Er war von der Kaserne zu seinem Vater in die etwa acht Kilometer entfernte westfälische Stadt gefahren und hatte den Wagen nahe eines Parks abgestellt, durch den er schritt. Entlang einiger Reihenhäuser mit säuberlichen, menschenleeren Gärten und nach weiteren knapp Hundert Metern des Gehens entlang eines ehemals ausgestorbenen Wohngebäudes, in dass nun einige Familien, die dem begonnenen Krieg in dem entfernten Land entflohen waren, einzogen und an heruntergekommenen Garagen vorübergehend, schritt er bald in eine Seitengasse. Dann gelangte er über einen dünnen Weg zwischen weiteren Mietshäusern mit Arbeiterfamilien, viele Wohnungen derweil im Privatbesitz und entlang an Bäumen und Zäunen zum Wohnblock seines Vaters. Der Wohnblock lag in einer Arbeitergegend. Er ging hinauf. Er schnürte seine Stiefel auf, vor dem Flurschrank der Eigentumswohnung und dann begrüßte er seinen Vater, der aus der Küche schritt.
„Lass uns auf den Balkon hinaus, mein Sohn. Ich habe ein Tablett mit Getränken vorbereitet.“
"Gut."
Dann war er von der Küche, wo er eine Pfirsichsaft-Flasche aus dem Kühlschrank nahm und etwas trank, durch das Wohnzimmer an dem Porträtbild seines Großvaters entlang geschritten und zum Balkon hinaus gegangen.
Er setzte sich an den Tisch mit zwei Tassen, Gläsern und einer Kaffeekanne, Wasserflasche und Schale mit Granatäpfeln und türkischen Pistazien darauf. Auf dem Tisch lagen auch eine Zigarettenpackung, Tageszeitung und Fibel mit Sinnsprüchen zum würdevollen Leben, zur Arbeitsethik, Gerechtigkeit, Familienbande, zum Vertrauen in Gott und dergleichen. Sein Vater saß am Tisch und blickte über die Geranien in den Steintöpfen zum Himmel und nach einer Weile zu den Bäumen neben dem Wohnblock und zum Gras nahe der Querstraße und dann blickte er zum Garagenkomplex und weiter links zu den Arbeiterblöcken. Die Blöcke lagen aschefarben mit unbeachtetem Anstrich und teils neu von der Genossenschaft saniert und gestrichen neben dem dunkelgrünen Park. Er blickte mit hübschen, hellbraunen Augen zu den Arbeiterblocks, die sich vor dem Balkon wie eine Stadt in der Stadt, mit den Arbeitern, Kriegsflüchtlingen, Abgedrängten, wie eine verschleierte und bleierne Welt vor ihnen etablierten. Er setzte sich auf den Stuhl neben seinen Vater. Zunächst goss er aus der Kaffeekanne beide Tassen voll und füllte dann beide Gläser aus der Wasserflasche. Sein Vater trank noch nichts und rauchte auch keine Zigarette. Vor sich hörten sie die Flügelschläge der Mauersegler, der abschwenkenden Vögel, die entlang der tiefer liegenden Balkone flogen und zum Sonnenflecken auf dem Gras und zu den Zäunen und dann wieder empor jagten und vor dem Dachgiebel des Wohnhauses und dem Balkon erneut umher schwirrten.
Er blickte von den Mauerseglern zu seinem Vater auf dem Stuhl.
„Wie ist es mit deinem Vater, kannst du dich genau an ihn erinnern?“
Er fragte ihn erneut, nachdem er auf das Porträt seines Großvaters gestiert hatte im Wohnzimmer, mit der hellbraunen Färbung des Gesichtes, den struppigen, stolzen Brauen, dem vollen Bart und länglichen-anmutigen, stolzen Profil, und ob er sich denn auch an seinen Vater erinnern konnte. Es waren ja über 40 Jahre her ... Sein Vater schaute ihn mit den besinnenden Augen an. Er erzählte ihm, dass er, nachdem er einige Zeit lang in Bursa mit den schönen grünen Plätzen gearbeitet hatte, und als Zimmermann nach Deutschland gekommen war (dies trug er auch in die Anforderungsformulare ein), über München nach Ostwestfalen mit dem Zug reiste, die erste Zeit gut überbrückt hatte, plötzlich eine telefonische Nachricht seiner älteren Schwester erhalten hatte wegen der Erkrankung ihres Vaters. Anfang der 70er flog er deshalb am nächsten Morgen über Düsseldorf zurück in den Südosten seines Geburtslandes. Er machte sich ernste Sorgen.
Das Flugzeug landete in der Frühe in der Kaufmannsstadt Gaziantep, wo er bald an Hochhäusern, an einem Werbeschild, welches für ein Museum mit Werken des hethitischen Großreiches warb und an einer Zementfabrik und an den Läden mit den Händlern vorüber fuhr, später Verwandte, einen Lehrer für Chemie und Beamten der Stadtverwaltung, besuchen würde, denn die wichtige Visite stand an: In der etwa 15 Kilometer außerhalb liegenden Siedlung ging er am hellgrünen Bogen der Silberpappeln und am Pferdeschuppen entlang, dann gelangte er endlich, es hatte einen starken Regen in den letzten Tagen gegeben, über einen nassen Steinpfad und den teils schlammigen Weg zum Haus seines Vaters, der im Sterben lag und einige Stunden später im Krankenhaus untersucht wurde.
„Es tut mir sehr leid, die Untersuchungen zeigen, dass es wieder innere Blutungen gab“, sagte der Arzt im Anteper Krankenhaus zu ihm.
„Ihr Vater hat nach dem Unfall im vergangenen Jahr viel Blut gespuckt und Kraft verloren. Wir haben viele Maßnahmen getroffen in den letzten Monaten, aber der Gesundheitszustand hat sich nicht verbessert." Dann hielt er ihn am Arm fest und drückte sein Mitempfinden und Bedauern aus, aber die medizinischen Befunde seien eindeutig.
„Euer Gebet wird Euch begleiten, weil wir Euch keine schöne Nachricht geben können hinsichtlich des Gesundheitszustands Eures Vaters.“
Er schloss das Ärztezimmer. Elegisch schritt er in das Krankenzimmer zu seinem Vater, der neben einem erkrankten Fischer, der sonst vor der Küste Iskenderuns fischte, und einem Lazaretthelfer, der nahe des bergigen, hübschen Umlands gearbeitet hatte, stationiert wurde. Er hockte sich an das Bett seines Vaters, der ihn bat, das er ihn noch einmal auf den Flur trage und vor der Krankenstätte herum führe. Dann flüsterte er ihm zu: „Sei gut zu Deiner Elif und achte darauf, dass es Dir, der Frau und Euren Zwillingssöhnen gut geht, auch wenn Du in einem anderen Land lebst, sollt Ihr nicht wegen einander trauern und unglücklich sein. Möge Gott Euch und Euren Familienherd immer glücklich segnen.“
Er nickte und brachte ihn bald hinauf. Am nächsten Nachmittag verstarb sein 82-jähriger Vater. Er trauerte neben seiner Schwester Hani und den zwei Brüdern im Haus seines Vaters, in das auch die Familien des Dorfes eilten.
Am darauffolgenden Mittag saß er im blassen Sonnenschimmer, der durch die zwei Fenster des Wohnzimmers floss, neben seinen beiden Brüdern: Sein älterer Bruder hatte in einem Unternehmen für Olivenerzeugnisse in Adana gearbeitet, sein jüngster Bruder war Lehrer für Kunst und Geschichte in Dersim geworden und reiste erneut mit der Ehefrau an. Alle versammelten sich im Wohnzimmer, teils unter einem Bild an der Wand mit der Landschaftsskizze des Euphrats mit Booten, zwei Silberpappeln am Ufer, lichtlosen und goldenen Weizenfeldern vor dem in der Ewigkeit und Unerreichbarkeit verfließenden Horizont. Unweit der Relikte verstaubter Fürstenburgen aus der osmanischen Zeit und den Löwenreliefs aus der antiken, reichen Ära der Hethiter oder mesopotamischen Ära. Aus der Stadt und dem Umland kamen sie zusammen. Die Frauen weinten, wehklagten und vollführten Trauergesänge, die Nachbarn, Familie, der verwandte Chemielehrer, ein Beamter der Stadt Antep, der Holzfabrikunternehmer Ismael Bey, der befreundete, tscherkessische Postangestellte, einige Holzfabrikarbeiter, ein Cafemitarbeiter, einfache Leute aus der Stadt, Fabrikarbeiter und einige Ältere der Siedlung, ein hochgewachsener, türkisch-kurdischer Verwaltungsangestellter der Wasserwerke und ein Anwalt, der ein Cousin war, und die aus einer Nachbarstadt kamen, trauerten und überreichten ihre Beileidsbekundungen. Jener alte Mann hatte zehn Jahre wegen einem Grundstücksstreit und Delikt gegenüber einem anderen Dorfbewohner gesessen, der sich ihren Grundbesitz vereinnahmen wollte, ohne unterstützenden Papieren und Gerichtsbeschlüssen, und war dann zurück in die schöne, karge Siedlung mit den Pappeln und Pistazienbäumen im Umland Anteps gekommen. Dort hatte er in einer im Umland siedelnden Holzfabrik gearbeitet, war viele Jahre frühmorgens mit dem Wagen entlang der Weizenfelder, Granatapfelbäume, Pistazienbäume, Zementfabriken, Ausstellungsorte mit den hethtischen Reliefs und wechselnden, rauen Landstreifen zur Fabrik gefahren. An den Samstagen hatte er Landwirtschaftsprodukte, zudem etwas Holz des Umlands verkauft und hatte später weiter nördlich in einem Kohlebergwerk gearbeitet. Obwohl die Verwandtschaft in der Händlerstadt Antep verwurzelt war und ihm sagten er solle in einer der Fabriken dort arbeiten, lehnte er ab. Er mochte das Umland mit den Pappeln, Pistazienbäumen und rauen, kargen Zügen der Erde nahe des Euphrat. Auf diese Weise hatte er seine Familie in der kargen, stolzen Siedlung ernährt, erinnerte er sich, während er die meisten Jahre in der Holzfabrik arbeitete oder das Holz auf einem Laster verlud und in die nächste Stadt oder auch nach Antep brachte. Er blickte seinen Vater an, der mit weinenden Augen und elegischem Gesicht von seinem Großvater, dem auftauchenden Patriarchen des schönen Landes am Euphrat, nahe der Kaufmannsstadt und jener vergangenen Welt erzählte. Sie saßen noch eine Weile wortlos auf dem Balkon. Vor dem Dachgiebel des Hauses flogen die Segler umher. Er hatte noch immer das Porträtbild seines Großvaters vor Augen, das neben einem Landschaftsbild und einer Uhr aus Istanbul mit dem Bild des Haydar Pascha Bahnhofs hing.
„Hätte ich dich nicht fragen sollen?“, fragte er seinen Vater. Er spürte seine ernste und plötzliche Elegie.
„Natürlich konntest du mich danach fragen.“
„Ich meine, es ist vielleicht anders für dich nach langer Zeit und in diesem Land an ihn zu denken.“
„Es war vieles fort, aber ich spüre es auch in diesem Land, wie er war. Er wollte, dass ich die Chance nutze, den Schritt ins Ausland wage, dieses aufstrebende, wirtschaftsstarke Deutschland reise und etwas unternehme.“
Er bejahte es, trank etwas aus der Kaffeetasse und betrachtete das weißbärtige Gesicht seines Vaters mit den grünbraunen Augen und winzigen Leberflecken, die an der Stirn kringelten und vor den grauweißen Haaransätzen der Schläfen. Er beobachtete sein Gesicht, die sauberen Linien seines weißen Bartes, seine Ohren und sauberen Partien der Wangenknochen, auf die er bei den morgendlichen Waschungen und Rasuren äußerst penibel achtete und dessen Profil und Ausdruck nun etwas sehr Würdevolles und Schweres annahm. Er spürte die Trauer wie etwas Großes und Wundervolles. Sein Vater blickte manchmal zu ihm. Er verschränkte seine Arme auf seinem Bauch und trank dann etwas vom Wasser. Wohl möglich mag er dieses seltsame, schwere, reine Gefühl in diesen Sekunden, dachte er, als er beim Trinken erneut zu ihm schaute. Es ist etwas des tiefen, reinen, verwundenden Lebens, des schönen und verwundenden Lebens. Sie saßen einige Zeit auf dem Balkon der vom Vater vor knapp neun Jahren erworbenen Wohnung, etwas ihm Ruhmvolles und Wichtiges aus dem Ersparten der 35-jährigen Tätigkeit als Dreher im Metallunternehmen, und blickten zu den Arbeitersilos mit den teerschwarzen, hohen Dächern und zu dem Park unter dem blaugrauen Himmel. Nach einer Weile erhob sich sein Vater vom Stuhl und wollte nicht mehr an das Leid und Schwere denken, dachte er.
„Bevor du dich wieder in der Kaserne meldest, sollten wir etwas essen“, sagte sein Vater. Er habe gebratenes Putenfleisch, Bulgur und Brot im Ofen. Sie könnten es aufwärmen und gemeinsam essen. Sein Vater schritt in die Küche, er folgte ihm und legte mit seinem Vater die Teller und das Besteck auf dem breiten Tisch aus und sie aßen bald am Tisch. Es gefiel ihm an diesem Tag. Er mochte es mit seinem Vater an diesem frühen Nachmittag zusammen zu sein. Ehe er sein Mädchen traf am Nachmittag und dann wieder in die Kleinstadt zur Kaserne aufbrechen würde.
© Deniz Civan Kacan
Texte: Deniz Civan Kacan
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2012
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