Die Frau die fliegt
Luisa
in Zusammenarbeit mit
Erste Auflage | November 2021
Über die Autorin
Luisa ist bekannt als Redakteurin für das Online Magazin lesbianchic.de, das sich an Femmes, LGBTIs und Heteras im deutschsprachigen Raum richtet.
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Luisa Hoffmann
Am Saidenbach 20
09618 Mittelsaida
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung der AutorIn bzw. des Verlags ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Schlafe, schlafe Göttin süß,
derweil ich wache bei der Tür,
trunken noch vom Elixier,
das sie mich kosten ließ.
Verliebt in kühle, rote Bänder
tanzt sie ob der Sippe Brauch
über Seen, Felsen, Länder.
Tanzen, Göttin, will ich auch.
Ruht sie nun…
Toni unterbricht sich darin, das Ende ihres Bleistiftes zu zerkauen, und schlägt ihr Notizbuch zu, als die Kellnerin ihr neugierig über die Schulter späht.
„Jedes Mal, wenn du hier bist, sehe ich dich über dieses Buch gebeugt. Bist du Schriftstellerin?“
Um diese Frage zu beantworten, müsste Toni weit ausholen: Zuerst müsste sie die Notwendigkeit von Berufsbezeichnungen philosophisch infrage stellen, dann ihre komplizierte Lebenssituation erläutern und in den Raum werfen, ob jemand, der gelegentlich Gedichte in ein Notizbuch kritzelt, sich schon als Schriftstellerin bezeichnen dürfe. „So etwas in der Art“, sagt sie.
Das „Wow!“ der Kellnerin fühlt sich unverdient an und Toni ist froh, als sie sie wieder von hinten sieht. Einerseits weil bei diesem Anblick jedes Mal ein Cappuccino vor ihr auf dem Tisch steht – und auch, weil ihr Hintern dafür modelliert ist, die Fantasie anzuregen.
„Hey!“ Gefolgt von der Flut ihrer wirbelnden braunen Locken, gleitet Mascha aus ihrer Jacke und neben Toni. „Was für ein Tag. Ich wäre viel früher da gewesen, hätte Mister Nadelsteifen nicht seine Redezeit überzogen. Wie bei jeder verfluchten Konferenz. Weißt du, ich hasse diesen Job. Gleich morgen…“
„…geh ich zu Mister Nadelstreifen und knall ihm meine Kündigung auf den Tisch“, vollendet Toni den Satz ihrer Freundin.
„Diesmal meine ich es ernst. Eine heiße Schokolade bitte!“, ruft Mascha, während die Kellnerin schon mit der dampfenden Tasse kommt.
Grinsend schiebt Toni Notizbuch und Stift in die Umhängetasche, die an ihrer Stuhllehne baumelt, und macht gedanklich ein Häkchen hinter Gesprächsthema Nummer eins. Mascha ist die Konstante in Tonis Leben. Immer liebenswert, immer unzufrieden und so hetero, dass es beinahe wehtut. Die Frau, die in ihrem Lieblingscafé immer das Gleiche bestellt. Die Freundin, von der sie hundertprozentig weiß, dass sie sich nie ineinander verlieben werden, und vor der ihr darum gar nichts peinlich sein muss. Geduldig lässt sie Mascha über ihren Chef herziehen, obwohl sie beide wissen, wie gerne sie ihm in Wahrheit den Nadelstreifenanzug vom Leib gerissen hätte.
„Lochen Sie bitte diese Dokumente“, äfft Mascha ihn nach. „Hallo? Mache ich meinen Master, um dann der Praktikantin die Arbeit wegzunehmen? Am liebsten hätte ich ihm den Stapel…“, und gestenreich deutet sie an, wie sie ihm die Akten samt Locher in den Rachen stopft.
„Was hast du ihm geantwortet?“
„Ja, Chef.“
„Nein!“ Jammervoll wringt Toni die Hände gen Himmel. „Beim nächsten Mal sagst du: Wie wäre es, wenn Sie stattdessen mich lochen?“ Ihre wohlwollenden Spötteleien sind wie Salbeibonbons bei einer Erkältung: keine Hilfe, tun aber gut. Zwar errötet Mascha bis an den Haaransatz, doch sie kichert, löffelt die Sahne von ihrer Trinkschokolade und schon läuft die Welt wieder in den Fugen.
„Was ist mit dir? Triffst du dich noch mit dieser Journalistin?“
„Gelegentlich. Sie ruft nicht mehr so oft an wie früher.“
Prüfend legt Mascha den Kopf schief. „Du hast wieder eine Neue kennengelernt. Stimmt‘s?“
„Sie ist Schauspielerin am Theater. Ich gehe heute Abend das erste Mal zu ihr.“
„Wie alt ist sie?“
„Fünfunddreißig.“ Weil Mascha sich an ihrer Schokolade verschluckt, fügt Toni hinzu: „Mister Nadelstreifen ist auch älter als du.“
„Das ist was Anderes“, hustet Mascha. „Bei einem reichen Unternehmer fallen zehn Jahre nicht so sehr ins Gewicht. Aber eine Schauspielerin…“
„Mir wär’s auch schnurz, wenn sie sechzig wäre und Operettensopran. Celine ist eine interessante Frau.“
Sofort drängt sich lebhaft und farbig die Erinnerung an ihre erste Begegnung auf Tonis innere Kinoleinwand: In ihrem Abendkleid aus Satin stand Celine im Foyer des Theaters. Aschblonde Wellen, Stilettos und eine Hüfte, die Toni am liebsten mit beiden Händen gepackt und auf ihren Schoß gedrückt hätte. Celine war gerade in ein Gespräch vertieft. Sie hat ein Lächeln, das auf der Haut prickelt wie Perlen an einem beschlagenen Sektglas. Bis zu diesem Moment hatte Toni es bereut, nicht in der Pause der Hamlet Premiere verduftet zu sein. Die Regisseurin hatte einen Bottich mit Wasser auf die Mitte der Bühne setzen lassen, um Ophelia splitternackt beim Ertrinken zeigen zu können. Dabei hatte Shakespeare die Nachricht von ihrem Tod absichtlich in einen Dialog gepackt, um der armen Ophelia nicht auch noch das letzte Krümel Würde zu entreißen. Und wer war auf die Idee gekommen, sie vorher mit Kunstblut einzureiben?
Gerade als Celine sich von ihrem Gesprächspartner verabschiedete, ging Toni an ihr vorüber und ließ wie zufällig ihre Handtasche fallen, das Übliche eben. Wie ungeschickt von mir, vielen Dank für Ihre Hilfe, Hände berühren sich zum ersten Mal, wieso duzen wir uns nicht, mein Name ist Toni, ihr Name ist Celine. Etwas leuchtete auf in ihren Augen, als Toni vor ihr stand. Vielleicht war es das Spiegelbild des Lichtblitzes, der das Raum-Zeit-Gefüge um sie herum zerriss.
„Hat dir die Inszenierung gefallen?“
„Ja“, sagte Toni schnell, zögerte. „Wem mache ich etwas vor? Die eingebaute Szene, in der Ophelia ertrinkt, finde ich grotesk.“
Celines Schultern bebten vor Lachen. „Alle haben ihr gesagt, dass es Mist ist, aber die Regisseurin wollte es unbedingt machen.“ Das Eis war gebrochen, der Rest Geschichte. Es fiel Toni noch nie so leicht, Worte zu finden.
„Ich werde gleich mit meinen Kollegen zusammen auf die Premiere anstoßen“, sagte Celine. „Möchtest du mich begleiten?“
Toni tat so, als prüfe sie kritisch die Uhrzeit auf ihrem Smartphone, während sie mit der Frontkamera ihr Makeup kontrollierte. „Wieso nicht?“ Und irgendwann gegen ein Uhr morgens in einer Bar im Theaterviertel war der Augenblick gekommen, in dem Toni sagen musste, dass sie manchmal für Geld mit Frauen schläft. Celine reagierte nicht abgestoßen, sondern fasziniert. Gegen drei Uhr bot sie Toni an, ihre Telefonnummern auszutauschen.
Celine versteht die Bedeutung der Sprache hinter den Worten, da ist sich Toni sicher. Wie gern würde sie ihr die Verse zeigen, die sie in ihrem Notizbuch gesammelt hat - auch auf die Gefahr hin, dass ihre Kritik Toni in eine endgültige Schaffenskrise stürzen wird. Celine gibt sich nicht mit weniger zufrieden, als sie für das Beste hält. Keine Kompromisse, keine Notlügen oder falsches Lob, um einer angespannten Künstlerseele einen Gefallen zu erweisen. Alles an ihr ist pur. Ihre Erscheinung, ihr Leuchten, ihre Größe beförderten Toni umgehend und willig zu ihren Füßen, vom ersten Augenblick an.
Tonis schlanke Finger dirigieren den Löffel durch den Cappuccino. Versunken lauscht sie dem Klirren, als das Metall den Bauch der Porzellantasse streift.
„Hast du dich verliebt?“, fragt Mascha.
„Ich liebe jede dieser Frauen, solange sie bei mir sind. Das weißt du.“
„Aber diesmal ist es anders.“ Halb fragend, halb wissend, lächelt Mascha. „Hast du schon etwas über sie in dein Notizbuch geschrieben?“
Erwischt. Tonis Ohren färben sich rosa. „Das hat nichts zu bedeuten. Sie ist inspirierend und sieht zum Niederknien gut aus – aber das könnte ich auch von tausend anderen Frauen sagen.“ Sie unterdrückt ein Seufzen. „Ich kenne mich. Ein paar Wochen lang finde ich sie interessant. Vielleicht fühlt es sich sogar an wie Liebe, wenn wir zusammen sind. Aber es wird vorübergehen und ich werde ihr nicht nachtrauern.“
„Na, wenn du dir so sicher bist. Du weißt, ich könnte nie mit jemandem Sex haben, den ich nicht liebe. Erst recht nicht gegen Geld.“
„Lalalala!“, macht Toni, um den letzten Teil des Satzes zu übertönen. „Lauter, ich glaube in Hamburg hat man dich noch nicht gehört.“
Entschuldigend berührt Mascha ihren Arm. „Ich frage mich nur, wie du überhaupt erkennen willst, dass es Liebe ist, wenn jedes Mal dieses… Thema im Raum steht. Vielleicht triffst du eines Tages jemanden, bei dem es keine Rolle mehr spielt. Jemand, den du unbedingt in deinem Leben haben willst, für den Rest der Zeit, ganz egal was es kostet.“
Mascha liest eindeutig zu viele Chick Lit Romane, findet Toni. Solche, in denen am Ende Schwüre für die Ewigkeit getauscht werden oder der männliche Protagonist seiner Angebeteten zumindest einen Heiratsantrag mit roten Rosen macht. Für Toni sähe so ein Happy End ganz anders aus. Statt der Verlobungsringe gäbe es vielleicht Handschellen und statt brav miteinander anzustoßen, würde sie ihrer Liebsten den Champagner aus dem Bauchnabel lecken. Sie wird sich keinen Keuschheitsgürtel umbinden und sich für den einen Menschen aufsparen, nicht mal wenn die Hölle gefriert.
„Ja“, sagt sie, um Mascha einen Gefallen zu tun. „Vielleicht hast du recht.“
Der Himmel zwinkert ihr zu. Ein einzelner Stern schwebt über dem abendroten Horizont. Aus dem Hinterhof steigt der Geruch warmen Asphalts und abendlicher Melancholie zu ihnen auf. Toni muss sich am Geländer des Balkons festhalten, um nicht vor Glück davonzufliegen.
Eine Tasse Tee in der Hand, schmiegt Celine ihr Becken an Tonis Hintern. „Ich habe die Vorhänge zugezogen. Dieser Spanner drüben aus der elf kriegt von mir keine gratis Vorführung.“
Wie auf Kommando bewegt sich die Gardine an einem Fenster des gegenüberliegenden Blocks.
„Dann hast du vor, verbotene Dinge zu tun, die keiner sehen darf?“, neckt Toni und Celines spitzbübische Kichern an ihrer Schulter zaubert ihr eine Gänsehaut.
Dieser Moment wird nie zur Gewohnheit. Diese honigsüße Gewissheit, dass du kurz davorstehst, mit jemandem zu schlafen. Manchmal geschieht es plötzlich, ein Blitzlicht mit Signalton. Meistens stellt die Erkenntnis sich allmählich ein, wird klarer mit jeder Geste und jedem vertrauten Wort.
Celine besteht auf erstere Variante – sie will oder sie will nicht. Dazwischen gibt es nichts, kein Raum für Nährboden, auf dem Begehren wächst. Boom. Blitzlicht.
Aber Toni gewöhnt sich nur langsam an den Gedanken, der dem Gefühl folgt.
Diese Frau gestattet ihr, sie zu berühren. Jedes Mal, wenn das geschieht, kommt es ihr wie ein Wunder vor. Bis die Hände, die sich in Laken krallen, der Verlauf des Schlüsselbeins, die Art ihrer Schreie und der Geschmack ihres Geschlechts Toni vertraut werden und der Zauber nachlässt.
Aber noch ist es nicht so weit. Celine ist eine Schatzinsel, die unerforscht vor ihr liegt.
„Komm rein. Komm zu mir.“ Ihre Brüste sind weich, ihre Stimme ganz nah und kehlig. Celines Finger fahren Tonis Nacken empor, verfangen sich in ihrem schwarzen Haar, ziehen sie ins Schlafzimmer.
Alles ist möglich, nichts verboten. Wenn Toni an die vielen ersten Male zurückdenkt, die vielen Momente der Anziehung, die sich aufbaut, flirrt, explodiert und in goldenen Funken auf sie niederregnet, ist es jedes Mal anders gewesen. Immer neu, immer aufregend.
Celines Körper unterscheidet sich nicht von denen der Frauen, mit denen Toni vor ihr zusammen war. Brüste und Beine sind immer an erwarteter Stelle, das Ziel immer dasselbe. Wie sie seufzen, sich aufbäumen, sich entladen und der Funkenregen Tonis Haut versengt. Und dennoch gibt es tausend Unterschiede.
Die Art, wie Celine ihr Haar löst und es über ihre Schultern fällt. Ihr hohes Seufzen. Die Art, wie sie Toni unter halb geschlossenen Lidern beobachtet. Das Vergnügen, das es ihr bereitet, Toni dazu zu reizen, sich gehen zu lassen, mehr und mehr.
„Es reicht mir nicht, dich auszuziehen“, sagt sie. „Ich will, dass alles, was dich ausmacht, ganz nackt und bloß vor mir liegt.“ Ist es das, was man Bettphilosophie nennt? Ein Gedanke, der wie eine Luftblase aus dem Meer aufsteigt, aus ungewisser Quelle, doch mit unabwendbarem Ziel.
…ruht sie nun in weichen Laken,
wo kein Windhauch ihrer zürnt
darf die Dienerin es wagen,
zu küssen ihre heiße Stirn.
Ein erfüllter Wunsch gebärt
süchtig wachsendes Verlangen.
Erbarme dich und nimm gefangen
den Wunsch, der meine Seele nährt.
„Ist das neu? Wann hast du das geschrieben?“ Sachte reibt Celine ihre Wange an Tonis Schulter, während sie die gekritzelten Zeilen zu entwirren versucht.
„Den ersten Teil heute Vormittag, die letzte Strophe gerade eben.“
„Lies mir vor.“ Sie zieht die Bettdecke enger um ihren nackten Körper. Ein Schmetterling, der zuhört, wie die Raupe vom Fliegen schwärmt. „Das ist zauberhaft, Toni. Jetzt bin ich eifersüchtig auf diejenige, die dich dazu inspiriert hat.“
„Das warst du.“
„Wirklich?“ Ihr Kuss ist wie ein Überfall. Ein überschwänglicher, egoistischer Kuss, der etwas in Toni anrührt. Das drängende Verlangen, dieser Frau mehr zu geben, als sie aushalten kann. Sie zu überfluten mit Versen, Küssen und brennender, fleischlicher Lust.
„Weißt du, ich bin neugierig. Ich würde zu gern wissen, wie deine anderen Geliebten sind“, flüstert Celine. „Schau mich nicht so an, ich habe doch nichts Böses gesagt.“ Sie zieht Tonis Kopf an ihre Brust und streichelt ihre Schläfen.
„Wieso willst du das wissen?“ Ein Ohr über Celines Herzen, eines unter ihrer Hand, dröhnt Tonis eigene Stimme dumpf durch ihre Zellen.
„Ich bin Schauspielerin“, vibriert der Brustkorb, an dem sie lehnt. „Das Leben interessiert mich. Wäre es mir gleichgültig, müsste ich… weiß nicht, Rechtsanwältin sein.“
„Ich kenne eine Anwältin und dass sie dem Leben nicht gleichgültig gegenübersteht, ist ihr größtes Problem.“
„Sag ich ja. In manchen Berufen macht dich das kaputt“, erwidert Celine. „Du kennst also eine Anwältin. Wie ist sie so? Älter als ich? Brünett, verheiratet, kinderlos?“
„Vergiss es“, schnauft Toni.
„Steht sie auf Dildos? Liegt sie gern oben oder lässt sie sich lieber von dir nehmen?“
„Hör schon auf.“
„Ach, bitte!“ Während eine Hand Tonis Kopf an diese appetitliche Oberweite presst, gehen die Finger der anderen auf Wanderschaft.
„Sie kann Dildos nicht leiden“, gibt Toni zu. „Und sie ist geschieden, falls dir das weiterhilft.“
Celines Nägel necken Tonis schlanke Hüften und arbeiten sich langsam über ihren Bauch nach unten. „Und habt ihr es in der Kanzlei getrieben? Du unter dem Schreibtisch und sie…“
„Kein einziges Mal.“
„Dann bei ihr zu Hause?“
„Hotel.“ Halbherzig versucht Toni, Celines absichtsvollen Fingern zu entkommen, die ihr Ziel schon fast in Besitz genommen haben.
„Wie redet sie, wenn du bei ihr bist? Stöhnt sie in Paragrafen oder steht sie auf Gossensprache im Bett?“
„Hm, nein. Sie redet ganz normal.“
„Wie oft seht ihr euch?“
Tonis Knie fallen auseinander. Sie hat es aufgegeben, Celine zu widerstehen. Immerhin nennt sie keine Namen und sowas wie eine Schweigepflicht hat sie auch nicht unterzeichnet. „Wir treffen uns nicht mehr. Das war vor ein paar Monaten.“
„Wie viel hat sie dir gezahlt?“
„Frag nicht. Nicht jetzt.“
Offenbar nimmt Celine Tonis Bitte nicht ernst. Vielleicht glaubt sie, sie wolle kokett den Preis für die Nacht in die Höhe treiben. Also zerreißt sie den verletzlichen Schleier des Moments, indem sie nachsetzt: „Sag schon, Süße. Was ist dein Preis? Oder schickst du mit später eine gesalzene Rechnung, nachdem du mich verführt hast?“
Plötzlich schnappen Tonis Beine zusammen wie die einer Schere. Fort sind Celines Hände, fort das Gefühl, in das sie eben noch getaucht war. Wäre sie Raucherin, würde sie sich jetzt auf dem Balkon eine Zigarette anstecken, dem Spanner aus der elf die schöne Aussicht gönnen und sich danach verkrümeln. Scheiß auf das Geld.
„Entschuldige“, lenkt Celine ein, zu spät. „Was hast du denn erwartet? Wird dir die Frage sonst nie gestellt?“
„Aber nicht so!“ Auf der Suche nach ihrer Hose taumelt Toni durch das Halbdunkel und holt sich einen blauen Fleck an der Kommode. „Ich bin keine Hure.“
„Das weiß ich doch. Hey, sorry…“
„Ich bin keine Hure!“
„Es war verkehrt, alles verkehrt.“ Das Wasser ist viel zu heiß, doch Toni zieht den Fuß nicht zurück. Sie lässt sich in die Badewanne sinken, das Handy am Ohr. Ihre Stimme ist brüchig, als stünde sie bei Hagel und Gewitter an ihrem eigenen Grab. „Wieso passiert mir das immer wieder?“
„Nimm‘s mir nicht krumm“, sagt Julia (beliebtester Mädchenname des Jahres 1994) am anderen Ende der Leitung, „aber ich hör das nicht zum ersten Mal.“
„Wieso fragt sie mich, was andere mir dafür zahlen? Wieso?“ Toni kann hören, wie Julia sich seufzend über den von heublonden Stoppeln bedeckten Schädel streicht. „Immer wieder überrascht, hm? Ich sag’s dir nochmal: Du musst dich entscheiden. Entweder ist sie ne Freierin oder ne Geliebte. Entweder nennst du ihr deinen Preis, gleich ganz am Anfang, bevor du dir überhaupt die Schuhe ausziehst, oder du erwähnst es gar nicht.“
„Das ist nicht so einfach.“ Mit dem Handrücken wischt Toni sich die Nase trocken. „Sie soll nicht denken, ich würde nur mit ihr flirten, weil ich Geld brauche. Es ging mir nicht nur darum. Ich genieße es, mich mit ihr zu unterhalten - über Poesie, das Theater und alles, was dich und Mascha nicht interessiert. Beim ersten Mal wollte ich auch noch keine Bezahlung… aber eine Geliebte brauche ich so dringend wie einen Schwimmring in der Wüste. Würde mir gar nichts nützen.“
„Sie dachte bestimmt, das sei so ne Art Werbegeschenk von dir“, entgegnet Julia und kichert aus trockener Kehle. „Einmal kostenlos ausprobieren und danach immer schön blechen.“
„Na und!“, schreit Toni. „Was ist falsch daran, dass ich leben will? Ich will ab und zu etwas essen und meine Miete muss ich auch zahlen, verdammt!“ Obwohl sie in einer kaum möblierten 1-Raum Wohnung lebt und der Putz im Hausflur sie anspringt, wenn sie die Tür zufallen lässt, geht viel zu viel Geld für die Miete drauf. Sie hatte vorgehabt, bei ihren Eltern zu bleiben, wenigstens ein paar Jahre bis zum Abschluss ihres Studiums. Das Haus ist groß, der Dachstuhl gerade erst ausgebaut, sie hätte dort bequem wohnen können. Und wie sie den Garten vermisst! Die Bäume, in deren Kronen sie als Mädchen herumgeklettert ist. Sie würde noch immer dort leben, wäre sie nicht auf die Idee gekommen, ihre erste Freundin Marie zu sich einzuladen. Wenn Toni die Augen schließt, sieht sie noch immer ihre Mutter vor sich. Die Abscheu. Ihre verzogenen Mundwinkel, als sie versucht, es zu begreifen, und nicht kann.
„Ja, ja, nicht wieder der Trip“, sagt Julia.
„Ich…“, zitternd atmet Toni den aufsteigenden Wasserdampf ein, „ich bin keine Hure.“
„Wann hast du das letzte Mal mit einer Frau geschlafen, die dich nicht dafür bezahlt hat? Offiziell bist du’s nicht, aber du arbeitest als Prostituierte.“
„Nein! Ich bin Schriftstellerin… Dichterin. Ich schreibe, das ist mein Beruf.“
„Wann schickst du dieses Zeug, das du schreibst, endlich mal an einen Verlag? Oder lies es jemandem laut vor, das wäre wenigstens ein Anfang.“ Darauf weiß Toni nichts zu antworten. „Du weißt, was Mascha jetzt sagen würde?“
„Dass ich mein Studium zu Ende bringen soll.“
„Exakt.“
„Damit hat sie recht, aber…“
„Ich weiß, Toni“, sagt Julia und es ist, als würde sie ihr schwesterlich eine Hand auf die Schulter legen. „Das haben wir alles schon mehrfach besprochen. Ich kann sowieso nicht nachvollziehen, was an Literatur so spannend sein soll. Aber du bist klug und du liebst diesen Kram. Also warum gehst du nicht raus und zeigst jemandem, der was davon versteht, was du kannst?“
„Celine wäre so jemand.“
„Ach komm, du weißt genau, was ich meine.“
„Ja. Ich werde weitermachen, sobald – gerade geht es nicht, ich… muss noch etwas Geld sparen.“
„Klar“, meint Julia, obwohl es das nicht ist. „Vergiss Celine und komm am Samstag mit mir feiern.“
„Ins Black Panther?“
„Lieber nicht.“ Ein verlegenes Hüsteln. „Bin dort kein gern gesehener Gast mehr.“
„Was ist passiert?“
„Habe mit einer geflirtet und frage, wie sie heißt. Elke, sagt sie. Und ich: So fett siehst du gar nicht aus. Wer kann denn ahnen, dass sie Die Ärzte nicht kennt und zu allem Überfluss die neue Flamme der Clubbesitzerin ist?“
Gegen ihren Willen muss Toni lachen. Sie selbst hat Jahre gebraucht, um sich an Julias Humor zu gewöhnen. Aber neben ihren vielen guten Eigenschaften wirkt der wie das Muttermal im Gesicht von Cindy Crawford. „Gibt es überhaupt einen Lesbenclub in der Stadt, aus dem du noch nicht geworfen wurdest?“
„So toll ist die Auswahl in diesem Kaff ohnehin nicht“, winkt Julia ab. „Da geh ich lieber in die großen Städte, dort sind sie nicht so verklemmt.“
Endlich schafft es die Wärme, Toni zu entspannen und sie kann sich zurücklehnen. „Danke, Julia.“
„Immer, Süße.“
Toni ist so nervös wie sie es zuletzt vor ihrer mündlichen Französisch-Prüfung war, von der ihr finaler Durchschnitt abhing. Wenigstens hatte sie damals das Gefühl, vorbereitet zu sein.
Jetzt, da sie das Klingelschild mit dem Namen Schwegler drückt, fällt es ihr viel schwerer, sich vorzustellen, wie sie die Prüfung bestehen soll – die Härteprüfung, zu der jeder einzelne ihrer Besuche mutiert. Gleich wird die Tür sich öffnen, sie hört drinnen schon die Sohlen ihrer Mutter auf dem Parkett. Toni erkennt sie an ihrem gediegenen Gang, bei dem immer ein stiller Vorwurf mitschwingt. Und so, wie sie sich bewegt, spricht sie auch. Als fordere sie mit allem, was sie denkt oder sagt, die Welt heraus, ihr das Gegenteil zu beweisen.
Früher war es Toni nicht aufgefallen. Erst, seit die Erkenntnis, dass sie Frauen liebt, die Vertrautheit zu ihren Eltern wie ein Meteorit zertrümmert hat. Früher waren sie Komplizen, ein eingeschworener Kreis. Aber nun ist Toni draußen und betrachtet ihre Familie aus der Perspektive einer Astronautin, die losgelöst durchs All trudelt. Ihre Mutter verhält sich, als habe Toni ihr immer etwas vorgespielt. Als habe der Säugling, den sie geboren, das Kind, das sie großgezogen und der Teenager, dessen Socken sie gewaschen hat, sie die ganze Zeit über getäuscht. Als sei das, was sie für ihr Kind gehalten hatte, in Wahrheit ein Wechselbalg, dem nicht ihre Erbanlagen, sondern fremde, außerirdische Gene verpflanzt wurden.
All das liegt in ihrem Blick, als sie die Tür öffnet und sagt: „Nett, dass du kommst, Antonia.“
Noch immer hängen die alten, gerahmten Fotos im Flur: Toni mit einer rosa Zuckertüte, die größer ist als sie. Toni mit ihrer älteren Schwester Sandra. Sandra mit dem schlimmsten Topfschnitt, den jemals ein Friseur verbrochen hat. Ein Familienfoto, Toni auf Papas Schultern.
„Was schenkst du deinem Vater?“, fragt ihre Mutter beiläufig.
„Ein beheizbares Brotmesser. Es toastet die Scheibe, während man schneidet“, antwortet Toni und senkt den Kopf. Ein beklopptes Geburtstagsgeschenk. Wochen lang hat sie jede Idee sofort wieder verworfen, die ihr in den Sinn kam, bis ihr schließlich keine Zeit mehr blieb, etwas Anständiges zu finden, das sie sich leisten konnte.
Ihre Mutter nickt. „Wie nett.“
In der Küche ist Tonis fünfjähriger Neffe dabei, mit einem Spielzeugroboter die Weltherrschaft an sich zu reißen.
„Jannis, sag Hallo zu Tante Antonia“, blafft Sandra
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2021
ISBN: 978-3-7554-0136-0
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