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Jürgen Köhler



Die „Ja, aber …“-Serie
/ Einer hat immer das letzte Wort



Ost-West-Gespräche


Die zum Teil fiktiven und doch wahrheitsgemäßen Aufzeichnungen eines Mittelmäßigen über die Zeit der DDR und danach.


Alle Rechte beim Autor / 2009


Jürgen Köhler

Zement


Eine Geschichte aus dem Kalten Krieg





Freitag, 6.11.1987 / 20 Uhr
Schmidt starrt auf die weiße Wand vor sich. Langsam wird er ruhiger. Endlich ist es soweit. Da kommt ein zweiter Mann in das Pissoir. Schmidt ist dadurch kurzzeitig etwas unkonzentriert, denkt es sei sein Kollege. Dann stöhnt er erleichternd
„Endlich! Das ist das erste Mal heute, daß bei mir etwas läuft.“
Der Nebenmann schaut um sich. Es ist niemand weiteres im Raum. Also ist er damit gemeint. Er fragt teilnehmend:
„Haben sie Probleme mit der Prostata?“
„Neeeiiiin, mit dem Zement!“ Schmidt schreit es fast heraus. Dann schaut er sich seinen Nebenmann an, der diese Frage im besten Hochdeutsch stellte. Ein Fremder! Er hat mit einem Fremden über innerbetriebliche Probleme gesprochen. Wie konnte ihm das passieren?


Beide verlassen gleichzeitig die Toilette und der Fremde will wissen, ob er Zement in der Harnröhre hat. Kurzes Lachen beiderseitig.
„Schmidt, ich bin hier der Dispatcher. Und wer sind sie?“
„Langgret, bin nur ein Straßenpassant. Mich hat der Pförtner freundlicher Weise kurz reingelassen, weil ich mal mußte.“
„Aus der BRD?“
„Sie merken es wohl an meiner Sprache. Ich komme aus Boizenburg bei Hamburg.“
Er will noch etwas Persönliches hinzufügen und ergänzte: „Die Elbe verbindet uns.“
Schmidt ist in der Kombinatsleitung Parteileitungsmitglied. Gegenüber Westdeutschen sieht er seine Pflicht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Gegenüber einem etwaigen Klassenfeind jedoch muß er wachsam sein. Und bei Einem, der die DDR bereist, ist vielleicht noch nicht alles verloren. Den sollte man für uns gewinnen. Er wird dann im Westen zurückkehrt, positives über uns zu berichten haben.
Das alles geht dem Genossen Schmidt blitzschnell durch den Kopf.
„Sind sie allein in der DDR?“ Er will dem Fremden etwas auf den Zahn fühlen.
„Nein, es sind doch noch soviele Menschen um mich herum, die noch nicht nach dem Westen ausgesiedelt sind. Hah- hah - Na, Spaß beiseite. Ja, ich bin allein hier.“
„Das sind für mich keine Späße – verstehen sie. - Auf Dienstreise?“
„Sie sind ja neugierig.“
„Ich bin nicht neugierig, sondern wachsam heißt das bei uns.“
„Sie vermuten in mir einen Agenten, den der böse Westen hier her geschickt hat, um ihnen Zement wegzunehmen?“
Schmidt stutzt. Da hat dieser Himmelhund tatsächlich etwas von unseren Zementproblemen mitbekommen.


Die Zwei stehen inzwischen an der Dispatcherzentrale. Der Fremde ist einfach mit Schmidt mitgegangen. Ein Bösewicht würde sicher sofort versuchen, das Haus zu verlassen. Oder heftet sich dieser Mensch an Schmidts Fersen, um irgendwelche Kontakte aufzunehmen? Vorsicht Schmidt, befielt er sich selbst. Wachsam sein, aber nicht kleinkariert!
„Wo wollen sie denn hin. Der Ausgang ist entgegengesetzt, zwei Treppen weiter links.“
„Ich weiß auch nicht. Sie hatten es so eilig und wir unterhielten uns so und da stand ich plötzlich vor ihrem Zimmer. – Jetzt weiß ich gar nicht, wie ich wieder zum Ausgang komme.“
„Ich habe es ihnen doch soeben erklärt.“ Schmidt wiederholt die Beschreibung und Herr Langgret macht sich auf den Rückweg.
„Einen Moment bitte, ich komme mit. Warten sie hier, ich muß nur kurz aufräumen und der nächsten Schicht einen Zettel schreiben.“ Schmidt will den Unbekannten nicht allein im Haus umherirren lassen. Seit 4 Stunden war bereits Feierabend. Das Haus ist fast leer. Wer weiß, was der Fremde hier anstellen könnte.


Langgret muß nun tatsächlich vor der Tür mit der Aufschrift ‚Produktionsdirektor / Dispatcherzentrale / Schmidt / Hauptdispatcher‘ stehen bleiben und das empfindet er als unhöflich. Doch er nutzt die Gelegenheit und sieht sich auf dem sehr langen Büroflur etwas um. Es ist alles so fremd und ostzonal für ihn. Die Beleuchtung düster – man spart. Die Farben verblichen. Man hat kein Geld für das Laufende. Na gut. Aber ihn stören besonders die verschiedenen Wandtafeln zwischen den Bürotüren. Das ist also die sozialistische Produktionspropaganda, über die sich nicht nur der Westen lustig macht.
Eine Tafel ist mit ‚Das Sozialistische Kollektiv des Produktionsdirektors‘ überschrieben. Er bleibt an einem Aufruf hängen: ‚Unsere monatliche Solidarätsspende ist für den Neubau einer Schule auf Madagaskar.‘ Von Januar bis Oktober hatte man bereits 1.800 Mark gesammelt. Im Kombinat waren bisher insgesamt 16.434 Mark zusammengekommen. Das ist auch so ein Druck, der in einer Diktatur auf die Leute ausgeübt wird. Wer weiß, denkt der Westmann, ob das Geld wirklich an der Schule ankommt. Da ist zwar ein Foto einer Baustelle. Aber das kann ja gefälscht sein. Die werden, ohne es zu wissen, mit ihrem Geld Waffen für die Rebellen spenden! Das würde zu dem Unrechtsstaat DDR passen. Doch dann sieht er genau hin, nachdem er den dazugehörigen Text gelesen hat: Eine Jugendbrigade aus dem Kombinat hat für 6 Monate zwei junge Bauarbeiter nach Madagaska geschickt, um den Einheimischen beim Bau der Schule zu helfen und dort entsprechende Fachleute heranzubilden. Man baut die Schule aus Betonfertigteilen, die an Ort und Stelle hergestellt werden. Also scheint das doch eine echte Hilfsleistung zu sein!
Auf einer anderen Tafel der Gewerkschaft wird zu einer Sonderschicht am nächsten Samstag aufgerufen, um die Produktionsausfälle wegen fehlendem Zement wieder aufzuholen.
Der Planerfüllungsstand des Kombinates ist per Oktober mit nur 93,3 % angegeben.
In einer Ecke klebte noch ein Zettel ‚Heraus zum 1. Mai‘. Er überfliegt die Losungen zum 1. Mai und kann sich nur wenig darunter vorstellen. Völlig Normales, viel Patriotisches, einiges Sinnloses.


Die Tür mit Herrn Schmidt öffnet sich erst nach 30 Minuten wieder. Der etwa 45 Jährige wirkt abgespannt, müde, aber auch entkrampfter, als vorher.
„Also, sie sind in Dresden bei wem zu Gast?“ Schmidts Fragen sind sehr amtlich. Langgret hatte das Gefühl, er müsse sich das gefallen lassen. So ist das in einer Diktatur eben. Er kann schon froh sein, daß man ihn nicht verhaftet hat. Und so antwortet er brav und beflissen:
„Ich habe für 5 Tage mein Aufenthaltsgeld für die DDR in Höhe von 150 DM gezahlt, meine Zollerklärung wahrheitsgemäß ausgefüllt und mich im Hotel Bellevue ordnungsgemäß mit Personalausweis angemeldet.“
Schmidt nimmt diese Erklärungen als etwas völlig normales hin, Langgret hingegen meint es zynisch und etwas beleidigt.
„Und was machen sie in den 5 Tagen hier?“, fragt Schmidt, immer noch viel zu barsch.
„Ich bin als Tourist hier und will die Stadt, die Umgebung und Leute kennen lernen.“
„Sind sie das erste Mal in der DDR?“
„Nein, aber das geht nun doch zu weit. Schließlich bin ich nicht bei der Polizei und habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“


Als sie beim Pförtner vorbeikommen, wünscht er dem Kollegen Schmidt ein schönes Wochenende und an den Fremden gewandt;
„Na, haben sie die Toilette gefunden?“
„Ja, vielen Dank noch einmal.“
„War doch selbstverständlich! Einen schönen Tag noch“
Schmidt und Langgret stellten unabhängig voneinander fest, daß die Pförtner hier völlig nutzlos sind. Sie lassen Jeden rein und wenn ein Fremder nach 35 Minuten!!! die Toilette wieder verläßt, finden sie nichts Merkwürdiges daran.


Nun stehen sie auf der Strehlener Straße, die um diese Zeit leer, kalt und düster erschien. Der Bus war kurz vorher weggefahren, der nächste in 20 Minuten zu erwarten.
„Wir könnten gemeinsam zum Hauptbahnhof laufen, von dort haben wir dann alle Möglichkeiten.“ Schmidt will kein Taxi rufen. Das wäre auch wieder eine Blamage geworden. Naja, wenn er sagen würde, daß der Fahrgast mit Westgeld bezahlt, wäre es ganz schnell gegangen. Aber so ist es besser. Da hat er einen Gesprächspartner aus dem Westen. Wenn hat man so etwas schon einmal.
Ab jetzt beschließt Genosse Schmidt, den Gastgeber herauszuhängen. Er schwenkt auf etwas Höflichkeit über.
„Ich bin auch allein. Meine Familie hat mich verlassen. Suche mir jetzt ein Restaurant, wo ich was anständiges zu Abend essen kann. Und vielleicht ist etwas los in der Stadt, da bleibe ich noch etwas. Zu Hause fällt mir bloß die Decke auf den Kopf.“
Langgret entgegnet, daß es seine erste Nacht hier sei und er auch noch nichts Direktes vorhat. Man hat ihm Karten für die Semperoper angeboten. Das muß aber nicht heute sein. Er kann jeden Tag welche erhalten, wenn er es möchte.
Schmidt denkt, hat der es gut. Wir müssen lange Zeit vorher bestellen und einen fürstlichen Preis bezahlen. Von wegen spontan ist da nichts.
Aus Langgrets Hinweis, auf die Semperoper verzichten zu wollen, hörte er einen leichten Wunsch heraus, daß Schmidt doch mit ihm etwas unternehmen könnte. Ja, um Gottes willen, was soll ich, der kleine DDR-Bürger Schmidt mit dem sicher wohlhabenden Westdeutschen anfangen? Der mit seiner harten Währung. Harte Währung? Ja, die öffnet doch eigentlich Tür und Tor. Wenn er es richtig anfaßt, kann er auch einmal da hingehen, wo er sonst nicht so hinkommt. Er wird ihn ins Bellevue begleiten und wenn er Glück hat, wird er zum Abendessen eingeladen. Als Hauptdispatcher muß man pfiffig sein. Sonst wird nichts.
Am Montag wird er dann der Parteileitung melden, daß er mit einem Westdeutschen zu Abend gegessen hat. Es ist ja nicht verboten. Die Genossen wollen nur Bescheid wissen, mit wem man sich da abgibt.


Um etwas zu sagen, bricht Langgret das Schweigen.
„Eure Planwirtschaft ist wohl auch nicht der letzte Schrei. Ich las bei ihnen, daß nächsten Samstag eine Sonderschicht gefahren werden muß, um die Rückstände wegen fehlenden Zements aufzuholen. Wiese kann in einem Baubetrieb Zement fehlen?“
„Darüber reden wir eigentlich nicht mit Fremden. Aber wenn sie es schon wissen, muß ich es wohl auch erklären. Mit unserer Planwirtschaft hat das nicht direkt zu tun. Vielleicht nur soweit, als wir dadurch nicht flexibel genug sind.“
„Warum tun sie sich das mit der Planwirtschaft überhaupt an?“
„Das haben wir von ihrer Wirtschaft gelernt. Die kapitalistische Warenproduktion ist doch anarchisch. Sie sagen ‚freie‘ Warenproduktion dazu. Alleiniges Regulativ ist die Gewinnmaximierung.“
„Und der Markt!“ stellt Langgret stolz fest.
„Der Markt zeigt dann die Fehlspekulationen an. In der Regel, wird viel mehr produziert, als auf dem Markt abgesetzt werden kann. Sie haben Überproduktionen zwischen 5 bis über 30%. Und immer noch und immer wieder die berühmten Überproduktionskrisen. Entweder vernichten sie nun die Überproduktion, um die Preise hoch zu halten oder sie entlassen das Personal, produzieren zeitweise weniger oder überhaupt nicht…“
„Ich wollte nicht erklärt bekommen, wie unser System funktioniert, sondern warum ihr System nicht klappt.“ Der Westdeutsche ist sauer.
„Lassen sie mich doch ausreden. Die sozialistische Produktionsweise ist die nächst höhere Entwicklungsstufe, nach der kapitalistischen. Die baut auf dem Bewährten auf und bringt Neues dazu. Zur Vermeidung der vernichtenden Wirkung von Überproduktion scheint es logisch und notwendig zu sein, eine zentrale Planungsgruppe zu bilden, die darüber wacht, daß nicht jeder Produzent das herstellt, was er denkt, es könne im Augenblick Gewinn bringen – also gebraucht werden – sondern nur soviel, wie benötigt wird. Wir sagen dazu, die Volkswirtschaft muß sich proportional zu den Bedürfnissen entwickeln.“
„Ja, aber das tut sie doch bei ihnen, soweit ich bemerkt habe, gerade nicht?“
„Lassen sie mich erst einmal beim Zement bleiben. Da wird schon einiges klar.“
„Da bin ich ja neugierig, wie sie die Kurve dahin kriegen.“
„Wir hatten in der DDR bei der Teilung Deutschland keine leistungsstarken Zementwerke. Die waren alle bei ihnen im Westen.“
„Ja, aber unsere waren doch auch vom Krieg völlig zerstört – also wir hatten auch keine.“
„Besser als bei uns standen sie schon da. Sie hatten noch die alten Firmen, die Fachleute, die zum Teil reparierbaren Produktionsanlagen und sie hatten durch den Marshallplan eine finanzielle Unterstützung durch die Westmächte. Bei uns gab es nichts und was wir hatten, haben wir als Reparationsleistungen in den ersten Jahren an die Sowjetunion abgeführt. Sie haben sich ja an der Wiedergutmachung der Deutschen Schuld am 2. Weltkrieg und den furchbaren Verbrechen nicht so beteiligt. Ich weiß – (höhnisch) Israel, der Aggressor, wurde von ihrer Regierung unterstützt. Verzeihung!
(wieder sachlich) Trotzdem entstanden bald soviel Zementwerke, daß unser Eigenbedarf gedeckt werden konnte. Darauf waren wir stolz. Aus eigener Kraft ..“
„Ist ja schon gut. Denken sie, wir haben Däumchen gedreht? Sie hätten ja auch die Hilfe der USA annehmen können.“
Unberührt fährt Schmidt fort:
„Das ging einige Jahr ganz gut. Wir hatten zwar immer einen bestimmten Mangel, auch an Zement – es reichte oft nicht für die Bevölkerungseigenleistungen, also den freien Handel – aber unsere anspruchsvollen Industrie- und Wohnungsbauvorhaben hatten das, was sie brauchten.“
Langgret hörte, wie gewohnt, nun nur noch mit halber Kraft hin. Den Redefluss dieses Menschen konnte er nicht bremsen. Er war an einen geschulten Mann geraten. Sein Pech. Trotzdem bekam er Achtung vor dem Agitator – so hießen sie wohl da. Der wußte ganz gut Bescheid. So bekam er mit, daß dem Dispatcher nicht gefiel, wie seit Erich Honecker Intershop-Läden eingeführt wurden und die harte Westmark als eine Art Zweitwährung unheilvollen Einzug in die Gesellschaft hielt. Das Schlimmste: Man nahm im kapitalistischen Ausland – vornehmlich bei der BRD - Kredite auf und da es keine konvertierbare Währung im sozialistischen Lager gab (um durch Banken und das internationale Finanzkapital nicht erpreßbar zu sein), mußte mit Waren zurückgezahlt werden.
„Ja, aber warum haben sie sich denn so an den Westen gesetzt, wenn sie nicht zahlungsfähig in DM sind?“
„Weil es eine Verbotsliste von Handelswaren gab, über Waren, die wir nicht bekommen durften. Alles was uns an neuen technischen Errungenschaften gestärkt hätte, war uns vorenthalten. Es wird ja vom ersten Tag unseres Bestehens ein Krieg, der sogenannte Kalte Krieg, gegen uns und das sozialistische Weltlager geführt. Alles was ohne Militäreinsatz an Verleumdung, Erpressung, Sabotage und sonstigen Schädigungen gegen uns möglich ist, wird praktiziert. Ihr Westdeutschen habt davon kaum etwas mitbekommen. Schuld sind ja an allem Versagen nur wir.
Also, z.B. in Italien ausrangierte Technik und Technologien, die Jahrzehnte alt und moralisch verschlissen waren, dürfen wir eventuell erwerben. Da wir in unserem kleinen Ländle nicht alles selbst erfinden können und die Sowjetunion mit sich selbst zu tun hat, bleibt uns wohl nur übrig, über DM im Westen ‚Schwarz‘ einzukaufen und unseren wichtigsten Bedarf damit zu decken. Und in einigen Fälle bauen wir die Dinge auch irgendwie intelligent nach.“
„Ja, aber das ist doch keinesfalls in Ordnung! Das ist gegen alles internationale Recht!“
Schmidt dachte bei sich, daß Langgret erst etwas zu beanstanden hatte, als es sein eigenes Land betraf. Zum Kalten Krieg gegen den Osten kamen ihn keine Bedenken.
Darauf Schmidt stolz: „Wir befinden uns in einem Kalten Krieg. Da ist alles erlaubt.“


Inzwischen hatten sie den Hauptbahnhof passiert – außer Mitropa keine Möglichkeit für eine Pause. Also weiter, die noch bis zum Hotel Newa unbebaute Prager Straße lang, an den Springbrunnen, die bereits zum Winterschlaf gerüstet waren bis zum Cafe Prag. Aber hier standen etwa 20 Leute draußen, die darauf warteten, daß Gäste vorzeitig das Kabarettcafe verließen. Schmidt ging zum Portier und fragte ihn so leise es ging:
„Ich habe hier einen Westdeutschen Gast…“
Die Antwort kam unpersönlich und laut: „Auch nicht mit Westgeld, sie sehen doch, was hier los ist!“.
Einige Wartende schimpften laut und steckten sich in ihrem Ärger gegenseitig an, wie weit wir denn schon gekommen seien, daß man … Der Rest ging im allgemeinen Tumult unter. Die Beiden gingen schräg über den Altmarkt zum Altmarktkeller. Dort das ähnliche Bild. Aber hier ließ man sie für DM ein.
Herr Langgret wunderte sich über die vielen unbesetzten Tische und draußen warteten Gäste auf Einlaß.
„Keine Leute, keine Leute,“ bemerkte Schmidt nur kurz, aber sein Gast wollte es genauer wissen.
„Hören sie, Herr Schmidt. Ich schätze mich glücklich, heute sie, einen Mann, der mir euer System einmal erklären kann, getroffen zu haben. Bis jetzt hatte ich vor allem Ostdeutsche kennen gelernt, die gejammert haben über Gott und ihre Welt. Und von der Partei, Stasi und Regierung haben sie nichts gehalten. Mich, den Westdeutschen, hat man fast angehimmelt, obwohl ich bei uns auch nur ein kleiner Angestellter bin. Ich muß schon sagen, das tut einem wohl.“


Schmidt denkt inzwischen darüber nach, wie er sich jetzt verhalten soll. Er hat den Westdeutschen als seinen Gast hier eingeführt, aber keinen Pfennig Westgeld einstecken. Er wird mit ihm ein kleines Abendbrot essen und in Mark der DDR bezahlen. Was wollen die hier machen. Das mit dem Westgeld ist doch sowieso nicht offiziell. Offiziell sollen die Westlichen ihre Währung in unsere Mark umtauschen und damit dann bezahlen. Das Westgeld, was die Kellner oder Taxichauffeure so einnehmen, verschwindet ohnedies in ihrer eigenen Tasche. Sie bezahlen gegenüber ihrer Firma die Zeche des Westlers in DDR-Geld und mit dem Westgeld selbst können sie sich nun fast jeden Wunsch erfüllen. Einkaufen im Intershop, Handwerker und Mangelwaren außer der Reihe erhalten … Also, er wird in Ost bezahlen und weiß, daß er sich hier nie wieder blicken lassen kann. Sei es drum.
Er bestellt nun, man ißt, man trinkt, man plaudert.


„Ja, bei uns ist ein großer Mangel, besonders an qualifizierten Leuten. Wir bilden zwar genügend aus, aber wenn die jungen Leute ihr Ziel erreicht haben, stellen allzu viele den Ausreiseantrag und weg sind sie.
Ja, es ist paradox: Wir sind das einzige Land weit und breit, wo es ein Recht auf Arbeit und auch eine Pflicht zu arbeiten gibt. Bei uns muß Jeder sein Lebensglück mit ehrlicher Arbeit verdienen. Und trotzdem reichen die Arbeitskräfte nicht aus. “
Langgret kann es nicht unterlassen, zu betonen, daß es doch auch genügend Schieber und Spekulanten und andere Halsabschneider gibt. „Was man auf den Ladentisch nicht erhält, erhält man von diesen Leuten.“
Schmidt gibt es zu „Das ist die Kehrseite bei Mangel. So etwas ist international. Hat nichts mit Sozialismus zu tun. Bei ihnen gibt’s dies auch sofort, wo Mangel auftritt. In der Regel kümmert sich bei ihnen der Preis darum. Aber wie ist es bei der Arbeitslosigkeit oder im Gesundheitswesen? Da herrscht doch außerordentlicher Mangel und entsprechend geht es da auch zu.“


Herr Langgret stellt indes fest, wie arrogant und korrupt das Personal hier im Osten in der Regel ist.
„Es kommt davon, daß sie Mangel verwalten. Sobald Mangel auftritt, und bei uns herrscht lt. Gorbatschow überall und an allem Mangel, sobald ändert sich die menschliche Psyche. Besonders die einfachen Leute werden dann schnell hochnäsig und vergessen, wo sie hergekommen sind. Wir wollten in den 60er Jahren eine sozialistische Menschengemeinschaft schaffen. Heute lächelt man darüber. Auch so ein Fehldenken. Die Menschen sind halt sehr unterschiedlich.“


„Aber mein Freund, sie wollten mir doch vom Zement erzählen.“ Langgret genießt jetzt den Abend und die Gespräche.
„Da ist nicht mehr viel zu sagen. Wir sind gegenüber dem Klassenfeind verschuldet. In einem Kalten Krieg! Auf so etwas hätte sich dürfen unsere Parteiführung niemals einlassen. Am Zement sehen sie es deutlich, doch keiner spricht darüber. Wie gesagt, wir hatten bedarfsdeckend Zement aus eigener Produktion. Im rechten Augenblick, daß ist vom Frühling bis zum Herbst, braucht plötzlich der Westen unseren Zement. Und da wir die Kredite in Waren zurückzahlen müssen und der Westen jetzt keine andere Ware haben will, als Zement, liefern wir diesen. Obwohl die Lager in den Baumärkten und Baustofflieferanten bei ihnen übervoll sind, fordert man unseren Zement an. Natürlich ist der billiger, als ihr eigener, trotzdem müssen sie die gleiche DDR-Liefermenge Zement entsorgen. Das Geld spielt hier keine Rolle. Ein heißer Krieg wäre bedeutend teurer geworden. Wichtig für sie ist es nur, daß unser Wohnungsbauprogramm beispielweise, mit dem wir uns ohnehin etwas übernommen haben, stark gestört wird. Die Wohnungen kamen zwar trotzdem, irgendwie. Aber unsere Wirtschaftlichkeit ist seit langem nicht mehr gegeben.“
„So habe ich das noch gar nicht gesehen. Ich denke immer, wir tun ihnen einen Gefallen, wenn wir ihnen Produkte abkaufen.“
„In der Regel schon. Unter normalen Verhältnissen. Aber das, was hier passiert, ist Erpessung. Wir werden von den Banken und der Wirtschaft erpreßt, etwas zu tun, was uns schadet und für uns völlig falsch ist. Doch wir sind selbst schuld. Mit seinem Feind macht man keine Geschäfte!“
„Und das geht nun schon seit März?“ Langgret heuchelt Mitleid.
„Ja. Und ich will ihnen gleich noch sagen, wie es funktioniert. Da haben wir im Bezirk Dresden seit kurzem eine spezielle Zementkommission bilden müssen. Für jeden schwerwiegenden Mangel gibt es solche Sonderkommissionen. Die läßt durch zuverlässige Leute täglich alle Zementsilos des Bezirkes abklopfen. Da kann man feststellen, wie voll sie noch sind. Dann wird ausgerechnet, bis wie viel Uhr der Zement noch ausreicht und danach wird die Auslieferung des Zementes im Bezirk nach einem Stunden-Tourenplan festgelegt. Voraussetzung ist, daß täglich ein Vollzug Zement von Berlin – Rüdersdorf an uns geliefert wird. Heute nun kam z.B. kein Zug an. Der Vollzug blieb in Doberlug-Kirchhain stehen, weil man die Lokomotive plötzlich, seltsamer weise, auf höheren Befehl sozusagen, für Leipzig brauchte. Eine sozialistische Wirtschafts-Mafia raubt sich neuerdings untereinander die strategischen Mangelwaren! Schon einmal wurde ein ganzer für uns bestimmter Zug Zement nach Leipzig umgeleitet und dort sofort verteilt. Wir bekamen erst kurz vor Mitternacht davon Kenntnis. Da war es zu spät.
Seit Wochen schon fährt deshalb eine Gewährsperson von unserem Zementstab mit dem Vollzug mit, um einen Diebstahl zu vermeiden. Der Genosse saß in einem Bremserhäuschen am Zugende und als er merkte, daß die Lokomotive vorn abgekoppelt war und ohne Zug abzischte, konnte auch er nichts mehr ändern.“
Schmidt war richtig in Rage gekommen. Der Fremde saß da und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das soll alles wahr sein? So steht es um Euch? Und unsere Medien fürchten sich vor dem Kommunismus, daß er den Westen überfällt.“
„Das ist eine der vielen Zwecklügen im Kalten Krieg gegen uns. Ich kann sie morgen in die innere Neustadt begleiten. Da sehen sie, wie weit herunter unsere Bausubstanz ist. In den Betrieben sieht es nicht besser aus. Die Kräne bei uns sind seit 20 Jahren abgeschrieben, also auf Null oder anders ausgedrückt: sie sind Schrott, der täglich repariert werden muß. Unsere Werktätigen sind Helden, in so einer Situation durchzuhalten!“


Es trat eine kleine Pause ein. Genosse Schmidt, der selten Alkohol trinkt, fühlt, daß er hier dem Fremden zu viel anvertraut hat. Deshalb fragt er mit einem Mal besorgt:
„Doch einmal zu ihnen.
Was haben sie für einen Beruf?“
„Entschuldigen sie, daß ich mich nicht gleich vorgestellt habe. Ich bin offiziell von der Presse und berichte über das was ich sehe und höre.“
Schmidt fällt fast vom Stuhl. Jetzt hat er aber einen Mist gebaut. Wenn das drüben in den Medien kommt, ist er vom Fenster weg.
„He, sie, sie haben sich diese Informationen von mir erschlichen. Sie haben kein Recht, diese zu veröffentlichen. Hören sie?“
„Nein, sie haben mir alles von allein und brühwarm erzählt. Sie waren ja überhaupt nicht zu bremsen. Und was die Veröffentlichung betrifft. Ihre eigenen Worte: wir haben einen Kalten Krieg miteinander!“
„Nein, sie sind doch nicht so ein Schwein, der andere Leute ins Unglück treibt? Sie doch nicht? Da müßte sich meine Menschenkenntnis gehörig täuschen.“
Sein Gegenüber schaut süß-sauer-lächelnd in sein Glas und sagt nichts.
„Und außerdem haben sie keinerlei Beweise.“
Langgret hatte die Beine übereinander geschlagen und sich bequem im Stuhl zurückgelehnt. Gelangweilt antwortete er betont leise, aber gewichtig:
„Wenn ich das Gehörte wiedergebe, ist dies Beweis genug. Wer soll mir sonst so etwas erzählt haben?
Der Pförtner hat uns Beide aus dem Haus gehen sehen.
Glauben sie mir, in ihrem eigenen Interesse. Ich habe sie schon lange im Visier und weiß Dinge, die ich allesamt mit einbringen würde. Außerdem habe ich wichtige Passagen des Gespräches hier aufgezeichnet. Ich hätte mir das sowieso nicht alles merken können.“ Er zeigt irgend so ein Gerät, was er kurz aus der Jackentasche zieht und wieder verschwinden läßt.
Schmidt merkte, die Sache war schiefer, als er es ahnte.
„Und warum erzählen sie mir das alles?“ Schmidt hoffte noch auf eine günstige Wendung.
„Nun, ich will ehrlich sein. Wir haben in ihrem Kombinat einen Melder eingebüßt. Also einen, der mit uns in Verbindung steht und zum Beispiel die günstigsten Störfelder und Störzeiten im Kombinat durchgibt. Sie könnten an seine Stelle treten. Dann bliebe die Sache heute unter uns.“
Aha, daher weht der Wind. Ein Mann von der westdeutschen Staatssicherheit! Habe die Ehre.
„Und was habe ich für Sicherheiten?“
„Keine!“ Die Antwort kam prompt und hart.
Schmidt bohrt weiter: „Und sonst, was hätt ich noch davon?“
„Sie bekommen bei jedem Treff eine Geldsumme in DM. Da können sie nun auch in den Intershop einkaufen gehen.“ Den letzten Satz sprach er wie zu einem Kinde.
Schmidt läßt sich nicht so schnell übers Ohr hauen. Womöglich nur ein Treff im Jahr und dabei erhalte ich eine Flasche Wein? So nicht!
„Wie viel Treffs wären das dann?“
„Kommt drauf an. In der Regel aller 6 Wochen.“
„Und wieviel Westmark?“
„Ca 500 DM. Je nachdem, welchen Nutzen ihre Informationen für uns haben. Wir sind nicht Kleinlich.
Aber jetzt überlegen sie nicht zu lange. Morgen will ich hier um diese Zeit Bescheid wissen.
Vergleichen sie ihre Uhr: Es ist 23 Uhr 15.“
Das war wie ein Hinauswurf. Schmidt wollte jetzt ohnehin allein sein. Er rief den Kellner, um zu bezahlen.
„Lassen sie es gut sein. Das tu ich.“ Jetzt spielte Langgret den typischen Gentlemen aus dem Westen. Einen Hauptmann der bundesdeutschen Abwehr oder so etwas ähnliches. Zum kotzen!
„Und wenn ich sie nun verpfeife?“ Schmidt fragt es beim Aufstehen, an Langgrets Ohr gewandt, ängstlich, hinterhältig und doch tapfer zugleich.
„Das würde ihnen nicht gut bekommen. Es sitzen noch zwei meiner Leute hier. Die würden so etwas mißverstehen!“


Schmidt ging mit gesenktem Kopf, ohne sich zu verabschieden, die Treppen hoch zum Ausgang. Als er nicht mehr gesehen werden konnte, sagte er leise zu einer Frau, die zufällig da stand und umständlich an ihrem Kleid herumfuchtelte:
„Tisch 34. Aber Vorsicht, da sind eventuell noch zwei Verdeckte im Raum!“


Befreit ging er auf den Altmarkt hinaus und schüttelte sich unwillkürlich nicht nur den Alkohol vom Leib. Er ließ in Sekundenschnelle noch einmal das Wichtigste Revue passieren. Was er da erzählt hatte, war die blanke Wirklichkeit. Es steht tatsächlich schlimm um uns. Hätte er das Geringste gelogen, wäre die Sache aufgeflogen. Denn die Brüder wissen doch verdammt gut Bescheid über uns.


Neben der Kreuzkirche standen schon die Genossen und warteten auf einen Befehl zum Zugriff.
Na, Gott sei gedankt, dachte da der Atheist. Aber die eigentlichen Drahtzieher haben wir wieder nicht erwischt.


Um 23 Uhr 52 schnappte die Falle zu.


*


„Es sind wieder Vier weniger,“ erfuhr Schmidt am Montag vom Sicherheitsbeauftragten des MfS im Kombinat.
„Ja, aber… warum vier?“
„Du mußt auch nicht alles wissen!“


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Tag der Veröffentlichung: 13.10.2009

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