Deniz Civan Kacan
An reicher und entbehrender Erde
- Belletristik
- Deutsch
- 6691 Wörter
- Ab 16 Jahren
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Etwa zwei Stunden zuvor war ein schwerer, harter Himmel mit Gewittern, Blitzen, Hagel über der
Stadt niedergegangen. Er hörte auf der Pritsche das Hagelprasseln und die Orkanböen über dem Platz im Hofinneren vor dem Gebäudetrakt tosen.
Draussen wäre es herrlich gewesen, all dem zuzuhören, dem Regen, dem Hagel, den Gewittern im Himmel, dachte er. Manchmal erblickte er das grelle Zucken der Blitze, die sich in der Ferne abbildelten und den Himmel über der Ebene jenseits der Wachtürme und Mauer aufleuchten liessen wie ein riesiger Blitzapparat eines Fotografen. Wie herrlich wäre es, all das bei einem Bier in einer Taverne oder Bar zu sehen, zu hören, den Regen, den Hagel, die vorüberrollenden Gewitter. Die starken Unwetter prüften wohl die Ordnung in der Welt. Er spürte das harte Unwetter, dass durch die Straßen in der Welt und Freiheit jenseits der Mauer zog, und man spürte das Rasen des Regens und den Hageltrommel in der Ebene hinter den Wachtürmen. Bald werde ich auch endlich wieder an jener Ebene und Erde der Welt sein, hinter diesen verdammten Wachtürmen, dachte der Mann und Insasse, der etwa 19 Monate zuvor zur Haft verurteilt worden war. Er blickte kurz wieder auf den leeren, von dem Regenwasser gefluteten und jetzt von nur einem Flutlichtstrahler beleuchteten Gefängnishof und dann zum Stacheldraht entlang der Mauer. Der Mond befand sich farblos und grau über der Welt und Haftanstalt. Man hörte den schweren Regen auf dem Platz, Gemäuer, der Erde. Dann legte er sich auf das Bett und versuchte zu schlafen. Es verging eine Stunde. Als er wach wurde, bemerkte er die Stille und den Dunst der Nacht. Der Regen hatte aufgehört.
Drinnen auf dem Bett lag der 32-Jährige und ehemalige Sicherheitsmann einer Geldtransportfirma. Etwa 19 Monate zuvor war er verurteilt worden wegen des Raubs von Geldkoffern aus einem Geldtransporter im Süden der Republik. Erbeutet hatte er dabei wohl 1–2 Millionen Euro. Etwa 80 % des Geldes waren nicht zum Unternehmen zurückgekehrt und der Verbleib war von der leitenden Polizeidienststelle bislang nicht ausfindig gemacht worden. Er war in einer kläglichen, stillstehenden Welt, in der dreckigen Zelle eingesperrt seit vielen Monaten, beinahe zwei Jahren. Die Freiheit, der selbstbestimmte Raum und der weite Raum in der Welt, die Ungebundenheit als entlassener, freier Mann sollten noch nicht Wirklichkeit werden. Aber bald würde er wieder frei und unabhängig in der Welt sein, dachte er all die Zeit. Bald würde er wieder frei sein. An der neuen Erde wieder etwas errichten, hoffte er. Eine Zelle weiter würde der Insasse noch länger sitzen. Jener Mann hatte die Wohnung eines Beamten des Zollamtes betreten, ausgeraubt und war später wegen hinterlassener Fingerabdrücke überführt worden. Er würde immerhin bald nicht mehr den Schritten der Aufseher auf dem Flur lauschen müssen, sondern die Welt vor dem Eingangsabschnitt des Gefängnisses betreten. Er war kein Beamter geworden, kein Gewerkschafter und Unternehmer, aber mit den neuen Chancen eröffneten sich die Chancen zum Unternehmertum, dachte er beim Blick zur Ebene jenseits der Wachtürme. Hinter der Dunkelheit und der Scheidelinie waren die Straße zur Stadt, Bäume und ein Roggenfeld am Parkrand, stellte er es sich bei Tage kurz vor, daneben ein Rapsfeld und irgendwo in der Ebene Landarbeiter, die ihre Erde bewirtschafteten. Auch ich will meine neue Erde bewirtschaften, Neues und Gutes säen und ernten. Möge es frei von Entbehrungen und harten Tagen sein, sagt er sich mit einem Lächeln, dass sich in ein gealtertes, härteres Gesicht nun gräbt. Schon bald wird es an dieser Erde vorwärtsgehen, und statt Enge, Leid, Schmutz auf mich und meine Frau eine neue Immobilie, Glück, eine bessere Gesellschaft warten. Nicht die Welt der wegen Überfällen oder Erpressung vorgeladener Leute. Bessere Leute und Tage warten, hoffte er. Seit jenem Tag des Raubzugs verfügte er über ein ansehnliches Vermögen. In sechs Monaten frühestens, vielleicht in einem Jahr würde er auf ein starkes Vermögen, wie ein erfolgreicher, reicher Mann der Oberschicht, zurückgreifen. Hoffentlich würde sich alles zum Besseren im Leben verändern. Investitionen in ein Restaurant, in eine großräumige Altbauwohnung im bürgerlichen, gutsituierten Viertel oder in ein Haus, ein gesellschaftlicher Aufstieg und mehr Prestige, dachte er, warteten. Er würde nicht mehr wegen Erpressung oder Betrugs armen Vorgeladenen begegnen, oder derart, sondern Reichen, vielleicht auch reichen Vorgeladenen, dann Grundstückseignern, Gesellschaftsgrößen, dem oberen Gesellschaftsdrittel. Er hatte das begangene Unrecht in der Haft absitzen müssen und wohl genügend Wiedergutmachung geleistet, dachte er. Gott sei Dank war er nicht gebrochen oder wie zu Tode geschunden worden, aber es war eine verachtende Zeit an dieser Stätte der Welt gewesen mit (...) [mehr][weniger]
Stichwörter: Kriminalität Gefängnis Neue Erde und Chancen Hiob, Recht und Unrecht Sühne Ordnung
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