Die Legende von Avenia
Von: Larissa Kuczera
Schon immer gab es das Böse und das Gute in dieser Welt. Doch viele wussten nicht, dass das Böse und Gute sich nur eine andere Gestalt suchte, sobald jemand starb. Jeder Mensch trägt beides in sich und jeder entscheidet selbst, welche Seite er gewinnen lässt. Niemand ist nur gut oder böse, aber es gibt immer eine Hälfte die überwiegt.
Stirbt ein Mensch, so trennt sich die Seele vom Körper und das Gute spaltet sich vom Bösem ab. Der böse Teil der Seele bleibt suchend zurück und der gute Teil kommt nach Avenia. Avenia ist ein Ort, wo sich die guten Teile der Seelen eine neue Gestalt als Pflanze oder Tier suchen. Dort liegt alles Glück dieser Welt, versteckt vor der Dunkelheit, die sich aus den zurückgebliebenen bösen Teilen der Seelen zusammensetzt. Avenia gibt den Seelen die Möglichkeit zur Ruhe zu kommen und ihre wahre Gestalt anzunehmen. Selten kommt es vor, dass eine Seele keine Gestalt findet, jedoch gibt es auch eine Zeit, in der das Leben selbst in Avenia zu Ende geht. Dann werden sie von den Wächtern von Avenia zum Himmel empor geschickt, wo sie zu einem Stern werden und das wenige Licht in dieser Welt heller leuchten lassen. Die Wächter von Avenia beschützen den Wald, wo die Seelen ihre Ruhe finden sollen, vor der Dunkelheit und geleiten die Seelen hinauf, wenn es an der Zeit ist.
Die Dunkelheit ist tückisch, da sie jede Gestalt annehmen kann und selbst die Wächter, die eine Ausbildung durchlaufen und mit Bedacht auserwählt werden, sind nicht unfehlbar. Auch sie lassen sich immer wieder von ihr täuschen. Jedes Jahr werden wenige junge Frauen und Männer von den erfahrensten Wächtern auserwählt, die jene Ausbildung erfahren dürfen. Menschen, die sich dem Licht zugewandt haben und dennoch die Dunkelheit erkennen können, werden zu Wächtern ausgebildet. Nicht jeder ist dafür geeignet und nicht alle von den Anwärtern beenden die Ausbildung.
An diesem Morgen holte ich die Post herein und legte sie auf den Küchentisch. Ich sah sie durch, aber das meiste war für meine Eltern. Doch verwundert nahm ich den letzten Brief aus dem Stapel und sah ihn mir genauer an. Er war an mich adressiert und hatte einen merkwürdigen Umschlag. Es stand kein Absender darauf und neugierig wollte ich ihn öffnen. Ich war verwirrt das der Brief an die Adresse meiner Eltern ging, da ich doch eine eigene Wohnung hatte und hier nur zu Besuch war. Doch da kam mein kleiner Bruder Marius herein und wollte ihn mir aus der Hand nehmen. Zum Glück war ich schneller und konnte ihn noch rechtzeitig zurückziehen. Mama kam in die Küche und fragte mich, ob ich in letzter Zeit schon etwas von der Hochschule gehört hatte. „Vivien, hast du schon Post von den Hochschulen oder Universitäten bekommen? Ich hatte dich gestern ganz vergessen zu fragen, da hatte ich mich viel zu sehr darüber gefreut, dass du uns wieder besuchen kommst.“ Ich schüttelte wie immer den Kopf und sie schaute mich enttäuscht an. Letztes Jahr hatte ich meine Schule abgeschlossen und meine Eltern wollten gerne, dass ich eine Universität oder Hochschule besuchte. Ich hatte einige Bewerbungen ihnen zu Liebe abgeschickt, obwohl ich selbst nicht einmal wusste, ob ich überhaupt studieren wollte. Eigentlich machte es mir nur wenig aus, dass ich noch keine Post bekommen hatte.
Nach dem Frühstück zog ich mich in mein altes Zimmer zurück und wendete mich dem merkwürdigen Brief zu. Er roch nach Wald und Erde und war in Brauntönen gehalten. Als ich ihn öffnete, konnte ich meine Neugier kaum noch zügeln. Ich konnte kaum glauben was in dem Brief stand und wusste nicht, ob ich ihn meinen Eltern zeigen sollte.
Sehr geehrte Vivien,
Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu dürfen, dass sie eine der wenigen Auserwählten sind, die eine Ausbildung als Wächterin von Avenia antreten darf. Ihnen wird dies alles nicht viel sagen, aber in wenigen Tagen wird sie einer unserer Wächter aufsuchen und sie darüber aufklären. Es ist eine Ehre als Wächterin auserwählt zu werden und um sie ein wenig auf alles vorzubereiten, liegt anbei eine Erklärung zu Avenia, einer geheimen Welt, fern von dem Bösen.
Mit freundlichen Grüßen,
Die obersten Wächter von Avenia
Ich konnte kaum glauben was dort stand und las alles dreimal durch. Gab es Avenia wirklich, oder erlaubte sich jemand einen Scherz mit mir? Das alles war so unwirklich und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Doch zunächst behielt ich das alles für mich.
Es vergingen einige Tage in denen nichts passierte und ein wenig enttäuscht wanderte ich durch den Wald, der in meiner Nähe war. Ich merkte kaum, dass sich das Licht um mich herum veränderte und blieb verwirrt stehen, als ich eine andere Gestalt nicht weit von mir stehen sah. Sie war vollkommen in Licht getaucht und ich musste meine Augen zusammenkneifen um etwas erkennen zu können. Es kam jemand auf mich zu und endlich nahm das grelle Licht ein wenig ab und ich konnte einen jungen Mann erkennen, der höchstens ein paar Jahre älter sein konnte als ich. Er blieb vor mir stehen und ich wusste nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Er trug ungewöhnliche Kleidung, die an eine Kampfkleidung oder Uniform erinnerte und in Grüntönen gehalten war. Er trug wenige Waffen bei sich und ich sah ihn bewundernd an. Ich musste wie eine dumme Gans aussehen, wie ich ihn so anstarrte und kein Wort herausbrachte. Er nickte mir zu und deutete auf eine Bank, die in unserer Nähe stand. Wir setzten uns hin und er fing an zu reden, was mich auch ein wenig aus meiner Beklemmung riss. „Ich bin Jeremy, ein Wächter aus Avenia. Die Obersten haben mich zu dir geschickt, um dir alles zu erklären und deine Fragen zu beantworten, die du sicherlich haben wirst.“ Ich konnte nur nicken und hörte ihm aufmerksam zu. Doch ab und zu erwischte ich mich, dass ich ihn musterte. Ich musste zugeben, dass er gut gebaut war und sich seine Muskeln unter der Kleidung abzeichneten. Er hatte bestimmt viel trainiert und seine blauen Augen waren einfach verführerisch. Er hatte braune Haare, die ihm locker ins Gesicht fielen und etwas über seine Ohren gingen.
Er sah mich fragend an und peinlich berührt merkte ich, dass ich zuletzt nicht aufgepasst hatte, sondern von seinem Aussehen abgelenkt gewesen war. Doch sein Mundwinkel zuckte nur und er stellte mir die Frage erneut. „Vivien, willst du die Ausbildung zur Wächterin von Avenia antreten, obwohl es bedeutet, dass du deine Familie nur noch sehr selten sehen wirst?“ Ohne groß zu überlegen sagte ich zu und erst später wurde mir bewusst, zu was ich überhaupt zugestimmt hatte. Jeremy beantwortete jede meiner Fragen geduldig, bis er leider gehen musste. In Gedanken versunken ging ich zurück nach Hause und dachte über diesen ereignisreichen Nachmittag nach.
Avenia gab es also wirklich und ich hatte die Chance dazu eine Wächterin zu werden. Doch wegen meiner Pflichten und da es nicht einfach war nach Avenia zu gelangen, würde ich meine Familie und Freunde nur noch selten sehen können. Doch dafür könnte ich in eine geheime Welt eintreten und zu ihr gehören. Würde für das Gute in dieser Welt kämpfen. Ob Jeremy meine Ausbildung übernehmen würde? Ich mochte ihn, dass konnte ich nicht abstreiten, aber wenn ich die Ausbildung machen sollte, wäre es schwer sich darauf zu konzentrieren, wenn er in meiner Nähe war. Ich hatte eine Woche Zeit meine Entscheidung zu überdenken und ich grübelte vor mich hin. Es reizte mich etwas Neues auszuprobieren und ich wusste, dass ich nicht noch eine Chance bekommen würde. Meine Eltern würden mir das niemals glauben, daher entschied ich mich dafür sie anzulügen. Zumindest für den Anfang, bis ich wusste, ob ich das Zeug zu einer Wächterin von Avenia hatte. So sagte ich ihnen, dass ich einen Studienplatz auf einer weit entfernten Uni bekommen hatte und sogar eine Wohnung gefunden hatte. Freunde wollten mir mit dem Umzug helfen und die Uni würde schon bald beginnen. So mussten sie sich um nichts kümmern und würden sich keine Sorgen um mich machen. Ich fand das war eine ganz gute Lösung und nun konnte ich nach Avenia um meinen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
Der Abschied von meiner Familie und meinen wenigen Freunden viel mir schwer, aber ich hoffte, dass es die Richtige Entscheidung war, die ich getroffen hatte. Natürlich fragte ich mich, was mich so besonders machte, dass ich nach Avenia eingeladen worden war. Ich war eine durchschnittliche Schülerin gewesen, hatte aschblondes Haar und graublaue Augen. An mir war nichts Besonderes, aber die obersten Wächter mussten etwas in mir gesehen haben, von dem ich nichts wusste. Gespannt wartete ich im Wald auf Jeremy, der mich abholen und nach Avenia bringen wollte. Und so ging ich zu der Bank, an der wir uns das letzte mal getroffen hatten und wartete. Es dauerte nicht lange, da kam wieder dieses unglaublich helle Licht und er kam langsam auf mich zu. Ich hatte schützend den Arm vor mein Gesicht gehalten, den ich nun wieder sinken ließ. Er sah mich fragend an und als Antwort hob ich nur meine gepackte Tasche hoch. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, bevor er mir den Arm anbot, ganz wie ein Gentleman. Er nahm mir meine Tasche ab und wir gingen wenige Schritte, bis uns dieses unglaublich helle Licht umschloss.
Als ich meine Augen öffnete führte mich Jeremy durch ein Tor, das von wunderschönen lila Blumen überwuchert war. Hinter dem Tor lag ein großer Wald, der unendlich viele Pflanzen und Tiere beherbergte. Ich wusste nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte und Jeremy ließ mir Zeit mich in Ruhe umzusehen. Er meinte, dass er bei seiner Ankunft ebenso reagiert hatte. Überall waren bunte Blumen und Insekten zischten an mir vorbei. Im Gebüsch raschelte es, wo sich einige kleinere Tiere versteckten, die sich zögerlich heraustrauten, als ich mich auf den Boden setzte. Hasen, Mäuse und Vögel sahen mich neugierig an und manche kamen sogar zu mir und ich wagte es sie zu streicheln. Schmetterlinge tanzen um mich herum und die Blätter von den unterschiedlichsten Bäumen wiegten sich im Wind. Alles um mich herum war so unwirklich, als wäre es nur ein Traum. Doch ich hoffte, dass dieser Traum niemals enden würde.
Ich fühlte mich so glücklich hier und saugte jede Kleinigkeit in mir auf. Ich schloss meine Augen und versuchte die Geräusche um mich herum zu ordnen. Der Wind ließ die Blätter rascheln und ich hörte das Getrippel einiger Tiere um mich herum, wie auch das Flügelschlagen der Vögel. Doch etwas weiter entfernt waren große Schritte zu hören und ich öffnete verwundert die Augen. Vom Tor aus kamen zwei Männer auf mich zu, einer trug die gleiche Kleidung wie Jeremy und reichte ihm den Unterarm zur Begrüßung. Die beiden kannten sich anscheinend und er war auch ein Wächter. Doch der jüngere von den Neuankömmlingen trug normale Kleidung wie ich und schaute sich neugierig um. Er war sicher einer der anderen, die mit mir ausgebildet werden sollten. Jeremy rief mich zu sich und stellte mir die beiden vor. Der Wächter hieß Ronin und der Junge stellte sich als Kevin vor. Nach wenigen Minuten kamen mehrere Wächter hintereinander durch das das Tor und brachten weitere junge Leute mit. Das einzige andere Mädchen, welches Sarah hieß, stellte sich zu mir und wir standen etwas abseits der Truppe. Als alle Wächter wieder da waren, führte Jeremy unsere Gruppe tiefer in den Wald hinein.
Wir liefen eine ganze Weile und ab und an konnte ich Wächter ausmachen, die uns von ihren Posten aus beobachteten. Während wir liefen, sah ich mich noch immer voller Bewunderung um und blieb bei einer Katze stehen, die sich an einen Baum gelegt hatte. Die Katze hatte eine ungewöhnliche Farbe und ich ging näher zu ihr, um sie besser sehen zu können. Ich durfte mich eigentlich nicht von der Gruppe trennen, aber darauf achtete ich in diesem Moment nicht. Ich kniete mich hin und sah, wie die Katze immer schwerer Atmete. Sie starb vor meinen Augen und ich sah mich hilfesuchend um, da ich nicht wusste, was ich tun sollte. Doch plötzlich war Jeremy neben mir und kniete sich zu mir. Wir warteten einfach ab und es tat mir in der Seele weh das arme Tier sterben zu sehen. Ich wollte mich schon abwenden, doch Jeremy sagte, ich sollte genau hinsehen. Plötzlich leuchtete die Katze auf und ihre Umrisse wurden undeutlich. Von einem zum anderen Moment war der Körper der Katze verschwunden und ein goldenes Licht schwebte vor uns. Verwundert sah ich Jeremy an, der das goldene Licht behutsam in eine kleine Kugel einschloss und in seiner Tasche verstaute. „Vivien, eigentlich bekommen die Auszubildenden dies erst sehr spät gezeigt. Ich bitte dich dies zunächst für dich zu behalten. Ich werde es dir später in Ruhe erklären. Wir sollten jetzt zu den anderen aufschließen.“ Ich konnte nur nicken und folgte ihm vollkommen sprachlos.
Als wir wieder bei den anderen waren, stellte ich mich zu den Neuankömmlingen und kurz darauf kamen vier in weiß gekleidete Gestalten auf uns zu. Es waren drei Männer und eine Frau, die nicht weit von uns stehen blieben. Die Wächter verneigten sich leicht vor ihnen, also tat ich es ihnen nach, wie auch wenige meiner jungen Freunde. Die Wächter wurden entlassen und so blieb ich mit den anderen zurück. Vor uns standen die obersten Wächter von Avenia, die uns auserwählt hatten. Sie hatten uns eine ganze Zeit lang beobachtet und wollten uns nun zu Wächtern von Avenia ausbilden. Sie waren alle sehr nett und danach wurden wir zu unseren Unterkünften begleitet. Sarah und ich teilten uns ein Zimmer und sie war sehr sympathisch, sodass ich sie sofort mochte. In den Bäumen waren große Kugeln angebracht, die aus einem leichten Stoff bestanden und unsere Zimmer bildeten. Doch sie waren um einiges geräumiger als vorher gedacht. Sie waren sehr gemütlich eingerichtet und ich wusste, dass es mir hier gefallen würde. Den Nachmittag hatten wir soweit frei um Avenia auf eigene Faust erkunden zu können. Erst als es dämmerte trafen wir uns bei einem kleinen Lagerfeuer und jeder bekam einen Becher mit einer süßlich riechenden Flüssigkeit eingeschenkt. Die obersten Wächter erklärten uns, dass wir nichts aus Avenia essen oder trinken durften, außer diesem hier. Denn keinem Tier oder einer Pflanze durfte etwas zuleide getan werden. Dieses Getränk würde uns satt machen und wir brauchten nichts weiter als dies. Wer dennoch gerne etwas essen wollte, würde auch ein wenig bekommen. Dies wurde jedoch außerhalb von Avenia geholt.
An diesem Abend erklärten uns die obersten Wächter genauer, was in dem Brief gestanden hatte und was dies zu bedeuten hatte. Jedes Tier und jede Pflanze hatte eine gute Seele, die Avenia zum Leben erweckt hatte. Starb ein Mensch und war diese Seele noch nicht bereit für den Tod, so kam der gute Anteil hierher und nahm eine andere Gestalt an. War das Leben der Seele aufgebraucht, so verschwand auch deren Gestalt und die pure Seele kam zum Vorscheinen. Die Wächter geleiteten die Seele nach oben, wo sie ihren Platz als Stern einnahmen. Somit war es die Aufgabe der Wächter die Seelen zu schützen, bis sie soweit waren zu gehen. Auch die Dunkelheit wurde uns näher erklärt und ich hoffte niemals auf die Dunkelheit treffen zu müssen. Sie bedrohte nicht nur die guten Seelen, sondern auch die Menschen, da die Dunkelheit Krankheiten und Tod verbreitete. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wichtig die Wächter von Avenia waren, da sie nicht nur Avenia beschützten, sondern auch das Licht der Welt, die Hoffnung, aufleuchten ließen. All dies vollbrachten sie im geheimen und nur wenige außerhalb von Avenia wussten von ihnen. Jede Seele die sie retteten brachte mehr Licht in unsere Welt und drängte die Dunkelheit weiter fort. Seit Millionen von Jahren gab es die Wächter schon, die das Gleichgewicht von Licht und Dunkelheit aufrechterhielten. Ich fragte mich was wäre, wenn es die Wächter nicht gäbe? Wäre unsere Welt in Dunkelheit untergegangen? Gäbe es überhaupt noch Leben? Ich wollte es mir nicht einmal vorstellen und schüttelte die bösen Gedanken von mir ab. Es war viel zu verarbeiten und ich lag nachdenklich in meinem Bett. Sarah war schon längst eingeschlafen und ich schreckte hoch, als Jeremy plötzlich im Eingang stand.
Jeremy führte mich auf einen Hügel und meinte, dass ich mich hinsetzten sollte. Ich beobachtete ihn gespannt und verfolgte wie er die Kugel von heute Mittag herausnahm. Er kam zu mir und ich sollte meine Hände zu einer Schale formen. Ich tat es und er öffnete die Kugel. Sofort sah ich wieder das goldene Leuchten und war ganz verzaubert. Er führte die Kugel an meine Hände und das Leuchten wanderte auf meine Hände. Es kitzelte irgendwie, aber es war ein unbeschreibliches Gefühl. Ich hielt eine Seele in meinen Händen, so ungeschützt und doch wichtig. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Ich wollte der Seele nicht wehtun und hatte Angst etwas falsch zu machen. Doch Jeremy bat mich aufzustehen und half mir hoch. Er nahm meine Hände in seine und sagte einige Worte in einer anderen Sprache, die ich nicht verstand. Als er fertig war hoben wir unsere Hände und die Seele flog immer höher in den Himmel. Irgendwann war sie nur noch ein kleiner leuchtender Ball, den man kaum sehen konnte. Plötzlich wurde der Himmel hell und ich konnte die Seele nicht mehr ausmachen. Jeremy erklärte mir, dass die Seele nun ihren Platz am Himmel gefunden hatte. „Wir haben die Seele auf ihre letzte Reise geschickt und nun wird sie als Stern geboren. Von nun an wird ihr Licht über uns und die anderen Seelen wachen. Sie wird ein wenig mehr Hoffnung in die Herzen der Menschen bringen und somit die Dunkelheit vertreiben. Dies ist immer das schönste am Wächterdasein. Es gibt vieles was du noch lernen wirst, Vivien, aber ich glaube in mancher Hinsicht ähneln wir uns.“ Er fasste meine Hand und drückte sie leicht. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und so standen wir beide schweigend da.
Doch er ließ plötzlich meine Hand los und die oberste Wächterin hielt auf uns zu. Wir verneigten uns vor ihr und warteten ab, bis sie etwas sagte. „Vivien, du solltest längst schlafen, morgen wird ein anstrengender Tag werden. Ich habe gesehen was ihr beide hier gemacht habt. Jeremy, du weißt, dass erst am Ende der Ausbildung dieses Ritual weitergegeben wird. Du darfst solche wichtigen Entscheidungen nicht alleine treffen und Vivien ist erst am Anfang der Ausbildung.“ Jeremy nahm die Schuld ganz auf sich und versprach nicht wieder gegen die Regeln zu verstoßen. Die oberste Wächterin meinte, dass sie es den anderen sagen musste, aber dass es keine Konsequenzen für uns geben werde. Jeremy wurde entlassen und sie wollte mich persönlich zu meinem Zimmer begleiten. „Vivien, Jeremy scheint dich sehr zu mögen und er vertraut dir. Dieses Ritual, welches er dir gezeigt hat, wird eigentlich erst ganz am Ende weitergeben. Zudem können wir bisher nur wenig über dich und die anderen sagen, die heute zu uns gekommen sind. Jedoch hat es auch einen weiteren Grund. Nur jemand mit einem reinen Herzen kann die guten Seelen auf ihre letzte Reise schicken. Du hast ein reines Herz, denn sonst wäre die Seele niemals zu dir gekommen. Du hast also das wichtigste was ein Wächter von Avenia braucht und ich glaube, dass du die anderen Aufgaben genauso gut meistern wirst. Solltest du jemals Fragen haben oder nur jemanden zum Reden brauchen, so komme gerne zu mir. Ich bin Tamia und auch wir obersten Wächter sind nur Menschen. Manchmal verstehe ich selbst nicht warum unser Alter uns zu etwas Besonderem macht. Doch eine gewisse Erfahrung ist bei wichtigen Entscheidungen vom Nutzen. Mache dir keine Sorgen, Vivien. Lass die nächsten Tage einfach auf dich zukommen.“ Ich grübelte noch lange nach an diesem Abend und hatte am nächsten Tag das Gefühl kaum geschlafen zu haben.
In den folgenden Tagen wurden wir an unsere Aufgaben herangeführt. Jeder von uns übernahm mit einem ausgebildeten Wächter einen Wachdienst, wenn für den Anfang nur innerhalb von Avenia. An diesem Abend übernahm ich den Wachdienst mit Ronin ausnahmsweise an einer der Grenzen. Ich lauschte den Klängen von Avenia, wie jeden Abend, doch plötzlich wurde es um mich herum still. Verwirrt sah ich Ronin an, der mich zu sich winkte. „Geh sofort und hole Verstärkung. Blick dich nicht um.“ Ich konnte nur nicken und verschwand schnell im Wald. Ich rannte bis zum nächsten Wachposten und als sie mich sahen, wussten sie genau, was zu tun war. Einer von ihnen wollte den obersten Bescheid geben. Ich führte die anderen zurück zu meinem Posten und blieb erschrocken stehen, als Ronin bewusstlos am Boden lag. Ich wollte zu ihm, doch Jeremy hielt mich zurück. Er war mit einigen anderen Wachen zur Verstärkung gekommen. Plötzlich tauchte etwas vor uns auf und ließ mir alle Haare zu Berge stehen. Vor mir war alles vollkommen finster und kein Licht konnte diese Schwärze durchdringen. Ich sah wie einige Wächter anfingen zu strahlen und somit versuchten die Dunkelheit zu verscheuchen. Von einem zum anderen Moment rollte eine Welle voll Finsternis auf uns zu und Jeremy zog mich hinter sich. Alle die von der Welle berührt worden waren brachen schmerzgeplagt zusammen. So auch Jeremy der sich vor mich gestellt hatte. Ihr Leuchten erlosch und einige von ihnen verloren ihr Bewusstsein. Angst ließ mein Herz schneller schlagen und am Rande nahm ich wahr, wie noch mehr Wächter kamen. Ich kniete mich neben Jeremy, der keinerlei äußere Wunden hatte, aber das Gesicht vor Schmerz verzog. Ohne groß nachzudenken stellte ich mich vor ihn, als die Finsternis nun immer näher zu uns kam. Ich schloss die Augen und fühlte, wie ich ruhiger wurde. Etwas Warmes in mir drin pulsierte und ich ließ etwas davon nach außen. Licht umgab mich von allen Seiten und ich spürte, wie sich die Dunkelheit zurückzog. Andere Wächter kamen zu Hilfe und gemeinsam waren wir stark genug um die Finsternis zu verscheuchen. Als ich meine Augen wieder öffnete, legte sich das Licht um mich herum und ich sah mich erschöpft um. Mir war es unangenehm, wie einige Wächter mich verwundert ansahen.
Jeremy stöhnte hinter mir auf und ich sah ihn besorgt an. Er war ganz fahl im Gesicht, aber er schien nicht mehr solche starken Schmerzen zu haben. Jemand legte ihn auf eine Trage und brachte ihn, wie auch die anderen Verletzten auf die Krankenstation. Neben mir tauchte die oberste Wächterin auf und führte mich weg. „Vivien, mache dir keine Sorgen. In ein paar Tagen geht es ihnen wieder gut. Die Dunkelheit greift ihren Geist an und sie haben innerlich Schmerzen, wie als wenn sie mehrere Dolchstöße ertragen müssten. Man erholt sich schnell davon, jedoch bleibt jedes Mal etwas davon zurück. Jeder Wächter ist danach gezeichnet, aber zum Glück stirbt nur selten jemand daran. Ich muss zugeben, du warst sehr beeindruckend, nur wenige junge Wächter können ihr Licht so schnell beherrschen. Wahrscheinlich hast du einigen der Wächter viele Schmerzen erspart. Versuch dich jetzt auszuruhen, denn gegen die Dunkelheit mit seinem Licht anzukommen ist anstrengend und benötigt viel Kraft. Deine Wache ist für heute zu Ende.“ Ich folgte ihrem Rat und legte mich direkt schlafen, obwohl ich häufig schweißgebadet aufwachte. Ich hatte noch nie so eine alles verzehrende Finsternis gesehen, die innerlich so einen großen Schaden anrichten konnte.
Selbst einige Tage danach war ich noch erschöpft und musste keine Wachdienste übernehmen. Diese Zeit nutzte ich und besuchte Jeremy auf der Krankenstation. So oft ich konnte, ging ich zu ihm und blieb solange ich durfte. Es tat mir leid, dass er verletzt worden war, weil er mich schützen wollte. Doch er würde es immer wieder machen, hatte er nur gesagt. Wir kamen uns in dieser Zeit immer näher und ich war froh Zeit mit ihm verbringen zu können. Zum Glück ging es ihm bald wieder besser und er durfte die Krankenstation verlassen.
Jeder von uns lernte zu kämpfen und bekam seine eigenen Waffen. Zunächst hatte ich meine Schwierigkeiten und war froh, dass wir sie nicht oft brauchen würden. Dennoch war es besser welche zu haben und nicht brauchen zu müssen, als anders herum. Häufig lernte ich auch noch nach dem Unterricht und war abends vollkommen erschöpft. Doch bald zeigten sich erste Fortschritte bei mir und den anderen. Leider gab einer der Jungen, Kevin, wenn ich mich recht erinnerte, auf. Doch ich war nicht traurig darum, da ich ihn nicht hatte leiden können. Dennoch waren wir einer weniger und die Obersten waren enttäuscht. Es gab nur wenige von uns, daher war es für sie immer traurig, wenn ein Auszubildender es nicht schaffte oder aufgab.
Es gab so viel in Avenia zu entdecken und die Obersten führten uns jeden Tag durch den Wald, damit wir mit allem vertraut wurden. Auch die fremde Sprache, die ich bei dem Ritual gehört hatte, lernten wir mit der Zeit. Erst dann verstand ich, was Jeremy damals gesagt hatte.
Wir lernten auch uns selbst zu verstehen und in uns hinein zu horchen. Jeder von uns trug ein wenig Licht in sich, das wir weitertragen konnten. Auch wir würden einmal zu guten Seelen werden und einige von uns besaßen das Talent jetzt schon einen Teil Licht freizusetzten. Nur diejenigen die dies schafften, konnten ohne Hilfe Avenia verlassen und wieder hierher gelangen. Anfangs durften wir nur in Begleitung unsere Familien besuchen, ab und zu durfte ich jetzt auch alleine gehen. Die oberste Wächterin vertraute mir und ich suchte sie häufig auf, wenn ich Fragen hatte. Manchmal auch bei persönlichen Dingen. Meiner Familie war aufgefallen, dass ich mich verändert hatte, aber sie dachten es kam daher, dass ich nun studierte. Leider konnte ich ihnen noch nicht die Wahrheit sagen, aber Jeremy meinte, dass seine Familie selbst jetzt noch nicht die Wahrheit erfahren hatte. Es hatte nie den richtigen Zeitpunkt dafür gefunden. Ob es bei mir anders werden würde?
Erst nach bald einem Jahr durften wir auch außerhalb von Avenia Seelen suchen und ihnen hierher helfen. Wir brachten sie sicher nach Avenia und schützten sie somit vor der Dunkelheit. Außerdem fanden einige Seelen nicht alleine den Weg zu uns, weshalb wir ihnen helfen mussten. Zum Glück konnte ich Jeremy zumeist begleiten und durfte mich selbst um die Seelen kümmern. Die anderen waren noch nicht so weit und sahen mehr zu, als dass sie selbst handelten. Erst nach fast zwei Jahren wurden wir alle in dem Ritual unterwiesen und die noch von uns übriggeblieben waren, bestanden somit auch die letzte Prüfung.
Sarah war mir in den letzten zwei Jahren sehr ans Herz gewachsen und war so etwas wie meine beste Freundin. Jeremy und ich waren schon länger zusammen, aber das störte niemanden hier. Denn Liebe war etwas Gutes und die obersten Wächter hatten uns sogar beglückwünscht. Häufig durften wir zusammenarbeiten und wir waren mittlerweile ein eingespieltes Team. Ich hätte nie erwartet, dass sich mein Leben einmal so sehr ändern würde.
Ich lernte die Unterschiede zwischen guten und bösen Seelen zu erkennen und wollte dieses Wissen nicht mehr missen. Nach der Beendung meiner Ausbildung traute ich mich es meiner Familie zu erzählen und sie reagierten besser darauf, als ich gedacht hatte. Ich durfte sie leider nicht nach Avenia bringen, obwohl sie es gerne gesehen hätten. Doch Avenia musste geheim bleiben und vor der Dunkelheit geschützt werden.
Ich verzichtete auf einige Dinge in meinem Leben, aber ich vermisste sie nicht, da ich wusste wie wichtig meine Aufgabe war. Nach zwei Jahren hatte ich meine Ausbildung abgeschlossen und war ein vollständiges Mitglied der Wächter. Jedes Jahr suchten wir nach neuen Wächtern, obwohl es nicht so einfach war jemanden zu finden. Mit den Jahren glaubten immer weniger Menschen an eine verborgene Welt und es gab immer weniger, die zu Wächtern ausgebildet wurden. Doch diejenigen die dabei waren, machten es mit Herz und waren viel mehr wert als viele, die keine Hoffnung weitergeben konnten.
Jeremy und ich lebten lange und glücklich, bis auch wir einmal zu den ältesten Wächtern gehörten. Unsere Kinder wuchsen in Avenia auf und folgten unserem Beispiel. Niemand von den Wächtern war verpflichtet in Avenia zu blieben, doch jeder wusste, wie wichtig unsere Aufgabe war und wollte niemals fort. Natürlich gibt es das eine oder andere was man vermisste, aber die Schönheit, die Avenia uns bietet, war mir wichtiger als alles andere.
Jeder Mensch ist in der Lage ein wenig Hoffnung zu spenden und daher glauben wir, dass es eine Zeit geben wird, in der mehr Wächter ihren weg zu uns finden werden. Denn die Hoffnung die Dunkelheit zu verscheuchen, macht uns stark.
Vielleicht mögt ihr der Legende von Avenia glauben, so wie ich es getan habe. Jedoch auch wenn ihr nicht an sie glaubt, könnt ihr etwas aus ihr mitnehmen. Schaut ab und zu in den Nachthimmel hinauf und denkt an die guten Seelen, die euch ein wenig Hoffnung geben wollen. Nehmt das Licht auf und gebt es an einen geliebten Menschen weiter. Bewahrt die Welt vor der Dunkelheit, die in jedem von uns schlummert. Lasst die Dunkelheit nicht gewinnen und erwärmt eure Herzen für das Gute in uns. Lasst eure Seelen strahlen, damit auch sie nach eurem Tod ihre letzte Reise beginnen können.
Larissa Kuczera
Larissa Kuczera ist 1997 in Dinslaken geboren und aufgewachsen. Sie hat mit 16 Jahren angefangen ihr erstes Buch „In Secret – eine verborgene Welt“ zu schreiben. Sie wohnt zurzeit bei ihren Eltern, zusammen mit ihrer älteren Schwerster und ihrem Hund. Sie interessierte sich schon immer für Fantasy und bleibt diesem Thema auch in ihren Büchern treu. Nach dem Abitur hat sie eine Ausbildung als Chirurgisch-Technische-Assistentin begonnen und versucht nebenher Zeit zu finden, um an ihren Büchern weiterzuschreiben. Ihre Hobbys sind Tanzen, Lesen und natürlich das Schreiben.
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2018
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