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Prolog

 

„Das wird der absolute Hammer. Mit dir an meiner Seite kann in meinem Leben gar nichts mehr schief gehen, oder? Wir bekommen die besten Jobs, kaufen uns ein riesiges Haus und ein teures Auto. Dann kaufen wir uns einen Hund und bekommen drei Kinder...“

„Drei Kinder?“, fiel ich ihm schmunzelnd ins Wort.

„Das ist das einzige, was du seltsam findest?“ Er zog mich näher an sich und küsste sanft meinen Hals, was bei mir eine Gänsehaut hervorrief. Ich gab ihm einen Kuss auf die Brust und drückte ihn dann sanft von mir ab, um ihm direkt in die Augen zu blicken.

„Ich bin so froh, dass du an unsere Zukunft glaubst.“

„Natürlich tu' ich das, Cathy. Du bist alles was ich habe und alles was ich haben will.“ Wir tanzten in der sanften Brise die Tanzfläche entlang und in seinen Armen fühlte es sich an, als würde ich schweben. Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, ich besäße Flügel, die mich durch die tanzenden Mitschüler trugen.

„Aber wenn ich nach Vermont gehe, dann sind wir so weit voneinander entfernt. Hältst du das so lange aus?“

„Natürlich halte ich das aus, Cathy. Ich habe dir doch schon so oft gesagt – ich will doch niemand anderen als dich.“

„Aber das hat Willy auch zu Monica gesagt und dann hat er sich von ihr getrennt...“

„Bin ich Willy? Bist du Monica? Nein. Es ist etwas völlig anderes. Er hat sie angelogen, ganz einfach. Aber ich verspreche dir, dass ich dich nicht anlüge. Und ich weiß auch, dass du das weißt.“

„Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Bitte sei kein Willy.“

„Wenn ich ein Willy wäre, würdest du mich doch überhaupt nicht lieben.“

„Das stimmt.“ Vor Freude über sprühend unterbrach ich unseren Tanz und zog ihn an den Rand der Tanzfläche. Ich fiel ihm um den Hals und gab ihm unzählige Küsse auf die Wange, die Schläfe und die Stirn. Seine Worte konnten Gefühle in mir auslösen, die nichts anderes auf der Welt hätte bewirken können. Jedes Mal, wenn er sich dazu hinreißen ließ mir zu sagen, wie sehr er mich liebte und wie froh er war mich zu haben, löste das in mir ein Feuerwerk aus. Immer wieder ein kleines, welches mir Gänsehaut verschaffte und mich in eine andere Welt eintauchen ließ, ohne Probleme, nur mit unserer Liebe.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich ihm ins Ohr. Er drückte mich fest an sich und sagte leise: „Ich dich auch, meine Cathy.“

Ein ruhiges, sentimentales Lied wurde angestimmt und die anderen begannen sich langsam im Takt zu bewegen. Auch wir wiegten uns sanft hin und her und fühlten uns einfach nur glücklich, erfüllt und sorglos. Es sollte wohl der schönste Abend meines Lebens sein.

 

 

Kapitel 1

1.

 

Ich öffnete die schwere Tür und warf einen flüchtigen Blick in das Zimmer – und er reichte mir tatsächlich schon vollkommen aus. Nach dem langen und anstrengenden Flug nach Vermont hätte ich am liebsten einfach wieder die Tür zugeschmissen und wäre zurück nach Hause gefahren. Doch ich atmete tief durch, schloss kurz die Augen und sammelte die letzten Fünkchen meiner ausgeschöpften Energie zusammen. Ich nahm meinen Koffer und ging vorsichtig hinein. Plötzlich entdeckte ich ein Mädchen fröhlich auf einem Bett sitzen. Sie lächelte mich an und winkte mir zu, als würde sich eine größere Distanz zwischen uns befinden.

„Hey“, stammelte ich perplex. Ich hätte eigentlich erwartet, allein auf dem Zimmer zu sein.

„Hey“, meinte das Mädchen. Sie hatte lange braune Haare, die teilweise zu dünnen Zöpfen geflochten waren. Daran waren Perlen angebracht, die sie irgendwie freundlich und gleichzeitig ein bisschen verrückt wirken ließen. Während sie mich musterte, kaute sie einen Kaugummi, schaute mir dann wieder in Augen und meinte: „Ich bin Amber.“ Dabei streckte sie eine Hand aus und erwartete wohl, dass ich diese ergriff, um sie zu begrüßen. Ich kam dem also nach und meinte zurückhaltend: „Ich bin Cathy.“

„Schöner Name.“ Sie lächelte. „Bist du ganz neu hier?“

„Ja, heute ist mein erster Tag“, antwortete ich und stellte den Koffer neben dem noch nicht bezogenen Bett ab. „Und wie lange bist du schon hier?“

„Ich bin schon ein Jahr hier. Letztes Jahr hatte ich eine schreckliche Mitbewohnerin. Sie hat ständig geraucht, weswegen ich das Zimmer wechseln und hierher kommen durfte. Außerdem waren ständig Jungs auf unserem Zimmer – keine Ahnung, wo sie die alle auf gegabelt hat. Naja – dementsprechend froh bin ich, dass du normal aussiehst.“

„Schön zu hören, dass ich normal aussehe“, meinte ich lächelnd und legte meinen Koffer auf den Boden, um ihn zu öffnen.

Als ich begann meine Sachen auszuräumen und in den leeren Schrank zu legen, fragte Amber neugierig: „Woher kommst du eigentlich? Und wieso bist du jetzt auf unserer Schule?“

Ich atmete einmal kurz durch. Man konnte sich sicherlich gut mit Amber unterhalten, aber am liebsten hätte ich mich einfach aufs Bett geworfen und geschlafen. Ich war schrecklich müde und ausgelaugt, doch ich wollte nicht unsympathisch wirken. Also beschloss ich, noch kurz mit Amber zu reden, bevor ich mich hinlegte.

„Ich komme aus Florida – und der Weg hierher war wirklich schrecklich. Ich hasse das Fliegen, am liebsten wäre ich einfach mit dem Auto hierher gefahren. Auch, wenn das einen ganzen Tag in Anspruch genommen hätte.“

„Florida?“, kreischte Amber und hüpfte begeistert auf dem Bett auf und ab. „Meine Zimmernachbarin ist aus Florida! Ich liebe Florida... Es ist so toll dort. Wie kommst du auf die absurde Idee, von Florida nach Vermont zu kommen?“

„Vermont ist auch schön“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Und wenn man sein ganzes Leben an einem Ort verbringt, dann kann er noch so schön sein und man verliert irgendwann dennoch das Interesse daran. Irgendwann ist alles normal, Alltag, nichts besonderes mehr. Aber ich vermisse mein zu Hause natürlich trotzdem. Nicht zuletzt, weil da mein Freund lebt. Meine Eltern haben hier neue Jobs gefunden und sind kurzerhand hierher gezogen. Ich hatte nicht einmal mehr zwei Monate Zeit mich damit abzufinden, dass mich und meinen Freund von nun an gut 1500 Meilen trennen.“

„Oh, das tut mir Leid für dich“, meinte Amber und stand nun auf, um zu mir herüber zu kommen. Offensichtlich hatte sie bemerkt, dass mir Tränen in den Augen standen und sich vor Trauer eine Gänsehaut auf meiner Haut ausbreitete.

„Ist schon okay“, flüsterte ich, als sie mich in den Arm nahm. „Nach der Schule hätten wir vermutlich sowieso an unterschiedlichen Universitäten weitergemacht. Dann wären wir auch voneinander getrennt gewesen.“

„Und wenn ihr beide wirklich für einander bestimmt seid, dann überwindet ihr auch diese Distanz. Ihr müsst nur ein wenig durchhalten.“

Ich nickte. „Er hat es mir versprochen. Er hat mir versprochen, dass er bei mir bleibt, auch wenn wir uns längere Zeit nicht mehr sehen. Am Ende des letzten Schuljahres wurde ein Ball veranstaltet. Es war wunderschön. Wir haben getanzt und genossen, beieinander zu sein und da wurde mir wieder klar, dass ich nichts anderes mehr möchte. Ich will nur noch bei ihm sein. Und er hat mir versichert, dass er nur noch mich will.“

Ich schaute auf, selber von mir überrascht, dass ich einer fast vollkommen fremden Person das alles auf Anhieb erzählte. Aber Amber hatte etwas sehr vertrauenswürdiges und verständnisvolles an sich. Als ich ihr nun in die Augen blickte, waren die ihren ebenfalls gerötet und dicke Tränen kullerten ihre Wangen hinab. „Das ist so süß“, wisperte sie. „Und es tut mir so Leid für dich.“

„Wieso weinst du denn?“, fragte ich sie und hob eine Hand, um ihr freundschaftlich die Tränen aus dem Gesicht zu streichen.

„Ich glaube, jetzt weiß ich, wieso meine Beziehung nicht gehalten hat, nachdem ich hierher kam.“

„Hat sie nicht?“, fragte ich erstaunt und machte mir sogleich Sorgen, bei mir könne es genauso enden.

„Nein, hat sie nicht. Denn ich hatte nie solche Gespräche mit meinem Freund. Er hat mir nie gesagt, wie wichtig es sei, dass ich bei ihm blieb. Ganz im Gegenteil, wir haben kaum darüber geredet, dass ich an ein weit entferntes Internat gehe. Irgendwann war es so weit und wir haben uns einfach damit abgefunden. Doch anscheinend war unsere Liebe auch einfach nicht groß genug – ich habe nicht um ihn geweint, auch, wenn ich es gerne getan hätte. Offensichtlich war es keine wirkliche Liebe. Denn wenn es wirklich Liebe gewesen wäre, dann wäre ich so traurig und zerstört gewesen wie du jetzt.“

„Vielleicht unterscheiden sich die Gefühle von Person zu Person. Vielleicht habt ihr euch geliebt, aber-“

„Es ist schon okay. Du musst mir diese Beziehung nicht gut reden. Ich habe damit abgeschlossen.“ Amber wischte sich selbst die letzten Tränen aus dem Gesicht und stand dann auf. Mit gerötetem Gesicht ging sie zum Spiegel und fummelte dann an ihren Haaren herum, offenbar um sich irgendwie abzulenken.

„Ich wollte dich nicht herunterziehen, Amber. Es tut mir Leid.“ Natürlich fühlte ich mich auf eine Art mies, weil ich sie gerade traurig gemacht hatte. Andererseits war ich aber auch froh über das Gespräch. Denn nun fühlte ich mich ein wenig erleichterter, von meinen Sorgen befreit und nicht mehr so allein wie vorher. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, dass Amber und ich gute Freundinnen werden konnten und dass uns irgendetwas verband.

„Es ist nicht schlimm. Manchmal tut es gut, zu weinen. Einfach mal alles herauszulassen, was ich so lange in einem angestaut hat.“

 

 

 

Ich hatte schon immer Angst vor neuen Dingen. Das Gewohnte, Altbekannte und Liebgewonnene war mir am liebsten. Veränderungen waren nichts für mich und sollten am besten niemals passieren. Doch nun waren sie passiert – und zwar gewaltige. Ich hatte mein zu Hause verlassen und war an einen vollkommen neuen Ort gezogen. Hier lebte ich nun in einem Internat, was nochmal neu für mich war. Noch nie in meinem Leben hatte ich ohne meine Eltern gelebt, noch nie in meinem Leben war ich auf eine Weise so unabhängig gewesen. Die Erzieher kontrollierten nur einmal abends die Zimmer und vertrauten dann auf unsere Vernunft. Demnach konnten wir nach dieser Kontrolle eigentlich tun, was wir wollten. Es kontrollierte also niemand mehr, wann ich wieder auf meinem Zimmer erschien, solange ich mich erst nach der Kontrolle nach draußen begab. Und diese seltsame Freiheit war mir irgendwie zuwider. Ich wusste nicht, ob ich mich gut und unabhängig fühlen sollte, oder einfach nur einsam und verloren. Als würde niemand mehr für mich da sein, als würde sich niemand um mich sorgen und als würde ich ganz allein auf dieser großen Welt sein.

Heute, nur zwei Tage nach meiner Ankunft, stand erneut etwas Neues an. Ich sollte zum ersten Mal den Unterricht besuchen und somit eine komplett neue Klasse kennenlernen. Das einzige, was mich bei der Vorstellung beruhigte, alle könnten mich seltsam beäugen, war, dass ich vermutlich nicht alleine war – einerseits waren doch höchstwahrscheinlich noch andere Neuankömmlinge, die den anderen genauso unbekannt waren wie ich. Andererseits hatte ich Amber, mit der ich mich wirklich gut verstand und trotz der kurzen Zeit schon fast Freundin nennen wollte.

Ich starrte an die Decke, aufgeregt und nicht mehr in der Lage, noch eine Weile die Augen zuzumachen, als ich sie laut auf schnarchen hörte. Im nächsten Moment saß sie kerzengerade in ihrem Bett und atmete hektisch ein und aus.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte ich schlaftrunken. Obwohl ich nun schon eine Weile lang wach dalag, waren meine Stimmbänder noch immer vom Schlaf eingerostet.

Sie schaute panisch zu mir hinüber, erblickte mich dann und packte sich dann ans Herz. Sich entspannend fiel sie zurück auf ihr Bett und sagte dann schwer atmend: „Erschreck' mich doch nicht so, Cathy!“ Offensichtlich hatte sie nicht erwartet, direkt nach ihrem Aufwachen eine Stimme zu vernehmen.

Ich kicherte kurz. „Entschuldige. Ich wollte mich nur nach deinem Wohlergehen erkundigen.“

„Ist schon in Ordnung. Ich hatte einen richtig üblen Albtraum. Wurde von meinem Exfreund verfolgt und bin dann einen riesigen Abgrund hinuntergefallen.“ Erleichtert wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich dann auf die Seite, um mich anzuschauen. „Wieso bist du eigentlich schon wach?“

Ich zuckte liegend mit den Schultern. „Ich bin wohl ein bisschen aufgeregt. Immer, wenn ich nervös bin, kann ich einfach nicht schlafen.“

„Aufgeregt? Wegen der neuen Klasse, oder was?“

„Ja, genau. Ich weiß nicht, wie sie sind, ich weiß nicht, wie sie mich aufnehmen werden. Und die Lehrer kenne ich auch alle überhaupt nicht. Bisher sind die einzigen Personen, mit denen ich hier gesprochen habe, du und die Sekretärin am Tag meiner Ankunft.“ Man hätte vielleicht erwartet, dass ich am gestrigen Tag – einen Tag nach meiner Ankunft – mich mal umgeschaut und versucht hätte, Leute kennen zu lernen. Doch ich war so müde gewesen, dass ich fast den ganzen Tag einfach nur im Bett lag und faulenzte, döste und schlief. Ich hatte mich nicht einmal zum Essen aufgerafft, sondern hatte wahrhaftig den ganzen Tag im Zimmer verbracht. Das war eventuell auch ein Grund dafür, weswegen ich jetzt nicht mehr schlafen konnte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst sechs Uhr, also noch vier ganze Stunden, ehe der Unterricht begann.

„Du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen, Cathy“, meinte Amber dann beruhigend und streckte sich. „Was soll den schon passieren? Ich gehe nicht davon aus, dass einer von ihnen direkt auf Streit oder so etwas aus ist, dafür sind wir mittlerweile zu alt. Du wirst gut aufgenommen werden... und ansonsten hast du immer noch mich.“ Sie strahlte über beide Ohren und setzte sich dann auf. „Also, sich Sorgen zu machen macht doch alles nur noch schlimmer! Sei einfach ausgelassen und sei du selbst, dann kann gar nichts schief gehen.“

„Du hast leicht reden“, meinte ich lächelnd, doch ich war trotzdem dankbar, dass sie für mich da war.

„Du kannst nicht mehr schlafen, richtig?“, fragte sie dann mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich nickte. „Richtig erkannt.“

„Gut“, meinte sie dann freudig. Obwohl sie erst seit ein paar Minuten wach war, war sie viel munterer als ich. Sie warf ihre Beine über den Bettrand und sprang dann auf den Boden, um zum Schrank zu gehen und sich ein paar Klamotten herauszusuchen. „Dann erkunden wir jetzt mal die Umgebung für dich. Gestern warst du ja zu nichts zu gebrauchen.“

„Um sechs Uhr?“, fragte ich perplex.

„Morgens ist es so schön. Die Sonne geht auf, die Vögel beginnen zu zwitschern. Das Leben scheint wieder neu zu beginnen... Es ist die perfekte Uhrzeit, um rauszugehen.“

„Oder die perfekte Uhrzeit, um sich noch einmal ein bisschen auszuruhen. Sicher, dass du nicht mehr schlafen willst?“

„Ganz sicher.“

„Dann gib' aber nachher nicht mir die Schuld“, ich streckte mich kurz und stand dann ebenfalls auf, um mir Sachen aus dem Schrank zu holen, „wenn du im Unterricht müde bist.“

 

 

 

Nach einer Weile hatten wir uns fertig gemacht. Fertig geduscht und in frische Sachen geschlüpft verließen wir unser Haus. Die Zimmer hier waren alle in Häuser aufgeteilt, insgesamt gab es sechs davon. Ich wusste nicht, wie viele Zimmer ein Haus beherbergte, aber ich ging von circa zwanzig aus. Das würde bedeuten, dass um die 240 Schüler an diesem Internat lebten – es konnten aber durchaus auch mehr oder weniger sein.

Vor uns erstreckte sich ein großer Campus. Ein Weg führte von unserem Haus direkt zu einem Springbrunnen. Er war mit steinernen Bänken versehen und ich konnte mir vorstellen, dass zur Nachmittagszeit viele Schüler hier saßen und lernten, sich mit Freunden trafen und Spaß hatten. Es wirkte wie in einem Film und viel zu schön, um wirklich wahr zu sein. Trotzdem konnte ich das Gefühl nicht wirklich genießen – denn ich konnte es nicht mit ihm teilen.

Wir folgten dem Weg weiter – dabei passierten wir ein weiteres Haus – und bewegten uns auf eine größere Halle zu. Ehe ich aber fragen konnte, was sich darin verbarg, ergriff Amber das Wort.

„Du hast mir vorgestern gar nicht beantwortet, wieso du auf dem Internat bist. Klar, deine Eltern sind hierher nach Vermont gezogen. Aber warum lebst du nicht bei ihnen?“

„Meine Eltern haben sehr wenig Zeit für mich. Ihre Arbeit beansprucht sie sehr stark. Früher, als ich jünger war, blieb meine Mutter immer zu Hause. Doch als ich älter wurde und merkte, wie unglücklich sie war, ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen zu können, da habe ich ihr beteuert dass sie es doch wieder machen soll. Und ab diesem Zeitpunkt waren meine Eltern dann beide kaum noch zu Hause. Das hat mir aber nicht viel ausgemacht, denn zu dieser Zeit hatte ich meinen Freund bereits. Ich war also immer bei ihm und habe meine Zeit mit ihm verbracht. Allein deswegen hat sich meine Mutter auch dazu bereit erklärt, wieder arbeiten zu gehen. Weil ich jemanden hatte. Hier in Vermont habe ich aber niemanden. Und deswegen haben meine Eltern beschlossen mich auf ein Internat zu schicken. Damit ich eben nicht allein bin. Es hätte mir zwar nicht wirklich etwas ausgemacht, den Tag allein zu verbringen, aber wenn ich es mir recht überlege ist es doch schöner jemanden bei sich zu haben. Und in diesem Fall habe ich es ja gut erwischt – eine bessere Mitbewohnerin kann ich mir im Moment gar nicht vorstellen.“

„Oh“, machte Amber und umarmte mich kurz. Sie war allgemein ein sehr liebevoller Mensch, der diese Liebe auch gerne zeigte. Das hatte ich in der kurzen Zeit, die wir uns nun kannten, bereits gemerkt. „Ich bin auch froh, dich im Zimmer zu haben. Mit dir kann man echt toll reden und du scheinst auch nicht so zickig zu sein, wie manch andere Mädchen.“

„Das sieht mein Freund anders“, lachte ich. „Er meint, ich habe manchmal so Phasen, da bin ich eine richtige Oberzicke und total anstrengend. Also, wenn ich diese Phase mal habe, dann denk bitte immer daran dass sie auch wieder vorübergeht.“

„Okay, ich nehme mich in Acht“, meinte Amber lächelnd. Es war leicht zu erkennen, dass ihr Blick eine leichte Unsicherheit ausstrahlte, da sie nicht wusste, was sie erwarten würde.

„Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich diese Ader nur bei ihm auslebe. Weil er dafür mal herhalten kann“, sagte ich, um sie zu beruhigen. Doch sie winkte nur ab und gab mir das Gefühl, dass auch sie mit ein bisschen Zicken klarkommen würde. „Was ist eigentlich in der Halle da?“, fragte ich daraufhin und zeigte auf das Gebäude, dem wir uns näherten.

„Das kann man sich denken, oder?“, meinte sie und zog die Augenbrauen hoch. Normalerweise hatte ich nicht viel für Sarkasmus übrig und fühlte mich schnell dadurch beleidigt, außerdem kamen viele Leute durch dessen Anwendung sehr arrogant herüber. Doch Amber lächelte dabei, wodurch ich es ihr kaum übel nehmen konnte. „Das ist eine Turnhalle – na gut, nicht nur eine Turnhalle. Wenn irgendwelche großen Veranstaltungen sind, versammeln wir alle uns dort. Das Organisations-Team baut dort dann eine große Bühne und ganz viele Stühle und Bänke auf und schmückt alles hübsch aus, sodass es am Ende tatsächlich wie ein großer Konferenzraum oder so etwas aussieht.“

„Echt? Cool. Ich schätze mal, da sind Schüler in diesem Organisations-Team, oder?“

„Genau. Sie machen das ganze in ihrer Freizeit. Es ist keine Pflicht, sondern freiwillig, damit auch alle motiviert sind und sich nicht gedrungen und unengagiert fühlen. Man kriegt dafür nichts – außer die Gunst vieler Lehrer.“

„Gibt es auch noch andere 'Teams' dieser Art?“, fragte ich neugierig. Manchmal fragte ich mich, ob ich zu viele Fragen stellte. Doch ich tat diesen Gedanken schnell wieder ab, denn ich war neu hier und wahrscheinlich würde es jeder verstehen, wenn ich neugierig war.

„Klar, einige. Es gibt auch Nachhilfe-Gruppen. Dort sind dann gute Schüler, die schlechten Schülern unter die Arme greifen. Sie haben echt großen Erfolg. Dann sind da noch die Teams für die Feste und Partys, also die für die Dekoration, Organisation und alles zuständig sind.“

„Sind Partys hier erlaubt?“, fragte ich erstaunt mit hochgezogenen Augenbrauen.

Amber zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich nicht die Art von Partys die du gerade meinst. Da finden keine Saufgelage oder so etwas statt, davon bin ich auch überhaupt kein Fan. Oft sind es nette kleine Runden, wo man sich unterhalten und tanzen kann. Vielleicht hört sich das Wort Party zu aufregend und zu doll an. Aber wie soll man es sonst nennen?“

„Ich habe nichts gegen die Bezeichnung“, gab ich zurück. „Aber echt schön, dass es hier so etwas gibt. Und damit du nicht falsch von mir denkst – ich stehe auch nicht so auf Besäufnisse.“

Amber nickte und lächelte mir dann wieder zu. „Gut. Ansonsten gibt es noch Teams, die für den Garten zuständig sind. Für die Sauberkeit...“

„Für die Sauberkeit?“, fragte ich leicht empört und begann dann zu lachen. Amber stimmte in mein Gelächter mit ein.

„Ich kann verstehen, wieso dich das amüsiert“, meinte sie und hielt sich dabei vor Lachen den Bauch. „Du fragst dich bestimmt: Welcher Idiot meldet sich freiwillig für das Putz-Team?“

„Hast du gut erfasst“, antwortete ich und lehnte mich gegen die Wand der nun erreichten Turnhalle, um mich abzustützen.

„Das habe ich mich am Anfang auch immer gefragt“, meinte sie dann und hörte langsam auf zu lachen. „Aber es gibt nur sehr wenige, die das freiwillig machen. Die meisten werden einfach dazu gezwungen, wenn sie irgendetwas angestellt haben.“

„Oh je, die Armen. Diejenigen tun mir ja jetzt schon leid. Ist das nicht ganz schöne Ausnutze? Ich meine, man kann doch die Schüler nicht einfach dazu zwingen, den Dreck der anderen wegzumachen. Dafür gibt es doch wohl Putzkräfte, die auch bezahlt werden. Es ist deren Job.“

Amber zuckte mit den Schultern. „Das denke ich mir auch immer. Andererseits ist es wahrscheinlich eine ganz angenehme Strafe, wenn du bedenkst, dass es die anderen auch viel schlimmer treffen könnte. An anderen Internaten hast du dann zwei Wochen lang Hausarrest. Hier musst du stattdessen nur eine Stunde am Tag für das Putzen opfern.“

„Trotzdem stelle ich mir das nicht ganz angenehm vor.“

Wir gingen weiter den Weg entlang, der sich hier und dort gabelte und uns die Möglichkeit ließ, abzubiegen. Amber überließ mir die Entscheidung, wo wir lang gingen. Das Gelände war wirklich riesig. Es gab jede Menge zu entdecken, Sportplätze und Fußballfelder, einen kleinen Platz mit Podest in der Mitte, wo scheinbar ab und zu Proteste stattfanden. Einen Grillplatz mit Platz für bestimmt zwei Schulklassen. Die Häuser, welche die Schüler beherbergten, sahen auch alle unterschiedlich und doch auf eine Art einheitlich aus, was das gesamte Äußere des Campus' enorm aufwertete. Nachdem wir geschätzte zwei Stunden den Campus erkundet hatten – besser gesagt ich hatte ihn erkundet, Amber kannte ihn ja bereits in und auswendig – ließen wir uns an einer Mauer nieder. Die Sonne stand nun schon viel höher und sandte warme Strahlen in unsere Gesichter. „Meine Eltern haben sich ein gutes Internat ausgesucht, zumindest was das Aussehen anbelangt.“

„Siehst du. Da hast du dann nur noch ein tränendes Auge, oder?“

„Wie meinst du das?“, fragte ich verwirrt und runzelte die Stirn.

„Na ja, das hier ist dein neues zu Hause. Und wenn dein neues zu Hause so schön ist, dann ist es sicher leichter für dich, damit zurechtzukommen und dich damit abzufinden, oder etwa nicht?“

Ich schüttelte betrübt den Kopf. „Ich will kein Spaßverderber sein, aber das macht mich auch nicht wesentlich freudiger hier zu sein. Natürlich freue ich mich, dass es hier schön ist und dass es hier nette Leute gibt, zumindest dich. Aber ich vermisse auch unser altes Haus, meine alten Freunde und ihn. Ihn so sehr. Ich kann gar nicht mehr ordentlich denken.“

„Ich hatte das Gefühl, doch konntest etwas abschalten. Oder etwa nicht?“

„Doch, klar. Konnte ich. Doch auch wenn ich abschalte, dann muss ich immer noch an ihn denken.“

„Das geht schon vorüber.“

„Aber ich will nicht, dass es vorüber geht. Ich bin lieber unglücklich und vermisse ihn schrecklich, als dass er mir irgendwann einfach egal ist oder ich ihn im schlimmsten Fall nicht mehr liebe.“ Ich erkannte in Ambers Blick, dass sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. Also lächelte ich ihr einfach nur zu und meinte beruhigend: „Aber nur, weil ich ihn vermisse, heißt das ja nicht, dass ich hier keine schöne Zeit verbringen kann. Und irgendwann wird es dann auch so sein – ein weinendes und ein strahlendes Auge.“

.

 

 

Wir betraten ein großes Gebäude in der Mitte des Campus'. Amber erklärte mir, dass hier viele Unterrichtsstunden abgehalten wurden. In unserem Fall war es Mathe. Wir wussten beide noch nicht, welche Lehrerin uns erwarten würde, doch Amber schwärmte immer wieder von einer gewissen „Ms King“. Sie sollte angeblich eine ganz fabelhafte Mathelehrerin sein, die jedem beibringen konnte ihr Gelehrtes zu verstehen. Meine Erwartungen waren also hoch gesetzt und ich freute mich fast auf den Unterricht – da trat eine etwas dickliche Frau in den Raum, in dem wir uns niedergelassen hatten – und ein leises Raunen ging durch die Klasse. Das hörte sich nicht gut an. Abrupt drehte ich mich zu meiner neuen Freundin um und sie blickte mich an, als würde sie gleich anfangen zu weinen. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte sie wütend und schmiss einen Block aus ihrer Tasche auf den Tisch. „Wieso denn die und nicht Ms King?“

„Wer ist das? Und was ist mit ihr? Oder bist du einfach nur traurig, weil wir nicht Ms King bekommen haben?“

„Ja, ich bin traurig, weil wir nicht Ms King bekommen haben. Und, weil diese Frau die schrecklichste Mathelehrerin der Schule ist. War ja wieder klar – ich freue mich so auf meine Lieblingslehrerin und dann kriegen wir diese olle...“ Sie beobachtete die neue, dicke Lehrerin, wie sie sich an ihr Lehrerpult setzte und selbstgefällig die Arme vor der Brust verschränkte, als wäre sie uns in irgendeiner Weise überlegen. „Sie ist schrecklich.“ Und bevor Amber weiter ausführen konnte, weswegen diese Lehrerin mit deutlichem Oberlippenbart schrecklich war, ergriff sie das Wort und forderte alle Schüler zur Ruhe auf.

„An alle, die mich noch nicht kennen: Ich bin Mrs Flemming. Allerdings hatte ich mit den meisten von euch ja bereits das Vergnügen.“

„Ohja“, flüsterte Amber kaum hörbar. Dennoch erntete sie für die Bemerkung einen scharfen Blick der neuen Lehrerin.

„Ich unterrichte Mathe und Physik. Dann wollen wir mal beginnen.“ Sie drehte sich zur Tafel um und schrieb irgendetwas daran. Offenbar erwartete sie von uns, dass wir mitschrieben, also öffneten wir unsere Hefter und pinselten fein säuberlich alles ab, was sie uns zu 'vermitteln' versuchte. Nach einer Weile kam ich einfach nicht mehr mit und verstand nicht, wie sie auf ein Ergebnis gekommen war. Nicht zuletzt lag das daran, dass sie zu ihren Aufzeichnungen kein Wort verlor. Ich meldete mich also, doch da sie die ganze Zeit zur Tafel gewandt stand, bemerkte sie mich überhaupt nicht. Bis ich das Wort ergriff. „Mrs Flemming“, sagte ich vorsichtig. „Ich habe-“

„Was?“, schrie sie, ohne mich aussprechen zu lassen. „Willst du meinen Unterricht stören, oder was?“

„Nein“, meinte ich eingeschüchtert. „Nein, auf keinen Fall, tut mir Leid. Ich wollte nur fragen – ich habe da nämlich etwas nicht verstanden.“

Die Lehrerin kicherte leise, als wäre ich ein bisschen dumm und würde es deswegen nicht verstehen. Solche Arroganz machte mich immer wütend, ich musste mich also stark zurückhalten, um nicht ausfallend zu werden.

„Und zwar verstehe ich nicht ganz, wieso-“

„Frag das nach dem Unterricht deine Mitschüler“, meinte sie desinteressiert und wandte sich wieder zur Tafel.

„Aber Sie sind doch die Lehrerin“, entgegnete ich wahrheitsgemäß. Diese Aussage war nicht einmal böse oder aufmüpfig gemeint gewesen. Sie war einfach so herausgerutscht.

Diese Frau drehte sich mit grimmiger Miene und böse funkelnden Augen wieder zu mir herum und starrte mich eine Weile einfach nur an. Amber meldete sich erneut kaum hörbar zu Wort: „Beginne nie eine Diskussion mit ihr. Besser gesagt, rede einfach überhaupt nicht mit ihr.“

„Amber, sei leise!“, fauchte die Lehrerin, doch hielt immer noch mich mit ihren Augen fixiert. An mich gewandt sagte sie dann: „Ganz neu hier und schon so ein großes Mundwerk. Ich glaube, dich muss man direkt mal dressieren.“

Ich atmete empört auf und ignorierte Ambers Rat getrost – so etwas ließ ich mir doch nicht sagen! „Dressieren? Ich bin doch kein Tier!“ Mittlerweile überspannte sie den Bogen. Doch leider musste ich feststellen, dass nicht sie aufpassen sollte, sondern eher ich. Denn wenn ich ausfallend werden würde, würde es ihr nur in die Hände spielen und ich wäre am Ende so oder so die Böse. Also entgegnete ich auch nichts darauf, als sie meinte, man könne nicht immer so leicht zwischen Mensch und Tier unterscheiden, schon gar nicht an dieser Schule. Ich lehnte mich stattdessen zu Amber hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Ein Wunder, dass sie eine Mrs ist. Wer hat sie denn bitte genommen?“

Als ich mich dann wieder zur Tafel drehte, blickte ich erneut in ihre schwarzen, grausamen Augen. Ich sah, wie sie eine Hand hob und zitternd mit einem Finger auf die Tür zeigte. „Raus!“, schrie sie mich an. „Sofort zum Direktor, los!“

Erschrocken erhob ich mich und ging auf die Tür zu. Als ich die Klinke ergriff, drehte ich mich noch einmal herum und wollte fragen, wie ich denn zum Direktor finden würde. Doch in dem Moment ergriff Amber grinsend das Wort. „Lektion eins. Mrs Flemming hört einfach alles. Du kannst nicht leise genug reden.“

Wie ein brodelnder Vulkan starrte das Tier vorne am Lehrerpult Amber an. Und dann schien sie zu platzen, als sie komplett wutentbrannt schrie: „Amber, du gehst auch sofort zum Direktor! Unerhört, so etwas!“

Amber sah immer noch ganz gut gelaunt aus, bemühte sich aber nicht mehr zu lächeln, um diese schreckliche Lehrerin nicht noch wütender zu machen. Der Rest der Klasse saß da, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Bleich und eingeschüchtert schauten sie Mrs Flemming an. Doch in jedem einzelnen Augenpaar konnte ich den Hass erkennen, mit dem sie die Lehrerin anblickten.

Da Amber mich nun zum Direktor begleitete, hatte sich die Frage erübrigt, die ich ursprünglich stellen wollte. Wir verließen also gemeinsam den Raum und schritten den Gang hinab.

„Danke, dass du mich nicht allein gelassen hast.“

„Kein Problem. Es hätte genauso gut mich erwischen können. Sie ist einfach nur schrecklich.“

„Ich kenne Ms King nicht, aber ich bin jetzt auch traurig, dass wir nicht sie haben. Denn schlimmer als diese Mrs Flemming kann sie auf keinen Fall sein.“

„Oh nein“, antwortete Amber und im nächsten Moment standen wir vor der Tür des Direktors. In großen Lettern war seine Amtsbezeichnung an der Tür angebracht, darunter war ein kleines Schildchen mit herausnehmbarem Zettel, auf dem der Name des Direktors stand. Bestimmt hatten sich schon einige Schüler einen Spaß erlaubt und den Namen gegen irgendeinen Blödsinn ausgetauscht. Man musste aber auch sagen, dass man an einer Schule nichts anderes erwarten sollte.

Amber hob eine Hand und klopfte behutsam an die Tür. Im nächsten Moment öffnete ein freundlich dreinblickender Mann mit Halbglatze. Er schaute uns beide erstaunt an. Seiner Mimik zu urteilen stand es nicht an der Tagesordnung, dass Schüler mitten in der Stunde an seiner Tür klopften.

„Hallo, Mr Snowberg. Wir wurden hierher geschickt, weil wir den Unterricht gestört haben...“ Amber machte eine zurückhaltende, kindliche Miene, die den Schulleiter scheinbar weichklopfen sollte. Dieser sah auch sofort angetan aus. Er lächelte ein wenig und winkte uns beide ins Büro. Dann wies er uns beiden Stühle zu und setzte sich uns gegenüber.

„Wer hat euch denn geschickt?“

„Mrs Flemming“, ergriff Amber das Wort.

Der Direktor hielt in seiner Bewegung inne und begann dann leicht zu lächeln. „Wen wundert es?“, fragte er dann und schüttelte den Kopf. „Diese Frau lässt mir keine Ruhe. Alle Nas' lang neue Schüler hier, die irgendwelche Lappalien verbrochen haben. Was war denn heute das Problem?“

„Sie müssen verstehen, Cathy kennt Mrs Flemming nicht, weil sie neu hier ist. Und sie hat versucht, Mrs Flemming im Unterricht etwas zu fragen.“

„Oh je, es ist ja schlimmer als erwartet“, meinte der Direktor ironisch und lachte dann wieder. „Und dann? War es das schon?“

„Nein, leider nicht. Cathy, willst du weitermachen?“

„Ja“, murmelte ich. „Ich wollte sie etwas fragen, doch sie meinte, ich könne ja einen Mitschüler um Rat bitten. Dann habe ich entgegnet, dass sie doch wohl die Lehrerin ist. Sie meinte daraufhin wiederum, dass ich ein großes Mundwerk habe und dass man mich dressieren müsse. Als ich darauf empört reagierte, sagte sie, dass man manchmal nur schwer zwischen Mensch und Tier unterscheiden könne. Dann habe ich mich zu Amber herüber gebeugt und geflüstert – und ja, ich weiß, dass das nicht in Ordnung war, aber sie hat es so provoziert – dass ich es komisch finde, dass sie verheiratet ist und dass ich nicht verstehe, wer sie denn bloß zur Frau nimmt.“

Erst schaute mich der Direktor nur an, dann begannen seine Mundwinkel langsam zu zucken. Im nächsten Moment begann er zu lachen, als hätte ich gerade den besten Witz der Welt erzählt. Er hielt sich den Bauch und stützte sich an seinem schweren Schreibtisch ab, während er vom Lachen leicht auf und ab hüpfte. „Das habe ich mich auch schon ab und zu gefragt...“, murmelte er. „Aber das bleibt unter uns, Mädels.“

An meiner alten Schule war es Gang und Gäbe gewesen, dass ein Lehrer nicht über seine Kollegen lästerte. Dieser Direktor schien das aber nicht ganz so streng zu sehen. Aber wer konnte es ihm verübeln? Bei dieser Lehrerin... „Und Amber, was hast du verbrochen? Oder bist du nur ihre Begleitung?“

Sie schüttelte den Kopf und erklärte kurz, was sie getan hatte. Daraufhin brach der Direktor wieder in großes Gelächter aus. Als er endlich fertig war – obwohl sein Anblick beim Lachen sehr amüsant war – bemühte er sich um eine etwas ernstere Miene und sagte: „Amber, du hast nun wirklich nichts Schlimmes gesagt. Es war vielleicht nicht ganz in Ordnung, aber ich denke, dass jegliche Strafe übertrieben wäre. Aber Cathy, du hast deine Lehrerin schon ein wenig persönlich angegriffen und beleidigt. Ich denke, dass es nicht gerechtfertigt wäre, wenn ich dir keine Strafe gebe. Aber ich bin noch einmal gnädig. Da es dein erstes, kleineres Vergehen ist, bekommst du nur für zwei Tage Putzdienst.“

Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Putzdienst?“, fragte ich ihn empört. „Dafür Putzdienst?“ Heute Morgen noch hatten Amber und ich uns darüber lustig gemacht und nun hatte ich selber diese Strafe aufgebrummt bekommen. Ironie des Schicksals, die immer nur mich traf.

Im selben Moment, in dem ich den Direktor sprachlos anstarrte, öffnete sich die Tür zum Büro und unsere Mathelehrerin trat in den Raum. Mit einem selbstgefälligen Lächeln schaute sie mich von oben herab an. „Ich habe durch die Tür vernommen, dass da jemand Putzdienst bekommen hat?“

Kapitel 2

2.

 

Wütend warf ich mich auf mein Bett und boxte immer wieder mit den Fäusten auf das Kopfkissen. Amber stand mit verschränkten Armen und besorgtem Blick neben meinem Bett und suchte scheinbar nach Worten. Den ganzen Weg hierher hatte ich nichts mehr gesagt, außer ab und zu ein paar Beleidigungen gegen diese Lehrerin loszulassen. Erst jetzt raffte ich mich dazu auf, meine Wut in Worte zu fassen. „Das ist doch so was von unfair, oder etwa nicht? Putzdienst, für so einen Kinderkram! Und was kriegt sie für eine Strafe? Sie war viel unverschämter!“

Amber setzte sich nun neben mich und sagte leise: „Ja, es ist unfair. Aber es sind doch nur zwei Tage. Du kannst dir sogar aussuchen, welche. Und du musst insgesamt nur zwei Stunden arbeiten, das ist doch machbar, oder?“

„Es geht mir gar nicht um die Strafe. Damit komme ich klar. Ich rege mich einfach nur darüber auf, dass diese Frau ihren Willen bekommen hat und sich jetzt toll fühlt, obwohl das ganze total ungerecht ist! Ich dachte, dieser Direktor wäre nett. Warum fällt er mir dann so in den Rücken?“

„Glaub mir, Cathy, er ist wirklich nett. Das, was du gesagt hast, war zwar meiner Ansicht nach durchaus gerechtfertigt, aber trotzdem eine Beleidigung. Da hätte dir Mr Snowberg eine viel schlimmere Strafe aufbrummen können.“

„Fällst du mir jetzt auch noch in den Rücken, oder was? Bist du auf deren Seite?“ Nach dem ich das ausgesprochen hatte, breitete sich sofort ein schlechtes Gewissen in mir aus. Das war nicht fair gegenüber Amber gewesen. Glücklicherweise nahm sie mir diesen Kommentar nicht allzu übel.

„Ich versuche nur, das ganze objektiv zu betrachten.“

„Ist schon in Ordnung“, grummelte ich in mein Kopfkissen. Langsam reagierte ich mich wieder ab, obwohl ich ab und zu das Bedürfnis hatte laut zu schreien, um meine Wut herauszulassen. Wenn ich eines nicht leiden konnte, dann war es Ungerechtigkeit. Und das war hier definitiv der Fall. Um langsam herunterzukommen hielt ich mir immer wieder vor, dass ich es nicht mehr ändern konnte und dass sie irgendwann ihre gerechte Strafe bekommen würde.

„Wir müssen jetzt wieder los, Cathy. Der nächste Unterricht beginnt in fünf Minuten.“

„In fünf Minuten?“, fragte ich und sprang sofort auf. Mit weit aufgerissenen Augen sprintete ich zur Tür. Auf keinen Fall wollte ich es mir bei der nächsten Lehrerin verscherzen, indem ich zu spät kam – schließlich wollte ich hier einen guten Abschluss erreichen.

Glücklicherweise kamen wir pünktlich an. Es hatte zwar schon geklingelt, die Lehrerin hatte den Raum aber noch nicht betreten. Das schien für Amber scheinbar ein Anlass zu sein, mich meinen neuen Klassenkameraden vorzustellen. Hinter uns saßen zwei Blondinen. Eine von ihnen wirkte sehr arrogant, die andere dafür aber wirklich freundlich. Als Amber mich ihnen vorstellte, lächelte die Freundliche aufgeschlossen, die anderen nickte nur und rang sich mühsam ein Lächeln ab.

„Ich bin Kate“, meinte die Freundliche. „Schön, dich kennenzulernen. Ich freue mich ja immer über neue Schüler. Das ist mal wieder etwas aufregendes und man hat die Möglichkeit neue Leute kennenzulernen.“

Die anderen Blondine hatte ihr zugehört und bemühte sich erneut um ein Lächeln, schien sich aber nicht vorstellen zu wollen. Also antwortete ich einfach auf Kates Aussage, ohne die andere weiter zu beachten. „Ich finde es eigentlich auch schön, neue Leute kennenzulernen“, sagte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. Es war zwar schön, neue Freunde zu finden, doch der Prozess dahin ging mir gewaltig gegen den Strich. Ich mochte es nicht, oberflächlichen Smalltalk mit mir noch unbekannten Leuten zu führen und ständig Angst haben zu müssen, etwas Falsches zu sagen. Umso mehr gefiel es mir dann, wenn ich irgendwann bemerkte, dass dieser Zustand vorüber war und sich eine wirkliche Freundschaft aufgebaut hatte – so, wie es bei Amber und mir momentan der Fall zu sein schien. „Wie lange bist du denn schon hier?“

„Ich bin hier schon von Anfang an – bin ab dem Zeitpunkt, ab dem man hier rauf kann, auch hier gewesen. Früher hatte ich immer das Gefühl, meine Eltern warten nur bis sie mich endlich aufs Internat schicken können. Als ich dann aber hier war haben sie ständig angerufen und sich nach mir erkundigt, da hab ich mich dann zum ersten Mal wirklich wichtig gefühlt.“

„Manchmal schätzt man eben erst wert, was man hatte, wenn es verloren gegangen ist. Aber in deinem Fall ist da ja noch immer viel wieder gut zu machen.“ Ich wusste nicht, was ich weiter darauf entgegnen sollte. Ich wollte nicht zu tiefgründig werden, um sie nicht abzuschrecken. Momentan konnte ich noch nicht einschätzen, ob sie der Typ Mädchen war der lieber oberflächlich über Schuhe redete, oder auch tiefgründig Probleme diskutieren wollte. „Jedenfalls, wenn du schon von Anfang an hier bist, dann kennst du diese Klasse ja auch schon länger.“

„Ja, natürlich. Obwohl im Laufe der Jahre auch viele neu dazu gekommen sind. Warte mal. Wen kenne ich denn jetzt schon von Anfang an?“ Sie blickte sich im Raum um und nannte ab und zu Namen. Zum Schluss drehte sie sich wieder zu mir und zeigte dann auf ihre blonde Banknachbarin. „Und Chelsea hier natürlich. Wir sind auch von Anfang an zusammen hier.“

Nun lag es an mir, ein Lächeln aufzusetzen. Ich schaute sie einen kurzen Moment lang an und blickte dann wieder zu Kate hinüber. Chelsea. Das war ja wohl ein typischer Name für so eine Zicke, wie sie eine zu sein schien.

„Was hast du Amber eigentlich gestern zugeflüstert? Keiner konnte mir das beantworten, nur Mrs. Flemming hört wieder alles“, meldete sich Kate nun wieder zu Wort. Ihre Freundin schien immer noch nichts sagen zu wollen. Mittlerweile hatte sie den Blick gesenkt und betrachtete ihre hübsch manikürten Finger.

„Ich habe mich gewundert, wer sie zur Frau nimmt“, gab ich wahrheitsgemäß zurück. „Das hat sie wohl nicht ganz so positiv aufgefasst.“

Kate lehnte sich lächelnd zurück und legte den Kopf nach hinten. „Das habe ich mich auch schon so oft gefragt!“, lachte sie und verdrehte dabei die Augen. „Diese Frau vertreibt doch jeden, der ihr auch nur ansatzweise in ihre Nähe kommt!“

„Vielleicht hat sie ihren Mann zur Heirat gezwungen. Und er hatte solche Angst vor ihr, dass er sie nehmen musste“, entgegnete ich.

Kate und Amber lachten, nur Chelsea blieb stumm. „Aber dann flüchtet man doch, anstatt sich dieser Folter zu unterziehen, oder?“, meinte Amber.

„Vielleicht hat sie ihn irgendwo fest gekettet. Wer weiß“, entgegnete Kate. In dem Moment trat eine fröhlich lächelnde Lehrerin in den Raum – eine willkommene Abwechslung zu Mrs. Flemming. Amber und ich drehten uns zur Tafel hin und schauten sie an.

Schon ergriff sie das Wort: „Hallo, ich bin Mrs. Rodriguez. Ich unterrichte Englisch und Biologie, meisten in der Oberstufe. Wenn ich mal so durch die Runde schaue – bisher hatte ich euch noch nicht im Unterricht, oder?“

„Wir hatten einmal Vertretung bei ihnen“, meinte ein Junge aus der letzten Reihe. Dabei nahm er sein Cappy ab und legte es vor sich auf den Tisch.

„Vertretung, tatsächlich? Nun ja, das muss ja schon etwas länger her sein.“

„Ja, ich glaube, vor drei Jahren oder so“, meinte der Junge dann beiläufig. Selbstsicher redete er mit der Lehrerin, als wären die beiden die einzigen im Raum.

„Seht ihr. Mittlerweile seid ihr ja alle viel älter geworden. Vielleicht erkenne ich euch auch einfach nicht mehr wieder, weil ihr alle erwachsener ausseht. Jedenfalls hoffe ich, dass wir gut miteinander auskommen. Aber so nett wie ihr mich alle anlächelt, gehe ich mal davon aus.“

Ich drehte mich herum und alle lächelten – bis auf Chelsea. Sie wurde mir zunehmend unsympathischer. Apathisch blickte sie auf ihre Finger – überlegte sie gerade, wann sie das nächste Mal zur Maniküre gehen würde?

„Dann wollen wir mal direkt mit einer Gruppenarbeit beginnen! Ich teile euch jetzt ein paar Blätter aus um eure Schwächen und Stärken als Klasse, beziehungsweise als Gruppe zu erkennen. Ich teile zu, damit es hier keinen Streit gibt und nicht nur die besten Freunde zusammen sitzen! Es geht hier schließlich darum, dass ihr alle untereinander gut arbeiten könnt, und nicht nur gewisse Grüppchen.“ Sie hob also ihre Hand und zeigte uns mit dem Finger, welche Schüler sich zusammensetzen sollten. Am Ende saß ich mit einem anderen Mädchen und zwei Jungs an einem zusammengeschobenen Tisch, alle drei mir gänzlich unbekannt. Natürlich, bisher kannte ich ja auch niemand anderen als Amber, Kate und diese eingebildete Chelsea. Im nächsten Moment verteilte die Lehrerin Blätter, auf denen Aufgaben standen. Hauptsächlich ging es darum, aus Heften Fakten herauszuschreiben, die uns bei dem späteren Englischunterricht helfen sollten. Wie das die Teamarbeit fördern oder anzeigen sollte, war mir schleierhaft. Sie sagte auch nichts mehr dazu, bis auf die Worte: „Dann fangt mal an!“

Die beiden Jungs lehnten sich direkt zurück und verschränkten die Arme vor der Brust. Sie musterten uns beiden Mädchen, schauten sich dann gegenseitig an und grinsten. „Die Mädchen arbeiten?“, fragte der eine Junge den anderen, welcher daraufhin nickte. Das war ja wieder typisch – die Mädchen schuften lassen und selber nur auf der faulen Haut liegen.

„Von wegen“, meinte ich. Früher war ich eher schüchtern gewesen und hätte mich nicht getraut, dagegen anzureden. Doch mein Freund hatte mir beigebracht, das durchzusetzen, was ich wollte und mich nicht immer von anderen Leuten unterdrücken zu lassen – dafür war ich ihm schrecklich dankbar. „Wir teilen die Aufgaben gerecht auf.“

Die beiden Jungs ließen sich leicht überzeugen und nickten – offensichtlich war ihr Kommentar von vorhin nicht wirklich ernst gemeint gewesen. „Okay, geht klar. Zuerst wäre es aber wohl am besten, wenn wir überhaupt unsere Namen kennen. Was wäre es für eine Gruppenarbeit, wenn ich am Ende nicht einmal weiß, wie meine Kollegen heißen?“ Er lächelte und meinte dann: „Ich bin Eric. Das hier ist Luke. Ihr beide seid neu. Wie heißt ihr?“

Ich schaute das Mädchen neben mir an. Sie war dann offenbar auch eine Neue, was ich auch an ihrem Blick hätte erkennen können. Sie wirkte etwas eingeschüchtert und zurückhaltend, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass sie noch nicht wusste, mit wem sie es hier zu tun hatte.

Das Mädchen gab mir zu verstehen, dass ich als erstes antworten sollte, also sagte ich: „Ich bin Cathy.“

„Cathy?“, fragte Eric mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Ist das überhaupt ein anerkannter Name.“ Sein Banknachbar – Luke – verdrehte die Augen, fast zur selben Zeit wie ich.

„Das ist ein Spitzname“, entgegnete ich locker.

„- was man sich auch hätte denken können“, ergänzte Luke.

Eric zuckte mit den Schultern. „Kann ich ja nicht wissen! Es gibt schon teilweise abgedrehte Namen, Leute! Da frag ich lieber nochmal nach.“„Wie lautet denn dann dein richtiger Name, wenn ich fragen darf?“, meldete sich Luke wieder zu Wort. Er hatte hellbraune Haare, die etwas länger waren und wirr um seinen Kopf ragten. Seine Augen waren von dichtem Wimpern umgeben und glänzten wunderschön in der Sonne. Das erinnerte mich an meinen Freund – seine Augen glänzten in einem ähnlichen Farbton, wenn die Sonne schien. Das ließ die Sehnsucht nach ihm noch stärker werden.

„Mein richtiger Name ist Cathrin“, entgegnete ich und musste mich bemühen, damit meine Stimme nicht zitterte. Am liebsten hätte ich geweint, weil ich so sehr bei ihm sein wollte. Aber gleichzeitig war es mir peinlich, dass ich so schwach war.

„- was man sich auch hätte denken können“, meinte Eric und erwartete dafür scheinbar Applaus, erntete aber nichts als Augenverdrehen von uns dreien. Er wandte sich also an das andere Mädchen und fragte beiläufig: „Wie ist dein Name?“

„Ich bin Laura“, meinte das Mädchen mit einem freundlichen Lächeln. Sie hatte langes, leicht gewelltes blondes Haar, fast die gleiche Frisur wie Kate. Sie war so hübsch, dass man beinahe neidisch werden könnte. Doch ich wusste, dass ich ihn hatte. Und dass er nur mich wollte. Also machte ich mir bei so etwas schon lange keine Sorgen mehr – wahrscheinlich war ich mittlerweile mit meinen siebzehn Jahren auch schon zu alt dafür.

Eric nickte erneut und ergriff wieder die Moderation. „Jetzt, wo das geklärt ist, können wir ja mit der Arbeit beginnen.“ Er überlegte einen kurzen Moment und fügte dann hinzu: „Oder wir reden einfach ein bisschen, das ist doch lustiger, oder?“

Luke lächelte, doch schüttelte dann den Kopf. „Wäre wirklich lustiger, aber würde einen schlechten Eindruck bei der Lehrerin hinterlassen. Und Eric, du weißt doch. Wenn der Lehrer dich mag, dann sind gute Noten nicht weit entfernt.“ Das stimmt leider. Leistung zählte oft gar nicht, sondern nur die Sympathiepunkte bei einem Lehrer – besonders in Fächern wie Englisch, wo Willkür an der Tagesordnung stand.

„Dann lasst uns doch erst arbeiten und wenn am Ende noch Zeit übrig ist, können wir immer noch quatschen“, meldete sich Laura zu Wort. Dabei schaute sie zu Eric hinüber, der daraufhin eine Augenbraue hochzog und sie anschaute, als wolle er sie auf eine absurde Art und Weise verführen. Ich musste mir das Lachen verkneifen und auch Luke starrte ihn an, als wäre er total verrückt geworden. Laura kicherte hinter vorgehaltener Hand und Eric lief ein wenig rot an. Offenbar war ihm diese Aktion ziemlich peinlich, trotzdem war ich mir sicher, dass er darin schon geübter war. Wie ich bis jetzt einschätzen konnte, hatte er eine große Klappe und ein noch größeres Ego. Trotzdem schien er ganz nett zu sein und schlecht sah er auch nicht aus – bestimmt waren ihm schon viele Mädchen verfallen. Ob Laura auch eines dieser Mädchen werden würde, konnte ich bis jetzt noch nicht sagen.

„Oder wir treffen uns einfach in der Pause irgendwo. Dann arbeiten wir jetzt und können trotzdem reden, auch, wenn wir nicht fertig sind“, warf Eric ein, nachdem der Rot-Ton aus seinem Gesicht verschwunden war. Wahrscheinlich hatte er die peinliche Aktion von gerade eben längst wieder verdrängt oder gar vergessen. Er schien Interesse an Laura zu haben – wieso sollte er sonst fragen, ob wir uns treffen wollen würden?

„Das ist eine gute Idee“, meinte Luke und schaute dabei mich an. „Oder bist du schon verabredet?“, fragte er dann mich.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Ich hätte an sich Zeit, wenn ihr mich dabei haben wollt.“ Wie gesagt, ich ging eher davon aus, dass Eric sich mit Laura treffen wollte. Vielleicht hatte ich da ja gar nichts zu suchen und sie fragten mich nur aus Höflichkeit, mit der Hoffnung, ich würde nein sagen.

„Natürlich wollen wir das“, meinte Luke dann aber aufrichtig mit einem Lächeln.

„Und du, Laura? Hast du Zeit?“, fragte Eric nun seine neue Angebetete. Ich wollte ja keine voreiligen Schlüsse ziehen oder irgendjemandem etwas unterstellen, aber er schaute sie offensichtlich gierig an. Erst jetzt bemerkte ich, dass er der Junge aus der letzten Reihe mit dem Cappy gewesen war, der mit der Lehrerin gesprochen hatte. Nun setzte er dieses nämlich wieder auf und verschränkte erneut die Arme vor der Brust, was scheinbar cool aussehen sollte.

„Ich habe auch Zeit“, meinte das hübsche Mädchen nickend, drehte sich dann zu mir und lächelte. „Mensch, wir haben Dates!“, rief sie und klatschte in die Hände, was die beiden Jungs zum Lachen brachte. Natürlich meinte sie das nur ironisch, weswegen ich nichts dagegen sagte. „Das läuft ja schon gut, am ersten Tag.“

„Hier scheinen wir ja richtig Erfolg zu haben“, meinte ich zu ihr und zog vielsagend eine Augenbraue hoch. Als ich zurück zu den Jungs schaute, sah ich, wie Eric mit seinem Smartphone spielte und Luke mich anlächelte. Ich gab ein schüchternes Lächeln zurück. Hoffentlich wusste er, dass das ganze nicht ernst gemeint war.

Wir arbeiteten tatsächlich die ganze Stunde und kamen am Ende nicht mehr dazu, noch zu plaudern. Also wurde das Treffen in der Pause in die Tat umgesetzt. Ich bat Amber an, mit mir zu kommen, doch sie schüttelte nur den Kopf und meinte, dass sie in der Pause sowieso noch einmal mit der Englischlehrerin reden musste, wegen was auch immer. Also folgte ich den dreien allein hinaus auf den Campus'. Künstlerisch waren vor dem Unterrichtsgebäude viele witterungsbeständige Hocker aufgestellt, auf die wir uns nun setzten. So konnten wir uns alle ansehen und mussten uns nicht verrenken, um mit einander reden zu können.

„Ich habe gehört, du hast Putzdienst bekommen?“, fragte Luke mich, als sein Freund Laura irgendetwas auf dem Handy zeigte.

„Ja, wer hat dir das denn erzählt?“, fragte ich überrascht. „Amber?“ Das wäre eigentlich gar nicht möglich, denn nach dem Gespräch bei Mr Snowberg waren wir direkt zu unserem Zimmer gegangen, wo ich mich aufgeregt hatte. Und als wir dann zum Englischunterricht erschienen waren, hatten wir beide gemeinsam mit Kate geredet. Wann sollte sie also Luke davon erzählt haben?

„Nein, nicht Amber“, meinte er, was die Frage klärte. „Es war Mrs. Flemming. Sie ist ja bei euch gewesen und kam dann lachend in den Raum zurück, meinte, du hättest Putzdienst bekommen. Sie war richtig schadenfroh.“

„Sie ist so eine...“

„Hexe?“, beendete Luke meinen Satz. „Ja, das ist sie. Und rate mal, wer noch Putzdienst bekommen hat. Richtig, ich. Ich habe nämlich zu ihr gesagt, dass sie sich nicht so über das Leid anderer freuen soll.“

„Tatsächlich?“, fragte ich perplex. „Aber du hättest doch wissen müssen, was dann passiert, Luke!“ Dabei lachte ich, um ihm zu zeigen, dass er diese Aussage nicht böse auffassen sollte.

„Ehrlich gesagt wusste ich das auch. Ich konnte es mir aber trotzdem nicht verkneifen. Aber jetzt können wir ja zusammen Putzdienst schieben, oder? Dann ist es nicht ganz so öde.“

Ich nickte. „Ja, wenn du möchtest.“

„Wollen wir uns dann gleich eintragen gehen? Ich richte mich dann nach dir. Solange du nicht Samstag einträgst, machen wir den Putzdienst gemeinsam.“

„Aber Sonntag wäre in Ordnung?“, fragte ich neckend.

Luke zog grinsend eine Augenbraue hoch. „Besser nichts am Wochenende und auch nicht am Freitag.“

„Am liebsten an gar keinem Tag.“

„Stimmt“, sagte Luke und streckte sich dann. Er schien müde zu sein, was ihm nicht zu verübeln war – die Sonne strahlte heftig und wärmte die Erde auf. Es war noch nicht einmal Mittagszeit und schon so warm, dass ich am liebsten nackt über den Campus gerannt wäre. „Dann gehen wir, okay?“

Ich nickte. Wir standen also beide auf. Erst bemerkten die zwei Turteltäubchen und gar nicht, doch dann schaute Laura plötzlich überrascht auf.

„Wo geht ihr zwei denn hin?“, fragte sie verwundert und machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen, doch Eric hielt sie mit den Worten „Hey, bleib hier“ fest, was mich irgendwie amüsierte.

„Wir gehen nur schnell unseren Putzdienst eintragen“, meinte Luke mit einem sanften Lächeln. „Bis gleich.“

„Okay“, gab Laura perplex zurück und setzte sich zurück zu Eric. Dann konzentrierte sie sich wieder ganz auf die Dinge, die er ihr mit seinem Smartphone zeigte. Luke und ich machten uns also auf den Weg.

„Im Vorraum der Turnhalle sind die ganzen Pinnwände, an denen wir uns eintragen können. Da müssen wir jetzt hin“, meinte Luke aufklärend.

„Okay. Du, sag mal, Eric scheint etwas von Laura zu wollen, oder?“

Luke lachte. „Eric scheint etwas von jedem hübschen Mädchen zu wollen. Nein, wirklich. Er macht sich an alles ran, was ihm auch nur ansatzweise die Chance dazu gibt. Aber du warst ihm wohl doch eine Nummer zu hoch.“

Abrupt lief ich rot an und fragte stammelnd: „Wie meinst du das?“ So etwas hatte noch keine Junge von sich gegeben – jedenfalls nicht an meiner alten Schule. Da schien ich immer ein ganz normales Mädchen zu sein, was von keinerlei Interesse anderer Jungs kosten durfte.

„Nichts – tut mir Leid, das ist einfach so herausgerutscht. Es hat mich nur gewundert, dass er es nicht bei dir versucht hat.“

„Vielleicht bin ich nicht hübsch genug“, murmelte ich und es war klar, welche Antwort ich erwartete.

Luke lachte. „Jetzt kann ich ja nur eines sagen – aber es ist auch die Wahrheit. Doch du bist hübsch genug. Vielleicht bist du auch einfach zu hübsch für ihn und er hat sich gar keine Chancen ausgemalt. Tut mir Leid, eigentlich rede ich nicht so. Ich will nicht, dass du denkst, ich bin immer so oberflächlich und irgendwie... aufdringlich.“

„Ach quatsch. Du bist doch nicht aufdringlich. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass du ein sehr tiefgründiger Mensch sein kannst.“

Luke lachte erneut. „Danke, dass du mir Mut machst“, sagte er ironisch.

Wir hatten mittlerweile die Turnhalle erreicht. Von hier aus konnte ich unser Wohnhaus sehen. Ich zeigte mit dem Finger darauf und meinte: „Da wohne ich. Zusammen mit Amber in einem Zimmer.“

Luke nickte und lächelte. „Da wohnen ich und Eric auch.“

Das freute mich irgendwie. Auch, wenn ich nicht wusste, wieso.

Wir traten in die Turnhalle und trugen uns an einem Plan ein, über dem groß „Campus- und Häusersäuberung“ stand. Dort standen noch vier weitere Namen, die das gleiche Schicksal wie wir erwischt hatten.

„Wetten, dass all die Namen wegen Mrs.. Flemming da stehen?“, fragte Luke.

„Ganz bestimmt“, gab ich zurück.

Wir hatten uns also für Mittwoch eingetragen, also übermorgen. Als wir zurück bei Laura und Eric ankamen, war sie schon näher zu ihm herangerückt. Immer noch machten die beiden irgendetwas an seinem Handy – ehrlich gesagt wollte ich gar nicht wissen, was. So, wie die beiden die ganze Zeit kicherten. Bald klingelte es auch schon. Für uns bedeutete das Sportunterricht, jedoch hatte Luke eine andere Sportart als ich belegt. Also bedeutete das, dass wir uns heute zumindest im Unterricht nicht mehr treffen würden. Er fuhr sich also kurz durch die Haare und meinte dann verabschiedend: „Wir sehen uns dann morgen im Unterricht, ja?“

Ich nickte ihm zu, woraufhin er sich umdrehte und schon mit Eric zur Turnhalle ging. Laura und ich hatten glücklicherweise den gleichen Sportkurs, Tanzen. Dafür gingen wir nicht in die Turnhalle sondern auf einen kleinen Sportplatz. Viele Mädchen und vereinzelt ein paar Jungs versammelten sich um uns und wir begannen, uns aufzuwärmen.

 

 

 

„Und, wie war dein Gespräch mit Mrs.. Rodriguez?“, fragte ich Amber beiläufig, als ich nach dem Sportunterricht in unser Zimmer kam und sie bereits sich ausruhend auf ihrem Bett lag.

„Ganz gut“, meinte sie knapp. „Und dein Treffen mit den drei anderen?“

„Auch gut“, sagte ich ebenfalls kurz und bündig. „Tanzen war ganz schön anstrengend. Ich hatte ja gehofft, dass du den gleichen Kurs hast. Welchen Kurs hattest du denn nun? Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen.“

„Ich hatte Volleyball“, sagte sie seltsam tonlos. Irgendwie vermisst ich die Fröhlichkeit in ihrer Stimme. War etwas bei dem Gespräch mit der Englischlehrerin doch nicht so gelaufen, wie sie es sich erhofft hatte? Sie atmete einmal tief durch und rollte sich auf die Seite, um mich anzuschauen. Daraufhin rang sie sich ein Lächeln ab, überlegte kurz und meinte dann: „Warst du dort denn ganz allein?“

„Nein, war ich nicht. Laura war auch da“, erklärte ich.

„Ist sie das Mädchen, mit dem du in Englisch zusammengearbeitet hast?“

„Ja, richtig. Sie ist wirklich nett. Du solltest auch mal mit ihr sprechen. Sicher kommt ihr beide gut miteinander aus.“

„Vielleicht“, murmelte Amber.

„Ist irgendetwas?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ja, schon...“„Was ist denn los?“ Sofort machte ich mir Sorgen um sie. Ich mochte es allgemein nicht, wenn Menschen in meinem Umfeld unglücklich waren. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um Freunde von mir handelte. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um Amber handelte, die sonst immer gut drauf war. Zumindest, so wie ich sie kennengelernt hatte.

„Ich bin normalerweise immer sehr schlecht in Englisch. Deswegen habe ich die Lehrerin gefragt, ob ich vielleicht irgendetwas ausarbeiten kann, um mir dadurch gute Noten zu verdienen. Bei meiner alten Englischlehrerin hat das auch geklappt. Doch Mrs.. Rodriguez meinte, dass das nicht möglich ist. Jetzt habe ich Angst, ich könnte wegen Englisch durchfallen.“

„Hat sie das einfach so gesagt? Einfach deinen Vorschlag zunichte gemacht?“

„Sie meinte, dass sie sich noch etwas überlegt. Aber bei Lehrern heißt das oftmals, dass sie einfach gar nicht mehr darüber nachdenken.“

„Ich helfe dir, in Ordnung? Bis jetzt war ich eigentlich immer recht gut in Englisch. Und ansonsten hattest du mir doch von diesem Nachhilfe-Team erzählt. Die sollen doch ganz erfolgreich sein. Dann statten wir denen eben einen Besuch ab. Ich lass dich zumindest nicht einfach so durchfallen. Schließlich will ich dich auch noch nächstes Jahr in meiner Klasse haben.“

Amber lächelte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Danke. Entschuldige dass ich weine, aber ich kann auf keinen Fall durchfallen. Meine Eltern wären schrecklich enttäuscht. Außerdem wollte ich meinem Exfreund beweisen, dass ich auch allein etwas auf die Reihe bekomme.“

„Keine Sorge, Amber. Wir schaffen das schon! Ich lasse dich nicht einfach im Stich.“

„Danke, dass du für mich da bist“, meinte sie schniefend.

 

 

 

„Wie machst du eigentlich deine Haare?“ Am nächsten Morgen standen wir beide gemeinsam vor dem Spiegel in unserem Zimmer und machten uns die Haare – wir waren zu faul, um dafür schon ins Bad zu gehen. Außerdem hatte ich Angst, Luke oder Eric könnten mich in diesem Zustand sehen. Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass in unserem Haus nur Mädchen wohnten, aber dem war wohl nicht so. „Wie bekommst du diese winzigen Flechtzöpfe hin und warum halten die Perlen?“

„Das hat mir meine Schwester beigebracht“, meinte Amber daraufhin stolz. Sie band sich die Haare nun zu einem Zopf zurück und ließ nur eine Strähne vorne heraus baumeln. Ich musste neidlos anerkennen, dass ihr diese Frisur total gut stand. Sie sah damit reifer aus, trotz der bunten Perlen, die ihre Haare schmückten. „Sie hat eine Weile in Spanien gelebt, weil sie dort einen Freund hatte. Der hat sie dann aber verlassen und sie musste sich eine Weile lang so durchschlagen, um Geld für den Flug zurück zu sammeln. Der Typ war nämlich so freundlich, all ihr erspartes einfach mit zu nehmen, wo auch immer er hin verschwunden ist. Jedenfalls hat sie dort auf der Straße eine Frau kennengelernt. Sie flocht die Haare der Passanten für einen spärlichen Lohn. Meine Schwester fragte, ob sie aushelfen könnte, weil sie nicht weiter wusste. Glücklicherweise war diese Frau total freundlich und hat ihr kurzerhand alle Handgriffe gezeigt. Es ist schwierig gewesen, aber irgendwann hat sie es hinbekommen. Bis sie sich dann endlich genug erarbeitet hatte und zurück zu uns kam. Diese Frau hat ihr sogar noch etwas von ihrem Geld abgeben wollen, obwohl sie schon viel zu wenig besaß. Das hat meine Schwester dann jedoch abgelehnt, worauf ich total stolz bin. Sie hat ihre eigenen Bedürfnisse hinten angestellt und so sollte jeder Mensch denken. Ich kenne viel zu viele Menschen, die viel zu sehr auf das eigene Wohl bedacht sind und dabei alle anderen aus den Augen verlieren. Aber ich schweife schon wieder ab – als meine Schwester zurück war, hat sie mir ebenfalls diese Frisur gemacht, um meinen Eltern und mir zu zeigen, was genau sie gemacht hat. Und wir fanden es alle so toll, dass wir zu dem Entschluss kamen, dass ich das unbedingt öfter machen muss. Ja, jetzt gehört es zu mir. Ohne diese Perlen kann ich mir mich selbst gar nicht mehr richtig vorstellen.“ Bei dieser Geschichte standen ihr Tränen in den Augen. Amber war meistens ein fröhlicher Mensch, doch sie war auch sehr sensibel. „Jedenfalls musst du ganz dünne Strähnchen nehmen und dann – pass' auf.“ Sie sparte sich die Worte und flocht sich vor dem Spiegel in Windeseile neue Strähnchen. Ich konnte immer noch nicht sagen, wie genau sie das anstellte, aber ich sagte nichts. Sonst wäre nachher noch ihre gesamte Haarpracht zu kleinen Zöpfen geflochten. Nun nahm sie zwei Perlen zur Hand, die sie offenbar in der Hosentasche hatte und schob den Zopf einfach hindurch, dann drückte sie ein bisschen auf der Perle herum und sie ließ sich nicht mehr bewegen. „Da sind kleine Haken dran, die verhindern, dass die Perle wegrutscht“, meinte Amber erklärend. Als dann zwei weitere Perlenzöpfe ihren Schopf schmückten, lächelte sie mir stolz entgegen. Ihre Augen glänzten, doch die Tränen waren verschwunden. Sie wirkte wieder so glücklich, wie ich sie kannte und am liebsten hatte.

„Es steht dir wirklich, Amber“, meinte ich und studierte noch einmal kurz einen der Zöpfe, ehe ich mich abwandte und meine Waschtasche aus dem Schrank holte. „Und es war eine wirklich herzergreifende Geschichte. Es ist schrecklich, dass deine Schwester dort allein gelassen wurde, aber umso schöner, dass sie einen Menschen gefunden hat, der sich um sie kümmerte.“

„Ja, es gibt nun mal auch gute Menschen auf der Welt“, meinte Amber fröhlich. „Du hast gestern gar nicht mehr deinen Freund angerufen, wie kommt das?“

Bis jetzt hatte ich meinen Freund jeden Abend angerufen und ihm vom Tag berichtet, nur gestern nicht. Mir war allerdings nicht bewusst gewesen, dass Amber das aufgefallen war. Nun schaute ich sie perplex an und stotterte: „Ich... weiß nicht. Ich denke, ich war gestern einfach müde.“ Sofort schossen mir Tränen in die Augen. Das war eine schlechte Ausrede – ich hatte es schlichtweg vergessen. Aber wie konnte ich meinen eigenen Freund einfach so vergessen? Das schlechte Gewissen holte mich wieder mal ein und am liebsten hätte ich mich heulend auf mein Bett geworfen und mit niemandem mehr gesprochen.

„Ist ja auch nicht schlimm. Ihr müsst ja nicht jeden Abend telefonieren. Dann gibt es auch mehr zu erzählen.“ Dann schien Amber meinen Gemütszustand zu bemerken, hielt in ihrer Bewegung inne und musterte mich besorgt. „Hey, Cathy. Hast du es vergessen?“

„Ja“, murmelte ich.

Sie wusste sofort, was sie zu sagen hatte. „Cathy, mach dir doch keine Gedanken. Er hat dich schließlich auch nicht angerufen. Ihr habt also beide einen Fehler gemacht – was heißt Fehler, es ist nun mal möglich, dass man den Tag über etwas gestresster war und einfach keine Zeit findet.“

„Gestresst? Wo war ich denn gestresst? Nach dem Sportunterricht habe ich doch gar nichts mehr gemacht. Wir haben die ganze Zeit auf dem Zimmer gesessen und ich habe einfach nicht daran gedacht.“

Man konnte wirklich meinen, ich würde übertreiben. Doch ich wollte nicht die komplette Kontrolle, oder so etwas. Und ich war auch in der Lage, für kurze Zeit ohne meinen Freund auszukommen. Das was mich beschäftigte, war nicht, dass ich seinen gestrigen Tagesablauf noch nicht kannte, sondern dass ich ihn einfach vergessen hatte. Ich hatte Angst, dass das das erste Anzeichen dafür war, dass ich ihn nicht mehr liebte. Andererseits war ich mir bewusst, dass meine Gedanken übertrieben waren. Ich liebte ihn und das würde dich doch niemals ändern, solange ich es nicht ändern wollte. Oder?

„Ruf ihn doch jetzt an und klär' das ganze. Er wird nicht sauer sein und es verstehen.“

„Meinst du?“

„Ja, komm.“

Ich nickte und holte mein Handy vom Fensterbrett. Während es piepte und ich darauf wartete, dass er abnahm, blickte ich hinaus. Von hier aus hatte man einen großartigen Ausblick auf den Campus. Momentan lungerten noch nicht viele Schüler herum, da es noch früh am Morgen war. Amber und ich waren wieder früher aufgestanden, weil wir aus irgendeinem unerklärlichen Grund nicht mehr schlafen konnten.

„Cathy“, meinte eine sanfte Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich atmete erleichtert auf und sagte leise: „Hallo... Es tut mir so Leid, dass ich gestern nicht angerufen habe.“

„War irgendetwas?“, fragte er ruhig. Er klang nicht sauer, was mich aber nicht beruhigte. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, wenn er sauer wäre.

„Nein, nichts. Es tut mir so Leid – ich habe es einfach vergessen. Aber mach dir deswegen keine Gedanken, okay?“

„Es ist schon in Ordnung. Du musst doch nicht jeden Abend anrufen. Von mir aus reichen auch alle paar Tage. Hauptsache ich weiß, dass es dir gut geht. Telefonieren wir dann heute Abend weiter? Es ist noch so früh am Morgen und ich habe noch geschlafen. Was ich jetzt auch gerne wieder tun würde.“

„Ja, okay. Bis heute Abend dann.“ Dann legte er auf.

„War er sauer?“, fragte Amber überrascht.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Das Gespräch hatte mich beruhigt. Seine Stimme zu hören ließ mein Herz schneller pochen und versicherte mir, dass alles in Ordnung war.

„Weil das Gespräch so kurz war. Ich dachte, er wäre vielleicht sauer.“

„Nein, war er nicht. Er ist nur manchmal etwas kurz angebunden, vor Allem, wenn es noch früh am Morgen ist. Einerseits kann er der romantischste Junge der Welt sein, auf der anderen Seite aber auch irgendwie gleichgültig und so... normal. Aber ich liebe diese Kombination. Er vereint einfach alle Eigenschaften, die ich mir an einem Jungen nur wünschen könnte.“

„Es ist so süß, wenn du über ihn redest.“ Dabei grinste Amber mich an. Ich fand es nett von ihr, dass sie so etwas sagte. Diese Aufrichtigkeit hätten vermutlich nicht viele andere Mädchen. Da würde es einmal die geben, die mir die Beziehung schlecht reden wollten. Dann die, die vorgaben sie süß zu finden, in Wirklichkeit aber hinterrücks schlecht darüber redeten. Bei Amber konnte ich mir aber sicher sein, dass sie ernst meinte, was sie sagte. Und das schätzte ich schon jetzt an ihr, ihre unabwendbare Ehrlichkeit. Amber hatte Recht, es gab viel zu wenig selbstlose, gute Menschen auf der Welt. Aber es gab sie trotzdem noch – und Amber gehörte definitiv dazu.

 

 

 

Nachdem wir uns fertig gemacht hatten – glücklicherweise waren wir auf dem Weg zum Bad niemandem begegnet, der uns ungeschminkt hätte sehen können – machten wir uns auf den Weg zur Schule. Eigentlich war es dafür noch viel zu früh, der Unterricht würde erst in einer Dreiviertelstunde beginnen. Doch wir wussten nicht, was wir in unserem Zimmer anderes mit uns anfangen sollten.

Vor dem Unterrichtsraum saßen Kate und Chelsea, sie hatten zwei Bücher aufgeschlagen und studierten sie eingehend und konzentriert, sodass sie Amber und mich erst gar nicht bemerkten. Erst meine Worte machten sie auf uns aufmerksam: „Hey, Kate. Was macht ihr das Schönes?“

Sie schaute daraufhin überrascht auf und lächelte uns zu. „Wir üben für den Unterricht...“

„Was? Heute ist doch erst die erste Stunde Biologie – doch wird sie doch wohl kaum einen Test schreiben, oder?“, fragte Amber und ließ sich neben Kate fallen. Neugierig warf sie einen Blick auf die Abbildungen.

„Nein, auf keinen Fall“, meinte Kate dann schulterzuckend. „Aber wenn wir schon Vorkenntnisse haben, dann machen wir einen guten Eindruck und sie wird denken, dass wir gute Schüler sind.“

„Raffinierte Taktik“, meinte ich dann und stellte meine Schultasche auf den Boden. „Könnten wir auch mal ausprobieren, Amber.“

Sie zuckte nur mit den Schultern. Dann schob Kate die beiden Bücher zu Chelsea rüber und wandte sich an mich. „Sag mal, warst du schon einmal auf einem Ball?“, fragte sie neugierig.

Da musste ich nicht lange überlegen – der Ball mit meinem Freund, wo wir getanzt hatten. Wo er mir versichert hatte, was er für mich empfand. Es war wunderschön gewesen und immer wenn ich daran dachte, wollte ich am liebsten vor Freude weinen. „Ja, war ich schon. Wieso fragst du?“

„Ich bin im Organisations-Team und wir haben uns gestern beim ersten Treffen überlegt, dass wir gerne einen Ball veranstalten würden. Leider ist wirklich noch niemand von uns auf einem gewesen – und dementsprechend sollten wir alle mal herumfragen, wer denn schon Erfahrung damit gemacht hat. War er denn gut – der Ball, auf dem du warst?“

„Es war richtig gut“, gab ich wahrheitsgemäß zurück. „Also, wenn ich euch ein paar Tipps geben soll, stehe ich euch gerne zur Verfügung. Damals war ich zwar nicht im Organisations-Team meiner Schule, aber ich hatte eine Freundin dort und habe mir auch so ein paar Sachen abgeschaut.“

„Wenn du willst, kannst du ja hier eintreten. Es würden sich sicher alle freuen.“

„Wann finden die Treffen denn immer statt?“

„Das ist unterschiedlich. Es wird spontan entschieden und dann in der Turnhalle und hier im Unterrichtsgebäude ausgehängt. Man kann sich natürlich aussuchen, ob man erscheinen möchte oder nicht, da ist dann auch keiner sauer. Nur ab und zu sollte man dann schon mal da sein, sonst bringt die Mitgliedsschaft ja gar nichts.“

„Es hört sich auf jeden Fall gut an. Und würde sicherlich auch viel Spaß machen.“

„Wir können dich ja in der nächsten Pause eintragen gehen. Das nächste Treffen ist übrigens schon abgesprochen – morgen Abend findet es statt.“

Ich überlegte einen Moment und wollte gerade zustimmen, da fiel mir wieder ein, dass ich morgen Abend Putzdienst hatte und nicht wusste, wie lange dieser dauern würde. Amber hatte immer wieder beteuert, dass es nur eine Stunde in Anspruch nahm, doch da war ich mir nicht wirklich sicher. Der Campus war riesengroß und ich konnte mir kaum vorstellen, dass genügend Schüler Putzdienst hatten um ihn in einer Pause zu säubern. „Ich habe da leider Putzdienst und weiß nicht, wie lange dieser dauert. Das ist ja am Anfang schon tolles Timing.“

„Wann fängt er denn an?“

„Um siebzehn Uhr. Und das Treffen?“

„Das beginnt erst um neunzehn Uhr. Vielleicht schaffst du es ja bis dahin.“

„Hast du Erfahrungen damit, wie lange dieses Putzen dauert? Amber meint, es würde sich dabei nur um eine Stunde handeln, aber ich vertraue ihr nicht so wirklich.“

„Da fängt es schon an, unsere Freundschaft ist zum scheitern verurteilt“, gab Amber hochdramatisch zurück und lachte daraufhin, um zu verdeutlichen, dass es sich dabei nur um Ironie handelte. „Du vertraust mir nicht mal bei den kleinsten Sachen.“

Kate lachte. „Eine Stunde? Kann hinkommen. Ich musste bis jetzt noch nie den Campus und die Häuser säubern, aber ich kann es mir schon vorstellen. Die Lehrer wollen dich ja auch nicht foltern und sehen es ein, wenn du nach einer Stunde ausgelaugt bist, da bin ich mir zumindest sicher. Außer, du hast Mrs. Flemming als Aufseherin.“

„Dann würde ich es noch zum Treffen schaffen“, meinte ich. „Schauen wir mal, vielleicht habe ich ja Glück. Wo findet es statt?“

„In der Turnhalle, sie wird für alles mögliche missbraucht.“

„Dieses Organisations-Team scheint wenigstens etwas sinnvolles zu sein. Im Gegensatz zu Sportarten wie... Volleyball.“ Volleyball konnte ich überhaupt nicht leiden. Wenn ich zusammen mit anderen in einem Team war, endete es meistens so, dass ich einfach nur im Weg stand, ständig Bälle oder unabsichtlich Fäuste ins Gesicht bekam und von keinem Nutzen für das Team war. Es war die schlimmste Sportart, die ich mir vorstellen konnte.

„Volleyball ist toll“, schaltete sich nun Amber ein. Keine Frage, sie hatte Volleyball ja auch als Sportart in diesem Jahr und war begabt darin. Ich ging nicht näher darauf ein – Diskussionen um solche Lappalien waren meines Erachtens sinnlos.

„Dann treffen wir uns morgen Abend. Wenn du nicht kommst, weiß ich ja, wo du bist. Und habe eine Menge Mitleid mit dir.“

 

 

 

An diesem Abend meinte Amber überraschend, dass sie noch einmal los müsste. Sie wollte mir nicht verraten, wohin sie verschwand und ich wollte nicht zu aufdringlich sein. Also ließ ich sie gehen und verbrachte eine Weile dösend allein im Zimmer, unwissend, was ich nun mit mir anstellen sollte. Dementsprechend erfreut war ich, als es überraschend an der Tür klopfte. Ich sprang auf und öffnete sie, in der Erwartung, dass Amber davorstehen würde, doch es war nicht sie, sondern Laura.

„Laura?“, fragte ich überrascht und machte ihr Platz, damit sie hineinkommen konnte. „Woher weißt du, wo ich wohne?“ Das klang ein bisschen schroff, sollte aber eigentlich gar nicht so herüberkommen. Mich wunderte es nur, da ich ihr eigentlich nicht gesagt hatte, wo ich wohnte.

„Eric hat mir eben erzählt, dass du im selben Haus wohnst wie er.“ Diese Information hatte er dann wohl von Luke. „Und dann habe ich die Aufseherin gefragt, wo denn dein Zimmer ist.“ Ich hatte diese Aufseher bisher noch nicht einmal gesehen, aber sie schienen gut über die Zimmerbelegung informiert zu sein. „Ich bin hier, um zu schauen, ob Luke da ist.“

„Luke?“, fragte ich perplex.

Sie zuckte nur mit den Schultern. „Eric hat ihn gesucht und mich gefragt, ob ich mal hier nachschauen gehe. Er wollte nicht selbst gehen, weil er Angst hatte, ihr könntet bereits im Schlafanzug sein, oder so. Was ich nicht ganz verstanden habe – was wäre daran so schrecklich?“

Ich schob den letzten Teil ihrer Aussage einfach beiseite, schüttelte kurz den Kopf um meine Gedanken zu ordnen und fragte dann verwirrt: „Und warum sollte Luke ausgerechnet bei mir sein?“

Sie zuckte einfach nur mit den Schultern. „Wir hatten keinen anderen Anhaltspunkt, als hier zu schauen. Es war ja einen Versuch wert.“

Ich nickte und beschloss, nicht näher darauf einzugehen. „Jedenfalls ist er nicht hier, tut mir Leid.“

„Ist schon in Ordnung. Kann ich noch einen Moment hier bleiben? Du bist ja ganz allein.“

„Das würde mich echt freuen. Amber ist nochmal los, keine Ahnung, wohin. Aber wartet Eric nicht auf dich?“

Laura zuckte nur mit den Schultern. „Mag sein. Aber er kann ja mal ein wenig warten. Kann ich dich mal was fragen?“

„Klar, leg los.“ Ich holte zwei Cola-Flaschen aus dem Minikühlschrank und reichte eine davon Laura. Sie nahm sie dankend entgegen, schraubte den Verschluss auf und nahm gierig ein paar Schlücke, als hätte sie Ewigkeiten nichts mehr getrunken.

„Glaubst du, Eric macht sich an jedes Mädchen ran?“

Ich hätte eigentlich nicht erwartet, dass wir nun solche Mädchen-Gespräche führen würden, so ganz nach dem Motto 'Meinst du, er steht auf mich?'. Aber es kam mir ganz recht. Ich redete gerne über so etwas, auch, wenn ich mich dabei oft ein bisschen kindisch und albern fühlte. „Ich weiß nicht. Ich kenne ihn auch erst seit gestern.“

„Hat Luke dir irgendetwas gesagt?“, fragte sie.

Erst wollte ich den Kopf schütteln und sie fragen, wie sie darauf kam er könnte mir irgendetwas darüber verraten. Aber dann fiel mir auf, dass er das tatsächlich getan hatte. „Ich will nicht Lukes Vertrauen missbrauchen...“, murmelte ich.

„Ich würde Eric nichts davon sagen, wirklich nicht. Wenn er tatsächlich bei jedem Mädchen die selbe Masche abzieht, dann halte ich mich einfach von ihm fern. Er wird nie erfahren, wieso. Vielleicht habe ich ja einfach so das Interesse an ihm verloren.“

„Na ja. Luke meinte schon, dass er es bei jedem Mädchen versucht“, murmelte ich. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, ihr zu verraten, was Luke mir vermutlich im Vertrauen gesagt hatte. Andererseits konnte ich sie doch nicht einfach ins offene Messer laufen lassen, oder? Schließlich war nicht sie der schlechte Mensch, sondern Eric, da er die Mädchen ausnutzte. Nun sah ich, wie Laura nickte und irgendwie traurig wirkte. Ich hätte nicht gedacht, dass sie solch ein Interesse an Eric hätte aufbauen können. Er war zwar ein durchaus interessanter Typ, aber wirkte trotzdem eher wie ein Kumpel. Zumindest auf mich, aber auch diese Ansichten schienen sich zu unterscheiden.

„Okay, danke“, meinte sie und musste sich scheinbar zurückhalten, nicht zu schniefen.

„Ich weiß nicht, ob es stimmt, oder ob es auch auf dich zutrifft. Vielleicht meint er es bei dir ja wirklich ernst. Oder Luke hat einfach alles falsch aufgefasst.“ Ich versuchte sie mit allen Mitteln zu beruhigen.

„Warum sollte er es gerade bei mir ernst meinen?“, fragte Laura. Sie band ihre Haare zu einem Zopf. Ich schätzte sie tat das, um sich irgendwie selbst abzulenken. Leider hielt dieser Zustand nicht lange an. Am liebsten hätte sie wahrscheinlich einfach geweint.

„Ich weiß es nicht, vielleicht bist du etwas besonderes für ihn.“

„Nach einem Tag.“

„Du kennst ihn doch auch erst seit einem Tag und er scheint auch für dich wichtig zu sein.“

„Ich bin immer so. Ich brauche nicht lange, um mich zu verlieben. Aber genauso oft werde ich auch wieder enttäuscht. Aber es ist schon in Ordnung. Ich glaube, ich gehe jetzt auf mein Zimmer...“

„Wo wohnst du denn? Soll ich dich noch wegbringen? Du kannst aber auch gerne hierbleiben, wenn du jemanden zum Reden brauchst.“

„Das ist nett, aber ich glaube ich brauche jetzt einfach nur noch Schlaf. Das hilft mir immer am besten gegen Kummer... Ich wohne in Haus 2, dass ist ja nicht weit entfernt. Ich kann also auch alleine gehen, aber nett, dass du mich wegbringen wolltest. Bis morgen dann, ja?“ Sie stand mittlerweile an der Tür und hatte die Hand bereits auf die Klinke gelegt.

„Ja, bis morgen, Laura.“ Daraufhin verließ sie den Raum. Sie tat mir Leid. Offensichtlich hatte sie öfter Probleme mit Jungs, obwohl sie so hübsch war. Aber vielleicht auch gerade deswegen? Vermutlich war es kein Problem für sie, einen Jungen allein durch ihr Äußeres zu überzeugen. Aber dadurch lockte sie wahrscheinlich nur diejenigen an, die tatsächlich nur darauf bedacht waren. Sie wollte bestimmt mehr, sicherlich auch für ihre inneren Werte geliebt werden. Und deswegen musste sie immer wieder Rückschläge einstecken. Ich war so froh dass ich meinen Freund hatte. Ohne ihn hätte ich vielleicht die gleichen Probleme wie sie, denn ich hätte immer nach ihm gesucht, ihn aber nie gefunden. Sofort holte ich mein Handy von Fensterbrett und tippte seine Nummer ein. Im nächsten Moment ertönte auch schon seine sanfte Stimme.

„Na, meine Cathy?“, fragte er. Er wusste immer sofort, wer anrief, da ihm der Name auf dem Display angezeigt wurde.

„Hey, Schatz. Heute vergesse ich es nicht“, scherzte ich, doch irgendwie zog mich mein eigener Scherz wieder runter. Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Doch gleichzeitig versuchte ich, den Gedanken wieder zu verdrängen, was mir ganz gut gelang.

„Ansonsten hätten wir ja heute Morgen schon einmal telefoniert. Wie war dein Tag?“

„Eigentlich ganz normal. Schule. Dann eigentlich nichts mehr. Aber ich habe mit einer neuen Freundin geredet und sie hat mich gefragt, ob ich mit ins Organisations-Team möchte. Das würde mich echt total freuen!“

„Das hört sich gut an. Was macht man da so?“

„Feste organisieren, dekorieren, alles Mögliche!“, rief ich.

„Oh, toll. Das kannst du bestimmt gut. Du hast ja auch mein Zimmer toll dekoriert und zusammen gestellt. Ich will mich gar nicht fragen, wie es aussehen würde, wenn du da nicht Hand angelegt hättest.“

„Danke“, murmelte ich glücklich. „Ich weiß nur noch nicht, ob ich es zum Treffen morgen schaffe. Ich habe nämlich Putzdienst.“

„Putzdienst?“, fragte er perplex.

„Ja, eine Strafe meiner Lehrerin. Das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Meine Mathelehrerin ist der Albtraum. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich sie ist.“ Dann erzählte ich ihm kurz, was ich getan hatte, was der Grund für den Putzdienst war. „Jedenfalls meinte der Direktor dann, dass es eine Beleidigung war und hat mir diese Strafe verpasst. Das fand ich total ungerecht, aber mittlerweile habe ich mich damit abgefunden.“

„Was macht man denn bei diesem 'Putzdienst'. Was ist das eigentlich für ein Name?“

„Ich glaube, der Name wurde von Schülern erfunden. Offiziell heißt das glaube ich 'Campus- und Häusersäuberung'. Und wie dieser Name schon sagt, müssen wir jeglichen Dreck beseitigen.“

„Das ist ja totale Ausnutze. Dürfen die das überhaupt?“

„Das habe ich mich auch gefragt.“ Da zeigte sich wieder, wie unsere Gedanken sich glichen. „Aber ich schätze schon. Außerdem meinte Amber, dass das eine recht milde Strafe ist und wahrscheinlich hat sie recht. Besser, als tagelang Hausarrest zu haben.“

„Wieso, das kann dir doch egal sein“, meinte er scherzend. „Du musst doch nur zur Schule raus, was anderes hast du dort doch gar nicht zu machen.“

„Genau, ich lebe den ganzen Tag eingesperrt in meinem Zimmer, außer, wenn ich zur Schule muss“, gab ich lachend zurück.

„Gut erfasst, liebe Cathy. Jedenfalls vermisse ich dich schrecklich und freue mich schon auf die nächsten Ferien mit dir. Wir müssen noch klären, ob du nach Hause kommst oder ob ich mir mal dein Internat ansehen soll.“

„Ich hasse Fliegen. Du kannst eigentlich herkommen.“

„Das schauen wir mal – schließlich könntest du hier auch mal deine alten Freunde wiedersehen. Aber es ist ja noch genug Zeit bis dahin.“

„Leider“, flüsterte ich.

„Leider“, gab er traurig zurück. „Aber so lange ist es nun auch wieder nicht. Wir schaffen das schon. Viel Spaß morgen bei deinem Putzdienst, okay? Und danach bei diesem Organisations-Kram.“

„Ja, wenn ich das dorthin schaffe.“

„Das kannst du mir ja morgen mitteilen. Ich liebe dich, meine Cathy. Bis dann, ja?“

„Bis dann, Schatz. Ich dich auch.“

Ich legte das Handy zurück an seinen Platz auf der Fensterbank, doch am liebsten hätte ich direkt noch einmal angerufen. Das Gespräch war nicht sonderlich lang gewesen, doch wir hatten uns alles gesagt, schätzte ich. Irgendwie war es nicht dasselbe, zu telefonieren, aber wen wunderte es. Über die Leitung kamen nicht die Gefühle rüber, wodurch auch immer sie gebremst wurden. Außerdem fehlte es mir, ihn anzublicken, seine Augen leuchten zu sehen, wenn er von etwas schönem berichtete, oder ihn anzuschauen, wenn er ablenkend an die Decke blickte, um zu verbergen, dass er traurig war. Hier schien das alles nur noch eine Illusion zu sein. Eine Illusion seines wirklichen Ichs. Ich musste ihn einfach bald wiedersehen, lange könnte ich das nicht mehr aushalten.

Ich beschloss, mich ins Bett zu legen. Es war schon spät und Amber würde vermutlich noch länger brauchen. Warten wollte ich nicht mehr. Also schloss ich die Augen und sank ins Reich der Träume.

 

Kapitel 3

Am nächsten Morgen als ich die Augen aufschlug lag Amber nicht wie gewohnt in ihrem Bett – sie befand sich nicht im Zimmer. Hatte sie die Nacht woanders verbracht? Das hätte mich ganz schon überrascht. Ich holte mein Handy vom Fensterbrett und wählte ihre Nummer, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Auch, wenn es noch früh am Morgen war, ihre Sicherheit ging momentan vor.

„Amber?“, fragte ich, als das Piepen aufhörte.

Doch es ging nicht Amber ans Telefon, sondern ihre Mailbox: 'Hallo, hier ist Amber. Ich habe gerade etwas ganz wichtiges zu tun, also ruf mich einfach später nochmal an!“

Ich fragte mich, ob das ihre Standard Mailbox-Nachricht war, oder ob sie diese extra für das, was sie gestern Abend gemacht hatte, eingesprochen hatte.

Ehe ich mir Sorgen machen konnte, öffnete sich allerdings die Tür und eine strahlende Amber trat ins Zimmer.

„Amber!“, rief ich überrascht. „Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Eigentlich stimmte das nicht so ganz – ich hatte schließlich gerade erst gemerkt, dass sie verschwunden war.

Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte an die Wand, immer noch dieses Grinsen auf den Lippen, dass nicht mehr verschwinden wollte.

„Ich hatte eine Verabredung“, meinte sie fröhlich. Dann band sie ihre schönen Haare zu einem Zopf und begann vor sich hin zu summen.

„Die ganze Nacht lang?“

„Ja, die ganze Nacht lang. Ich habe bei ihm geschlafen. Aber wirklich nur bei ihm.“

„Okay...“ Irgendwie hätte ich Amber nicht so eingeschätzt, aber es sollte mich nicht stören. Ich freute mich für sie, dass sie offenbar jemand neues gefunden hatte und nicht mehr ihrem Exfreund nachtrauern musste. „Und bei wem warst du?“

„Es ist noch ganz frisch und wir wollen nichts überstürzen, deswegen sag' ich dir lieber noch nichts, okay?“

„Ist in Ordnung“, murmelte ich. Solche Geheimnistuerei konnte ich nicht verstehen. Wir waren schließlich Freunde und ich würde es niemandem erzählen. Aber ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen und es war nun einmal ihre Sache, also beließ ich es dabei. „Dann seid ihr jetzt aber ein Paar?“

„Ja, sind wir. Aber wie gesagt, wir wollen nichts überstürzen. Wir lassen uns Zeit, ehe wir das allen erzählen und es publik machen.“

„Okay. Das freut mich aber für dich. Dann viel Glück euch beiden.“ Mehr konnte ich dazu nicht sagen. Ich wusste nichts über ihren Freund und nichts über ihre Beziehung. Und wenn sie mir momentan nicht mal seinen Namen verraten wollte, dann sicherlich auch nichts anderes. Also hakte ich nicht weiter nach. Seltsam war es allemal, dass sie die ganze Zeit kein Wort darüber verloren hatte. Am Tag meiner Ankunft noch hatte sie so geklungen, als würde sie ihren Exfreund irgendwie vermissen, oder irgendwie der Zeit nachtrauern. Aber vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet.

 

 

 

Nachdem ich zum ersten Mal den Schulchor besucht hatte – dieser zählte zu den regulären wählbaren Unterrichtsfächern, die Atmosphäre war aber eher entspannt – ging ich wieder zurück auf mein Zimmer. Kate, die ebenfalls im Chor war, hatte mich noch einmal auf das Organisations-Team-Treffen hingewiesen und mir nochmals versichert, dass sie sich freuen würde, wenn ich auch daran teilnehmen würde. Dadurch hoffte ich nur noch mehr, dass das Putzen schnell von der Hand gehen und ich rechtzeitig an der Turnhalle ankommen würde.

Luke hatte ich bisher nicht mehr gesehen. Er war nicht im Unterricht gewesen, weder gestern, noch heute. Ich hatte überlegt, ob ich Eric fragen sollte, was mit ihm los war, doch dann hatte ich den Gedanken wieder verworfen. Den Putzdienst müsste ich heute wohl allein machen, denn wenn es Luke nicht gut ging, würde er sich wohl kaum zum Putzen schleppen. Ich hoffte nur, dass dort andere nette Leute wären, damit ich nicht die ganze Zeit alleine sein musste.

Schon früher als eigentlich geplant machte ich mich auf den Weg. Amber schaute mich noch einmal bemitleidend an, hielt mir aber gleichzeitig vor, dass sie sich nun mit ihrem neuen Freund treffen würde. Liebend gerne hätte ich das auch getan – doch er war nicht hier. Leider.

Als ich vor der Turnhalle ankam, wo wir uns zur allgemeinen Besprechung treffen sollten, standen dort schon drei andere Schüler, die mit den Füßen auf dem Boden scharrend darauf warteten, dass endlich etwas passierte.

„Hey.“ Ich gesellte mich in die kleine Runde und lächelte ihnen zu. Sie rangen sich demotiviert ein Lächeln ab und machten sich gar nicht erst die Mühe, ebenfalls 'Hey' zu sagen. Allerdings hatte ich wenig Lust, die ganze Zeit schweigend hier herum zu stehen, also versuchte ich eine Art Konversation anzustimmen, wenngleich diese auch nur oberflächlich sein mochte. Irgendeiner von ihnen würde mir schon antworten, sie konnten mich wohl kaum einfach ignorieren. „Also, ich schätze, ihr seid auch zum putzen hier?“

Zwei von ihnen zuckten erst mit den Schultern und nickten dann. Ein Junge schaute mich für eine kurze Weile an, dann meinte er ruhig: „Scheint so. Mrs.. Flemming hatte wieder ihre Tage...“

Die anderen beiden stummen Mädchen schienen nicht mit mir reden zu wollen. Gedanklich gab ich ihnen den Namen 'Chelseas', weil diese ebenfalls nicht mit mir redete. Allerdings sahen diese beiden Mädchen nicht so arrogant aus wie sie und waren auch nicht so hübsch. Ich war froh, dass wenigstens der Junge seinen Mund aufgemacht hatte und ging sofort auf seine Aussage ein. „Dann hat sie wohl das ganze Jahr über ihre Tage.“

Der Junge schmunzelte, ließ sich aber nicht zu mehr hinreißen. „Ja, bestimmt. Ich kenne sie noch nicht so lange und habe es mir sofort mit ihr verschissen.“

„Bist du noch nicht so lange hier, oder hattest du sie einfach noch nie im Unterricht?“

„Ich bin neu hier. Ich denke, wenn ich schon länger hier wäre, wüsste ich, wie sie ist. Auch, wenn ich nicht mit ihr Unterricht hatte, denn Schüler erzählen sich ja bekanntlich viel.“

„Ja, mag sein. Sie ist aber wirklich eine schreckliche Lehrerin. Ich bin auch wegen ihr hier.“

Der Junge hob seinen Blick und schaute mir nun ganz knapp über den Kopf. Das irritierte mich ein wenig und ich wollte mich umdrehen, doch gerade als ich meinen Kopf bewegen wollte, fassten mir zwei große Hände um die Taille. Nun drehte ich mich abrupt um und schaute in Lukes Gesicht. Seine Augen funkelten mich an und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Mir fiel auf, dass ihm mittlerweile ein Dreitagebart gewachsen war, womit er viel erwachsener wirkte.

„Luke?“, fragte ich überrascht. „Was machst du denn hier?“ Schließlich war er weder gestern noch heute in der Schule gewesen. Er sah aber keinesfalls krank aus.

„Mir ging es nicht so gut, aber jetzt ist es wieder besser. Ich kann dich ja nicht im Stich und alleine schuften lassen.“

„Das ist lieb von dir. Aber glaub mir, ich kriege das auch allein hin. Ich muss ja sowieso noch eine Putzschicht machen, die können wir dann auch gemeinsam abarbeiten. Also, wenn du dich nicht gut fühlst, dann geh' und leg' dich ins Bett.“

„Nein, mir geht es wieder bestens“, meinte er fröhlich und nickte dem Jungen nun zu, der hinter mir stand. Dieser war wieder in sein übliches Schweigen gefallen. „Dann können wir ja gleich loslegen, wenn die Lehrerin endlich da ist.“ Es wunderte mich schon ein wenig. Er war krank gewesen, doch sah nun wieder blendend aus. Außerdem fragte ich mich, wieso er abends sein Zimmer verließ, wenn es ihm doch nicht gut ging? Allein deswegen war Laura ja in mein Zimmer gekommen. Aber ich wollte nicht aufdringlich sein. Es war nicht meine Sache, ging mich nichts an und deswegen hatte ich auch kein Recht ihn danach zu fragen.

Wir warteten noch eine Weile, dann kam eine Lehrerin aus der Turnhalle heraus. Sie hatte ein paar Geräte in der Hand, die wie überdimensionierte Gartenscheren aussahen. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass es sich dabei um solche Dinge handelte, mit denen man Müll besser vom Boden aufklauben konnte. „Hallo, ihr lieben.“ Sie lächelte liebevoll und ich hatte sie sofort ins Herz geschlossen.

Luke beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: „Das ist Ms. June.“ Ich nickte nur. Der Name passte zu ihr. June, also Juni, war eine meiner liebsten Monate. Meist war es warm, aber nicht zu warm. Die Bäume und Blumen hatten ihre schönsten Farben, man konnte Baden, es gab Eiscreme. Ich verband diesen Monat mit Fröhlichkeit und Ausgelassenheit und das schien auch diese Lehrerin zu verkörpern.

„Ich will euch nicht lange zutexten. Je schneller wir beginnen, desto schneller sind wir auch wieder fertig. Ich denke keiner von euch möchte an diesem schönen, lauen Mittwochabend die ganze Zeit mit Säubern verbringen, oder?“ Sie warf ein Lächeln in die Runde. Luke und ich erwiderten dieses Lächeln, die anderen drei starrten betreten auf den Boden. „Na, dann. Machen wir uns an die Arbeit.“

Sie überreichte jedem eine dieser übergroßen Heckenscheren und ging dann zurück in die Turnhalle, um einen Spatel und einen Eimer zu holen. „Das eklige übernehme ich für euch – Kaugummis abkratzen.“ Sie setzte einen angewiderten Gesichtsausdruck auf. Dann machte sie sich an die Arbeit – direkt vor der Turnhalle waren unzählige Kaugummis auf den schönen Bodenfliesen fest getrampelt worden.

„Komm, wir fangen einfach mal vor unserem Haus an“, meinte Luke dann zu mir.

Als die Lehrerin uns beide gemeinsam weggehen sah, warf sie ein: „Ihr beiden Turteltauben, ihr könnt auch einzeln arbeiten. Dann geht die Arbeit doppelt so schnell.“ Dabei lächelte sie jedoch und ich konnte ihr den Kommentar nicht wirklich übel nehmen. Luke schüttelte einfach nur den Kopf, woraufhin sie mit den Schultern zuckte. Wir bewegten uns also gemeinsam auf unser Haus zu. „Diese Logik erschließt sich mir nicht ganz“, murmelte Luke.

„Was meinst du?“

„Wenn wir beide auf der selben Stelle arbeiten, dann ist diese Stelle doppelt so schnell sauber... Also macht es doch keinen Unterschied, wie weit wir von einander entfernt sind.“

„Sie wollte uns einfach nur gewaltsam voneinander trennen“, gab ich zurück. „Vielleicht kann sie es nicht ertragen, zwei glückliche Menschen zusammen zu sehen.“

Luke zog eine Augenbraue hoch und lächelte mich übermütig an. „So sieht sie auch aus“, meinte er lachend. „So grimmig und grausam... Wie eine Mrs. Flemming.“

„Logisch.“

Bald standen wir auch schon vor unserem Haus und begannen, den Müll aufzusammeln. Ich fragte mich, wer einfach so seinen Müll auf den Boden warf oder gar aus dem Fenster schmiss. Das war Umweltverschmutzung und irgendwie asozial, wenn man bedachte, dass das meiste davon die anderen Schüler wieder aufsammeln mussten. Daher bekam ich sofort eine Wut auf all diejenigen, die zu faul waren, einen Mülleimer aufzusuchen.

„Wieso hat sie uns eigentlich Turteltauben genannt?“, fragte Luke plötzlich. Das hatte ich längst wieder vergessen. Als sie das gesagt hatte, hatte ich es einfach als einen blöden Spruch einer Lehrerin abgestempelt. Schon oft hatte ich Erfahrungen damit gemacht, dass sie Dinge ganz falsch interpretierten und oft auch einfach falsche Informationen über ihre Schüler hatten, oder ihnen irgendwelche andichteten.

„Keine Ahnung“, gab ich zurück. „Das ist wieder typisch Lehrer. Die denken sich einfach irgendetwas aus.“

„Aber irgendwas muss ihr doch den Anstoß für diese Annahme gegeben haben. Das sagt man doch nicht einfach so.“

„Vielleicht hast du mich komisch angeschaut?“, scherzte ich, doch Luke lachte nicht. Er lächelte nicht einmal, weswegen mir der Spruch direkt peinlich war und ich rot anlief. „Oder sie hat... wie gesagt, einfach irgendetwas erfunden“, fügte ich hinzu, um die Peinlichkeit irgendwie zu schmälern. Eher weniger erfolgreich.

Luke schien nicht näher darauf eingehen zu wollen. „Hast du mich eigentlich heute vermisst?“ Erschrocken blickte ich auf, doch er lächelte und ich erkannte, dass er dieses 'vermisst' nicht auf die eigentliche Art, sondern eher ironisch meinte. „Weil ich nicht im Unterricht war.“

„Heute nicht und gestern auch nicht. Ich habe mich nicht getraut, zu fragen, wo du warst. Also nicht dass du denkst, es würde mich überhaupt nicht interessieren.“

„Ist schon in Ordnung, kann ich verstehen. Ich will auch immer nicht aufdringlich sein. Und habe es bei dir zum Beispiel direkt am Anfang verbockt.“ Er lachte, doch ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte und schaute ihn einfach nur perplex an. „Ich habe doch gesagt, dass du hübsch bist. Obwohl das irgendwie total macho-mäßig herüberkam.“

Jetzt erst wusste ich was er meinte und begann zu kichern. „Ach, das war doch nicht schlimm.“

„Aber du hattest sicherlich einen total schlechten Eindruck von mir. Hast mich für einen Abklatsch von Eric gehalten. Gib's zu.“ Er wirkte keinesfalls unsicher, aber irgendwie ein wenig besorgt. Ich konnte nicht wirklich beschreiben, was ich in seinem Blick zu erkennen vermochte.

„Nein, überhaupt nicht. Du machst dir viel zu viele Gedanken. Es gibt da viele Unterschiede zwischen dir und Eric und die kann man überhaupt nicht übersehen.“

„Das ist gut. Weißt du eigentlich, was mit Laura gestern los war?“

„Laura?“, stammelte ich. „Wie kommst du denn jetzt auf sie?“

„Ich war gestern Abend nicht auf dem Zimmer und Eric meinte heute Morgen, dass sie zu dir wollte um mich zu suchen. Und danach ist sie nicht wieder zurück zu ihm gegangen.“

„Ich weiß nicht-“, murmelte ich.

„Hast du ihr irgendetwas gesagt?“ Er klang nicht böse, eher vertrauenswürdig und als würde er alles verstehen und akzeptieren, was ich nun sagen würde. Eindringlich blickte er mir in die Augen.

„Ich konnte nicht anders. Eigentlich verrate ich so etwas nicht, aber sie hat mir so leid getan. Ich wollte nicht, dass er sie ausnutzt, das hat sie doch nicht verdient. Also habe ich ihr erzählt, was du mir gesagt hast. Tut mir Leid.“

Er zuckte mit den Schultern und lächelte sanft. „Ist doch nicht schlimm. Du wolltest damit sicher nichts Böses bezwecken. Das Problem ist nur, dass ich mittlerweile denke, dass er es ernst mit ihr meint. Also war das nicht besonders vorteilhaft.“

„Woher weißt du das? Dass er es ernst mit ihr meint?“

„Ich weiß es nicht, ich gehe nur davon aus. So, wie er von ihr geredet hat, hat er vorher noch von keiner geredet.“

„Und was machen wir da jetzt?“

„Das weiß ich auch nicht. Sie wird sich kaum wieder davon überzeugen lassen, dass er sie doch nicht nur verarscht. Davon gehe ich zumindest aus, ich bin kein Mädchen und kann das nicht so gut einschätzen.“

„Vielleicht, wenn ich mit ihr rede. Wenn ich sie morgen sehe, spreche ich sie sofort darauf an, okay? Es tut mir so Leid. Ich wusste das nicht.“

„Du kannst auch nichts dafür. Es ist sein Problem, wenn er vorher alle Mädchen nur ausgenutzt hat, ganz einfach.“

Wir hatten uns mittlerweile ein ganzes Stück vorgearbeitet und unsere Müllsäcke, die wir über der Schulter trugen, waren schon fast halb gefüllt. Luke schaute auf seine Armbanduhr und meinte: „Es ist schon eine halbe Stunde rum. Nicht mehr lange.“

Wir arbeiteten also noch eine Weile weiter und obwohl wir noch lange nicht alles abgegrast hatten, beendete die nette Lehrerin den Putzdienst bereits nach einer Stunde. Sie sammelte unsere Gerätschaften und Müllsäcke ein und bedankte sich bei uns für die Hilfe. Dann wünschte sie uns einen schönen Abend.

„Dann schaffe ich es ja doch noch pünktlich“, meinte ich zu Luke, als wir vor der Turnhalle standen und nicht wussten, wie wir uns verabschieden sollten. Ehrlich gesagt hätte ich auch gerne noch ein wenig länger Müll aufgesammelt. Man konnte gut mit ihm reden, ich verbrachte gern meine Zeit mit ihm.

Luke schaute mich mit leicht schief gelegtem Kopf fragend an. „Pünktlich wohin?“

„Ach, das weißt du ja gar nicht“, gab ich zurück und schlug mir eine Hand an die Stirn. „Habe ich dir ja gar nicht erzählt. Ich möchte ins Organisations-Team, weißt du. Die halten heute ein Treffen ab und ich war mir nicht sicher, ob sich die Zeiten des Putzdienstes und des Treffens überschneiden.“

„Ach so“, meinte Luke knapp. „Wann fängt es dann an?“

„Um neunzehn Uhr.“

„Dann hast du ja noch ein wenig Zeit zum Überbrücken. Was machst du jetzt?“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, er wollte dass ich etwas mit ihm machte. Doch die Idee verursachte ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch. Ich würde auch nicht wollen, dass mein Freund etwas mit einem anderen Mädchen machte, also war ich drauf und dran einfach zu sagen, ich würde etwas mit Amber machen. Ich zuckte aber nur mit den Schultern, weil mir irgendwie die Sprache weg blieb. Und dann baute sich dieser Wunsch in mir auf, zu fragen, wo er denn gestern hin verschwunden war. Gestern Abend. Das musste ich einfach wissen – hatte es vielleicht etwas damit zu tun, dass auch Amber die ganze Zeit weg gewesen war? Und er war ihr neuer Freund? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Er wirkte zu reif für sie, zu erwachsen und zu toll... Nicht, dass Amber kein großartiger Mensch war, das war sie definitiv. Aber zu ihr würde meines Erachtens kein Luke passen, sondern eher ein ein wenig durchgeknallter Junge.

„Wo warst du eigentlich gestern?“, warf ich einfach mal so ein. „Gestern Abend, als Laura dich gesucht hat.“

Er schaute ganz knapp an mir vorbei, blickte mich nicht mehr direkt an. Irgendwie schien er total gedankenverloren, was meinen Verdacht verstärkte, er könnte sich mit Amber getroffen haben. Wieso sollten sie sonst ganz ungewöhnlich beide abends verschwunden sein... Und wieso hätte Laura sonst bei mir nachschauen sollen? Eric hatte ihr sicher erzählt, dass zwischen den beiden etwas läuft, weil er es mitbekommen hatte. Und dann war er davon ausgegangen, dass die beiden sich auf unserem Zimmer getroffen hatten. „Ich würde es dir zeigen. Aber du hast keine Zeit.“

„Wieso habe ich keine Zeit? Du hast doch selber gesagt, dass zwischen jetzt und dem Treffen noch genug Zeit ist“, gab ich lächelnd zurück.

Luke zog eine Augenbraue hoch und schaute mich verführerisch an. „Ich dachte, das Schulterzucken würde alles sagen. Aber gut, wenn du Zeit hast, dann zeig' ich es dir. Zuerst müssen wir dafür in dein Zimmer gehen.“

„In mein Zimmer? Wieso das denn?“

„Das wirst du dann schon sehen.“

Doch mir fiel es bereits wie Schuppen von den Augen – auf meinem Zimmer befand sich auch Amber. Und er wollte mir nun zeigen, dass er bei Amber war. Sofort stieg eine unerwartete Wut in mir auf. Die beiden passten doch überhaupt nicht zusammen! Außerdem hatte Amber mir nicht gesagt, dass sie ihn kannte. Obwohl das eigentlich naheliegend war – die drei waren ja schon länger in einer Klasse. Trotzdem fand ich das so unpassend und komisch, dass ich gar nicht anders konnte als zu hoffen, dass diese Beziehung die Probephase nicht durchstehen würde. Solche Gedanken hatte ich bisher noch nie gehabt und sie machten mir Angst. Es war so eigensinnig von mir, doch trotzdem konnte ich es nicht abstellen. Den Weg zu meinem Zimmer im dritten Stock über verlor ich kein einziges Wort, aber Luke fragte auch nichts. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass ich gespannt war, doch das war ich nicht. Am liebsten wäre ich einfach gegangen.

Ich öffnete die Tür zu unserem Zimmer. Und da lag Amber auf ihrem Bett, spielte mit ihrem Handy. Als sie uns zu zweit erblickte, schaute sie erstaunt auf und meinte dann: „Oh, was ist denn hier los!“ Dabei lachte sie. Luke ebenfalls. Ich hätte kotzen können.

„Hey, Amber“, meinte er. „Ich wollte Cathy etwas zeigen.“

Amber nickte freudestrahlend. Er ging auf sie zu. Am liebsten wäre ich einfach zwischen die beiden gesprungen und hätte ihnen das Ganze ausgeredet. Sie blieb entspannt auf ihrem Bett liegen – sollte er sich jetzt auf sie legen, oder was? Langsam wurde der Bogen tatsächlich überspannt! Nun, wo sie so nebeneinander standen, sah es noch viel dümmer aus, sie zusammen zu sehen. Und dann – ging er einfach an ihr vorbei. Erleichtert atmete ich auf. War es doch nicht das, nachdem es ausgesehen hatte? Er stellte sich nun ans Fensterbrett und schaute hinaus. Dann blickte er sich um und schaute mich fordernd an. „Komm her“, meinte er ruhig. Verunsichert schaute ich zu Amber, ob er doch nicht sie gemeint hatte, doch sie hatte sich bereits wieder ihrem Handy gewidmet. Sollte ich mir das ganze nur eingebildet haben? Zögerlich ging ich auf Luke zu. Mit einer Hand hielt er sich auf dem Fensterbrett abgestützt, der andere Arm nahm mich in Empfang und legte ihn dann auf meinen Rücken, während ich mich ans Fensterbrett lehnte und gespannt hinaus schaute.

„Siehst du das da hinten?“ Er zeigte mit der Hand, die hinter meinem Rücken gelegen hatte, aus dem Fenster und tat sie dann wieder an ihren eigentlichen Ort.

Ich nickte. „Du meinst den Wald?“

„Nein, nicht den Wald. Dahinter. Schau über die Baumkronen, da zeichnet sich doch ganz schwach etwas ab.“

Ich kniff meine Augen zusammen, um besser sehen zu können und tatsächlich sah ich am Horizont etwas blitzen, glitzern und funkeln. „Was ist das?“, fragte ich überrascht. Blinzelnd drehte ich mich zu ihm um, sodass nun seine Hand auf meiner Taille ruhte. Vorsichtig schob ich seinen Arm von mir.

„Ein See“, sagte er leise und blickte dann mit glänzenden Augen hinaus.

„Und dort warst du gestern?“

„Genau, dort war ich gestern Abend. Aber ich erzähle dir erst, weswegen ich dort war, wenn du mit mir dort hin gehst.“ Er zog mich am Arm aus dem Zimmer, zog die Tür zu und schaute mich an. „Amber muss ja nicht alles mithören.“

Von mir aus hätte sie das aber ruhig hören können.

„Luke, ich muss zum Treffen des Organisations-Teams. Da habe ich mich wirklich drauf gefreut. Außerdem ist es schon dunkel und ich weiß nicht, ob es so sicher ist, wenn wir jetzt dorthin gehen.“

„Aber abends ist es dort am Schönsten. Und diese Treffen finden so oft statt – du könntest auch noch später dorthin.“

„Ich könnte auch noch später zu diesem See“, gab ich zurück.

Er nickte. „Könntest du. Das stimmt. Ich will dich auch nicht weiter stören. Es war trotzdem schön mit dir, den Müll aufzusammeln.“ Er schmunzelte. „Perfektes erstes Date.“

„Ja, total“, gab ich zurück.

Er schob seine Hände in die Hosentaschen, lächelte noch einmal und drehte sich dann um.

„Gehst du jetzt zum See?“, fragte ich ihn.

„Ja, geh' ich.“

„Viel Spaß dann“

„Danke.“ Er drehte sich im Gehen noch einmal um und lächelte, ehe er um die Ecke bog.

Ich ging zurück in unser Zimmer und ließ mich neben Amber auf ihr Bett fallen, ohne zu wissen, was ich als nächstes tun sollte.

„Was war das denn eben?“, fragte Amber und legte ihr Handy beiseite, um mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.

„Was meinst du?“, fragte ich unschuldig, doch ich wusste tatsächlich nicht, worauf sie anspielte.

„Du und Luke...?“

„Was?“, fragte ich perplex.

„Ach, egal. Vielleicht bilde ich mir da auch nur etwas ein. Ihr beide habt so ausgesehen, als wärt ihr ein Paar.“

„Ein Paar?“, fragte ich sie verwirrt. „Wie kommst du denn darauf?“

„Manchmal bilde ich mir auch einfach gewisse Dinge ein. Wenn sich so Geschichten in meinem Kopf bilden, von Leuten, die ich süß zusammen fände, zum Beispiel“, meinte sie schulterzuckend.

„Uns fändest du süß zusammen, oder was?“, fragte ich und setzte einen angewiderten Gesichtsausdruck auf. „Was soll das denn bitte bedeuten? Amber, du weißt, dass ich meinen Freund habe und liebe.“

„Ja, das weiß ich, aber das bedeutet ja noch lange nicht, dass du und Luke nicht süß zusammen ausseht. Aber mach dir nichts draus, ich denke das sehr oft bei Leuten. Wollte er nicht eigentlich, dass du mit ihm zum See gehst?“

„Ja, wollte er, aber das Treffen des Organisations-Team ist ja gleich.“

„Und du hattest Angst, mit einem Jungen allein dorthin zu gehen. Ganz im ernst – du weißt, dass diese Treffen öfter sind und du dich auch dort noch gut einbringen könntest. Heute wird da wahrscheinlich eh nur grob geprüft, wer dieses Jahr im Team ist und kurz über die Pläne geredet. Kann ich mir zumindest vorstellen.“

„Wieso sollte ich davor Angst haben?“

„Weil du befürchtest, deinen Freund könnte das ärgern?“

„Das ist doch Schwachsinn. Wir sind nicht so – er würde niemals sauer sein, nur weil ich etwas mit einem anderen Jungen mache. Er weiß nämlich dass ich ihn liebe und nur ihn möchte. Verstanden?“

„Verstanden, Chef“, meinte Amber dann und kicherte. „Ich wäre gerne mit ihm mitgegangen. Im ganzen Jahr, dass ich nun schon hier bin, war ich noch nicht einmal dort. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass sich da ein See befindet. Wahnsinn oder? Wie man so blind sein kann. Nun ja, manchmal sieht man eben den Wald vor lauter Bäumen nicht.“

„Meinst du wirklich, es würde sich lohnen?“

„Ich bin mir ziemlich sicher. Was spricht schon dagegen? Luke ist wirklich ein netter Kerl und würde nie etwas machen, was du nicht willst, da kannst du dir sicher sein.“

Ich nickte und stand auf. „Dann will ich mir die Gelegenheit mal nicht nehmen lassen.“ In diesem Moment war ich überraschend leicht zu überzeugen gewesen. Ich zog mir schnell eine etwas dickere Jacke über und rannte dann aus dem Haus. Eine Weile lang befürchtete ich, er wäre schon viel zu weit vorgegangen und ich würde mich im schlimmsten Fall in dem Wald verirren, wenn ich ihn nicht früh genug fand. Doch kurz vor dem Zaun, der den Wald abgrenzte und über den er nun leichtfüßig stieg holte ich ihn ein.

„Luke!“, rief ich, bemüht, nicht zu laut zu sein.

Überrascht drehte er sich um. Uns trennte nur noch dieser blöde Zaun. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie peinlich ich aussehen würde, wenn ich versuchte dort hinüber zu klettern.

„Cathy“, sagte er überrascht und lehnte sich darüber. „Hast du dich etwa doch umentschieden?“

„Ja, hab ich“, gab ich leise zurück und trat nun an ihn heran. „Ich kann mir diese Gelegenheit schlecht entgehen lassen.“

„Dann komm.“ Er streckte eine Hand aus und half mir, über den Zaun zu klettern. Mit seiner Hilfe gelang mir das sogar halbwegs anständig. Als ich auf dem Boden der anderen Seite ankam und zu ihm hoch blickte, lächelte er freudig. „Ich find's wirklich schön, dass du dich nochmal umentschieden hast.“

Wir machten uns auf den Weg durch den Wald. Das jagte mir ein wenig Angst ein, doch mit Luke an meiner Seite fühlte ich mich schon sicher. Ich hatte das Gefühl, mir konnte nichts passieren, solange er nur auf mich aufpasste. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl, wenn wir stumm nebeneinander her gingen, weswegen ich eine Konversation anstimmte. „Sag mal, wie kommst du eigentlich darauf, abends einfach wegzugehen und dich an einem See niederzulassen?“

„Es ist einfach schön dort. Ich verbringe dort gerne Zeit. Manchmal habe ich das Gefühl, vor mir ist noch nie jemand da gewesen. Als wäre alles vollkommen unberührte Natur, die mir aber ihre Pforten öffnet. Außerdem ist es dort ruhig, bis auf das Gezwitscher der Vögel. Wenn ich auf meinem Zimmer bin, ist es auch ruhig, bis auf das Geschwätz von Eric.“ Er lachte. „Er ist ein sehr guter Freund von mir, wenn nicht sogar mein bester, aber manchmal kommt einfach nur Müll aus seinem Mund.“ Ich lachte ebenfalls. „Man kann einfach viel besser entspannen hier“, führte er seinen Erfahrungsbericht fort. „Man kann einfach mal alleine sein. Und deswegen gehe ich hier ab und zu hin.“

Ich nickte. „Du bist gerne nachdenklich, oder?“

Er nickte ebenfalls. „Was bedeutet gerne? Ich denke viel über Dinge nach, kann aber nicht wirklich behaupten, dass ich es gerne tue. Je mehr man nachdenkt, desto komplizierter wird nur das Leben. Desto mehr Sorgen macht man sich selber. Aber trotzdem lässt es sich nicht einfach abstellen, natürlich nicht.“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Er hatte so recht und es hätten meine Worte sein können – doch ich wollte nicht wie ein kleines Mädchen alles nachplappern oder alles bejahen, also schaute ich nachdenklich auf den dunklen Waldboden vor mir und lauschte dem Rascheln der nassen Blätter unter uns. Irgendwann fiel mir dann eine weitere Frage ein, doch ich ließ etwas Zeit verstreichen, ehe ich sie stellte. „Warst du schon einmal mit jemandem dort?“

Er schaute einen kurzen Moment mit glänzenden Augen geradeaus – mittlerweile schien die Sonne nur noch leicht am Horizont und trotzdem glänzten sie immer noch in diesem verführerischen Ton – und meinte dann leise: „Nein, immer nur allein. Bis jetzt wollte ich diesen Ort noch mit niemandem teilen.“

Ich spürte, wie eine Gänsehaut mich überfiel und mich kurz zittern ließ. Ich war die Erste, die an seiner Seite dort sein würde. Womit hatte ich diese Ehre überhaupt verdient? Warum war ich ihm wichtig genug, um mit ihm dorthin zu gehen?

Mittlerweile waren wir fast am Rande des Waldes angekommen.

„Ist dort der See?“, fragte ich und zeigte mit dem Finger geradeaus.

„Ja, fast direkt hinter den Bäumen“, antwortete Luke. „Jetzt sind wir fast da. Es tut mir übrigens Leid, dass du jetzt dein Treffen verpasst. Aber da kommen noch ganz viele andere Gelegenheiten.“

„Es ist ja meine eigene Schuld. Außerdem bin ich jetzt froh über meine Entscheidung – hätte ich mich nicht noch einmal umentschieden, hätte mich das nun wahrscheinlich geärgert.“

„Ach, ich wäre auch noch ein anderes Mal mit dir hier hingegangen. Aber dann wäre die Magie ein Stückchen verflogen. Meinst du nicht?“

„Doch bestimmt. Und deswegen bin ich froh, dass ich doch noch richtig gehandelt habe.“

Wir traten durch die letzten Bäume am Rande des Waldes und durch das hoch stehende Gebüsch erhaschten wir die ersten Blicke auf den See. Er war viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Darum herum war hohes Gras, doch ab und zu waren dort kahle Stellen. Vögel zwitscherten, doch ihr Klang wurde immer leiser, mit jedem Strahl den die Sonne weniger aussandte. Man hörte das Wasser in der leichten, warmen Brise ein wenig umherschwappen. Ich liebte die Geräusche von Wasser – ob es nun Regen war, oder das Meer oder auch nur das leichte Schwappen in einem See. Es gab ein geborgenes Gefühl, man fühlte sich wohl und sicher. Und so ging es mir auch jetzt, in diesem Moment.

Vor uns war ein kleiner Abhang – er war wirklich winzig, doch Luke ging voraus und hielt mir dann eine Hand hin, damit ich ohne ins Straucheln zu kommen herunter treten konnte. Es hätte mich gestört, hätte er sie länger als nötig festgehalten, doch das tat er auch nicht. Er ließ sie sofort wieder sanft fallen und führte mich dann, ohne mich zu berühren, an einen Platz ganz nah am Wasser. Auch hier war solch eine kahle Stelle ohne Gras, an die man sich gut setzen konnte. Wir setzten uns nebeneinander und blickten auf das Wasser, welches beruhigend hin und her schwappte.

„Es ist wirklich wunderschön, oder?“, fragte Luke. „Und so friedlich.“

„Ja, das stimmt. Ein ganz besonderer Ort. Man vermutet ihn gar nicht hier. Es fühlt sich an, als wären wir vollkommen abgeschnitten von der Zivilisation.“

„Ja, nur wir beide“, murmelte Luke. Wieder glänzten seine Augen – ich fragte mich, wieso mir das so oft auffiel und ich es so oft zu erwähnen vermochte – doch nun in einem ganz anderen Ton. Durch die Spiegelung des Wasser wirkten sie viel dunkler und trotzdem vertrauenswürdig. Ich ließ mir seinen Satz noch einmal durch den Kopf gehen. 'Nur wir beide'. Es war klar, dass er nichts von mir wollte. Er wirkte so reif, während ich teilweise ganz schon albern sein konnte. Außerdem kannten wir uns erst seit vorgestern. Und er hatte nie irgendwelche besonderen Andeutungen gemacht, zumindest waren mir keine aufgefallen. Trotzdem hörte sich dieses 'Nur wir beide' seltsam intim an und so, als würden wir mehr miteinander teilen als nur diesen Abend. Und das ging mir einen Schritt zu weit. Ich wusste, dass dieses Treffen rein platonisch war, keine Frage. Aber ich dachte daran, wie mein Freund mit einer anderen unsere Plätze einnehmen würde. Ich wäre abgrundtief traurig, würde mich hintergangen fühlen. Niemals wollte ich mir so ein Bild auch nur ansatzweise in der Realität vorstellen. Also stand ich auf, obwohl wir doch gerade erst angekommen waren.

„Du, Luke. Ich glaube, ich sollte wieder gehen.“

Er stand ebenfalls aus und umfasste meine Arme. „Was, wieso? Was ist denn los? Ist alles in Ordnung?“

„Ja, es ist alles gut, aber ich will nicht zu spät wieder im Zimmer sein.“

„Habe ich irgendetwas gesagt, was dich...?“

Ich unterbrach ihn sofort. „Nein, nein. Du hast nichts gemacht. Ich fühle mich einfach nur nicht mehr wohl, weil es schon so spät ist. Tut mir Leid, dass wir den ganzen Weg hierher gehen mussten und ich nun nach ein paar Minuten schon wieder zurück will.“

„Das ist nicht schlimm.“ Er drückte mich sanft zurück, um mir zu beweisen, dass er damit Einverstanden war wieder zurück zu gehen. „Du hast es gesehen und das ist das, was zählt. Wir haben diesen Moment geteilt, das finde ich schön.“

„Macht es dir auch wirklich nichts aus?“

„Nein, überhaupt nicht. Vielleicht hätte ein längerer Aufenthalt auch nur die Magie zerstört, weißt du? Wahrscheinlich ist es so ohnehin am besten.“

Ich schmunzelte. Ich fand es süß, wie er von dieser Magie sprach. Denn es stimmte – dieser Moment war magisch gewesen, auf eine seltsame Art und Weise. Als hätte jemand uns diesen Platz hergerichtet und es darauf abgesehen, dass wir einen wunderschönen Moment dort verbrachten. Und ja, er war wunderschön gewesen. Wunderschön, aber nicht perfekt. Perfekt wäre er nur mit meinem Freund gewesen. Auf dem Rückweg zauberte mir der Gedanke daran, wie ich mit meinem Freund dort saß, ein Lächeln ins Gesicht. Ich ersetzte ihn einfach gegen Luke und verbrachte mit ihm den Moment dort. Und dann wäre ich durchaus länger geblieben, denn mit ihm konnte die Magie wahrscheinlich nie aufhören. Mein Gefühle für ihnen schienen so stark zu sein wie nie zuvor und doch so bekannt und vertraut, als wären wir schon immer ein Paar gewesen.

Als wir vor der Tür zu meinem Zimmer standen, schaute ich auf die Uhr. Es war mittlerweile kurz nach neun. Ich wühlte in meiner kleinen Handtasche nach dem Schlüssel, doch ich konnte ihn nicht finden.

„Komisch“, murmelte ich, stellte die Tasche auf den Boden und wühlte noch einmal darin herum. „Ich habe ihn nicht dabei... Muss ihn vorhin vergessen haben, als wir aus dem Fenster geguckt haben.“ Schnell machte ich den Reißverschluss wieder zu und klopfte behutsam an die Tür. „Amber“, rief ich vorsichtig, ich wollte ja niemanden wecken, der zu dieser frühen Stunde schon schlief. Doch es gab keine Reaktion von innen. Dann klopfte ich noch einmal. Wieder nichts.

„Entweder sie schläft...“, murmelte ich. Oder sie ist bei ihrem neuen Freund, dachte ich anschließend, doch das konnte ich Luke nicht anvertrauen. Es war Ambers Sache und ich hatte nichts das Recht, ihm irgendetwas davon zu erzählen.

„Oder?“, fragte er nun aber.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Oder sie ist irgendwie nicht da. Was mache ich denn jetzt?“

Eine Weile lang schauten wir uns beide recht planlos an, dann atmete Luke scharf die Luft ein und meinte vorsichtig: „Ich will nicht, dass du irgendetwas Falsches denkst. Aber wenn du keine Alternative hast, kannst du gerne bei mir und Eric schlafen. Ich würde mich dann einfach auf den Boden legen und du kannst in mein Bett gehen. Wenn es dir lieber ist, frage ich auch nochmal die Zimmerverwaltung, ob ich neues Bettzeug bekomme. Dann musst du nicht in meiner Bettwäsche schlafen.“

Ich lächelte. „Das wäre super nett von dir...“, murmelte ich. „Ich habe nämlich wirklich keine Ahnung, wo ich sonst hingehen soll. Außer Amber kenne ich hier noch niemanden wirklich gut. Außerdem hätte ich eh keine Ahnung, wo die anderen wohnen. Macht es euch auch nichts aus?“

„Nein, natürlich nicht“, sagte Luke aufrichtig. „Ganz und gar nicht. Komm, wir gehen dann hoch.“ Luke wohnte noch ein Stockwerk höher. Wir gingen also die Stufen hinauf und dann öffnete er eine Tür. Es roch irgendwie ziemlich seltsam, als wir den Raum betraten. Und während er die Tür hinter mir schloss, tauchte Eric in meinem Blickfeld auf.

„Oh, was läuft denn hier?“, fragte er, wodurch ich sofort rot anlief. „Sorry, Leute, dass ich störe. Ich kann von mir aus gehen, wenn ihr wollt. Aber bitte, lasst mein Bett außen vor, klar?“

„Eric, hör' auf damit“, meinte Luke selbstsicher und schob ihn unsanft beiseite. Dann beugte er sich hinunter und schüttelte einen Sitzsack auf. „Hier, wenn du dich gemütlich setzen willst...“ Er bedeutete mir, dass ich mich hinsetzen durfte.

„Ganz Gentleman der Luke“, meinte Eric mit einem vielsagenden Grinsen. „Leute, wirklich. Wenn ihr ein bisschen Zeit für euch haben wollt... ist kein Problem für mich.“

„Jetzt halt den Mund“, sagte Luke abwertend. Offenbar hatte er mal wieder genug von Erics Sprüchen. Hätten sie nicht mich betroffen, hätte ich sie allerdings ganz lustig gefunden. Er meinte es ja auch nicht böse.

„Sag mal, Cathy. Kann ich dich mal was fragen?“, meinte er nun zögernd.

„Klar, was gibt’s?“, fragte ich, doch direkt nach dieser Frage wusste ich eigentlich schon, was er wissen wollte.

„Gestern war doch Laura bei dir, oder? Sie war vorher nämlich bei mir und ist danach nicht wieder gekommen, obwohl das eigentlich nicht so vereinbart war. Weißt du, was da gewesen sein könnte?“

Ehrlich gesagt wusste ich überhaupt nicht, was ich nun sagen sollte. Würde ich die Wahrheit gestehen, wäre er sicherlich sauer auf mich. Im Lügen war ich vermutlich aber auch nicht sonderlich geübt und außerdem würde diese Lüge sicherlich hinken und irgendwann ans Licht kommen. Doch glücklicherweise kam Luke mir zu Hilfe.

„Sie hat sicher gemerkt, was du für ein Kerl bist, Eric“, lachte Luke.

„Was meinst du damit?“, fragte Eric ehrlich verwundert.

„War nur ein Spaß“, ruderte Luke daraufhin zurück. „Vielleicht war sie einfach müde und ist schlafen gegangen.“

„Vielleicht – Cathy, weißt du irgendetwas darüber?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Sie war gestern kurz bei mir, um nach Luke zu fragen, doch ich wusste nicht wo er ist und dann ist sie gegangen.“ Jetzt war ich doch dazu gezwungen worden, zu lügen. Ich war einfach zu feige, um mit der Wahrheit rauszurücken. Schuldbewusst schaute ich unauffällig Luke an, doch er lächelte leicht und gab mir mit seinen Augen zu verstehen, dass ich alles richtig gemacht hatte. Mit einem leisen Lächeln drehte ich mich wieder zu Eric, der planlos im Bett lag und an die Decke starrte.

„Das ist komisch. Ich hatte eigentlich das Gefühl, es läuft ganz gut. Luke, sie ist echt ein tolles Mädchen. Am Anfang dachte ich ja, sie wäre – nun ja – ein ganz normales Mädchen eben. Aber irgendwie...“

„Wahnsinn, da hat es wohl eine geschafft den Eric zu bändigen“, gab Luke ironisch zurück.

Er zuckte mit den Schultern. „Und die scheint mich jetzt nicht mehr haben zu wollen?“

„Ich kann ja morgen mal fragen, wieso sie nicht wieder zu dir gegangen ist. Natürlich nur, wenn du das willst. Vielleicht kann ich sie ja sogar umstimmen.“ Irgendwie musste ich ja versuchen, meinen Fehler wieder gut zu machen. Ich hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen und wollte nicht Schuld daran sein, dass die beiden sich verloren hatten.

„Ja, red' mal mit ihr. Aber sag ihr jetzt nicht unbedingt, dass ich so begeistert von ihr bin. Dann verliert sie vielleicht das Interesse. Wär' echt nett von dir, wenn du mal mit ihr sprichst.“ Eric bemühte sich um seine coole Art, ich meinte jedoch hinter die Fassade blicken zu können. Manchmal versuchte ich allerdings auch mehr in Menschen zu sehen, als sie eigentlich waren. Leider war es nicht immer so, dass jeder nur eine Maske aufhatte, die es zu durchbrechen galt. Dies war zwar oft der Fall – jedoch gab es auch Ausnahmen. Und ob Eric zu diesen Ausnahmen zählte oder nicht, konnte ich im Moment noch nicht mit Sicherheit sagen.

„Ich gehe dann mal neues Bettzeug für dich holen“, meinte Luke plötzlich und stand auf.

„Das brauchst du nicht“, sagte ich und hielt ihn am Arm fest. „Ich kann auch in dem Bettzeug schlafen. Oder ansonsten kann ich auch einfach selber gehen.“

„Nein, auf keinen Fall. Du bist doch der Gast, da lass' ich dich doch nicht die Bettwäsche holen. Ich mach das schon – sie muss sowieso mal wieder gewechselt werden.“ Damit löste er sich aus meinem Griff und stürmte mit den ironisch gemeinten Worten: „Eric, pass' gut auf sie auf während ich weg bin!“ aus dem Zimmer.

Ich lächelte Eric zu, weil ich nicht wusste, was ich weiter mit ihm sprechen sollte.

Dann beschloss ich, meinen Freund anzurufen. Ich stand auf und ging zur Tür. „Eric, ich muss schnell mal telefonieren, okay? Mach mir bitte gleich die Tür wieder auf.“ Damit verließ ich den Raum und schloss die Tür hinter mir zu.

Nach nur einem Klingeln nahm mein Freund ab. „Na, meine Cathy?“, sagte er aufgeregt. „Ich habe schon gewartet, wann du denn endlich Zeit für mich hast.“ Jetzt brachte er mich schon wieder dazu, ein schlechtes Gewissen zu haben... Ich hätte eigentlich Zeit für ihn gehabt, aber diese mit Luke verbracht. Aber so durfte ich nicht denken – ich musste hier mein Leben leben, ganz einfach.

„Ja, jetzt bin ich ja da“, sagte ich ruhig. „Was hast du heute gemacht?“

„Schule, danach eigentlich nichts mehr. Ohne dich ist jeder Tag schrecklich monoton und langweilig. Ich weiß gar nicht mehr, was ich tun kann, wenn du nicht an meiner Seite bist. Das ist ganz schön öde. Ich muss mich wohl erst einmal daran gewöhnen. Und wie war dein Tag? Hast du es noch zu diesem Treffen geschafft, zu dem du wolltest?“ Nein hatte ich nicht. Hatte ich nicht – wegen Luke... Doch das konnte ich ihm auf keinen Fall sagen.

„Nein, leider nicht. Das Putzen hat etwas länger gedauert. Aber es ist nicht so schlimm, bald ist wieder ein Treffen. Es macht mir also nichts aus.“ Jetzt musste ich sogar schon lügen. Diese Distanz zwischen uns tat uns einfach nicht gut. Wieder verspürte ich das unbändige Verlangen, zurück zu ihm zu fliegen und einfach so weiterzuleben, wie ich es bis vor kurzem gewohnt war. Auch, wenn es hier schön war, ich viele neue nette Leute kennengelernt hatte. Ihn konnte einfach niemand ersetzen, nicht einmal Ansatzweise.

„Jetzt tust du mir Leid, weil du so viel arbeiten musstest“, sagte er nun mit ruhiger Stimme. „Dafür mach ich dir irgendein Geschenk. Sozusagen als Wiedergutmachung, auch, wenn ich gar nichts für das Ganze kann. Aber du hast es trotzdem verdient.“ Nein, hatte ich nicht. Ganz und gar nicht.

„Du bist süß“, flüsterte ich ins Telefon und musste das Zittern in meiner Stimme unterdrücken. Er war so toll und ich wollte einfach nur noch zu ihm.

Er lachte. Dann kehrte wieder ein ernster Tonfall in seine Stimme zurück. „Ich weiß, wir haben die letzten Tage immer nur sehr kurz gesprochen, aber ich habe einfach so viel zu tun. Die ganze Prüfungsvorbereitung macht mich noch kaputt und ich komme jeden Morgen schwer aus dem Bett, wenn ich zu spät schlafen gehe. Ist es okay für dich, wenn ich mich jetzt hinlege? Ich verspreche dir, morgen reden wir wieder ausführlicher miteinander, wenn du willst mehrere Stunden. Aber heute bin ich echt kaputt.“

„Ist in Ordnung, Schatz. Das nehme ich dir doch nicht übel. Du musst dich auch nicht dazu zwingen, mehrere Stunden mit mir zu reden. Ruf einfach an, wenn du Zeit und Lust hast, dann reden wir so lange du möchtest, ja?“

„Ja, okay. Danke, dass du so bist, wie du bist. Mit dir ist alles so schön unkompliziert.“ Er lachte erneut, was mein Herz schneller schlagen ließ. „Bis morgen dann, ja?“

„Bis morgen.“ Mit einem Lächeln im Gesicht drückte ich auf 'Anruf beenden' und stopfte mein Handy dann zurück in die Hosentasche. Daraufhin ging ich zur Tür zurück und klopfte dagegen, im nächsten Moment öffnete Eric sie.

„Na, fertig telefoniert?“, fragte er neugierig und warf sich wieder auf sein Bett.

„Sieht so aus“, entgegnete ich und ließ mich zurück auf den Sitzsack fallen. Dann wusste ich wieder nicht, was zu sagen war. Da waren nun einmal Menschen, mit denen konnte ich prinzipiell stundenlang reden. Und wiederum welche, bei denen ich kein einziges Thema anzuschneiden wusste. Vielleicht würde sich das bei Eric ja noch ändern, wenn ich mehr Vertrauen zu ihm geschöpft hatte.

„Sag mal, läuft da zwischen euch beiden was?“

Überrascht schaute ich ihn an. Ich dachte zuerst, er hätte mein Telefonat belauscht und wusste nicht, mit wem ich gesprochen hatte. Doch dann wurde mir klar, dass er damit Luke meinte. Neugierig schaute er mich an, wodurch ich erneut rot anlief. Er verstand es scheinbar, mich in einer Weise zu beschämen. Aber seit wann ließ ich mich durch so etwas aus der Bahn werfen? „Wieso sollte es?“, fragte ich also schroff zurück. Eric hatte es zwar nicht aufdringlich ausgesprochen, doch trotzdem fand ich diese Frage unangemessen. Ich hatte Luke noch nicht ein Zeichen gegeben, dass ich auf ihn stand und ich hasste es, wenn mir irgendjemand irgendetwas andichtete.

Er zuckte mit den Schultern. „Sah mir so aus. Wieso kommt ihr sonst gemeinsam hierher?“ Trotz meiner unangenehmen Antwort bemühte er sich, freundlich zu bleiben, wodurch auch ich ein wenig herunterfuhr.

„Weil ich meinen Schlüssel im Zimmer vergessen habe und Amber nicht da war oder geschlafen hat.“

„Und du meinst nicht, dass es etwas zu bedeuten hat? Dass er wollte, dass du bei ihm schläfst...“

„Was soll das schon zu bedeuten haben? Das war pure Nettigkeit – damit ich nicht auf dem Gang schlafen muss, ganz einfach. Außerdem bist du doch auch noch hier und das wusste er auch, was nochmal ausschließt dass er irgendetwas geplant hat. Also kann ich echt nicht nachvollziehen, wie du darauf kommst.“ Mit einem beiläufigen Schulterzucken blickte ich aus dem Fenster. Von hier aus schaute man direkt auf die andere Seite, wo nur noch eine schmale Wiese und dahinter ein Zaun war. Von hier aus konnte ich nicht den See sehen.

„Und wo seid ihr gemeinsam hingegangen?“, fragte er dann. „Sorry, ich will ja gar nicht aufdringlich sein. Aber ich will nicht, dass du ihn enttäuschst – mach ihm keine Hoffnungen, wenn du nichts von ihm möchtest. Obwohl es für mich momentan anders aussieht. Meiner Meinung nach willst du schon was von ihm, oder?“

Ich runzelte die Stirn. „Nein, auf keinen Fall!“

Er nickte. „Siehst du. Wieso machst du ihm dann Hoffnungen. Ich bin keinesfalls böse, wirklich nicht. Aber wenn er mehr von dir möchte und am Ende enttäuscht wird... das wäre einfach nicht fair. Also sag ihm lieber früher, was Sache ist.“

Ich wusste nicht, wie das Gespräch eine derartige Wendung nehmen konnte. Plötzlich war Eric der Moralprediger und ich schien die Böse zu sein. Dabei hatte ich nie geplant Luke in irgendeiner Weise auszunutzen und wollte auch nicht einsehen, dass ich ihm Hoffnungen machte. Das tat ich nämlich nicht. Ich wusste ja, dass ich in festen Händen war und niemand anderes brauchte.

„Ich will einfach nur mit ihm befreundet sein. Weißt du denn, ob er mehr möchte?“, versuchte ich das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken.

Er zuckte mit den Schultern. „Wir reden nicht direkt über sowas. Aber ich habe schon das Gefühl, ehrlich gesagt.“

„Dann sollte ich wohl besser gehen.“ Langsam kämpfte ich mich aus der fast liegenden Position im Sitzsack hoch und ging auf die Tür zu.

„Warte mal, Cathy. Du brauchst doch jetzt nicht zu gehen. Ich weiß ja auch nicht, was er wirklich empfindet. Außerdem weißt du doch bestimmt gar nicht, wo du sonst schlafen sollst. Also komm, setz' dich wieder hin und lass dir einfach nichts von dem Gespräch anmerken. Ich werde ihm kein Wort sagen. Und wer weiß, vielleicht entwickeln sich bei dir ja noch Gefühle.“ Das würden sie ganz bestimmt nicht, aber ich war zu müde um ihm zu widersprechen.

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Tag der Veröffentlichung: 09.07.2014

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