden nicht wirklich nachvollziehen konnte. Erst als die Gruppe um Dorian sich hingesetzt hatte fragte er Angus:
„Warum nennt er dich ein Wiesel?“
„Was besseres ist ihm bei unserem ersten Treffen wohl nicht eingefallen, und was Neues auszudenken übersteigt seine Fähigkeiten. Nein, keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal was er gegen mich hat.“
„Hm. Und was meinte er mit 'hier geblieben'? Er weiß wohin die Fehlenden hin sind?“
„Gut möglich, ja. So wie ich es verstanden habe, hat hier einen älteren Bruder. Der ist gerade in seinem letzten Jahr, aber ich weiß nicht wer es ist. Der hat ihm sicher so einiges von dem erzählt, was hier eigentlich passiert.“
„Praktisch. Du hast nicht zufälligerweise auch einen älteren Bruder hier?“
Die Frage bedurfte eigentlich keiner Antwort, Konstantin konnte sich schon denken, dass Angus keine älteren Geschwister im Orden hatte. Doch statt die Frage sofort zu verneinen schwieg Angus betroffen und deutete dann auf den Tisch.
„Wir sollten uns hinsetzen. Gleich wird das Essen aufgetragen.“
„Ja, stimmt wohl.“
Angus ging zielsicher zu einer Gruppe Rekruten und Konstantin ließ sich mitschleppen. Die Anderen grüßte er kurz mit einem Kopfnicken, worauf er sich dann dem aufgetragenen Essen widmete. Mit ihm suchte keiner ein Gespräch und Angus unterhielt sich mit zwei anderen über die Ausbilderin die keiner zu kennen schien.

 

 


„Und, hast du was über diese Ausbilderin in Erfahrung bringen können?“
Fragte Konstantin Angus, der das Zimmer betrat. Konstantin hatte sich recht schnell von der Gruppe verabschiedet um noch ein Buch in der Bibliothek auszuleihen. Selbiges las er auch in aller Ruhe, bis Angus vom Abendessen zurückkehrte.
„Nein, nicht wirklich. Aber es gibt noch andere die bei ihr Unterricht haben. Also wird es wohl kein übler Scherz sein. Und wenn doch, so wird er nicht nur mir gespielt.“
Antwortete der Zimmergenosse, zog seine Jacke aus und ließ sich auf sein Bett fallen. Eine Handlung, die eine hochgezogene Augenbraue seitens Konstantins zur Folge hatte.
„Was?“
„Du könntest ja wenigstens mal deine Schuhe ausziehen, ehe du dich ins Bett legst.“
„Schuhe hin, Schuhe her, was macht das schon?“
Kommentierte Angus, erhob sich aber und zog das Schuhwerk dennoch aus.
„Wir wurden jahrelang in Disziplin geübt, aber das scheint doch recht spurlos an dir vorbeigezogen zu sein.“
„Manche Dinge kann man nun mal nicht ändern.“
Sprach Angus mit einem Schulterzucken und wollte sich gerade wieder ins Bett fallen lassen, da fragte Konstantin:
„Wann hast du eigentlich den ersten Unterricht bei dieser Ausbilderin?“
„Äh... lass mich mal nachsehen. Ich glaube das war schon irgendwann morgen...“
Die Jacke wurde genommen und in die Innentasche gegriffen, doch Angus fand dort nicht das Blatt das er suchte. Das musste er nicht einmal sagen – Konstantin konnte es seinem Gesicht ablesen. Der Ausdruck wandelte sich von gelassen zu verwirrt, dann zu angsterfüllt und schließlich zu panisch.
„Nein! Nein, nein, nein! Das darf nicht sein!“
Konstantin begann zu verstehen, was passiert ist.
„Ohweh.“
Als nächstes wurde die Jacke aufs Bett geworfen und sämtliche Taschen durchwühlt, die Jacke wieder hochgehoben und ausgeschüttelt... aber natürlich fiel kein Plan heraus. Nur ein kleiner Papierschnipsel, aber kein Plan. Angus geistiger Zustand wurde von Sekunde zu Sekunde zunehmend panischer.
„Angus! He, Angus!“
Der mittlerweile bleich gewordene Zimmergenosse wandte sich erst nach einigen Sekunden Konstantin zu.
„Setz' dich hin.“
„Aber -!“
„Hinsetzen!“
Kommandierte Konstantin und Angus plumpste auf sein Bett. Und damit auch direkt auf die nun auf dem Bett liegende Jacke.
„Beruhige dich erst einmal.“
Leichter gesagt als getan. Wer seinen Unterricht verpasste, dem drohten Strafen. Und die wurden mit jedem Jahrgang härter... Konstantin wusste nicht was man einem Rekruten des ersten Jahrgangs androhte, aber so wirklich wollte er das eigentlich auch nicht wissen. Und nun sah es so aus, als würde Angus sämtlichen Unterricht verpassen. Kein schönes Schicksal...
„Beruhigen?! Mich ber-“
„Wir müssen deinen Plan finden. Dabei nützt uns Verzweiflung allerdings wenig, also bleib sitzen und atme ein paar mal ruhig und kräftig durch.“
Das ließ sich schwerlich anstreiten, also versuchte Angus zur Ruhe zu kommen während Konstantin überlegte. Und je mehr er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass der Plan zufällig aus der Innentasche gefallen sein konnte. Dafür hätte Angus schon einen Kopfstand machen müssen...
„Du hast den Plan nicht verloren, denke ich. Er wurde dir gestohlen.“
„Was? Wie kommst du darauf?“
„Nun, das Blatt selbst ist kaum größer als die Innentasche selbst – das er rausfällt ist also eigentlich nicht möglich. Turnübungen hast du keine gemacht, zumindest nicht als ich da war. Und danach..?“
Angus schüttelte den Kopf.
„Also auch nicht. Dann kann der Plan nur von jemandem genommen worden sein.“
„Aber wer..?“
Angus brauchte den Satz nicht einmal auszusprechen, ehe er schon die Antwort kannte.
„Dorian! Dieser elende, miese -“
„Sicher?“
„Na wer denn sonst?! Und erinnerst du dich wie er mich angerempelt hat? Da muss er es getan haben!“
„Hm.“
Konstantin blieb skeptisch. Sicher, dass die beiden ein schlechtes Verhältnis zueinander hatten war klar, doch die Frage blieb offen woher Dorian wusste, dass Angus seinen Plan in der Jackeninnentasche getragen hatte.
„Angus, woher hätte er denn wiss-“
„Du unterschätzt ihn, Kon. Es ist ihm eigen, dass er größtmögliche Schwierigkeiten verursacht! Keine Ahnung woher er es wusste, aber irgendwie hat er es mitbekommen. Und nun hat er meinen Plan.“
Konstantin kratze sich am Kinn. Ganz ausschließen konnte man diese Version natürlich nicht. Der Zufall war oftmals grausam, und Konstantin hatte schon mitbekommen dass Information im Orden wesentlich besser verbreitet wurde als er zunächst angenommen hatte. Zumindest unter den Rekruten. Angus schien sich wieder beruhigt zu haben und dachte intensiv nach. Konstantin lehnte sich in seinem Stuhl zurück, merkte sich die Seite im Buch und legte es auf den Nachttisch. Lesen konnte er hiermit wohl vergessen.
„Also?“
Fragte er dann Angus, welcher fragend aufsah. Konstantin überlegte, ob er ihm wirklich erzählen sollte dass man sich als Zimmergenossen zu unterstützen hatte. Angus hatte gewartet bis er aufgewcht ist um ihm alles zu erzählen - da würde er in dieser Lage Angus nicht alleine lassen. Sicherlich gab es Wege die Situation zu retten...
„Was, also?“
„Na was wohl? Wie holen wir deinen Plan zurück?“

 

Tee um Mitternacht

Nach dem Abendessen hatten alle Schüler, Anwärter und Rekruten der ersten beiden Jahrgänge eine Stunde Zeit um sich noch auf dem Gelände des Ordens aufzuhalten, ehe sie sich in ihre Zimmer zurückzuziehen hatten. Abendruhe wurde das genannt. Das Verlassen der Zimmer wurde nur in seltenen Fällen gestattet. Zwei Stunden danach hatten alle Rekruten zu schlafen. Ein Grund, aus dem Konstantin mit einem sehr unzufriedenen Gesichtsausdruck vor dem Gebäude stand, in dem sich die Schlafräume der Rekruten befanden. Es herrschte Abendruhe und er hatte in seinem Zimmer zu sein. Schlafend. Genau wie Angus. Doch er hatte Angus gesagt, dass er ihm helfen würde... und sein Wort zu brechen hatte Konstantin nicht vor. Dabei muss gesagt werden, dass er zwar vor dem Gebäude stand, aber eigentlich befand er sich auf der Seite, die vom Innenhof wegführte – in der schmalen Gasse zwischen Gebäude und Außenmauer des Ordens.
„Diese Idee ist nicht toll.“
Eigentlich gingen Konstantin wesentlich blumigere Sätze durch den Kopf wie er seinem Unmut Ausdruck verschaffen konnte, doch er wollte sich nicht gänzlich gehen lassen. Noch nicht, zumindest.
„Hast du eine Bessere?“
Erwiderte Angus trocken, und blickte nach oben. Er zählte die Fenster im dritten Stock ab, um gleich auch ja das Richtige zu erwischen.
„An seine Tür klopfen, vielleicht?“
„Damit er nach Aufsehern schreit und wir dann garantiert in der Klemme stecken?“
„Die Fassade hochklettern, durch sein Fenster glotzen, gegebenfalls einbrechen und seine Sachen zu durchwühlen ist also besser?“
„Es besteht wenigstens die Möglichkeit nicht entdeckt zu werden. So, siehst du das Fenster dort? Mit dem grünen Mosaik am oberen Fensterrand?“
„Im dritten Stock?“
„Jup.“
„Ja.“
„Gut. Sag mir Bescheid, wenn ich aus Versehen zu einem anderen Fenster klettern sollte. Oder wenn jemand um die Ecken geschlichen kommt...“
„Die Idee ist -“
„Ja, ja, ich weiß. Aber ich bitte dich ja nicht darum zu klettern, du musst mir nur den Rücken frei halten... na dann, wollen wir mal...“
Sprach Angus, den letzten Teil eher aufmunternd sich selbst zumurmelnd, ehe er sich daran machte langsam am Gebäude hochzusteigen. Seine Jacke hatte er im Zimmer gelassen und war nur in der herkömmlichen Kleidung eines Rekruten. Welche ihm zum Glück genug Bewegungsfreiheit gab, um die vor ihm liegende Aufgabe halbwegs gut zu meistern. Wobei er sie eigentlich ziemlich gut bewältigte, wie Konstantin überrascht feststellte. Dabei kam Angus sicher zugute, dass er klein und gelenkig war, aber auch die Geschicklichkeit. Konstantin war sich nicht sicher, ob er selbst sich an der Außenwand überhaupt hätte festhalten können...
Es dauerte nicht lange bis Angus das Fenster erreicht hatte – und das auch noch ohne bemerkt zu werden oder Lärm zu verursachen. Angus war bereits jetzt stolz auf seine Leistung, doch der gefühlte Klumpen der Aufregung in seiner Brust verdichtete sich in Anbetracht der nun vor ihm liegenden Aufgabe. Nun kam es darauf an wie aufmerksam Dorian und sein Zimmergenosse auf ihr Fenster achteten... und ob die Information richtig war, dass Dorian tatsächlich dort sein Quartier hatte. Konstantin hatte nicht nachgefragt woher Angus das überhaupt wusste...

Angus hatte größtes Vertrauen in seine Quelle, was auch bestätigt wurde. Er hing knapp unter dem Fenster, links davon, und konnte aus seiner Position sehen dass in dem Zimmer ein Etagenbett stand. Der Mond schien ins Zimmer hinein und erlaubte es immerhin einige Dinge zu erkennen. Auf dem oberen Bett schlief jemand, dessen Gesicht Angus nur zu gut kannte: Dorian. Doch das untere Bett konnte er nicht sehen, dafür müsste er etwas höher klettern. Zu seinem Glück hatten Dorian und sein Mitbewohner ihr Fenster ein stückweit offen gelassen, sodass er es vorsichtig weiter öffnen und sich dann mit den langsm zittrig werdenden Fingern am unteren Rahmen festhalten konnte. Dann zog er sich langsam nach oben... und hielt mitten in der Bewegung inne. Im unteren Bett lag niemand. Aber am Fenster stand ein Tisch. Auf dem Tisch stand ein Becher. Und in diesem Becher rührte Dorians Zimmergenosse ganz seelenruhig seinen Tee... dabei nur milde verwundert in Angus' Augen schauend.
„Zehn Sekunden. Dann habe ich entweder einen Grund dir weiter zuzuhören, oder ich stoße dich in die Tiefe.“
Erklärte der Junge leise, fast schon beiläufig dem perplexen Angus.
„Äh...“
„Sieben...“
„Dorian hat meinen Stundenplan geklaut.“
verkündete Angus dann mit rasendem Herzklopfen und in einem heiseren Flüsterton. Er kannte den Anderen nur vom Sehen, wusste aber dass er, wie Konstantin, ein Magier war. Allerdings nicht des Feuers, sondern der Luft. Was die Lage nicht gerade rettete. Eine Handbewegung und Angus würde sich einen Meter weiter weg wiederfinden, von einer starken Böe vom Fenster weggestoßen. Und dann würde er rapide in Bodenrichtung beschleunigen. Diese Aussicht trug nicht gerade zur Entspannung des Fassadenkletterers bei. Der Luftmagier legte den Kopf etwas schräg und blickte auf den laut schnarchenden Dorian... dann wieder auf Angus, der sich die Zeit nahm seine Position zu verbessern um nicht an den Armen zu hängen, sondern sich auf die Füße verlagern können.
„So so. Du bist also dieses Wiesel, von dem er sprach. Nun gut, du hast mein Interesse.“
Angus atmete erleichtert auf, wusste aber dass er sich einfach nicht ewig festhalten konnte. Die Angelegenheit musste möglichst bald erledigt werden...
„Genau, bin ich. Wenn du mir meinen Plan bringen könntest, wäre ich dir sehr dankbar.“
„Und was, wenn nicht?“
„Dann... werde ich mich wohl verziehen müssen.“
Der Luftmagier dachte ein paar Augenblicke nach, und nahm in der Zeit einen Schluck von seinem Tee.
„Na gut, ich schaue mich mal um. Nicht weglaufen.“
Sein Ton war dabei so trocken, dass Angus erst gar nicht wirklich wahrnahm, dass er einen Witz gemacht  hatte...
Der Magier stand derweil auf und schlurfte gemächlich zum Schrank in dem er und Dorian ihre Garderobe hatten. Kurz wuselte er dort herum, dann kehrte er zurück, sah sich um, öffnete irgendwelche Schubladen (vermutlich die von Dorians Nachttisch) und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. In aller Ruhe nahm er noch einen Schluck vom Tee und blickte erst dann wieder zu Angus. Entweder genoss er es, Angus zappeln zu lassen, oder die Angelegenheit war für ihn wirklich nur von bedigtem Interesse. Angus versuchte indes nicht zu zappeln, auch wenn seine Finger sich langsam wirklich kalt anfühlten.
„Nicht hier.“
„Was heißt das, nicht hier?“
„Na, dein Plan ist nicht hier. Sicher, dass Dorian ihn hat?“
Die Frage wurde mit zunehmender Skepsis geäußert.
„Ja!“
Diese Bejahung sprach Angus so laut aus, dass sogar Konstantin sie hören konnte. Dieser fragte sich mittlerweile ernsthaft was dort oben vor sich ging, denn sehen konnte er nicht viel. Abgesehen von dem am Fenstersims hängenden Angus.
„Bist sehr überzeugt von deiner Sache.“
Sprach der Magier sein Urteil und trank den Tee aus.
„Die Luft ist ein Element des steten Wandels, wusstest du das?“
Fragte er dann Angus, erwartete aber keine Antwort sondern stand auf, ging zu Dorians Nachttisch und kam dann mit einem Blatt Papier wieder.
„Deswegen begünstige ich den Wandel gerne. Angenehme Nachtruhe wünsche ich dir, Fassadenkletterer. Es war mir eine Freude dich nie gesehen zu haben.“
Sprach er dann, ließ das Blatt gleich neben Angus' Fingerspitzen liegen und ging zum Etagenbett. Wohl um schlafen zu gehen... Angus beschloss nichts weiter zu sagen – der Luftmagier war eindeutig in anderen Gedankensphären unterwegs als er – und das Blatt zu greifen, es dann in die Hosentasche zu stecken und wieder nach unten zu klettern. Wo ein sehr kritisch eingestellter Konstantin noch immer den Blick nach links und rechts schweifen ließ um mögliche Patrouillen zu erspähen.
Unten angekommen streckte Angus erst einmal seine Finger. Die waren fast taub von diesem Ausflug... Konstantin hatte einige Fragen, die er stellen wollte, doch er hob sie sich für später auf. Man sollte sein Glück ja nicht ausreizen und das Gespräch konnte man noch im Zimmer fortführen. Außerdem sah Angus nicht wesentlich beruhigter aus als vor dem Abenteuer.

 

 

 
„Nicht. Im. Ernst.“
Sprach Konstantin, auf das Blatt starrend das Angus erbeutet hatte. Dorians Stundenplan. „Äh... wie es aussieht, doch.“
„Dieser... wer eigentlich?“
„Keine Ahnung, habe seinen Namen vergessen. Ich kann ja auch nicht jeden beim Namen kennen.“
„Jah.nur fast jeden, hm?... Wie dem auch sei, er hat dir einfach den Plan von Dorian gegeben?“
Angus zögerte ein wenig und schüttelte dann den Kopf.
„Nein, hat er nicht. Er hat ihn mir zugespielt, sozusagen. Und mir recht klar zu verstehen gegeben, dass wir uns nie gesehen haben.“
„Ahja. Großartig, einfach nur großartig. Jetzt hast du also nicht nur deinen Plan verloren, sondern auch noch unter Zeugen den Plan eines anderen gestohlen.“
„Nein, du siehst das falsch! Ich habe jetzt ein Mittel, um an meinen Plan zu kommen!“
„Und wie, bitte?“
„Indem ich meinen Plan für seinen eintausche.“
Konstantin schwieg für eine Weile, Angus mit einem Blick anschauend der ganz eindeutig vor seiner Begeisterung für diese Idee übersprudelte.
„Was denn?“
Fragte Angus nach einer Weile, dem dieses Starren zunehmend ungemütlich wurde.
„Zu dem Ganzen willst du also auch noch Erpressung hinzufügen? Das ist hervorragend. Nein, brillant. Ist dir eigentlich in den Sinn gekommen, dass Dorian deinen Plan vielleicht wirklich nicht hat?“
Eine Möglichkeit, die Angus überhaupt nicht zusagen wollte. Die machte seine geplante Aktion nämlich zu einer reinen Strichliste, auf der man grundlos begangene Verstoße abzählen konnte.
„Aber er ist der Einzige der das getan haben kann. Ich habe den Plan niemandem gegeben, und als ich Mar...“
Angus Augen füllten sich mit stillen Schrecken. Ihm fiel ein, dass er nach dem Zusammenstoß mit Dorian seinen Plan herausgeholt hatte. Am Tisch, um ihn Mara zu zeigen, die auch bei der ominösen Ausbilderin Unterricht haben sollte. Konstantin ist zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr da gewesen...
„Oh vermaledeit.“
Konstantin brauchte nichts zu sagen, er konnte sich durch die Aussage schon alles zusammenreimen.
„Plan verloren. Gegen die Abendruhe verstoßen. Gegen die Nachtruhe verstoßen. Bei einem anderen Ordensmitglied eingebrochen. Dessen Plan gestohlen... und für all diese Dinge auch noch, abgesehen von dem Verlust deines eigenen Plans, hast du einen Zeugen. Dass er gesagt hat er hätte dich nie gesehen, darauf ist kein Verlass. Erst recht nicht, da er dir den Plan seines Zimmergenossen einfach so zugespielt hat. Solche Menschen haben kein Ehr- oder Anstandsgefühl. Angus, du bist seit einem Tag Rekrut... womöglich bist du es morgen überhaupt nicht mehr.“
Angus wurde von dem Gedanken schwindlig, worauf er sich auf sein Bett setzte. Dabei spürte er unter seiner Hand etwas aus Papier knittern...
Ein Zettel. Der kleine Schnipsel, der aus seiner Jacke gefallen ist, als er auf der Suche nach dem Plan gewesen ist. Angus hatte ihm keine Beachtung geschenkt, weil es nur ein Schnipsel war – doch nun, als er sich diesen Schnipsel ansah, bemerkte er dass auf diesem etwas stand. Nach dem Abendessen, Platz des Himmels.
„Kon, sieh dir das an.“
Angus Ton klang erschlagen als er Konstantin den Zettel reichte.
„Nach dem Abendessen... jemand wollte dich auf dem Dach der Übungshalle treffen. Wegen deines Plans, nehme ich an?“
Angus zuckte erst mit den Schultern, nickte dann aber. Das war die beste Erklärung die sie hatten.
„Das... ist unschön. Aber immerhin hast du das jetzt bemerkt. Vielleicht kann man die Lage ja noch retten.“
„Morgen. Heute gehe ich nicht mehr raus, außerdem ist dort jetzt ganz sicher niemand. Nach dem Frühstück schaue ich dort vorbei, wir haben dann ja eine halbe Stunde ehe der erste Unterricht beginnt.“

Regeln und Gesetze

Der Platz des Himmels, oder auch einfach nur das Dach der gewaltig großen Übungshalle, war eine sehr selten genutzte Fläche. Es gab einfach so gut wie nie irgendwelche Übungen die zwangsläufig unter offenen Himmel durchgeführt werden mussten, noch dazu ohne nahe Gebäude. Denn die Übungshalle war eines der größten Gebäude im ganzen Orden, nur überragt von zwei anderen. Diese standen jedoch in einem großen Abstand von der Übungshalle, weswegen man sich auf dem Dach dieser wirklich vorkam als könnte man fast schon die Wolken greifen. Dass die Anlage des Ordens auf einem Berg stand, half dem Gefühl natürlich nach.
Angus hatte beim Frühstück kaum etwas herunterschlucken können, so nervös war er. Wenn sich nun niemand blicken ließ, oder er keine andere Spur fand, dann würde seine Laufbahn im Orden ziemlich schnell ein Ende nehmen. Jemand musste nur gut genug bei diesem Luftmagier nachbohren. Mit diesen finsteren Befürchtungen machte er sich auf den Weg zur Übungshalle, um dort die Wendeltreppe nach oben zu nehmen. Gerade als er die erste Stufe hochsteigen wollte, hörte er von hinten jemanden in seine Richtung laufen.
„Angus!“
Er wandte sich um, und sah Mara, die recht zufrieden vor ihm stehen blieb.
„Ich habe mich schon gewundert, warum du gestern nicht aufgetaucht bist!“
Angus war zu verwundert über den Inhalt ihrer Aussage um etwas zu entgegnen, was sie aber nicht am weiterreden störte.
„Die Anderen sind alle aufgetaucht, nur du nicht. Ich dachte, du hättest deine Aufgabe nicht erhalten, und würdest nun... aber egal, du bist ja doch hier.“
Nun hörte das Ganze für Angus auf, Sinn zu ergeben. Welche anderen? Welche Aufgabe? Er verstand gar nichts mehr. Mara blickte auf die Wendeltreppe und seufzte.
„Ich hasse diese Treppenstufen... aber nun sollten wir hochsteigen. Sind schon ein wenig spät dran.“
Meinte sie dann, lief an Angus vorbei und begann die Treppen hochzulaufen. So verwundert Angus auch über all das war was sie gesagt hatte, so war es eindeutig dass sie mehr wusste als er. Wesentlich mehr. So zögerte Angus nicht länger und eilte ihr nach.
Es dauerte eine Weile, bis der Aufstieg vollbracht war und Mara mit Angus oben ankam. Dort warteten schon fünf andere Rekruten ihres Jahrgangs und drei ältere. Diese waren in die Roben des dritten Rekrutenjahrgangs gehüllt – sie waren also in ihrem Abschlussjahr. Hinter diesen drei hockte auf dem Geländer eine Frau. Sie war ebenfalls in eine Robe gehüllt, aber von wesentlich edlerem Stoff. Und sie trug eine Kapuze... eine Kapuze, unter der man nur Schwärze und Schatten sah. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, egal wie sehr Angus versuchte es zu erspähen.
„Damit wären dann auch die letzten Beiden angekommen.“
Flüsterte die Frau, und trotz des wehenden Windes konnte jeder Rekrut sie klar und deutlich vernehmen. Das musste die Ausbilderin Madeb sein, schoss es Angus durch den Kopf. Das machte Sinn, und ihr Erscheinungsbild passte perfekt zu dem was man von ihr wusste. Nichts, nämlich.
„Wir haben nicht auf euch zwei gewartet, und wären wir in einem anderen Unterricht, dann hättet ihr nun Sanktionen zu fürchten. Zum Glück sind Regeln bei uns eher... Richtlinien.“
Das war das erste Mal, dass Angus eine solche Aussage aus dem Mund eines Ausbilders vernahm. Sogar Rekruten wagten es nicht, so etwas laut auszusprechen. Manche wagten das nicht einmal zu denken. Disziplin, das ist es was ihnen Jahrelang eingetrichtert worden ist. Disziplin über allem. Und nun verkündete sie hier ganz offen das Gegenteil? Und wieso Unterricht? Der Unterricht hatte doch noch nicht begonnen? Egal welchen Plan man sich ansah, zu dieser Zeit war eine Pause angesetzt. Pause, und Schluss. Angus versuchte seine zunehmende Ratlosigkeit zu unterdrücken und einfach weiter zuzuhören.
„Aber wehe, einer von euch Knirpsen vergisst, dass mein Wort in diesem Unterricht stählernes Gesetz ist. Keine Regel die eine Richtlinie ist, sondern ein Gesetz. Überschreitet es, und ihr nehmt einen Flug von hier nach unten. Und glaubt mir, ihr werdet das nicht überstehen.“
Eine kurze Pause folgte, in der sich alle Rekruten bildlich vorstellen konnten, was ihnen angedroht wurde. Vereinzelt war ein lautes Schlucken zu hören.
„Nun aber wieder zu euch beiden. Die Aufgabe war klar: Entwendet einen möglichst wertvollen Gegenstand. Mara, was bringst du mir?“
Mara trat nach vorne und holte aus ihrer Jackentasche eine Silbermünze. An sich war das natürlich kein allzu wertvoller Gegenstand, doch Rekruten hatten kein Geld das sie ausgeben konnten. Die Meisten von ihnen hatten noch nie Geld in der Hand gehabt.
„Geld. Eine gute Wahl, wenn man keine Hehler aufsuchen kann, aber dann sollte man genug davon nehmen. Mit dieser einen Münze könntest du dir einen Tag in einer Schenke leisten, mit Abendessen und Übernachtung. Auch wenn das nicht viel ist, so ist es mehr als viele deiner Konkurrenten mitgebracht haben. Unser werter Herr Schmied wird die Münze allerdings bald vermissen.“
Erklärte die Ausbilderin und sah nun zu Angus. Er konnte ihre Augen zwar nicht sehen, doch ihren Blick spürte er mehr als deutlich. Das war also sein Unterricht in Magie? Diebstahl? Was hatte das mit Magie zu tun? Auf der anderen Seite hatte es jedoch seine Begründung. Geheimnisse und Täuschungen, das waren Werkzeuge der Diebe, der Spione. Eine dementsprechend verwirrende Betitelung des Unterrichts war nicht verwunderlich. Und die Ausbilderin zeigte, dass sie ihre Tätigkeit sehr ernst nahm.
„Nun du, Angus. Was hast du mitgebracht?“
Angus hatte keine Ahnung gehabt was ihn hier erwartet hatte und von der Aufgabe hatte er genausowenig etwas gewusst. Aber zum Frühstück hatte er dennoch den Stundenplan von Dorian mitgenommen. Nur für den Fall, dass er ihn brauchen würde... nun musste er etwas gestohlenes präsentieren. Und, wie die Ausbilderin Mara deutlich wissen lassen hat, wusste sie sehr genau woher die Gegenstände kamen. Verheimlichen hatte also ohnehin keinen Sinn mehr... so trat er nach vorne, und zog seine 'Beute' hervor...
„Ein Stundenplan.“
Sprach die Ausbilderin, und die Rekruten hinter Angus begannen zu tuscheln. Er konnte nicht hören was sie sagten, doch dem Ton nach zu urteilen spotteten sie. Verständlich, war ein Stundenplan schließlich nur ein Stück Papier.
„Ruhe! Ich rede!“
Herrschte die Ausbilderin sie an, und die Rekruten verstummten augenblicklich.
„Das ist mit Abstand das Ausgefeilteste, was mir heute dargeboten wurde. An sich mag diese Blatt nicht viel wert sein, doch einer besonderen Person liegt unermesslich viel daran. Es ist ein Druckmittel. Und ihr tätet alle gut daran, Euch zu erinnern was euch genommen worden ist, um euch hierher zu bringen. Eure Stundenpläne. Denn mit Druckmitteln kann man andere Menschen manipulieren, sie dazu bringen Dinge zu tun die man selbst tun müsste, und unter Umständen nicht in der Lage wäre zu erfüllen. Dazu kommt, dass du, Angus, diesen Plan nicht einfach von deinem Zimmergenossen hast, oder?“
„Nein.“
„Sondern?“
„Ich habe ihn von -“
„Von deinem Feind. Du hast dir ein Druckmittel besorgt, das du gegen deinen persönlichen Feind einsetzen kannst. Damit ist dieser Gegenstand, objektiv vielleicht so gut wie nichts wert, aber für dich ist es ein mächtiges Instrument über eine Person, die dir Schaden will. Das macht es nahezu unbezahlbar.“
Angus stand vor der Ausbilderin wie versteinert und wusste, dass er sich nicht erlauben konnte Verwunderung oder gar Freude auszudrücken. Wobei letzteres sich noch nicht mal so deutlich zu spüren machte. Alles was geschah war irgendwie zu viel auf einmal... doch es entwickelte sich in eine gute Richtung. Etwas, dass er nicht vermasseln wollte indem er dümmlich aus der Wäsche starrte.
„Deswegen erkläre ich dich zum Gewinner dieser ersten Runde. Gratuliere.“
Darauf holte die Ausbilderin einen kleinen, münzähnlichen Gegenstand aus ihrer Robe und drückte ihn Angus in die Hand. Er sah sich die Münze kurz an, beschloss sie aber später genauer zu untersuchen und verbeugte sich knapp, ehe er zurücktrat. Die Münze sollte wohl etwas wie eine Auszeichnung sein...
„Eure nächste Aufgabe ist es, die entwendeten Gegenstände zurückzubringen. Und zwar ohne bemerkt zu werden. Die nächste Versammlung ist angesetzt für übermorgen, nach dem Abendessen.“
Und nach diesen Worten schwang die Ausbilderin sich über das Geländer vom Dach. Die Rekruten stürmten allesamt nach vorne, Angus mit ihnen, um zu sehen wie sie sich von diesem Fall retten wollte... doch als sie herabsahen war von der Ausbilderin schon nichts mehr zu sehen. Vielleicht war ja doch Magie im Spiel, dachte sich Angus als er sich abwandte und den Stundenplan von Dorian wieder einsteckte.
Am Eingang zur Treppe standen jedoch die drei älteren Rekruten und versperrten den Weg.
„Eure Stundenpläne. Ehe ihr sie noch vergesst.“
Sagte dann einer von ihnen, und reichte den anwesenden Rekruten die ihnen gestohlenen Pläne. Auch der von Angus war dabei, was ihn unglaublich erleichterte. Auf dem Weg nach unten sah er nach was bei ihm für ein Unterricht nun stattfinden sollte. Unbewaffneter Nahkampf. Er erinnerte sich dran, dass er diesen Unterricht mit Konstantin zusammen hatte. Vorher wollte er aber noch ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Da traf es sich gut, dass Mara gerade neben ihm ihren Plan bekommen hatte.
„Mara, warte.“
„Ah, Angus. Gratuliere, du hast die Runde gewonnen. Ein riskanter, aber raffinierter Coup.“
Sagte sie und nickte anerkennend. Dabei hatte Angus weder vorgehabt das zu tun, noch wusste er was es mit diesen Runden oder dem Gewinnen auf sich hatte.
„Ja... was das angeht, so hatte ich es gar nicht vor, um ehrlich zu sein.“
Flüsterte er, obwohl die anderen Rekruten fast alle die Treppe herabstiegen. Mara und Angus blieben als einzige zurück – was Angus auch ganz recht war.
„Eigentlich wusste ich nicht einmal etwas von der Aufgabe. Und was hat es mit dieser Münze auf sich? Kannst du mich aufklären?“
Mit Mara hatte Angus schon oft gesprochen, lange vor der Zeit in der die beiden zu Anwärtern ernannt worden sind. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht verraten würde. Und irgendwoher musste er ja an Informationen kommen...
„Hm... du wusstest nichts? Also hast du gestern wirklich nichts mitbekommen?“
„Nein! Ich habe den Zettel erst lange nach Abendruhe gesehen.“
„Aber wie kommst du dann an diesen Stundenplan?“
„Äh... lange Geschichte. Aber im Grunde habe ich nur meinen fehlenden Plan bemerkt und mir gedacht dass Dorian ihn mir gestohlen hat. Also habe ich seinen gestohlen, um ihn gegen meinen einzutauschen...“
Mara blieb einige Augenblicke lang still, dann brach sie in Lachen aus. Angus sah etwas beschämt zu Boden und kratzte seinen Hinterkopf bis sie sich wieder gefangen hatte.
„Das... das kannst wirklich nur du schaffen, Angus.“
Sagte sie dann nach einer Weile und schüttelte den Kopf.
„Na gut. Was die Aufgabe gewesen ist hast du ja mitbekommen. Frau Madeb ist der Ansicht, dass es im Leben nie dazu kommt, dass man sich auf einen wahren Test vorbereiten kann. Stattdessen lernt man aus dem, was einem selbst passiert. Also wird sie uns nur wenig unterrichten, zumindest in der Art wie man es sich vorstellt. Dafür werden wir Aufgaben bekommen, die es in einer bestimmten Zeit zu erledigen gibt. Sie beurteilt dann wer die gestellte Aufgabe am besten bestanden hat und verleiht ihm – oder ihr – eine Auszeichnung. Ich denke, das ist die Münze die du bekommen hast. Andere Ausbilder verleihen solche Auszeichnungen ebenfalls, und am Ende des Jahres kann man seine erhaltenen Auszeichnungen gegen irgend etwas eintauschen... aber sie hat nicht gesagt gegen was genau.“
„Verstehe... das erklärt so manches. Aber die Stund... äh... Versammlungen finden ja nicht zu den Zeiten statt die auf dem Plan stehen. Was findet denn zu den Zeiten statt?“
„Nun, da Frau Madeb meint dass man durch solche Stundenpläne zu viel Routine im eigenen Handeln bekommt und vorhersehbar wird, fallen diese Stunden aus. Zur eigenen Beschäftigung freigegeben, wie sie gesagt hat. Selbststudium, oder wie auch immer.“
„Oh.“
Wunderte sich Angus und blickte auf seinen Plan. Vier mal die Woche hatte er diesen Magieunterricht – der also ausfiel. Da hatte er also Freizeit? Oder auch Zeit die Aufträge zu erledigen, während die anderen Rekruten beschäftigt waren.
„Und noch was. Wir sollen niemandem davon erzählen. Wer auffliegt, der verliert seine Auszeichnung. Und sollte man noch keine haben, dann wird die nächste erarbeitete nicht ausgehändigt. Also zu niemandem ein Wort!“
Angus nickte, dachte dann aber an Konstantin. Er würde mit Sicherheit wissen wollen, was jetzt aus diesem Treffen geworden ist... aber da würde Angus sich wohl etwas einfallen lassen müssen.
„Danke dir, Mara. Nun sollten wir uns aber beeilen, sonst kommen wir noch zu spät zu unseren nächsten Unterrichten. Hast du jetzt auch unbewaffneten Nahkampf?“
Mara rollte demonstrativ mit den Augen.
„Natürlich nicht. Der ist nur für Jungs – oder die Mädchen, die meinen das auch tun zu müssen. Wir haben stattdessen die leichte Verteidigung. Aber du hast recht, beeilen sollten wir uns.“

Blitzlicht

Die Halle des Wettstreits musste ursprünglich für irgendetwas anderes gebaut worden sein. Sie stand auf dem Fundament der Untergundhalle, war mit selbiger jedoch nur in der Fläche zu vergleichen. Säulen fanden sich hier nur am Rand, aber sie ragten hinaus bis zur Decke, auf der sich der Platz des Himmels befand. Zwischen dem Boden und der Decke war genug Platz um zwei dutzend Männer aufeinander zu stapeln... stehend. Und in eben dieser Halle fanden die wettbewerbartigen Übungseinheiten statt.
Konstantin ist als einer der Ersten in der Halle aufgetaucht und hatte sich schon seinen Platz ausgesucht. Ganz vorne in der Aufstellung, natürlich. Am anderen Ende der Halle sah er eine Gruppe von Mädchen, die sich wohl auch für Übungen einfanden. Ein Blick in die eigenen Reihen zeigte deutlich, dass zum unbewaffneten Nahkampf keine Mädchen zugeteilt worden sind. Irgendwo nachvollziehbar, dachte er sich. Es dauerte nicht lange bis sich die Reihen füllten und schlussendlich auch Angus auftauchte. Er sah zu Konstantin, dann nickte er. Es hatte wohl geklappt... was auch immer Es war. Angus gesellte sich allerdings nicht zu seinem Zimmergenossen nach vorne, sondern begab sich weiter hinten in Stellung. Bei seinem Körperbau war das auch nicht verwunderlich.
Konstantin blieb in der ersten Reihe stehen. Seinen Ambitionen nach war das immerhin zu erwarten, und dazu hatte er die Statur um diesen Platz zu rechtfertigen.
Schlussendlich erklang die laute Glocke, die den Unterrichtsbeginn einläutete. Punktgenau zu diesem Klang betrat der Ausbilder des unbewaffneten Nahkampfs die Halle. Pavel hieß er, und wem dieser gewaltige Berg von Mann noch nie aufgefallen ist, der musste blind sein. Er war nicht mehr jung, doch steckte in seinen Augen noch genug Feuer um mit einem Blick den aufmümpfigsten Rekruten zum Schweigen zu bringen. Seine Statur war allerdings wahrscheinlich mit an dieser Ausstrahlung beteiligt. Haare trug er keine, mal von seinem sehr übbigen und wohl gepflegten Schurrbart abgesehen. Man mochte sich wundern warum ein solcher Kämpfer als Ausbilder lebte, doch die Erklärung dafür war schnell gefunden: Er hinkte. Sein Bein schien ihm Probleme zu bereiten, auch wenn er es sich nie anmerken ließ wie sehr es ihn behinderte - und zum Trotz so gut wie nie saß. Wie es kam dass er diese jahrelange Verletzung hatte obwohl es so viele magisch versierte Heiler im Orden gab blieb eine offene Frage.
Breit wie ein Bär baute sich der Ausbilder schließlich vor seinen Rekruten auf und musterte sie erst in völliger Stille., ehe er seine Rede eröffnete:
„Jahrgang eins. Ich bräuchte es nicht zu wissen, um diese Tatsache zu erkennen. Jahrelang habt ihr Runden gelaufen, Schwerter geschwungen und Liegestützen gemacht. Ich sehe schon, unter euch gibt es einige, die sich für die Besten halten. Und wisst ihr wieso? Weil keiner von euch bisher Dreck fressen musste. Ab heute ändert sich das.“
Dorian war auch anwesend und ließ die Möglichkeit nicht aus Angus nach dieser Phrase einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Irgendwie hatte er es wohl geschafft trotz seines nicht vorhandenen Stundenplans seinen Unterricht herauszufinden. Obwohl das vermutlich daran lag, dass alle Jungen diese Veranstaltung am ersten Wochentag hatten.
„Grins' nich' so dumm.“
Meckerte Pavel Dorian an und kehrte zu seiner Motivationsrede zurück - aber nicht ohne seiner Hand bedächtig durch seinen dichten Schnurbart zu fahren.
„Wer ewig gewinnt, der wird schwach. Wer nur austeilen kann, der wird einen Kampf nicht überleben. Ich werde euch lehren, Schläge einstecken zu können. Euch alle. Ihr werdet diesen Unterricht hassen, ihr werdet mich verfluchen - aber das ist mir gleich. Ach, und die Annahme ist verbreitet, dass ihr gegeneinander kämpfen werdet. Falsch gedacht.“
Konstantin runzelte die Stirn. Sie würden nicht gegeneinander antreten, aber gegen wen dann? Wohl kaum gegen die Mädchen, die am anderen Ende des Saals mit Dolchen zu üben schienen. Und der Ausbilder würde sie wahrscheinlich auch nicht persönlich zusammenschlagen...
„Jungs, kommt rein!“
Brüllte Pavel, worauf durch die Eingangstür fünfzehn Rekruten kamen. Vier weniger, als sie es waren. Ihrer Kleidung nach waren sie im dritten Jahrgang, also zwei Jahre älter. Nervöse Blicke huschten durch die Gegend, auf der Suche nach einer Erklärung für das Ganze die nicht lauten sollte: Die sind gekommen um euch zu vermöbeln.
„Also, Frischfleisch... das hier sind eure älteren Kameraden. Sie sind nur aus einem Zweck hier: Nämlich um euch zu vermöbeln. Sie haben die letzten Jahre nichts anderes getan außer sich gegenseitig mit Fäusten, Füßen, Keulen, Schwertern, Büchern und sogar Schilden gegenseitig die Köpfe einzuschlagen und einschlagen zu lassen.“
Der gesamte Kurs starrte auf die älteren Rekruten, welche ihrerseits zurückstarrten. Keiner von ihnen sah allerdings so aus als würde er diese Aufgabe gerne machen. Sie waren sich ihrer absoluten Überlegenheit bewusst und bemitleideten ihre jüngeren Ordensbrüder jetzt schon. Auch wenn sie nichts sagten. Es gab nur einen, der weder mitleidig noch sonst irgendwie emotional voreingenommen schien. Er gehörte zu den größeren der Truppe, trug seine blonden Haare unglaublich kurz geschoren und könnte seiner Statur nach der Sohn von Pavel sein.
„Hin und wieder haben ihnen andere die Schädel spalten oder ihnen gar Magie beibringen wollen. Die Letzteren hatten bedingt Erfolg... aber wehe, ich sehe hier einen einzigen Zauber! Wer bei mir zaubert, der wird dieses Jahr wiederholen. Gilt für euch genauso.“
Adressierte er die Älteren, die darauf nur kurz angebunden nickten.
„So, nun zu den Regeln. Ihr seht die großen Kreise auf dem Boden? Diese Kreise werden eure Welt bis zum Ende dieses Unterrichts. Es kämpfen immer zwei in einem Kreis, sollte einer den Kreis verlassen - auf welche Weise auch immer - ist der Kampf beendet. Sollte einer den Kampf mündlich oder durch Klopfen auf den Boden beenden, dann ist der Kampf beendet. Ausnahme: Kein Kampf wird für beendet erklärt, bevor er angefangen hat. Hatte schon mit solchen kleinen Magiern zu tun, die meinten mir auf diese Weise ankommen zu müssen. Wenn einer von euch Neulingen es schaffen sollte einen dieser hier zum Aufgeben zu bringen -“
Sprach Pavel und sah mahnend zu den Älteren,
„Dann verdient er sich eine Auszeichnung. Wir Ausbilder vergeben pro Jahr nicht mehr als einhundert Auszeichungen. Insgesamt. Dabei hat es noch kein Jahr gegeben, in dem die Hundert tatsächlich ausgeteilt worden sind. Sollte einer von euch es schaffen zwanzig davon anzuhäufen, kann er diese bei einem Ausbilder seiner Wahl für etwas besonderes eintauschen. Wer seine Auszeichnungen bei mir eintauscht, der bekommt sieben erlesene Hanteln unterschiedlichen Gewichtes.“
Die Begeisterung der Rekruten über einen solchen Preis hielt sich in Grenzen.
„Und obendrauf ein ganzes Fass greiften Ales, gebraut von denen, die sich Meister der Braukunst nennen können. So manch ein Mann würde für diesen Preis dem Tod ins Auge blicken! Von euch werden nur zwanzig Münzen erwartet.“
Ein Angebot, das bei den Meisten wesentlich mehr Interesse weckte. Konstantin hatte noch nie etwas von diesen Auszeichnungen gehört, aber immerhin wusste er nun, was es zu erarbeiten galt. Die Hanteln und das Ale waren ihm dabei recht gleichgültig. Immerhin, wenn der Meister des waffenlosen Nahklampfs nichts besseres anzubieten hatte, dann war das seine Sache. Konstantin war wesentlich mehr daran interessiert, was im Kampf mit Waffen für Belohnungen winkten. Aber auch dafür würde er Münzen brauchen.
„So. Nun, da eure Augen auf das Ziel gerichtet sind, wird es Zeit sich den Hindernissen auf dem Weg dahin zu stellen. Ihr bekommt nun eure Übungspartner zugewiesen! Also, alle in die Kreise.“
Sie verteilten sich auf die mit Kreide auf den Boden gemalten Ringe und warteten darauf, dass ihnen ein Älterer zugeteilt wurde. Irgendwie war Konstantin nicht überrascht, als ihm der Emotionslose zugeteilt wurde. Der hatte schon zu Beginn nicht so ausgesehen als würde er viel davon halten die Jüngeren schonend anzufassen.
„Kleiner, wie heißt du?“
„Konstantin. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
Man wollte ja den Schein von Ausgeglichenheit und Würde wahren, auch wenn man gleich mit Fäusten aufeinander losgehen wird.
„Elwin. Aber das wird kein Vergnügen. Du hast Ausbilder Pavel gehört?“
Konstantin nickte. Noch wurden den Anderen ihre Partner zugeteilt und es gab Zeit für ein kurzes Gespräch.
„Er hat recht. Die Anderen meines Jahrgangs denken, wir sollten euch schonen.“
Er schüttelte seinen Kopf.
„Aber das ist falsch. Falsch und dumm. Im Leben wird man nicht geschont und ich werde es ebenso halten. Nach dieser Stunde hier haben eure Heiler Unterricht. Praxis.“
Er schmunzelte.
„Mach dir um deinen Zustand nahher also keine großen Sorgen. Die flicken dich schon zusammen.“
„Denkst du, dass du mich so schwer zurichten können wirst?“
Die Selbstsicherheit des Älteren war grenzenlos - was das Selbstvertrauen Konstantins immer tiefer sinken ließ. Er war einer der Besten seines Jahrgangs, wenn es nach der körperlichen Verfassung ging. Und dennoch bildete sich ein Klos in Konstantins Hals, vor Aufregung. Er versuchte es sich möglichst nicht anmerken zu lassen. Wie immer.
„Ja. Aber ich werde dir den ersten Angriff überlassen.“
„Ich dachte, das Leben schone nicht?“
„Tut es auch nicht. Mir wird sonst einfach zu schnell langweilig.“
Konstantin sah die Bredouille ein, in der er sich befand. Sein Kontrahent spuckte nicht nur große Töne, er hatte auch den Körperbau um das zu stützen. Er war größer, muskulöser und um ein Vielfaches erfahrener als Konstantin. Das meinte man also damit, dass man als Rekrut erst richtig ausgebildet wurde.
„So, eure Partner wurden zugeteilt. Auf drei beginnt ihr zu kämpfen. Eins... zwei..-“
Konstantin schloss kurz die Augen und atmete durch. Wenn er es schaffen sollte den ersten Schlag schnell und hart genug an der richtigen Stelle anzubringen, dann wäre die Sache vielleicht nicht verloren. An den Rippen vielleicht. Oder gleich der Solarplexus?
„- und dr-“
Konstantin öffnete die Augen um den im Geiste bereits durchgeplanten Angriff folgen zu lassen. Es gab nur eines, was ihn an der Ausführung hinderte: Nämlich die Faust, die schon keine Handbreit von seinem Gesicht entfernt war.
„- ei!“
Taumeln! Fallen. Stehen?
Oben oder unten?
Konstantin sah nichts, sein Körper versuchte von selbst irgendwie wieder halt zu finden. Und er schaffte es nicht zu fallen, fast wie durch ein Wunder. Die Sinne kamen auch wieder, mit den Sinnen auch die Sicht und der Schmerz. Die Nase war wohl hin, was der metallerne Geschmack und Geruch des Blutes nur allzusehr verdeutlichten. Das war ein mieser Anfang und brachte den ohnehin kaum möglichen Plan ins Kippen. Konstanin wurde wütend. Weniger wegen der Verletzung, sondern weil der Andere tatsächlich sein Wort so leichtfertig gebrochen hatte. Die Übung mochte eine Übung sein, aber ein Versprechen war ein Versprechen! Elwin stand aber einfach nur da und lächelte.
„Argh!“
Stieß Konstanin aus, verschwendete aber keinen Augenblick darauf sich an die schmerzende Nase zu packen sondern stieß sich nach vorne ab um Elwin für seinen verräterischen Schlag zu strafen, mit einem trotz der Verletzung zielsicher auf den Hals geführten Schlag. Doch die Faust wurde abgefangen, zur Seite geschlagen und Konstantin erntete einen Hieb in die Rippen der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Zeit genug, dass Elwin ihm eine schnelle Schlagfolge gegen die Brust verpassen konnte, was Konstantin sämtliche Luft austrieb. Er krümmte sich im Stehen zusammen, versuchte Luft zu kriegen... er begriff, dass der Kampf vorbei war. Und im selben Augenblick in dem sich seine Lungen krampfhaft wieder füllten bekam er den nächsten Schlag gegen den Kopf. Alles blitzte auf...
Dann herrschte Stille.


Stimmen. Er hörte Stimmen. Dumpfe Basstimmen... Männer. Dann kam der Schmerz, der aber nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Körper durchzuckte. Wie lange lag er am Boden? War er noch in der Halle? Oder schon bei den Heilern?
„Ich hatte noch nicht einmal die Drei ausgesprochen, Elwin!“
Das war die Stimme von Pavel, der ganz eindeutig außer sich war.
„Muss wohl nervös geworden sein. Der erste Kampf nach dieser langen Pause, da wird man schon mal aufgeregt.“
Elwin. Konstantin spürte die Abneigung, nein, den Abscheu... gar Hass durch sich strömen. Elwin war der Ältere, er war der Erfahrene, ein Krieger! Wie konnte er so hinterhältig handeln? Einen anderen Rekruten dermaßen verraten? Konstntins Körper pochte und stach von Schmerz, doch der junge Rekrut stemmte sich dennoch auf die Knie. Ein Blick zum Boden verriet ihm, dass er noch immer innerhalb des Kreises gelegen hatte. Dann wandte er den Kopf zu Elwin, der auch noch im Kreis stand - sich aber weiterhin mit Pavel unterhielt, der wohl wirklich aufgebracht war.
Der Schmerz war mächtig, doch Konstantin schaffte es sich auf die Beine zu hieven, ohne dabei laute Geräusche von sich zu geben. Elwin hatte sich für das Gespräch weitestgehend von ihm abgewandt, was Konstantin auch zu nutzen gedachte. Elwin wollte also ohne Achtung auf Ehre spielen?
Er wollte schreien, seiner Wut bereits im Vorfeld nachgeben, doch Konstantin tat es nicht. Er nahm Anlauf und sprang so leise ab wie er nur konnte, und der Schlag traf. Völlig überrascht vom Angriff taumelte der am Kopf getroffene Elwin einen Schritt zurück und kassierte einen Haken gegen seinen Unterkiefer. Der Schlag war nicht stark, einfach weil so gut wie jede Stärke Konstanins Körper verlassen hatte, aber es reichte aus um Elwin über die Linie stolpern zu lassen, worauf Konstanin auf die Kinie zusammensank.
„Was soll das jetzt werden?!“
Pavel schien zwar verwundert darüber zu sein dass Konstanin sich aufgerappelt hatte, aber wesentlich zorniger über den Überfall, den Kostantin sich erlaubt hatte.
„Ich hatte nichts gesagt.“
Sagte Konstanin - oder er wollte es sagen. Es kam nur ein heiseres Flüstern aus seiner Kehle.
„Der Kampf... beendet wenn einer aufgibt. Oder den Kreis -“
Er musste das Blut schlucken, das noch immer durch die Nase in seine Kehle floss,
„-  verlässt. Er hat... Kreis verlassen.“
Sprach Konstanin, und erkannte aus dem Blickwinkel, dass sich mittlerweile alle Rekruten um sein Übungsfeld gescharrt hatten. Die Meisten sprachen irgendetwas. Auch Angus stand dort, sah besorgt aus. Doch Konstanin hörte nichts, seine Sicht schwand immer mehr, dann klappte er zusammen.

Stirnbänder

Gedämpftes Murmeln, flüsternde Stimmen...Und eine wohlige Wärme, die sich im Körper ausbreitete. Konstantin kam langsam wieder zu seinen Sinnen und auch zu der Auffassung, dass es langsam genug war. Das dritte Mal bewusstlos geworden zu sein in weniger als einer Woche – mit Sicherheit hatte das sonst kein anderer geschafft.

„Unngh...“

Eigentlich hatte das ein Wort werden sollen.

„Liegen bleiben!“

Befahl eine herrische Frauenstimme von oben, worauf Konstantin ein schiefes Lächeln aufsetzte. Dass es in seinem Zustand wie eine Grimasse aussah konnte er ja nicht wissen. Auf jeden Fall war ihm sehr wohl bewusst, dass aufzustehen im Augenblick jenseits seiner Möglichkeiten lag. Konstantin machte sich nicht die Mühe auch nur seine Augen aufzuschlagen. Verletzte ließ man ohnehin nicht so schnell gehen, er konnte es also ohnehin vergessen so schnell wieder wegzukommen. Nach der Tracht Prügel...

„Herr Alberic, er wacht auf.“

Alberic. Diesen Ausbilder kannte wirklich jeder Rekrut - sogar jeder Anwärter, ja, jedes Kind. Er war der Zuständige für Heilungen, was er auch häufig genug demonstrieren musste. Von Heilmagie über Alchemie war alles sein Metier. Rekruten wurden nicht mit der Heilung von Anwärtern oder gar noch Jüngeren betraut - zu viel Verantwortung, sagte man. Da Heilungsmagie sogar unter Magiern im Orden sehr selten war, mussten alle Anwärter in besonderen Fällen von Alberic persönlich behandelt werden. Nun, theoretisch war das so vorgesehen. Faktisch kümmerte Alberic sich um nahezu alle Verletzungen, egal wie schwer sie sein mochten. Das hatte ihm einiges an Beliebtheit eingebracht... etwas, das wirklich den wenigsten Ausbildern zuteil wurde. Umso betrüblicher war es, dass Alberic wirklich der einzige alte Mensch im gesamten Orden war. Mit seinem langen, greisen Haar, der leisen Stimme, den faltigen und oftmals zittrigen Händen und der leicht gebeugten Haltung erschien er nicht gerade wie ein fähiger Kämpfer. Auch nicht mehr als guter Magier. So war es eigentlich zutiefst überraschend, dass er noch imstande war seine Magie zielsicher und fein genug zu wirken, doch er bewältige seine Aufgaben mit Perfektion. Die letzten Generationen an Ordenskämpfern konnten davon ein, zwei Liedchen singen. Wie lange er seine Meisterschaft wohl noch behalten würde?

„Alena, gute Arbeit. Setz' dich eine Weile hin, du musst erschöpft sein. Konstantin... Wie geht es dem Arm?“

Damit spielte der Heiler auf einen Zwischenfall an, bei dem Konstantin sich den rechten Arm ausgekugelt hatte. Alberic hatte ihn damals einfach wieder eingekugelt, ganz ohne Magie. Dabei jedoch klar gemacht, dass Turnübungen auf der großen Treppe nicht gern gesehen waren.

„Mmmmh...“

„Verstehe. Aber selbst dann musst du dich doch nicht gleich so auseinandernehmen lassen.“

„Mrgh..!“

„Und ob du das hättest verhindern können. Einfach deinen Kampfstil auf Verteidigung einstellen und wachsam bleiben - dannwürdest du jetzt schon munter umherlaufen können. Oder, besser gesagt, immer noch.“

Konstantin schwieg. Bei einem Kampf hatte man immer wachsam zu sein. Er hatte sich einen Augenblick der Schwäche gegönnt weil er sich sicher war, dass sein Gegner nicht angreifen würde. Nicht als erster, und erst recht nicht vor dem Signal. Diese vermeintliche Sicherheit hatte ihn in diese unschöne Lage gebracht.

„Aber dafür hast du dir eine Auszeichnung verdient. Pavel hat sie hier gelassen – auch wenn er darüber nicht sehr glücklich zu sein schien. Hat ständig was von besserwisserischen Magiern gemurmelt. Ich glaube, er mag uns nicht.“

Kommentierte Alberic im Scherz, während er seine Hände über Konstantin hielt und seine Zauber wirkte. Die gelassene Art beruhigte Konstantin. So schlimm konnte es um ihn ja nicht stehen, wenn Alberic das Gesehene so locker betrachtete. Er tadelte zwar, aber der Heiler tadelte immer.

„So, das Gröbste wäre erledigt. Jetzt verrate mir mal, wie es zu diesen Verletzungen gekommen ist. Und grummel nicht schon wieder, dir sollte es jetzt ganz gut gehen.“

Konstantin öffnete endlich seine Augen und versuchte sich aufzurichten. Überraschenderweise hatte er tatsächlich kaum noch Schmerzen - nur hier und da zog oder pochte es ein wenig. So schnell wieder bei guter Gesundheit zu sein, damit hatte Konstantin wirklich nicht gerechnet. Heilmagie war eben wirklich was Feines.

„Elwin hat mir gezeigt, dass das Leben nicht gerecht ist.“

Gab Konstantin dann kurz angebunden an, und Alberic seufzte.

„Elwin. Ja, jetzt verstehe ich. Der Gute hat einiges durchgemacht, das seine Spuren hinterlassen hat.“

„Rechtfertigt das einen Wortbruch?“

So schnell würde Konstantin dieses Vergehen weder vergessen, noch verzeihen... auch wenn er sich in seinem Ton zu zügeln versuchte. Alberic überging diesen leichten Ausbruch an Emotionen gänzlich.

„Wodurch kann ein Wortbruch denn gerechtfertigt werden?“

Gab der Heiler philosophisch zurück uns klopfte Konstantin auf die Schulter.

„Menschen haben ihre Charakterzüge, da kann auch die Erziehung des Ordens nicht immer etwas ändern. Solange ihr euch daran erinnert, dass ihr letztendlich alle Brüder im Orden seid, kann man solche kleinen Zwistigkeiten vergessen.“

„Klein?“

„Ja. Verhältnismäßig betrachtet. So, nun wird es aber Zeit für meinen Tee. Alena, würdest du bitte noch die letzten Schritte durchführen? Ich habe vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten. Konstantin – sei nicht immer so verkrampft. Wir sehen uns morgen.“

Konstantin sah Alberic nach und fragte sich, wieso sie sich denn morgen wiedersehen sollten. Dann verstand er. Der nächste Unterricht im waffenlosen Kampf stand morgen an, und die zugeteilten Partner würden wohl nicht getauscht werden. Das konnte ja ein nettes Jahr werden.

„Hast du noch Schmerzen?“

Fragte eine Stimme von hinten, und Konstantin wandte sich um. Er hatte nicht darauf geachtet wer diese Alena war, doch der Name ist ihm schon mal untergekommen.

„Du bist doch in meinem Jahrgang, oder?“

Fragte Konstantin die braunhaarige Heilerin, die ihr Haar wie er mithilfe eines Stirnbands zurückhielt. Nur dass es bei ihr, im Gegensatz zu Konstantin, ordentlich aussah.

„Das war nicht meine Frage, aber ja, bin ich. Also, hast du noch Schmerzen?“

Konstantin bewegte probeweise seine Finger, dann die Zehen und die Schultern – alles schien in Ordnung zu sein. Das Ziehen in der Brustgegend musste man ja nun wirklich nicht als Schmerz einordnen. So stand er auf und streckte sich. Im Grunde schmerzfrei.

„Nein, alles in Ordnung.“

Sprach er dann, mit kurzem Zögern. Alena atmete erleichtert aus und ließ ihren Kopf müde sinken. Nun, da Konstantin genauer hinsah, merkte er wie erschöpft sie eigentlich war und wie schweißdurchtränkt ihr Stirnband aussah.

„Hast mich gut zusammengeflickt, danke.“

„Bedanke dich bei Alberic. Er hat die Heilungen auf euch alle gewirkt.“

„Uns alle?“

„Ja. So wie ich es verstanden habe, sind hier alle, oder zumindest fast alle, vom waffenlosen Kampf gelandet. Aber die Anderen waren nur leicht verletzt, im Gegensatz zu dir. Du warst wirklich außer Gefecht. Der Einzige. Alberic hat Heilungen gewirkt, und wir Adepten mussten den Fluss der Heilungen aufrechterhalten. Wir sind aber nur zu viert hier, und von uns vier bin ich die Einzige die es geschafft hat, diesen Fluss die ganze Zeit über aufrecht zu erhalten. Deswegen hat Alberic mich hier behalten - ich sollte seine auf dich gewirkte Heilung aufrechterhalten.“

„Wann habt ihr das denn gelernt? Diesen Fluss zu halten?“

„Letztes Jahr schon. Wir Heiler beginnen unsere magische Ausbildung früher als die Kampfmagier, auch wenn das Halten eines Zaubers dieses Jahr deutlich besser klappt.“

„Ah.“

Das war wohl etwas, das man nur erfuhr wenn man sich mit anderen unterhielt. Konstantin kam zu dem Schluss, dass er das vielleicht öfters machen sollte.

„Wie spät ist es eigentlich? Wenn alle schon weg sind...“

Alena deutete auf die Wand, an der eine Uhr hing. Noch knappe zehn Minuten bis zum Mittagessen. Er hatte keinen Unterricht verpasst, was Konstantin erleichtert ausatmen ließ.

„Kon!“

Erschallte ein Ruf von der Tür, neben der Alena saß und ließ sie aufschrecken.

„Angus!“

Grollte sie dem Zimmergenossen von Konstantin entgegen, der durch die Tür stürzte.

„Keine Besucher erlaubt! Das steht doch draußen auf dem großen Schild! Hast du verlernt zu lesen?!“

Angus zuckte nur mit den Schultern. „Ach, wen stört das denn? Sind ja keine Schwerverletzten hier.“

Damit war das Thema für den Fassadenkletterer abgehakt und er schlenderte gemütlich zu Konstantin.

„Du stehst ja wieder! Nach dem Tritt, den Elwin dir verpasst hat, hatte ich ernsthaft Sorgen, weißt du?“

„Tritt?“

Konstantin konnte sich an keinen Tritt erinnern.

„Ja. Nachdem du ihn aus dem Ring gestoßen hast und auf dem Boden fast umgeknickt bist, hat er nochmal ausgeholt und dir einen so heftigen Fußtritt verpasst dass du fast bis zum anderen Ende des Rings geflogen bist. Hast du das schon nicht mehr mitbekommen?“

Nein, hatte Konstantin nicht – doch irgendwie bedauerte er nicht, das verpasst zu haben.

„Da es euch beiden wohl ganz gut zu gehen scheint, und wirklich keiner von euch schwerverletzt ist, würde ich vorschlagen ich verschwindet jetzt. “

Alena sah dabei eher zu Angus, als zu Konstantin. Irgendwie bekam der Feuermagier das Gefühl, sie konnte den Fassadenkletterer nicht wirklich gut leiden... was recht klar durch ihren Blick und den eiskalten Ton ausgedrückt wurde. Bevor Angus es schaffte irgendeinen Spruch losließ nickte Konstantin. Man sollte Heiler nicht verärgern, erst recht nicht grundlos.

„Ja, wir gehen. Ich danke nochmals.“

Auch wenn sie angeblich nur den Fluss gehalten hatte. Konstantin streckte sich noch einmal, nahm die von Pavel dagelassene Auszeichnung und verschwand mit Angus aus den Räumlichkeiten.

Reflexionen

 

„Alberic kann echt streng sein, meinst du nicht?“

Konstantin runzelte die Stirn. Alberic tadelte zwar immer, aber für gewöhnlich waren diese tadelnden Anmerkungen auch sehr gut gerechtfertigt. Das Zögern interpretierte Angus völlig richtig.

„Nachdem er mir eine kurze Heilung verpasst hat, wurde ich von ihm auch schon direkt wieder rausgeschickt. Rausgejegt, möchte man sagen! Dabei wollte ich gar keine Unruhe stiften, sondern einfach nur schauen wie es um dich steht. Sah nämlich ziemlich übel aus...“

Konstantin verspürte den Starken Drang Angus zu erzählen, was er von Elwins Verhalten hielt, doch er behielt seine Gedanken – wie so oft – für sich.

„Auf jeden Fall musste ich draußen warten, bis Alberic weg war. Oder bis du rauskamst, doch das hielt ich für unwahrscheinlich. Und doch, sieh dich an! Du Spazierst gesund und munter durch die Gegend. Nun gut, vielleicht nicht munter, aber auf jeden Fall gesund. Warum eigentlich die finstere Miene?“

Konstantin sah Angus an und hob eine Augenbraue. Fragte er das im Ernst?

„Oh, jetzt stell dich nicht dumm. Du wurdest zwar so richtig schön vermöbelt, aber dafür hast du es diesem Elwin richtig schön heimgezahlt. Er war der bei weitem rücksichtsloseste Gegner, und ausgerechnet er hat seinen Kampf verloren. Und deine Erklärung am Ende... das war echt die Spitze der Dreistigkeit! Ich hätte nicht den Mumm gehabt, das einem wütenden Pavel so ins Gesicht zu sagen.“

Für gewöhnlich dachte sich Konstantin seine Antworten, doch diesmal schwieg er wirklich. Angus schien über die Dreistigkeit seiner Handlungen amüsiert zu sein, doch Konstantin bereitete das keine sonderliche Freude. Er erinnerte sich an Pavels Aussagen über betrügerische Magier, er erinnerte sich an seinen Sieg. Den Gegner aus dem toten Winkel heraus anzugreifen, nachdem man eigentlich zurecht als besiegt galt... das war dreist. Und nicht nur dreist. Angus machte eine Pause in seinem Monolog, also nutzte Konstantin die Zeit zum Überlegen und zum Betrachten der Münze, welche die Auszeichnung darstellte. Einhundert davon im Jahrgang. Die Nahkampfausbildung der Mädchen, die Heilmagie, Angus' Magieunterricht – schon drei Ausbilder, deren Auszeichnungen er nicht bekommen konnte. Wie viele Unterrichte es wohl noch gab, von denen er nichts wusste? Die er nicht hatte? Sicher einige. Aber durften denn wirklich alle Ausbilder Auszeichnungen vergeben? Denn das schien dann doch recht ungerecht. Vielleicht durften das nur manche machen? Aber selbst dann konnte er nicht Unterricht bei all den Ausbildern haben, die Auszeichnungen vergeben konnten. Es dürfte folglich richtig schwer werden, zwanzig Auszeichnungen zu ergattern. Er hielt eine in der Hand. Am ersten Tag. Ein großer Schritt, wenn man das so betrachtete...

„Übrigens, gratuliere. Jetzt haben wir beide eine Auszeichnung.“

„Du hast eine Auszeichnung?“

Konstantin war ernstlich verwundert. Er hätte es Angus nicht zugetraut, einen der Älteren zu besiegen. Und abgesehen vom unbewaffneten Nahkampf hatte es ja noch keinen Unterricht gegeben, oder?

„Äh... ja. Habe ich.“

Angus kratzte sich verlegen am Hinterkopf, wohl selbst nicht wirklich daran glaubend, dass er es geschafft hatte eine dieser begehrten Münzen zu verdienen. Dann verstand er die Verwunderung Konstantins erst, und schüttelte mit einem breiten Grinsen den Kopf.

„Nein, nicht in Pavels Unterricht! Bei Ausbilderin Madeb. Ich habe einen Test bestanden, wie es aussah. Habe übrigens auch meinen Plan wieder.“

Die Aussage bewirkte, dass Konstantin sogar seinen Kopf fragend schieflegte. Test? Welcher Test? Wann? Alles Fragen, die Konstantin mal wieder für sich behielt. Aber es bestand auch kein Grund sie zu äußern, Angus war immerhin sehr redselig. Die Beiden sahen sich eine Weile an, doch Angus sagte eine lange Zeit über nichts, ehe er schlussendlich doch vor dem fragenden Blick Konstantins kapitulierte.

„Ich kann nichts sagen, tut mir leid. Der Unterricht ist ziemlich geheim, weißt du?“

„Paradoxe Frage. Aber deinen Plan hast du wieder?“

„Ja.“

„Dann hat es also was mit diesem Zettel zu tun?“

Angus stockte und sah sich ein wenig betroffen um. Ihm war das Erlebnis mit seinem Unterricht ein wenig unbequem. Eigentlich auch die Art, wie er an seine Auszeichnung gekommen ist. Die Ausbilderin schien viel von seinem Abenteuer zu wissen, aber wie konnte es ihr dann entgangen sein, dass er nichts davon gerechtfertigt getan hatte? Dass er die Aufgabe gar nicht gekannt hatte?

„Frag einfach nicht weiter, ja? Wir dürfen nichts sagen, ist verboten.“

Konstantin runzelte seine Brauen, sagte aber nichts. Verbot war Verbot, was gab es da zu streiten? Um sich von diesem Thema abzulenken betrachtete Konstantin wieder seine Auszeichnung. Er hatte sie sich verdient – aber nicht durch Kraft und Fleiß, sondern durch List, Glück und Heimtücke. Sicher, Pavel bot nicht gerade die lukrativsten Belohnungen an, doch es gab auch andere Ausbilder. Alba für die Magie, Andares für die schwere Waffenführung, Sero für die Schmiedekunst. Was dort für Belohnungen winken mochten, konnte Konstantin sich gar nicht ausmalen. Sein Leben lang hatte er keine wirklich eigenen Dinge gehabt. Nur sein Stirnband, das er aus einem alten Hemd geschnitten hatte. Im Handwerksunterricht. Eine Kleinigkeit, aber sogar da war es schon ein Wunder, dass es ihm erlaubt worden ist es zu behalten. Jetzt wurde Rekruten in Aussicht gestellt, wirklich eigene Dinge zu haben. Sie sich zu verdienen! Konstantin teile sich einen Traum mit vielen anderen Rekruten: Eine eigene Waffe haben. Und nicht nur ein herkömmliches Soldatenschwert, sondern eine besondere, persönliche Waffe. Wie die Helden der Sagen, Geschichten und Legenden! Eine eigene Klinge. Er hatte schon genug Unterricht mit Waffen gehabt um zu wissen was es für ein Schwert – und es war definitiv ein Schwert! - werden sollte. Er hatte eine genaue Vorstellung davon, wie es aussehen sollte... doch er hatte nie gewusst, wie er an eine solche Waffe kommen sollte. Nun konnten diese Auszeichnungen ein Weg sein. Der Weg, sich den lang geträumten, unerreichbar scheinenden Traum zu erfüllen.

Und doch erfüllte ihn die Münze nicht mit Vorfreude. Sie ist nicht ehrlich errungen worden.

„Was bläst du schon wieder Trübsal?“

„Ah, nur so. Lass uns lieber weitergehen, ich will nicht zu spät zum Mittagessen erscheinen.“

„Zu spät zum...“

Angus schüttelte seinen Kopf. Sie hatten noch genug Zeit um rechtzeitig aufzutauchen, sich zu beeilen war wirklich nicht nötig.

„Ja, gut. Dann lass uns mal beeilen. Nicht dass wir noch zu spät kommen!“

Neckte Angus und klopfte Konstantin auf die Schulter.

 

 

 

„Kon?“

Angus hatte seine Suppe schon zur Hälfte verputzt, während Konstantin noch immer auf die in seinem Teller schwimmenden Fleischstücke starrte. Seine Gedanken beschäftigten ihn gerade mehr als das Essen. Außerdem fühlte er sich nicht sonderlich hungrig, was wohl den Erlebnissen des Tages zuzuschreiben war.

„Hm?“

„Sag mal, was ist eigentlich die leichte Waffenführung?“

Konstantin unterbrach sein Brüten und runzelte die Brauen. Leichte Waffenführung?

„Wieso?“

„Na, ich kenne ja die schwere Waffenführung. Das sind die ganzen zweihändigen Waffen und die Führung von Schild mit Einhandwaffe. Kenne ich, darauf wurden wir auch lange genug vorbereitet. Aber ich habe auf meinem Plan die leichte Führung stehen. Haben die mich irgendwie mit einem Mädchen verwechselt, oder was soll das? Die haben doch dieses ganze leichte Zeug.“

Die Zeit die Angus gebraucht hatte um seine Verwunderung zu äußern nutzte Konstantin um in seinem Gedächtnis zu graben.

„Ich glaube, dass in die Kategorie der leichten Führung Bögen fallen. Und die Zwei-Waffen Führung. Mädchen haben, glaube ich, die leichte Verteidigung, wenn du das meinst. Läuft bei ihnen parallel zu unserem waffenlosen Nahkampf.“

Angus überlegte kurz, dann nickte er, wieder mit einer zufriedenen Miene.

„Na, dann ist ja alles gut. Warum isst du eigentlich nichts?“

Konstantin schwieg kurz, überlegte ob er wirklich seine Gedanken teilen sollte. Oder wollte.

„Sag, Angus...“

fing Konstantin an und senkte seine Stimme. Sie saßen recht abgeschieden am Esstisch, doch man sollte trotzdem vorsichtig sein.

„... wann hast du gelernt so gut zu klettern?“

Die Frage kam für den Fassadenkletterer nun doch überraschend, weswegen er ein paar Augenblicke brauchte und verständnislos blinzelte.

„Hä? Wie kommst du jetzt darauf?“

„Frag nicht, ich erkläre es später.“

Vielleicht.

„Nun... also eigentlich war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt bis zum Fenster kommen würde, um ehrlich zu sein. Ich hatte mich schon mal im Klettern versucht, vor zwei Jahren. Um... äh... ist auch egal. Jedenfalls hat es damals noch nicht wirklich gut geklappt. Doch jetzt weiß ich gar nicht, was ich damals für Probleme damit gehabt habe. Ist eigentlich gar nicht so schwer. Wieso?“

Konstantin kratzte seinen noch immer nicht rasierten Bartansatz. Konnte es sein..? Es schien so. Er sah Angus an, der, noch immer verwirrt, auf die Aufklärung des Ganzen wartete. Angus hatte auf sein Erwachen gewartet, nach der Feier. Er hatte ihn – trotz des Verbots – im Lazarett besucht. Wenn er ihm nicht offen gegenüber sein sollte, wem dann?

„Mir sind ein paar Dinge aufgefallen. Meine Magie zum Beispiel. Ich bin wesentlich mächtiger geworden, seit der Feier. Erinnerst du dich, als ich gesagt habe ich würde üben gehen?“

Angus nickte langsam.

„Meine Feuerstöße waren um ein Vielfaches stärker als vorher. Du sagst, du könntest nun wesentlich besser klettern als früher. Und die Heilerin, Alena? Sie hat beiläufig erwähnt, dass ihre Magie ebenfalls besser geworden ist. Seit diesem Jahr.“

Nun runzelte Angus seine Stirn – was leider weniger ernst als lustig aussah, aufgrund seiner recht feinen und sorglosen Gesichtszüge. Doch es war nicht an der Zeit um zu lachen, also verzog Konstantin keine Miene.

„Ja aber... wie soll das denn zusammenhängen? Was hat Klettern mit Magie zu tun?“

Und kaum dass er diese Frage gestellt hatte, riss Angus seine Augen auf. Natürlich. Klettern gehörte ganz eindeutig zur Kategorie der Schattenkünste. Die Schattenkünste waren auf dem Plan als Magieunterricht angegeben, was zu Madebs Verschwinden vom Dach nur zu gut passte. Gehörte zu dem Ganzen also doch eine Art von Magie? Nur eine weniger anschauliche?

„Vielleicht hat es ja doch etwas mit Magie zu tun. Aber worauf willst du hinaus?“

Konstantin wusste zwar nicht welche Gedankengänge Angus zu einer solchen Aussage verleitet hatten, doch sie reichte aus. Jetzt passte wirklich alles zusammen. Und wesentlich besser als zuvor.

„Ist es dir nie seltsam vorgekommen, dass die Ausbilder sich so einen seltsamen Spaß mit uns während der Feier erlaubt haben?“

„Naja... doch, schon. Es passt irgendwie kaum zu ihnen, so ernst wie sie immer tun. Eigentlich passt es überhaupt nicht.“

„Genau. Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass in unseren Getränken kein Alkohol war. Die haben uns irgendetwas anderes trinken lassen. Etwas, das unsere Kräfte, unsere Fähigkeiten, unsere Magie verstärkt hat.“

Angus legte seinen Löffel auf den Tisch und lehnte sich ein wenig zurück. Schade nur, dass die lange Sitzbank keine Rückenlehne hatte.

„Das würde viel mehr zu ihnen passen. Sehr viel mehr! Und wir reden nicht über Niederlagen im Orden. So viel zu trinken dass man bewusstlos wird ist eine Niederlage, deswegen hat niemand viel davon erzählt. Was die neu gewonnene Stärke angeht – die erzählt man auch nicht weiter, weil es nur Misstrauen und Eifersucht wecken kann! Was sollen andere denn auch davon halten, dass man plötzlich so viel besser geworden ist? Das ist ausgesprochen clever, so betrachtet.“

Konstantin nickte zustimmend. Ja, das passte wunderbar. Es gab nur noch einen Aspekt, der an der Sache verwunderlich erschien. Und genau dieser Gedanke kam auch Angus.

„Aber warum verheimlichen sie das? Wenn es uns doch stärker macht..?“

Konstantin merkte, wie er leicht nervös wurde. Was konnte ein Grund dafür sein, etwas zu verheimlichen? Wenn es schlecht war. Falsch, regelwidrig, beschämend - und schlussendlich schädigend. Doch eine solche Behauptung konnte man nicht ohne jegliche Beweise im Raum stehen lassen. Bloß weil die Ausbilder es verheimlichten musste es noch lange nichts heißen. Es sei denn...

„Zwölf.“

„Was zwölf?“

„Fünfundvierzig waren wir letztes Jahr. Zuerst meintest du, es würden sechzehn fehlen, dann kamen die Vier herein. Das macht zwölf fehlende Rekruten. Zwölf Rekruten, die bei der Feier noch mit uns saßen, oder?“

Angus nickte.

„Ja, ich erinnere mich daran, dass wir alle gemeinsam die Halle betreten haben. Danach wird es schwammig, aber ich weiß dass wir alle zusammen hineingingen. Glaubst du... du glaubst doch nicht, dass..?“

Konstantin nickte nicht. Diesmal nicht. Er schwieg, auf seine Suppe starrend - doch sein Gesicht wirkte bleicher. Kein Wunder, hatten die Vermutungen doch sein Vertrauen in die Autorität ins Wanken gebracht. Denn wenn man nicht den Älteren, den Mächtigeren vertrauen konnte, wem dann? Nach einem Leben im Gehorsam? Konstantin machte sich viele Gedanken dazu, der Fassadenkletterer hingegen bevorzugte zu sprechen.

„Ein Viertel! Ein ganzes Viertel unseres Jahrgangs!“

Angus machte keinen Hehl daraus wie aufgebracht er war, doch er hatte sich gut genug unter Kontrolle um seiner Aufregung gedämpft Luft zu verschaffen. Immerhin, durch die ganze Halle zu schreien würde niemandem etwas bringen. Und was, wenn die Ausbilder etwas von ihrem Gespräch mitbekämen?

„Kein Wunder, dass wir uns nie wirklich miteinander unterhalten durften! Jetzt hat da kein Mensch was gegen, doch wehe, du hast dich mal länger als fünf Minuten mit einem anderen Anwärter unterhalten! Es wird klar, warum. Nicht wegen der Disziplin, nein! Wir sollten uns nicht aneinander gewöhnen. Damit wir die Fehlenden nicht vermissen würden! Damit wir nicht zu viele Fragen stellen würden.“

Konstantin schwieg noch immer, doch er wandte seinen Blick von der Suppe zu einem Rekruten, der am anderen Ende der Tischreihe saß. Dorian.

„Angus, erinnerst du dich daran, was Dorian damals gesagt hat?“

„Ja. Er wunderte sich, dass ich dageblieben bin. Glaubst du, er weiß was?“

„Vielleicht. Auf jeden Fall hat es so angemutet. Er gehört nicht zu der Sorte die eine Lage schnell zu erkennen vermögen. Seine Aussage muss auf Vorwissen basiert haben.“

„Du solltest weniger Bücher lesen. Manchmal verfällst du in eine sehr eigentümliche Sprache.“

Merkte Angus an, doch ehe Konstantin darauf eingehen konnte fuhr er auch schon fort:

„Aber du hast recht. Dorian ist kein schneller Denker. Sein Bruder hat ihm wohl wirklich etwas verraten, oder zumindest erzählt. Dieser Blondschopf von Muskelmasse! Ich wünschte nur ich könnte -“

Dann hielt Angus inne und griff langsam in die Innentasche seiner Jacke. Was er hervorzog, ließ ein ziemlich fieses Grinsen auf sein Gesicht wandern.

„Rate mal, was ich hier habe?“

Fragte er Konstantin, mit dem herausgezogenem Stück Papier herumwedelnd. Konstantin wusste sehr wohl, was das für ein Zettel war.

„Dorians Stundenplan. Du hast ihn immer noch?“

„Nicht ganz richtig, Kon. Das ist mehr als einfach nur sein Stundenplan. Es ist ein Druckmittel.“

Anhang


Wichtige Personen:

 

Konstantin:
Rekrut im ersten Jahrgang. Vertiefte Ausbildung zum Krieger/Magier (Feuer). Statt Unterhaltung bevorzugt er an seinen Fähigkeiten zu feilen.

Angus:  
Rekrut im ersten Jahrgang und Konstantins Zimmergenosse. Vertiefte Ausbildung in den Schattenkünsten. Ist unter den Rekruten sehr bekannt und genießt auch eine gewisse Beliebtheit.

Adda:       
Rekrutin im ersten Jahrgang. Vertiefte Magierausbildung (Feuer), hat einen Hang dazu sich groß aufzuspielen.

Dorian:       
Rekrut im ersten Jahrgang. Vertiefte Ausbildung zum Krieger. Hat einen älteren Bruder im Orden und demonstriert gerne seine körperliche Überlegenheit.

Madeb:       
Ausbilderin für die Schattenkünste. Kleidet sich dementsprechend.

Pavel:         
Ausbilder für den unbewaffneten Nahkampf, hinkt auf einem Bein.

Elwin:     
Rekrut im dritten Jahrgang. Vertiefte Ausbildung zum Krieger und dazu Konstantins Partner im unbewaffneten Nahkampf. Hat eine sehr radikale Sicht auf die Welt.

Alberic:
Ausbilder für Heilmagie. Ältester Ausbilder des Ordens.

Alena:
Rekrutin im ersten Jahrgang. Vertiefte Ausbildung zur Heilerin.

Alba:

Ausbilderin für Kampfmagie. Hat ihren Namen zu Alba gewechselt, nachdem ihre Haare sich durch ein missglücktes alchemistisches Experiment weiß gefärbt hatten.

 


Wichtige Institutionen:

Der Erste Orden: 
Der Einfachheit halber auch einfach "Orden" genannt. Eine alte, militärische Organisation, die auf die Verteidigung des Reichs Goris spezialisiert ist. Dabei fungiert der Orden sowohl stabilierend nach innen, wie auch nach außen. Der Orden handelt unabhängig von anderen Institutionen, und auch wenn er auf den Herrscher (König) eingeschworen ist, so untersteht er diesem nicht. Damit verbleibt der Orden als einzige unabhängige Institution im Reich. Eine Stellung, um die ihn die Arkane Akademie sehr beneidet.

 

Die Arkane Akademie von Goris:
Gegründet von Magiern für Magier. Jeder magiebegabte Mensch hat die Pflicht, sich bei ihnen zu melden. Auf Wunsch wird dann eine Ausbildung zum Magier begonnen, unabhängig vom Alter. Ausgebildet werden die Magier zumeist für Forschung und Entwicklung, aber Magier sind ebenfalls diplomatisch und politisch engagiert. Die Akademie liegt im Zwist mit dem Orden, weil im Orden ebenfalls Magier ausgebildet werden - nur ohne die richtige Aufsicht. Die Akademie ist formell der Königsfamilie unterstellt.

 

Die Adelshäuser von Goris:
Goris wird verwaltet von sechs Adelshäusern, welche wiederum der Königsfamilie unterstehen. Sie sind die einflussvollsten Instanzen, wenn es um finanzielle Angelegenheiten geht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.12.2013

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