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Freitag, 19.25 Uhr



„Das darf doch nicht wahr sein!“
Sie stöhnte genervt und verdrehte die Augen.
Der Grund dafür war die Tatsache, dass sie nun schon zum zweiten Mal an diesem Abend ihren Anschlusszug verpassen und sich die Ankunft bei ihrer Freundin dadurch auf bislang unbekannte Zeit verzögern würde.
Sie hatten sich mehrere Monate nicht gesehen, deshalb war sie der Einladung, für ein Wochenende zu ihr zu kommen, begeistert gefolgt. Um Geld zu sparen hatte sie aber ausschliesslich Regionalzüge gebucht und das zweimalige Umsteigen mit einem Schulterzucken in Kauf genommen.
Doch schon beim ersten Zugwechsel begannen die Schwierigkeiten. Der erste Anschlusszug war zwanzig Minuten zu spät und dadurch war abzusehen, dass sie die nächste Umsteigemöglichkeit verpassen würde.
Fest entschlossen, sich ihr Wochenende nicht verderben zu lassen, begab sie sich sofort nach dem Aussteigen ins Reisezentrum und reihte sich in die Schlange der übrigen Gestrandeten ein, nachdem der ausgehängte Fahrplan sich als keine grosse Hilfe erwies.
Sie bekam dann auch recht schnell eine neue Streckenführung ausgedruckt und seufzte nur innerlich, als sie sah, dass ihr nun noch ein zusätzliches Mal ein Zugwechsel bevorstand.
Die neu zugewiesene Bahn kam relativ bald und sie liess sich erleichtert in einen Sitz fallen. Per Handy informierte sie ihre Freundin über die neue Ankunftszeit und machte es sich dann bequem.
Draussen war es inzwischen dunkel geworden und es regnete leicht, deshalb war sie froh, nicht noch länger auf dem zugigen Bahnsteig warten zu müssen.
Nachdem die Weiterfahrt begonnen hatte, bemerkte sie erfreut, dass der Regionalzug keineswegs an jeder Milchkanne stoppte, wie sie schon befürchtet hatte, sondern zügig Fahrt machte.
Es war warm im Wagen, sie wurde schläfrig und da vor dem Fenster nur Schwärze zu sehen war, schloss sie die Augen und döste ein.
Plötzlich schreckte sie auf, weil der Zug bremste. Nicht ruckartig, sondern ganz allmählich verlangsamte er sein Tempo, bis er schliesslich stand.
Sie reckte den Hals, um aus dem Fenster zu sehen. Vor der Scheibe herrschte undurchdringliche Finsternis und sie konnte keinen Grund für den ungeplanten Halt erkennen. Offenbar standen sie auf freier Strecke, denn sie sah nicht einmal Autoscheinwerfer.
Nervös schaute sie auf ihre Uhr. Für den nächsten Zugwechsel waren fünfzehn Minuten eingeplant und nach der Uhrzeit zu schliessen, konnten sie nicht mehr sehr weit von der Station entfernt sein, an der sie aussteigen musste, also würde es wohl keine Probleme geben, selbst wenn sie jetzt ein paar Minuten hier standen, oder?
Sicher wurde nur ein anderer Zug, der Priorität hatte, vorgelassen.
Doch die Minuten vertickten, die planmässige Ankunftszeit kam und ging und sie sass wie auf glühenden Kohlen.
Da – endlich! Der Zug ruckte an und nahm wieder Fahrt auf.
Aber er beschleunigte nicht, sondern zuckelte gemütlich voran.
Innerlich rang sie die Hände. Das konnte doch nicht wahr sein!
Die Zeiger ihrer Uhr rückten unerbittlich weiter und die Abfahrtszeit ihres Anschlusszuges lag nur noch vier Minuten entfernt.
Wie lange dauerte das denn noch?
Plötzlich eine Durchsage:“Sehr verehrte Fahrgäste, wegen einer Streckenstörung können wir nur 15km/h fahren. Es wird also noch eine Weile dauern, bis wir die nächste Station erreichen. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten und bedanken uns für Ihr Verständnis!“ Klick.
Damit stand fest, dass auch dieser Zugwechsel scheitern würde.
Wütend verschränkte sie die Arme. Am liebsten wäre sie zum Lokführer gegangen und hätte ihm gezeigt, wie


verständnisvoll sie gerade im Moment war!
Aber es half ja nichts.
Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, holte sie ihr Handy heraus und rief erneut ihre Freundin an. Bei ihr machte sie sich Luft und registrierte gleichzeitig, dass etliche Mitreisende das Gleiche taten.
Dadurch fühlte sie sich in ihrem gerechten Zorn bestärkt und es ging ihr sofort besser.
Da ihre Freundin vermutete, dass das Reisezentrum im nächsten Bahnhof um diese Zeit schon geschlossen sein würde, suchte sie ihr via Internet gleich eine andere Verbindung heraus und gab sie ihr direkt per Handy durch.
Und diesmal ging es auch tatsächlich glatt.
Mit über eineinhalb Stunden Verspätung schlossen sich die beiden Frauen in die Arme...


Freitag, 18.45 Uhr



Ganz allein stand er im Regen am Rande des Bahndamms und sah in der Dunkelheit in die Richtung, aus der der Zug kommen würde.
Sein Mund war trocken und er schluckte mühsam. Schluckte den dicken Klumpen aus ungeweinten Tränen und Angst herunter.
Hoffentlich war die Bahn heute Abend pünktlich.
Über diese Strecke fuhren eine Menge Züge, aber er brauchte nur Einen.
Er hatte in den letzten Monaten schon öfters hier gestanden, als er nach der idealen Stelle gesucht hatte. Und diese hier war mit Abstand die Beste gewesen.
Ausserhalb jeglicher Ortschaften und an einer wenig befahrenen Strasse gelegen.
Blieb nur noch zu hoffen, dass ihn nicht im letzten Moment der Mut verliess.
Aber eigentlich glaubte er das nicht, zu gross war inzwischen der Wunsch nach Ruhe und Frieden.
Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann die Krankheit sich in sein Leben geschlichen und sein Dasein verdunkelt hatte. Als ihm endlich bewusst geworden war, dass er Hilfe brauchte, war er schon so weit unten, dass er ganze Tage im Bett verbrachte.
Damals lebte er noch zuhause bei seinen Eltern, was es ihm nicht leichter machte.
Seine Mutter rang hilflos die Hände und sein Vater reagierte ungehalten. Seiner Meinung nach sollte sich sein Sohn gefälligst zusammenreissen und nicht so hängenlassen.
Bei der Erinnerung daran, spürte er, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Rückblickend schien es ihm, als hätte er es seinem Vater nie recht machen können.
Ob es die Schule war, die Wahl des Berufs, oder der jeweiligen Freundin, immer gab es etwas auszusetzen.
Schliesslich war er, um dem endlich zu entgehen, ausgezogen. Seine Eltern versuchten es ihm auszureden, aber er war trotzdem gegangen.
Doch dann wurde es erst richtig schlimm.
Wo vorher immer noch jemand gewesen war, der ihn antrieb, fand er auf sich allein gestellt keinen rechten Rhythmus in seinem täglichen Leben. Der Motor seines Alltags kam ins Stottern und bald schon trudelte er haltlos von einem Tag in den nächsten, während es um ihn herum immer finsterer wurde. Er verlor seine Arbeit und seine wenigen Freunde gaben es irgendwann auch auf, ihm helfen zu wollen.
Er fand dann aber doch den Weg zu einem Arzt, der ihm Mut zusprach und zunächst Tabletten verschrieb.
Damit fühlte er sich zwar eine Zeitlang besser, aber dann verschlang ihn erneut der schwarze Strudel.
Nichts schien mehr gut oder schön zu sein. In jeder wachen Minute quälten ihn Selbstzweifel und schliesslich wies ihn der Arzt in eine psychiatrische Klinik ein.
Die Therapeuten dort bemühten sich zwar um ihn, aber nie hatte er das Gefühl, dass ihn jemand wirklich verstand, wenn er von dem dunklen Loch erzählte, in dem er steckte und das mit jedem Tag tiefer zu werden schien, sodass der kleine, blaue Himmelsausschnitt, den er von unten sah, immer kleiner wurde.
Nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie schnitt er sich noch am gleichen Tag die Pulsadern auf, aber weil er keine Ahnung hatte, wie man das richtig machte, passierte nicht allzuviel.
Nicht einmal das bekam er richtig hin.
Er schleppte sich durch die nächsten Wochen und Monate, als watete er durch zähen Morast.
Dann kam ihm der Gedanke an den Zug und nun stand er tatsächlich hier am Bahndamm.
Früher war er häufig in dieser Gegend spazieren gegangen. Er hatte es gehasst, aber seine Eltern waren unerbittlich gewesen. Dabei musste er ihnen jetzt eigentlich dankbar sein, oder nicht?
Immerhin hatte er sich nur wegen der ungeliebten Spaziergänge an diese Bahnstrecke erinnert.
Fröstelnd sah er in die Richtung, aus der er den Zug erwartete.
Waren da in der Ferne nicht kleine, runde Lichter zu sehen?
Er kniff die Augen zusammen.
Ja, tatsächlich.
Mein Zug kommt

, dachte er und duckte sich etwas.
Auch wenn es schon ziemlich dunkel war, wollte er nicht riskieren, dass der Lokführer ihn sah und womöglich bremste.
Rasch wurden die Lichter grösser, die Schienen begannen zu singen und das Rauschen des nahenden Zuges wurde immer lauter. Mit klopfendem Herzen stand er da und wartete.
Gleich!

sang es in seinem Kopf. Gleich, gleich, … Jetzt!


Kurz bevor die Lok heranraste, machte er einen grossen Schritt nach vorn …


Samstag, Zeitungsmeldung



... Gestern Abend wurde der Zugverkehr in der Region durch den Freitod eines 35jährigen Mannes aus H....
empfindlich gestört. Gegen 19 Uhr warf er sich vor einen Intercity auf dem Weg nach D........ Offenbar litt der Mann bereits seit vielen Jahren an Depressionen. Ein Fremdverschulden schliesst die Polizei bislang aus. ...

Impressum

Texte: Cover: 268352_R_K_B_by_Jürgen-Nie-en_pixelio.de.jpg
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2011

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