Die kleine Feder
Aus dem Buch „Der Pfirsichblütenfisch“
von Andreas Petz
Mitten im Flügel eines wunderschönen Vogels gab es eine kleine Feder. Sie war strahlend weiß und wundervoll flauschig. In der Nacht streckte der Vogel seinen Kopf unter den Flügel, denn dort war es schön weich und warm. Die kleine Feder liebte die Nächte und bemühte sich, den Kopf des Vogels zu behüten, zu wärmen und zu schützen.
Wenn das Ende der Nacht nahte und die schwarze Farbe der dunklen Nacht ein erstes helles Schimmern bekam, dann zog der Vogel müde seinen Kopf hervor, zwitscherte ein paar wundervolle Töne und kuschelte sich erneut für ein paar Minuten unter seinen Flügel zu der kleinen Feder. Die kleine Feder liebte das und freute sich jeden Tag aufs Neue, wenn der Vogel noch einmal sein Köpfchen unter den Flügel steckte.
Sie liebte aber auch was danach geschah. Der Vogel zog seinen Kopf zum zweiten Mal hervor, reckte und streckte sich, breitete seine beiden Flügel kurz aus, hob den Kopf hoch empor und dann sang er ein wunderschönes Lied.
Das Lied klang wie ein verzauberter Morgengruß an die Sonne. Es war noch nicht zu Ende, da spickelte die Sonne auch schon neugierig über den Horizont um nachzuschauen, wer denn da dieses herrliche Lied zwitscherte.
Kaum war das Lied zu Ende, da breitete der Vogel seine Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Das war ein weiterer Augenblick über den die kleine Feder sich sehr freute. Ach wie herrlich war es, wenn der Vogel nach vielen schnellen Flügelschlägen hoch oben am Himmel dahinsegelte. Die kleine Feder konnte dann unendlich weit schauen und fühlte sich unglaublich frei. Was war das doch für ein herrliches Leben. Die kleine Feder konnte sich nichts Schöneres vorstellen.
Eines Tages, die Sonne war schon sehr hoch zum Himmel gewandert, da saß der Vogel auf dem Ast eines großen Baumes und putzte mit seinem Schnabel sein Gefieder. Dabei passierte etwas, was das Leben der kleinen Feder völlig veränderte. Irgendwie kam die kleine Feder zwischen den Schnabel des Vogels und wurde mit einem kurzen Ruck ausgerissen.
„Oh je!“, konnte die kleiner Feder nur rufen, dann schwebte sie auch schon einsam und alleine zur Erde hinab. Traurig und verlassen landete sie auf zwei Grashalmen neben einer bunten Blume.
Nie mehr würde sie nun in der Nacht das Vogelköpfchen wärmen und beschützen. Niemals würde sie mehr über den blauen Himmel segeln und die wunderbare Welt von oben betrachten. Ach wie schrecklich war das für die kleine Feder.
Den ganzen restlichen Tag lag die Feder auf den beiden Grashalmen und trauerte vor sich hin. Ab und zu flog eine Biene oder eine Hummel an ihr vorbei und zu der bunten Blume, aber die kleine Feder beachtete sie nicht. Am Abend, als die Sonne sich auf den Weg in ihr Bett machte, wo sie die Nacht verschlafen würde, kam plötzlich ein Schmetterling angeflattert. Wild schlugen seine Flügel und erzeugten kleine, flüchtige Windstöße. Beinahe hätten die leichten Windstöße die kleine Feder von den Grashalmen geschuppst.
Dadurch wurde die kleine Feder auf den Schmetterling aufmerksam. Merkwürdigerweise flog der Schmetterling nicht wie die Bienen und Hummeln wieder fort, sondern blieb auf der Blume sitzen. Er breitete seine Flügel ganz weit aus und drehte sich so, dass die letzten Sonnenstrahlen auf seine Flügel schienen.
„Wieso machst du das?“, fragte die kleine Feder neugierig den Schmetterling. Der Schmetterling schaute zu der kleinen Feder und antwortete: „Oh, ich sammle noch etwas Wärme für die Nacht. Wenn die Sonne verschwindet, klappe ich meine Flügel zusammen und habe so noch ein wenig Wärme und kann besser schlafen. Machst du das nicht genau so?“
„Nein!“, antwortete die kleine Feder, „das kann ich nicht. Ich kann mich nicht zusammenklappen, ich kann keine Wärme speichern, ich kann nicht mehr fliegen …“, die kleine Feder wurde immer trauriger und jammerte verzweifelt, „…ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen.“
„Ach, das glaub ich nicht!“, sagte der Schmetterling zuversichtlich, „du hast eine tolle Form, bist ganz dünn und leicht, wieso sollte es nicht möglich sein, dass du fliegen kannst.“
„Aber ich kann nicht!“, antwortete die kleine Feder und dachte, der Schmetterling könnte sicher nicht verstehen, wieso sie nicht mehr fliegen konnte. Sie wusste nicht wie sie das dem Schmetterling erklären sollte. Der Schmetterling unterdessen konnte sich nicht vorstellen, dass die Feder nicht fliegen konnte und so sprach er zu ihr: „Weißt du was? Gleich kommt die dunkle Nacht, dann werden wir beide schlafen und wenn du magst, so träume doch einfach davon wie wir beide Morgen zusammen über den wundervollen, blauen Himmel fliegen.“
Die kleine Feder hatte bisher noch nie geträumt und wusste nicht so recht wie das geht, aber da sie nichts Besseres zu tun hatte wollte sie es einfach mal versuchen. Als die Sonne fort war begann sie damit sich vorzustellen wie sie gemeinsam mit dem Schmetterling über den Himmel tanzen würde. Ach war das ein schönes Gefühl, lustig tanzte die Feder im Traum auf und ab, nach links und nach rechts, umkreiste den fröhlichen, bunten Schmetterling und war wunderbar glücklich. So freute sie sich im Schlaf auf den nächsten Tag und war voller Zuversicht.
Als es hell wurde hörte die kleine Feder aus einiger Entfernung das leise Zwitschern einiger Vögel und erwachte. Das Lied der Vögel erinnerte sie an vergangene Tage. Schon wollte sie wieder traurig werden, da dachte sie an ihren Traum und daran, dass sie heute zusammen mit dem Schmetterling über den Himmel tanzen wollte. Schnell schaute sie zur Blume, ob denn der Schmetterling noch da wäre. Aber was musste die kleine Feder da entdecken. Der Schmetterling war voller schwerer, nasser Tautropfen, so würde selbst er nicht fliegen können. Dann entdeckte die kleine Feder zu ihrem Entsetzen, dass sie selbst auch von unglaublich vielen Tautropfen übersät war. Die Tautropfen waren sehr schwer und verzweifelt sagte die kleine Feder: „So kann ich bestimmt nicht fliegen! Ich bin viel zu schwer.“
„Warte nur ab!“, sagte da der Schmetterling, „gleich kommt die Sonne, die trocknet uns und dann werden wir beide fliegen.“ „Ach wie soll das denn gehen?“, fragte mutlos die kleine Feder.
„Hast du denn nicht vom Fliegen geträumt?“, fragte der Schmetterling.
„Schon!“, antwortete die kleine Feder, „aber das war ja nur ein Traum und keine Wirklichkeit.“ „Hast du denn noch nie etwas davon gehört, dass Träume wahr werden können?“, sagte der Schmetterling selbstbewusst. „Weißt du, früher, da war ich eine Raupe. Ich konnte nur auf Blättern herumkriechen und fressen. Niemand hätte mir damals geglaubt, dass ich eines Tages über den Himmel fliegen würde.“
Es fiel der kleinen Feder immer noch schwer daran zu glauben, dass sie würde fliegen können. Aber immerhin spürte sie, wie die Sonne mit ihren warmen Strahlen durstig den Morgentau trank. Es dauerte nicht lange, dann waren die schweren Tautropfen verschwunden. Der Schmetterling breitete seine Flügel aus und hielt sie, wie am Abend zuvor, der Sonne entgegen um sie ordentlich zu trocknen.
Da kam die kleine Feder auf eine Idee. Sie schloss die Augen und wie in der vergangenen Nacht begann sie damit, sich vorzustellen, sie würde zusammen mit dem Schmetterling über den Himmel tanzen. Und tatsächlich hatte sie plötzlich das wundervolle Gefühl als würde sie fliegen.
„Na siehst du, klappt doch!“, hörte sie den Schmetterling neben sich lachen. Sie öffnete die Augen und war total überrascht. Sie lag nicht mehr auf den Grashalmen, sondern schwebte am Himmel. Ein freundlicher Wind hatte sie hochgehoben und ließ sie neben dem Schmetterling über den blauen Himmel tanzen. Fröhlich und überglücklich tanzte die kleine Feder zusammen mit dem Schmetterling.
© Andreas Petz
Inspiriert durch das Zitat von Hildegard von Bingen:
„Ein Wind blies von einem hohen Berg und brachte mit seinem Wehen eine kleine Feder in Bewegung, die aus sich selbst keinerlei Fähigkeit zum Fliegen besaß, sondern die nur durch den Wind empfing...
Zweifellos veranlasste dies der allmächtige Gott um zu zeigen, was er durch ein Wesen, das sich nicht das Geringste zutrauen würde, zu wirken vermag.“
Tanz der Feder
Dreh dich, dreh dich,
kleine Feder,
tanze fröhlich
mit dem Wind.
Freu mich, freu mich,
kleine Feder,
bin glücklich
wie ein kleines Kind.
Seh dich tanzen,
kleine Feder,
über mir
im Sonnenschein.
Möchte tanzen,
kleine Feder,
mit dir
in den Tag hinein.
© 12.2014 Andreas Petz
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2018
Alle Rechte vorbehalten