BookRix

3.
Was mir bislang fehlte, wird erst auf S.18 nachgeholt. Allerdings wirft man die Anfänger gleich ins kalte Wasser. Daß die Erklärungen der Gefahren erst erfolgen, nachdem sie bereits aufgetaucht sind (S.19), ist völlig verantwortungslos und läßt die Wächter ziemlich inkompetent dastehen.

S.20: "Jeder lernte zu kämpfen und bekam seine eigenen Waffen." Auch hier: wie kämpfen die Wächter also gegen die Dunkelheit? Mental? Mit Schußwaffen? Klingen? Bögen? Katapulten? Taschenlampen? Und welche Waffen bekamen die Auszubildenden? Vage, vage, vage. Selbst die einzige Actionszene des Werkes wird ja nicht genauer. Show, don't tell!

Auf Seite 23 geht es schnell voran, und die Ereignisse werden nur noch zusammenfassend erwähnt. Im Gegensatz zu der Darstellung zu Anfang ist es ein Zeitraffer, der die Story bündig abschließt.

Den "Aufruf von Avenia" halte ich für den besten Abschnitt des ganzen Buches. Vielleicht ist das der Kerngedanke, der allem zugrundeliegt. Es ist nicht nur warmherzig, hoffnungsvoll und ermutigend, es ruft uns auch zu "seid aktiv!". So richtig der Aufruf mir auch erscheint, so wenig wird er ausgerechnet von Vivien verkörpert, außer vielleicht auf den letzten zwei oder drei Seiten des Buches.
Avenia ist ein zwar nicht neues, aber immerhin großes Konzept (die geheime übernatürliche Organisation mit wichtigen Aufgaben ist mittlerweile sehr gängig), das mühelos ein umfangreiches Buch mit mehr Charakteren, Beschreibungen, Dialogen, Action, Gefahren, Niederlagen, Überraschungen und Triumphen hätte füllen können. Leider blieben so manche Gelegenheiten für Spannung und Dramatik ungenutzt.

Also: du hast sicher genug Ideen und die Gefühlswelt der Figuren wird auch berücksichtigt; damit die Welt aber funktioniert, sollte sie durch mehr Beschreibungen und Erläuterungen fundiert werden, idealerweise in den Plot eingewoben und nicht als Block im Vorwort.
Und sonst: ich glaube, die Autorin wäre eine gute Wächterin.

2.
Aber es wird noch vager. "Er trug wenige Waffen bei sich" steht da. Wie viele waren es denn nun? Und vor allem: was für welche?
Heutzutage sind drei Waffen (Gewehr, Pistole, Messer) ein realistischer Durchschnitt, je nach Armee und Einheit. Das sind durchaus "wenige", und viel mehr wären schon des Gewichts wegen wenig sinnvoll. Aber ein Wächter aus Avenia ist kein moderner Soldat. Vielleicht hat er ein Schwert, einen Dolch und eine Doppelhandaxt? Oder besser einfach eine Blendlaterne, um mit letzterer die Dunkelheit zu vertreiben. Die ganze Bewaffnung und das Training, welches weiter hinten im Buch beschrieben wird, ergibt nämlich eigentlich überhaupt keinen erkennbaren Sinn. Die Dunkelheit bringt "Krankheit und Tod", und als sie präsent wird, ist von Waffen keine Rede, sondern Vivien läßt ihr inneres Licht erstrahlen. Das paßt zwar wunderbar zum Kontext, läßt die Leserin hinsichtlich der Waffen jedoch ratlos zurück.

Ich hatte bisweilen den Eindruck, du hast durchaus eine Vorstellung von dem, was da passiert, aber weil dir ja alles klar war, hast du es halt nicht hingeschrieben. Bitte denk an die Leser. Sie erfahren nur, was du aufschreibst. Und wenn du Sachen schreibst, die nicht sinnvoll zusammenpassen, dann sind sie entweder verwirrt, verärgert oder enttäuscht.

Allein diese beiden Elemente hätten eine Menge über Jeremy, die Wächter und Avenia ausgesagt. Aber du hast diese Chance verschenkt.
Und obendrein noch eine, als Jeremy anbietet, Viviens Fragen zu beantworten. Normalerweise genau der Punkt, wo man der Leserin zwanglos und unaufdringlich Exposition unterschieben kann. Im Prinzip hättest du hier all das, was im ersten Kapitel steht, in einen Dialog zwischen V und J einbringen können. Das wäre lebendiger gewesen und hätte die Figuren nebenbei noch genauer charakterisiert. Du schreibst nur "ich konnte nur nicken und hörte ihm aufmerksam zu". Was hat der Mann denn nun gesagt? Da macht ein Hauptcharakter eine Einführung in das Gesamtkonzept der titelgebenden Legende, und was erfährt man von ihm? Nichts.

Was auch im Buch nur relativ wenig deutlich wird, ist der Grund, warum ausgerechnet Vivien für diese bedeutende Aufgabe auserwählt wurde. Es gibt allgemeine Andeutungen, sie gehen aber nicht über "begabt" oder "reine Seele" hinaus.
Blicken wir an dieser Stelle mal kurz zu Harry Potter, dessen Laufbahn auch mit einem Brief begann: bei ihn wurde schließlich sehr klar, wie und warum er relevant für die Gesamtstory war.

Auf Seite 12 werden die obersten Wächter von Avenia nicht deutlicher als Jeremy. Man erfährt auch hier nichts Konkretes über die Aufgaben, die Ausbildung, die Gefahren von Viviens zukünftigem Leben. Selbst die Ernährung wird ausführlicher behandelt als die Faktoren, die nun über Leben und Tod sowie über den Umgang mit Seelen entscheiden sollen!

Die Erklärungen auf S.13 erläutern zwar immerhin die Konzepte, aber nicht das konkrete Leben bzw. die Praxis. Daher ist man später schon etwas überrascht, daß Vivien auf S.19 allein intuitiv so erfolgreich ist.
Ein anderer Punkt ist mir noch aufgefallen: "Seit Millionen von Jahren gab es die Wächter schon" (S.13). Das bedeutet, daß schon in der Altsteinzeit, also seit der allerersten Benutzung von Faustkeilen durch Hominiden, bereits Wächter existierten, die das Konzept von Gut und Böse, von Licht und Dunkelheit, geschützt haben. Diese geistige Abstraktion kann ich mir bei Wesen, die lange vor dem homo sapiens lebten, nicht vorstellen. Hier wäre entweder eine Erklärung über den Zeitablauf in Avenia oder der Hinweis, daß es in Avenia schon deutlich früher Hochkulturen gab, ratsam gewesen.

1.
Das wird etwas länger... einerseits ist das eine schöne, gut gemeinte Geschichte mit einem Appell am Schluß, so dass man den Eindruck erhält, die Autorin sei ein ganz lieber Mensch; andererseits hadere ich mich etlichen formalen Elementen, die mich beim Lesen gestört haben. Ich versuche mal, das zu verdeutlichen.

Zunächst ist für mich ein biographischer Bericht keine Legende. Die Übersicht am Anfang fasst Legenden über Avenia zsuammen, aber was dann folgt, ist das, was die Protagonistin persönlich erlebt hat.
Oder sollen wir uns besser auf die Definition in der Wikipedia verlassen und daran zweifeln? Da heißt es, dass in einer Legende "historische Ereignisse durch spätere Hinzufügungen überhöht und/oder verfälscht wurden." Ich glaube, das hast du bei der Erzählung in der ersten Person nicht beabsichtigt.
Aber gut, das ist nur ein winziger Stein des Anstosses.
Du stellst auf S.3+4 das Grundkonzept vor, das den Boden für den Rest der Story bereitet. Daher muß man ihn so als gegeben hinnehmen. Okay.

Dann kommt die Post. Vivien wundert sich, daß der Brief bei den Eltern ankommt und nicht bei ihrer eigenen Adresse, was plausibler wäre. Das wird aber nie erklärt und ergibt innerhalb der Geschichte keinen Sinn; außerhalb schon, weil auf diese Weise die Familie vorgestellt werden kann.
In der Mitte von S.5 hast du die erste wörtliche Rede, und sie wiederholt genau das, was im Satz zuvor bereits zusammengefaßt geschrieben steht. Eins von beidem ist also überflüssig. Meiner Meinung nach die Zusammenfassung, weil wörtliche Rede lebendiger ist und man sie daher eher beibehalten sollte.
Seite 5 enthält eine Menge an Charakterisierung der Hauptfigur, und sie kommt dabei nicht sonderlich gut weg. Vivien hat keinen Zukunftsplan und ihre Bewerbungen nur den Eltern zuliebe abgesandt. Auch danach ist sie unschlüssig, und als sie später Jeremy zusagt, ist anscheinend eher er der Grund als ein echtes Interesse für die Aufgabe. Das alles macht Vivien zu einer passiven Protagonistin. Das ist nicht grundsätzlich falsch, aber ich bin nicht sicher, ob du beabsichtigt hast, Vivien so darzustellen. (Zu passiven Protagonisten gibt es eine Menge Sekundärliteratur, auch im Web.)

Auf Seite 7 bleibst du bei Elementen, die meist detailliert beschrieben werden, hervorstechend vage. Kleidung... Jeremy trägt "ungewöhnliche Kleidung, die an eine Kampfkleidung oder Uniform erinnerte". Damit weckst du das Interesse der Leserin. Aber mehr kommt nicht dazu. Was ist an der Kleidung ungewöhnlich? Welcher Stil prägt die Uniform? Ist es eine Paradeuniform der Marine des 19. Jahrhunderts, die eines Musketiers aus dem Spätmittelalter oder eine moderne militärische Tarnfleckuniform? Natürlich nichts davon, aber es liegen Jahrhunderte dazwischen, und wenn du schon erwähnst, wie ungewöhnlich sie ist, dann BESCHREIBE sie doch bitte. Nein, "Grüntöne" sind keine hinreichende Beschreibung.