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Tiereta 1. Kapitel

Hastel Stolz war damit beschäftigt, dem selbst errichteten Ruderboot mit Verzierungen den letzten Schliff zu verleihen, als ihn ein lauter Aufschrei aus dem Vorgarten von der Arbeit abbrach. Er legte den Schleifstein beiseite, verließ die Werkstatt nach draußen, wo er seinen Freund Ridal kopfüber, zappelnd an einem Strick einer uralten Eiche vorfand.

Als Ridal Hastel bemerkte, schrie er ihn wütend an: “Du elender Einsiedler; was soll diese Falle in deinem Garten?! Ich wollte mich erkundigen, was du seit Monden alleine hier oben in deiner Hütte treibst! Unverzüglich befreist du mich!”

“Habe ich euch nicht davon abgeraten, mich derzeit zu besuchen?”

“Ich werde dir deine Löffel lang ziehen, solltest du dich nicht beeilen!”

“In deiner Situation wirst du mir kaum meine Löffel lang ziehen. Besänftige dich, ich bin schon unterwegs, um in der Werkstatt nach einem Fuchsetenschwanz zu suchen.“

Gelassen machte sich Hastel auf zur Werkstatt. Nach einer Weile kehrte er zurück zu seinem Freund.

“Hast du noch was gefressen, du elender Dietrich!”

“Leider habe ich den Fuchsetenschwanz in der Werkstatt irgendwo verlegt. Frage mich nicht, wo der hingekommen ist! Einfallsreich - wie ich bin - habe ich nun eine Gartenschere dabei.”

“Halte deine Schnauze und befreie mich!”

Weil Hastel vom Boden aus das Seil nicht erreichte, stemmte er sich auf die unterste Astgabel; von da durchschnitt er das Seil. Ridal stürzte kopfüber auf den Boden und verlor das Bewusstsein. Hastel schwang sich athletisch von der Astgabel, packte seinen Freund an den Löffeln und schleifte diesen zum Nordbach, der unmittelbar neben seinem Anwesen ins Tal herunter floss. Abermals tauchte er unzimperlich Fidels Kopf ins Wasser, bis dieser glücklicherweise wieder zu sich kam.

“Du bist der hinterletzte Kumpel - wäre ich bei Kräften, ich würde auf deine Rübe einschlagen, bis du selbst in Ohnmacht fielst."

“Nun entspanne dich Ridal, - du hast dich am Seil überanstrengt, hast gezappelt wie ein Fisch an der Angel und hast deshalb dein Bewusstsein verloren. Hättest du dich ruhiger verhalten, ich hätte dich nicht hier hin zum Bach schleppen müssen.”

“Uneinsichtig wie eh und je. Verstehst du nicht, dass wir uns in der Karottenkneipe allmählich Sorgen über deine Abwesenheit gemacht haben? Oh ja… Du hast uns zwar mitgeteilt, du bräuchtest Zeit für dich, möchtest nicht gestört werden, aber dass man dich über mehrere Monde hinweg nirgends mehr antrifft, haben wir nicht erwartet. - Den mühsamen Weg zu dir hinauf habe ich auf mich genommen, um dir einen Besuch zu erstatten und zu prüfen, ob bei dir alles in Ordnung ist - und als Dank lande ich in eine gestellte Falle. - Ich fasse es einfach nicht… Weshalb eigentlich die Falle? Versteckst du da vielleicht irgendetwas in deiner Hütte?”

“Ja, das tu ich. Ich habe über all die Monde etwas Geheimes erschaffen, und als Wiedergutmachung für deine erlittenen Qualen verrate ich dir auch mein Geheimnis.”

“Und für dein „Geheimnis“ hast du dich abgeschottet wie ein Verrückter? Bis ins Süddorf hat es sich herumgesprochen, dass du dich nirgends mehr blicken lässt. Selbst den Seebewohnern ist es nicht entgangen, dass sich ein Bürger im Tal in seiner Hütte verbarrikadiert. Womöglich wäre schon bald einer von denen bei dir vorbeigekommen, um deinen Verstand unter die Lupe zu nehmen.“

"Erzähl keinen Mist. Komm! Ich zeige dir mein Werk, das ich während meiner Abwesenheit errichtet habe.”

Hastel half Ridal, der noch immer leicht benommen war, auf die Beine.

“Mir nach!”

Widerwillig folgte Ridal Hastel zu seiner Werkstatt.

“Ein Ruderboot?” Ridal lachte krampfhaft. - Es gab zwar einen See im Zentrum des Tals, doch lebten um diesen die Seebewohner, Haseten die der oberen Gesellschaftsschicht angehörten und ungern von den einfachen Haseten gestört wurden. “Du hast dir sichtlich viel Mühe beim Bau dieses Wassergefährt gegeben, all diese Schnitzereien… Doch erzähl mir: wofür benötigst du ein Ruderboot? Den Bach kannst du damit nicht hinab sausen und der See ist den Seebewohnern vorbehalten. Vielleicht solltest du dich doch einmal von einem Psychohaset untersuchen lassen: Einzig deshalb hast du dich im Dorf all die Monde nicht mehr Blicken lassen? Ernsthaft: hast du noch alle Rüben im Keller?”

“In zwei Wochen finden, wie du weißt, die alljährlichen Wettkämpfe statt, an denen wir einfachen Haseten um den See hüpfen, bevor die Seebewohner ihren eigenen Wettkampf mit ihren Booten bestreiten.”

“Du willst doch nicht am Ruderlauf teilnehmen? Wir einfachen Haseten beanspruchen für einen Wettkampf keine Ruderboote. Muskeln und Ausdauer reichen aus.”

“Wie dir sicherlich bekannt ist, ist für eine Teilnahme am Ruderbootwettkampf einzig ein solches erforderlich. Zudem - ich werde nicht einmal meines persönlichen Rums wegen am Wettkampf teilnehmen, sondern als Vertreter aller einfachen Haseten vom Tal.”

“Nun - diese Teilnahme soll dein Unterfangen bleiben. Ich werde dich nicht davon abhalten, doch sei dir im Klaren, dass du diese närrische Teilnahme womöglich nachträglich bereuen wirst. Die Seebewohner werden das als Provokation verstehen, dir womöglich das Leben in unserem wunderschönen Tal vermiesen. Sie bestimmen die Nahrungs- und Landesverteilung, wer wozu fähig ist und setzen uns als Arbeitskraft dementsprechend ein. Sie regieren das Tal. Querulanten werden nicht geduldet.”

“Aber das diese hochnäsigen Haseten seit jeher den prächtigsten Ortsteil im Tal für sich beanspruchen und dieses Land nur an ihre eigenen Nachkommen weiter vererben ist dir egal? Du warst schon immer ängstlich, gefügig und brav, findest dich mit jeder Ungerechtigkeit ab. So ist es doch.”

“Es gibt Dinge im Leben, die man schlicht akzeptieren muss. Was hast du zu beklagen? Es geht dir doch gut, hast immer genügend Nahrung und ein eigenes Dach über deinem Trotzkopf. Wenn dir das nicht ausreicht, bist du frei, das Hasetental zu verlassen und in der Ferne dein Glück zu suchen.”

“Ich habe nicht vor, unser Tal zu verlassen. Es scheint mir, dass du den Ruderwettkampf an Bedeutung überschätzt. Das ganze soll bloß ein bisschen Aufmerksamkeit erregen und den einen oder anderen Uferbewohner ein wenig verärgern. - Stell dir vor: wenn ich als einziger Vertreter des Volks den Wettkampf letztlich gewinne. - Nebenbei: Ich benötige noch Unterstützung dabei, mit mir einen Tag vor dem Wettkampf das Boot hinunter bis zum ‘Hohlen Zahn’ zu tragen. Du würdest dich doch bestimmt bereit erklären?”

“Vergiss es! Wie gesagt, es ist dein Unterfangen; ich werde mich da heraushalten und dir bestimmt keine Hilfe leisten.”

“Dann informiere für mich wenigstens Rodhop und Rastel. Die werden mich garantiert unterstützen.”

“Meinetwegen tue ich das. Jetzt aber mache ich mich auf den Acker.”

“Erzähl sonst niemandem von meiner geplanten Aktion, versprochen? Das Ganze wird eine große Überraschung.”

“Ich werde es sonst keinem weitererzählen. Hassos!”

“Hassos.”

Als Ridal nicht mehr zu sehen war, betrachtete Hastel sein Ruderboot, schüttelte dann den Kopf, beseitigte die Meinungen seines Freundes. Er nahm das Werkzeug in die Hände, legte es aber umgehend wieder ab. Er war zum Schluss gekommen, dass es am Ruderboot nichts mehr zu verfeinern gab. Einer Testfahrt stand nichts mehr im Weg. 

Impressum

Texte: mk - 9100 - CH
Lektorat: mk - 9100 - CH
Korrektorat: mk - 9100 - CH
Übersetzung: mk - 9100 - CH
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2022

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