Die Völker auf dem Erdteil Tiereta sind sich einig, dass ihr Kontinent der einzige auf ihrer Platte ist. Um diese Überzeugung zu belegen, fehlt den Tiereten jedoch ein vertieftes Seefahrerwissen, um das umliegende Meer mit Schiffen zu durchstreifen.
Tiereten haben schon vor vielen Epochen in noch minder entwickelten Gattungen existiert: Frühere Vierbeiner gehen heute aufrecht, nutzen Werkzeuge, spielen Instrumente, essen von Hand. Einstmals haben sich die Lebewesen wortlos durch Laute, Gestiken, Gerüche, Berührungen verständigt, nunmehr spricht der Großteil aller Arten und die Zweibeiner beherrschen oft eine Schrift, lesen und schreiben. Gattungen, die ihren Geist geringfügig entfaltet haben, sind dagegen größer und kräftiger geworden oder haben anderweitige Begabungen erlangt.
Grob können die Tiereten in zwei Untergruppen aufgeteilt werden: Zum einen die überwiegend geselligen Vegetarianer, die den Norden Tieretas besiedeln, sowie die Karnivoren, die sich fortwährend des Fleisches wegen im Süden gegenseitig erledigen. Quer über den Kontinent, von Osten nach Westen, fließt der Strom ‘Ju’. Er bildet eine natürliche Grenze zwischen diesen Tieretentypen und trennt den Kontinent in zwei ähnlich große Landflächen. Der Boden im Norden ist fruchtbarer, der Winter eisig. Im dürren Süden sind Temperaturschwankungen zwischen den Jahreszeiten kaum spürbar.
Doch nicht seit jeher haben diese beiden Tieretentypen voneinander getrennt gelebt: Jahrtausende lang jagten die Fleischfresser Pflanzenfresser, die schwächer und ungeübt im Kampf waren. Aus diesem Grund sahen sich die Vegetarianer dazu verdonnert, sich in Höhlen unter der Erde, in Felsen, auf Bäumen oder im Dickicht zu verstecken. Aus diesen wagten sie sich nur bei Durst und Hunger hervor. Eines späteren Tages setzten sich die Oberhäupter der Vegetarianer an einen Tisch und entschlossen übereinstimmend, gemeinsam den Karnivoren den Krieg zu erklären. Dank ihrer enormen Überzahl an Streitkräften siegten sie gegen die Fleischfresser und zwangen diese, sich südlich des Kontinents niederzulassen.
Dieser Krieg hielt neun Jahre an. Nur knapp ein Fünftel der Tiereten überlebte. Unsere Geschichte findet fünfhundert Jahre später statt. Die Überlebenden breiteten sich auf dem Kontinent aus und besiedelten den Kontinent neu; Platz war nach der jahrelangen Schlächterei genügend vorhanden.
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Unsere Geschichte beginnt im nördlichsten Teil Tieretas, wo sich die Haseten im Inntal niedergelassen haben. Das Tal liegt abgeschirmt hinter von Gletschern bedeckten Bergriesen. Die Bewohner des Tals leben grundsätzlich vom Ackerbau.
Die Kinder besuchen eine Schule, lernen lesen und schreiben, rechnen und feilschen; darüber hinaus werden sie in Biologie, Geologie und Geschichte unterrichtet. Nach der Grundschule treten die Burschen eine vierjährige, handwerkliche Ausbildung an; sie verlassen hierfür ihr Elternhaus, verlassen ihre Kinderstube und beziehen sogenannte Jugendhäuser. Am Ende ihrer Ausbildung erhalten sie Anspruch auf ein eigenes Grundstück, verpflichten sich ab dann zugleich, fortan einer ihnen zugewiesenen Arbeit nachzugehen. - Die Mädchen absolvieren stattdessen eine hauswirtschaftliche Ausbildung bei einer Leihfamilie und bekommen nach dem Abschluss monatlich ein unbedingtes Grundeinkommen. Als Zahlungsmittel dienen die raren Muscheln aus dem Süden des Kontinents.
In diesem Tal also ist ein Junggeselle gerade damit beschäftigt, einen sonderbaren Plan in die Tat umzusetzen.
Texte: m.k. - 9100 - CH
Lektorat: m.k. - 9100 - CH
Korrektorat: m.k. - 9100 - CH
Übersetzung: m.k. - 9100 - CH
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2022
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