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Woyzeck verstanden!

 

Lektürehilfe frei nach Georg Büchner

 

 

 Latona

 

 

 

 

 

 

2. Auflage | Dezember 2022

 

Zitat

 

Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde.“

 

Georg Büchner in einem Brief an seine Familie, 1833

Vorwort

Hey Du,

bitte nimm Dir einen Augenblick Zeit und überfliege das Vorwort, damit Du weißt, wie dieses Buch Dir helfen kann und worauf Du unbedingt Acht geben solltest.

 

Auf den folgenden Seiten erwartet Dich eine sinngemäße Übersetzung von Georg Büchners Drama Woyzeck.

Das macht diese Lektürehilfe so besonders: Sie liest sich wie ein Roman in leicht verständlicher, bildhafter Sprache. Um zu verstehen, was gemeint ist, musst Du weder Fußnoten checken noch staubtrockene Textquellen voller Jahreszahlen wälzen. Das spart Dir Zeit, ist kurzweiliger und Du wirst Dich im Nachhinein besser an Details der Handlung erinnern können.

 

Aber kannst Du Dich tatsächlich auf eine Lektürehilfe verlassen, die von sich behauptet, gleichzeitig einfach und spannend zu sein?

 

Ich erkläre Dir kurz mein Konzept: Alles, was sich aus dem Kontext und den Regieanweisungen herauslesen lässt, habe ich berücksichtigt. Das gilt sowohl für das Erscheinungsbild, die Gesten der Figuren als auch das Szenenbild.

Basierend darauf habe ich das Stück wie auf einer Bühne nach meiner Vorstellung ausgeschmückt. Ich habe Gefühle, Gedanken und Zusammenhänge eingehend beschrieben, um sie leichter nachvollziehbar zu machen. Manchmal habe ich Details zu der Umgebung hinzugefügt, damit Du sie Dir lebendiger vorstellen kannst.

Im Original sprechen die Figuren mit hessischem Dialekt. Wenn Du eine Interpretation verfasst, solltest Du diesen Umstand erwähnen, bei der Übersetzung habe ich ihn jedoch nicht berücksichtigt.

 

Was die Handlung und die Dialoge betrifft, habe ich mir keine künstlerische Freiheit erlaubt. Der Inhalt jedes einzelnen gesprochenen Wortes folgt dem Originaltext. Das hier ist weder eine Neuerfindung noch eine künstlerische Umdeutung. Es ist eine Hilfestellung, um den Sinn hinter Woyzeck leichter erfassen zu können.

 

Manchmal habe ich Teile der wörtlichen Rede aus dem Originaltext übernommen und entsprechend kursiv gekennzeichnet – ausschließlich an Stellen, bei denen ich den Eindruck hatte, dass eine sinngemäße Übersetzung nicht notwendig ist oder der Tiefe des Zitats nicht gerecht werden würde.

 

Wichtig zu wissen! Es gibt mehrere Woyzecks.

 

Falls beim Lesen von Woyzeck ein großes Fragezeichen in Deinem Kopf entstanden ist, liegt das höchstwahrscheinlich gar nicht an Dir. Ja, das Werk ist stellenweise verwirrend, und dafür gibt es einen simplen Grund: Woyzeck ist ein Dramenfragment. Das bedeutet, das Stück wurde nie richtig fertiggestellt.

Als Georg Büchner im Alter von nur 23 Jahren starb, fand man in seinem Nachlass zwölf Seiten Papier, handbeschrieben mit blasser Tinte. Die Seiten sind nicht nummeriert, manche Passagen unleserlich, gestrichen oder es gibt sie in mehreren unterschiedlichen Ausführungen.

Dieses Chaos an Notizblättern enthält drei Fassungen von Woyzeck, an denen man erkennen kann, wie Büchner das Drama in mehreren Schritten überarbeitet hat:

 

Teilentwurf 1 – Hier heißen die Hauptfiguren noch Louis und Margreth. In diesem Entwurf wurden viele Szenen durchgestrichen, die später in der Hauptfassung in abgewandelter Form wieder auftauchen.

 

Teilentwurf 2 – Der Soldat Louis wurde in Woyzeck umbenannt, seine Freundin heißt nun Louise anstatt Margreth. Neue Figuren wie zum Beispiel der Doktor und der Hauptmann tauchen zum ersten Mal auf, andere wurden gestrichen.

 

Hauptfassung – Die Hauptfiguren werden bei ihren finalen Namen genannt: Franz Woyzeck und Marie. Viele Szenen aus den vorigen Teilentwürfen sind ausführlicher ausgearbeitet, neue kommen hinzu.

 

Außerdem gibt es noch den sogenannten Ergänzungsentwurf mit den Szenen „Der Hof des Professors“ und „Der Idiot. Das Kind. Woyzeck“ von denen niemand weiß, ob und an welcher Stelle Büchner sie in die Endfassung aufnehmen wollte.

 

Viele Herausgeber und Verlage haben bereits versucht, die Handschriften möglichst originalgetreu zu interpretieren. Das ist allerdings sehr schwierig. Niemand weiß genau, wie das Drama aussehen würde, wenn Georg Büchner es hätte abschließen können. Darum gibt es mehrere Versionen von Woyzeck.

Je nachdem, welche Ausgabe Du liest, kann die Reihenfolge der Szenen verschieden sein. Der Kern des Stücks bleibt dabei allerdings derselbe.

 

Auf welche Version stützt sich diese Lektürehilfe?

Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich mich an Büchner, Woyzeck, nach den Handschriften neu hergestellt und kommentiert von Henri Poschmann (1985, Insel Taschenbuch Verlag) orientiert. Poschmann hat eine „kombinierte Werkfassung“ erstellt, die mir sinnvoll erscheint. Außerdem beinhaltet die Ausgabe des Insel Verlages den gesamten Originaltext: Beide Teilentwürfe, die Hauptfassung und den Ergänzungsentwurf.

 

Wenn Du Woyzeck im Deutschunterricht liest, ist es im Grunde nur wichtig, dass Du dieselbe Ausgabe verwendest, auf die sich Dein*e Lehrer*in bezieht.

Unabhängig von der Version, mit der Du Dich beschäftigst, gilt: Wenn Du Dir diese Lektürehilfe durchgelesen hast, hast Du Woyzeck verstanden.

Das bedeutet nicht, dass Du darum herumkommst, Georg Büchners Stück im Original zu lesen. Es wäre ziemlich unseriös von mir, wenn ich Dir versprechen würde, Dir die ganze Arbeit abzunehmen. (Keine Sorge, das Stück ist rekordverdächtig kurz.)

 

Mir ist wichtig, dass Du Folgendes verstehst: Deine Noten hängen nicht nur davon ab, ob Du den Sinn eines Textes begriffen hast. Es kommt auch darauf an, wie gut Du es beweisen kannst.

In einer Dramenszeneninterpretation musst Du für jede Behauptung, die Du aufstellst, einen Textbeleg inklusive Zeilenangabe liefern. Das kannst Du allerdings nur, wenn Du weißt, wo Du den Beweis für Deine These im Originaltext wiederfindest.

Darum mein Tipp! Leg Dir die Lektürehilfe daneben, damit Du inhaltliche Übereinstimmungen direkt erkennst.

 

Hier ein Beispiel:

Woyzeck: Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.

Doktor: Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab ich nicht nachgewiesen, dass der musculus sphincter vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck! Der Mensch ist frei! In dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit! Den Harn nicht halten können!

 

Übersetzung:

Verlegen nestelte Woyzeck am Saum seines Hemdes. „Aber Herr Doktor, wenn ich einmal dringend muss, dann kann ich es nicht zurückhalten. Dann muss ich eben.“

„Ausrede!“, schmetterte der Mediziner. „Ich habe wissenschaftlich nachgewiesen, dass der Blasenmuskel dem Willen gehorcht. Darum sind wir schließlich Menschen und keine Tiere, weil wir einen freien Willen besitzen und selbst entscheiden können, wann wir wohin urinieren.“ Mit einem wütenden Kopfschütteln verschränkte der Doktor seine Hände hinter dem Rücken und ging vor Woyzeck auf und ab.

 

P.S.

Jetzt, da wir uns ein bisschen besser kennen, möchte ich Dir noch einen persönlichen Rat geben: Sei aufmerksam und hör genau hin, wie Dein*e Lehrer*in den Text interpretiert. Es gibt bei Gedichten, Dramen und sogar bei zeitgenössischen Romanen immer verschiedene Deutungsansätze.

Im Zweifelsfall ist es clever, in Prüfungssituationen die Deutung Deines*r Lehrer*in wiederzugeben, auch wenn sie nicht mit dem in dieser Lektürehilfe vertretenen Ansatz übereinstimmen mag. Auch, wenn sie Deinem persönlichen Empfinden widerspricht.

Schließlich sind gute Noten Dein Kapital. Darin investierst Du die Zeit hinter der Schulbank. Sei clever und sorge dafür, dass die Investition sich für Dich lohnt.

 

Alles Liebe!

Latona

1 – Freies Feld. Stadt in der Ferne

Von der monotonen Arbeit fühlte Woyzeck sich wie betäubt. Er ergriff einen Zweig, trennte ihn mit einem gezielten Schnitt vom Strauch und befreite ihn von Blättern und kleinen Ästen. Dann den nächsten Zweig. Seit Stunden ging das nun schon so. Woyzeck richtete sich auf, um seinem schmerzenden Rücken eine Pause zu gönnen. Eine Ader an seiner Schläfe pochte und der kratzige Stoff seines Hemdes klebte an seinem Rücken.

Obwohl Woyzeck sich mit dreißig Jahren in der Blüte seiner Kräfte hätte befinden sollen, fühlte er sich unendlich alt. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Er blickte über das Feld hinweg auf die Stadt, die vor ihm im Tal lag. Die Häuser verschwammen vor seinen Augen zu einem hellgrauen Brei, aus dem der Kirchturm wie die Spitze einer Nadel hervorstach.

Wenige Schritte von ihm entfernt arbeitete Andres, mit dem Woyzeck sich das Zimmer in der Kaserne teilte. [Anmerkung der Autorin: Die beiden schneiden Stöcke im Auftrag des Hauptmanns. Den Zweck dieser Aufgabe enthüllt uns Georg Büchner leider nicht.] Auch er war ein unbedeutender Fußsoldat mit einem niedrigen Sold. Das Stöcke Schneiden ging Andres zügig von der Hand, während er ein Lied vor sich hinsang. Seine Schultern und der Nacken mit dem kurzgeschorenen Haar hoben und senkten sich mit jedem Handgriff. Woyzeck hingegen war schwerfällig geworden. Seine Sorgen hingen an ihm wie Mühlsteine, die ihn zu Boden ziehen wollten.

„Andres“, Woyzeck deutete auf den Rasen zwischen den Büschen, „vor kurzem hat einer hier einen abgeschlagenen Kopf gefunden und ihn aufgehoben, weil er ihn von Weitem für einen Igel gehalten hat. Drei Tage später wurde er selber hingerichtet. Ich wette, dahinter stecken die Freimaurer.“ [Anmerkung der Autorin: Der Bund der Freimaurer vertritt aufklärerische, humanistische Ideen, zum Beispiel die Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen. Weil den Mitgliedern eine Verschwiegenheitspflicht auferlegt ist, wird die Freimaurerei oft als Geheimbund bezeichnet.]

Doch Andres hörte nicht hin. Er sang nur noch etwas lauter.

„Pst! Ich glaube, ich habe etwas gehört.“ Woyzeck hechtete zu seinem Kameraden und packte ihn bei der Schulter. Erschrocken ließ Andres den Zweig fallen, den er in der Hand gehalten hatte, und verstummte. Die Männer lauschten, aber es gab nichts zu hören außer dem leichten Wind, der die Blätter der Sträucher und der Bäume am Waldrand säuseln ließ.

Woyzeck hob den Kopf und blähte die Nasenflügel wie ein Hase, der einen Wolf gewittert hatte. „Sie sind hier. Überall um uns herum“, wisperte er und stampfte leicht mit dem Fuß auf die Erde. „Da! Es klingt hohl, weil die Freimaurer da unten ihre Höhle haben. Wir stehen genau auf ihrem Geheimversteck, mitten auf ihrem Hinrichtungsplatz.“

„Du machst mir Angst“, sagte Andres.

Wie aus dem Nichts durchbrach ein dunkler, flirrender Ton die Stille, schwoll an und schmetterte schmerzhaft in Woyzecks Ohren. Er riss den Kopf empor und erstarrte. Vor seinen Augen brannten die Wolken lichterloh. So musste es aussehen, wenn Gott einen Tobsuchtsanfall bekam. „Lauf, Andres!“, schrie Woyzeck. Er rannte auf den Wald zu und riss seinen Kameraden mit sich. „Es wird immer lauter und lauter! Rette dich!“

Als sie in der schützenden Deckung der Bäume ankamen, duckte sich Woyzeck und schlang die Arme um seinen Kopf. Der Lärm war unerträglich, so als würde ein ganzes Orchester wild durcheinander spielen, und er saß mittendrin. Er betete, das Feuer am Himmel möge nicht herunterfallen und sie beide bei lebendigem Leibe verbrennen.

„He, Woyzeck!“

Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, wie Andres ihn rüttelte. Er wagte es, sich aufzurichten. Alles war wieder still. Das Brennen war verschwunden.

„Was sollte das?“, fragte Andres. In seinem Blick lag eine Mischung aus Unsicherheit und Sorge.

Verständnislos blinzelte Woyzeck seinen Kameraden an. Hatte er es denn nicht auch wahrgenommen? Hatte Andres den Lärm denn nicht gehört und das Feuer nicht gesehen? Als er aufblickte, zogen die Wolken so friedlich über den Himmel wie zuvor und das lauteste Geräusch, das sie umgab, war Vogelgezwitscher. „Still, alles still“, sagte er, „als wäre die Welt tot.“

„Woyzeck!“ Andres rüttelte ihn noch einmal. „In der Stadt trommeln sie schon. Das heißt, die Militärparade fängt gleich an. Wir müssen gehen.“ Also rafften sie ihre gesammelten Stöcke zusammen und beeilten sich, zurück in die Stadt zu kommen, als wäre nichts gewesen.



2 – Die Stadt

Die Musik des Zapfenstreichs flog ihnen schon von Weitem entgegen. Marie hatte Christian auf den Arm genommen, weil er noch zu klein war, um das Fenster zu erreichen. Aufgeregt streckte er seine Händchen aus und beugte sich vor, als könne er es nicht erwarten, die Soldaten zu sehen. Marie wiegte ihn im Takt der immer lauter werdenden Trommeln und erfreute sich an seinem vergnügten Glucksen.

Im Gleichschritt schob sich die Militärparade die Straße entlang. Überall wurden Fenster geöffnet, aus denen sich Schaulustige lehnten und winkten. Zuerst erblickten sie den Tambourmajor, der vorweg marschierte und mit einem geschmückten Tambourstab den Takt angab. [Anmerkung der Autorin: Tambour ist eine veraltete Bezeichnung für einen Trommler. Major bezeichnet in diesem Fall nicht den militärischen Dienstgrad, sondern bedeutet lediglich, dass der Tambourmajor der Anführer des Musikkorps ist. Seine militärische Position dürfte die eines Unteroffiziers sein.] Ihm folgten Soldaten mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 12.05.2021
ISBN: 978-3-7487-8251-3

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