Erinnerungen eines alten Mannes
Erzählung Von: Deniz Civan Kacan
Er war von der Kaserne zu seinem Vater in die etwa acht Kilometer entfernte westfälische Stadt gefahren und hatte den Wagen nahe eines Parks abgestellt, durch den er schritt. Entlang einiger Reihenhäuser mit säuberlichen, menschenleeren Gärten und nach weiteren knapp Hundert Metern des Gehens entlang eines ehemals ausgestorbenen Wohngebäudes, in dass nun einige Familien, die dem begonnenen Krieg in dem entfernten Land entflohen waren, einzogen und an heruntergekommenen Garagen vorübergehend, schritt er bald in eine Seitengasse. Dann gelangte er über einen dünnen Weg zwischen weiteren Mietshäusern mit Arbeiterfamilien, viele Wohnungen derweil im Privatbesitz und entlang an Bäumen und Zäunen zum Wohnblock seines Vaters. Der Wohnblock lag in einer Arbeitergegend. Er ging hinauf. Er schnürte seine Stiefel auf, vor dem Flurschrank der Eigentumswohnung und dann begrüßte er seinen Vater, der aus der Küche schritt. „Lass uns auf den Balkon hinaus, mein Sohn. Ich habe ein Tablett mit Getränken vorbereitet.“ "Gut." Dann war er von der Küche, wo er eine Pfirsichsaft-Flasche aus dem Kühlschrank nahm und etwas trank, durch das Wohnzimmer an dem Porträtbild seines Großvaters entlang geschritten und zum Balkon hinaus gegangen. Er setzte sich an den Tisch mit zwei Tassen, Gläsern und einer Kaffeekanne, Wasserflasche und Schale mit Granatäpfeln und türkischen Pistazien darauf. Auf dem Tisch lagen auch eine Zigarettenpackung, Tageszeitung und Fibel mit Sinnsprüchen zum würdevollen Leben, zur Arbeitsethik, Gerechtigkeit, Familienbande, zum Vertrauen in Gott und dergleichen. Sein Vater saß am Tisch und blickte über die Geranien in den Steintöpfen zum Himmel und nach einer Weile zu den Bäumen neben dem Wohnblock und zum Gras nahe der Querstraße und dann blickte er zum Garagenkomplex und weiter links zu den Arbeiterblöcken. Die Blöcke lagen aschefarben mit unbeachtetem Anstrich und teils neu von der Genossenschaft saniert und gestrichen neben dem dunkelgrünen Park. Er blickte mit hübschen, hellbraunen Augen zu den Arbeiterblocks, die sich vor dem Balkon wie eine Stadt in der Stadt, mit den Arbeitern, Kriegsflüchtlingen, Abgedrängten, wie eine verschleierte und bleierne Welt vor ihnen etablierten. Er setzte sich auf den Stuhl neben seinen Vater. Zunächst goss er aus der Kaffeekanne beide Tassen voll und füllte dann beide Gläser aus der Wasserflasche. Sein Vater trank noch nichts und rauchte auch keine Zigarette. Vor sich hörten sie die Flügelschläge der Mauersegler, der abschwenkenden Vögel, die entlang der tiefer liegenden Balkone flogen und zum Sonnenflecken auf dem Gras und zu den Zäunen und dann wieder empor jagten und vor dem Dachgiebel des Wohnhauses und dem Balkon erneut umher schwirrten. Er blickte von den Mauerseglern zu seinem Vater auf dem Stuhl. „Wie ist es mit deinem Vater, kannst du dich genau an ihn erinnern?“ Er fragte ihn erneut, nachdem er auf das Porträt seines Großvaters gestiert hatte im Wohnzimmer, mit der hellbraunen Färbung des Gesichtes, den struppigen, stolzen Brauen, dem vollen Bart und länglichen-anmutigen, stolzen Profil, und ob er sich denn auch an seinen Vater erinnern konnte. Es waren ja über 40 Jahre her ... Sein Vater schaute ihn mit den besinnenden Augen an. Er erzählte ihm, dass er, nachdem er einige Zeit lang in Bursa mit den schönen grünen Plätzen gearbeitet hatte, und als Zimmermann nach Deutschland gekommen war (dies trug er auch in die Anforderungsformulare ein), über München nach Ostwestfalen mit dem Zug reiste, die erste Zeit gut überbrückt hatte, plötzlich eine telefonische Nachricht seiner älteren Schwester erhalten hatte wegen der Erkrankung ihres Vaters. Anfang der 70er flog er deshalb am nächsten Morgen über Düsseldorf zurück in den Südosten seines Geburtslandes. Er machte sich ernste Sorgen. Das Flugzeug landete in der Frühe in der Kaufmannsstadt Gaziantep, wo er bald an Hochhäusern, an einem Werbeschild, welches für ein Museum mit Werken des hethitischen Großreiches warb und an einer Zementfabrik und an den Läden mit den Händlern vorüber fuhr, später Verwandte, einen Lehrer für Chemie und Beamten der Stadtverwaltung, besuchen würde, denn die wichtige Visite stand an: In der etwa 15 Kilometer außerhalb liegenden Siedlung ging er am hellgrünen Bogen der Silberpappeln und am Pferdeschuppen entlang, dann gelangte er endlich, es hatte einen starken Regen in den letzten Tagen gegeben, über einen nassen Steinpfad und den teils schlammigen Weg zum Haus seines Vaters, der im Sterben lag und einige Stunden später im Krankenhaus untersucht wurde. „Es tut mir sehr leid, die Untersuchungen zeigen, dass es wieder innere Blutungen gab“, sagte der Arzt im Anteper Krankenhaus zu ihm. „Ihr Vater hat nach dem Unfall im vergangenen Jahr viel Blut gespuckt und Kraft verloren. Wir haben viele Maßnahmen getroffen in den letzten Monaten, aber der Gesundheitszustand hat sich nicht verbessert." Dann hielt er ihn am Arm fest und drückte sein Mitempfinden und Bedauern aus, aber die medizinisch (...)