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Die Stadt

Seit alten Zeiten war Senfglashausen ein Alptraum des Lebens und keine Freude. Und Senfglashausen war keinesfalls zum Lebensgenuss, zum Vergnügen, zur Erholung oder zur Freude begründet worden. Senfglashausen war eine Lebensansammlung, in der sich die Menschen aus der Notwendigkeit herausfanden. Niemand kam, um in Senfglashausen zu wohnen, des Vergnügens wegen, sondern zum Erwerb seines Lebensunterhaltes, aus Ehrgeiz und um sich abzumühen, aus Bedürftigkeit und wegen der Arbeit, die ihn zwang, in Senfglashausen zu leben.

 

Senfglashausen war das Grab der gesellschaftlichen Bindung, und wer es betrat, schwamm gezwungenermaßen auf seinen Wogen, die ihn von Straße zu Straße, von Stadtviertel zu Stadtviertel und von einem Freund zum nächsten trug. Es gehörte zum Wesen des städtischen Lebens, dass es auf den Vorteil und die günstige Gelegenheit zielte und ihm die Heuchelei zur Natur wurde. Allem kam ein materieller Preis zu, den das städtische Leben einforderte. Und je mehr Senfglashausen voranschritt und sich entwickelte, desto komplizierter gestaltete es sich und desto weiter entfernte es sich vom Geist der Zuneigung und von der gesellschaftlichen Sittlichkeit, insofern als sich die Bewohner eines Gebäudes, je größer es ist, nicht mehr gegenseitig kennen und die Identität eines Menschen nur noch zu einer Nummer wird.

 

Senfglashausen war ein rein biologisches, wurmartiges Gebilde, in dem der Mensch lebte und starb ohne Sinn, ohne Vision, ohne Überlegung. Im Leben wie im Tode befand er sich in einem Grab. Keine Freiheit gab es in Senfglashausen, keine Ruhe, keine Freude. Mauern über Mauern in und außerhalb der Wohnung, im Gebäude, auf der Straße, bei der Arbeit. Man konnte nicht sitzen, wo man wollte, oder gehen, wohin man wollte, und nicht einmal stehen bleiben, wann man wollte. Nur an die Mauer konnte man sich lehnen. Die Mauer wies einem den Weg.

 

Senfglashausen war Entwurzelung, ein Schrei, Blendung, abscheulicher Konsum, nutzlose Suche und sinnlose Existenz. Das Schlimmste in Senfglashausen war das mangelnde Vermögen, sich aufzulehnen. Senfglashausens Bürger konnten sich nicht auflehnen gegen die Entwurzelung, gegen den Schrei, gegen die Blendung, gegen den abscheulichen Konsum, gegen die nutzlose Suche und gegen die sinnlose Existenz.

 

Senfglashausen war der Gegner der Landwirtschaft. Es wurde auf landwirtschaftlichem Boden erbaut, es entwurzelte die fruchtbringenden Senfpflanzen, es verlockte und verführte die Senfbauern dazu, die Landwirtschaft aufzugeben und als träge Faulenzer, arbeitslos und bettelnd, die Bordsteine Senfglashausens zu bevölkern, während es gleichzeitig die ganze landwirtschaftliche Produktion verschlang und immer mehr forderte.

 

Senfglashausen tötete das soziale Gefühl und die menschlichen Empfindungen und schaffte Stumpfsinn und Rücksichtslosigkeit, weil Senfglashausens Bürger sich daran gewöhnt hatten, dass Verhaltensweisen und Szenen, die in Dörfern, auf Äckern und bei Senfbauern Aufmerksamkeit erregten, sich ständig wiederholten.

 

Senfglashausen war eine Mühle für seine Bürger, ein Alptraum für seine Erbauer. Es zwang einen, sein Äußeres zu verändern, seine Werte zu vertauschen, einem das Hemd einer städtischen Persönlichkeit anzuziehen, die farb-, geruch-, geschmack- und sinnlos war, ein wurmartiges, rein biologisches Gebilde, das einem dazu zwang, gegen seinen Willen den Atem der anderen einzuatmen und sich trotzdem nicht um sie zu kümmern. Man suchte bei ihnen Schutz, doch sie schützten einen nicht, wie man auch sie nicht schützte. Senfglashausen zwang einen dazu, die Stimmen der anderen zu hören, obwohl man sie nicht ansprach, ihren Atem einzuatmen, ohne dass man sie darum gebeten hatte, sich die Laute aller Motoren und Hämmer anzuhören, obwohl einem diese Laute nicht meinten.

 

Die kleinen Kinder waren in Senfglashausen noch elender dran als die Erwachsenen. Sie kamen von einer Finsternis in die nächste und von der dritten in die vierte. Die Behausungen in Senfglashausen waren keine Wohnungen, sondern Löcher und Höhlen, die eingerahmt sind von den gegenläufigen Strömen des Verkehrs.

 

Doch dann kam eine bessere Zeit. Eine Zeit in der sich Senfglashausen veränderte. Diese bessere Zeit hatte Senfglashausen und sein Volk nur einem zu verdanken, dem großen Senfmeister. Unermesslich stolz ist Senfglashausens Volk auf den geliebten Senfmeister, den es unendlich verehrt. In seinem Sinne lebt und arbeitet es heute. In hoher Verehrung des geachteten Senfmeisters, der Vater der Nation und Wegweiser der Revolution sieht das Volk von Senfglashausen das größte Glück und den höchsten Ruhm, empfindet es heute grenzenlose Freude.

 

Das Volk von Senfglashausen, das im Senfmeister eine Führungspersönlichkeit hat, ist von freudiger Begeisterung und Leidenschaft erfüllt, und überall in Senfglashausen lodern heftig die Flammen der Treue.

 

Die Revolutionäre der älteren Generation, die mit der Waffe in der Hand an der Seite des Senfmeisters gegen die Anhänger des Antisenfs (Ketchup, Anm. d. Red.) kämpften, fühlen wie sich die Woge der Begeisterung, begleitet von Tränen, jenes Tages wiederholt, als sie im Senfmeister, den Vater der Nation, die große Führungspersönlichkeit der Revolution sahen, den sie in der für Senfglashausen so leidvollen Zeit, in der sich sogar Sonne und Mond verdunkelten, so sehr herbeigesehnt hatten. Das Volk von Senfglashausen, das nach der Befreiung den ersehnten Revolutionär begeistert begrüßte, ist vom wärmsten Gefühl erfasst, als ob es erneut die Freude jenes unvergesslichen Tages empfindet, an dem es ihm aus voller Kehle zujubelte und ihn hochleben ließ.

 

Das Volk von Senfglashausen, das den geliebten Senfmeister verehrt, ist unsagbar glücklich, denn er ist ein Genie des Schaffens und des Aufbaus, das sich vollständig revolutionäre Ideen und hervorragende Führungsqualitäten angeeignet hat und sie hervorragend in die Praxis umsetzt, ist ein hoch geachteter Volkstribun, der die edlen Eigenschaften und Tugenden des Senfes in sich vereint und so das Volk mit Wärme umgibt.

 

Die Tugenden des Senfmeisters sind überaus edel, weil sie sich herausbildeten, als er unter den Bedingungen der schweren und bewegenden Ereignisse aufwuchs und Freud und Leid mit dem Volk von Senfglashausen teilte. Er wurde während des beispiellos harten entscheidenden Kampfes gegen den Antisenf geboren und musste die zwei erbitterten revolutionären Kämpfe, die tief greifende Senf-Revolution miterleben und die ständigen Wogen des stürmischen Aufbaus Senfglashausens bezwingen.

 

Er ist voll unerschütterlichem Vertrauen und sieht das oberste Prinzip seiner Tätigkeit darin, das befreite Volk von Senfglashausen endgültig von allen noch vorhandenen Fesseln der Natur (Finsterwald, Anm. d. Red.) und Arbeitsmühsal zu erlösen und seinen Wohlstand zu erhöhen. Ausgestattet mit außergewöhnlichem Scharfsinn und herausragenden Führungsqualitäten, zeigte er erstmals in der Geschichte Senfglashausens einen Weg zur beispiellos großzügigen Nutzung der Natur, gab das Fanal zur allseitigen Automatisierung, bot so dem Volk von Senfglashausen großartige Möglichkeiten, sich von allen genannten Fesseln zu berfreien.

Der Senf

 

Nachdem der Senfmeister mit seinen Lehren den Senfanbau wieder nach Senfglashausen zurückbrachte und diesen revolutionierte, hielt er vor dem Volk Senfglashausens eine heißblütige Rede:

 

„Früher gab es unter den Bauern Senfglashausens nicht viele, die in der Lage waren, die Zeit kurz vor der Senfernte zu überstehen. Möglicherweise ist es jetzt für die jungen Menschen hier in Senfglashausen nur schwerlich zu begreifen, was die Worte bedeuten: Man kann die Zeit kurz vor der Senfernte nicht überstehen. Es bedeutet, dass man sich von den Erträgen einjährigen Ackerbaus nicht bis zur nächsten Senfernte zu ernähren vermochte. Heute kann man aber sagen, der Lebensstandard unserer Senfbauern übertrifft das Lebensniveau der Senfbauern der vergangenen Zeit und ist sogar noch höher als das der früheren reichen Senfproduzenten.

 

Nach Berichten von Universitätsstudenten, gab eine Senfbäuerin ihrem Sohn, der Senfwarts, unser Elitegymnasium, besucht, 200 $ (Senfkorn = Währung in Senfglashausen, Anm. d. Red.) als Taschengeld, da er eine Studienreise nach Dublin antrat. 200 $ sind eine große Summe, die dem Monatslohn eines Schwerstarbeiters entspricht. Das Leben der Senfbauern hat jetzt solch ein Niveau erreicht, dass sie ihren Kindern freigiebig 100 $ und mehr als Taschengeld geben.

 

Angesichts der Tatsache, dass das Lebensniveau der Senfbauern sehr hoch ist, können wir in Senfglashausen den Senfanbau, die Senfproduktion und den Senfvertrieb als besonders herangereift betrachten.

 

Unseren Senfbauern ist ein hohes ideologisches Bewusstsein eigen, aber es lässt sich noch nicht sagen, dessen Stand hat solch eine Stufe erreicht, dass nun das System des gemeinschaftlichen Senftums, Senfglashausens angestrebtes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, verwirklicht werden könnte. Es mangelt noch manchen Senfbauern an der Einstellung als Hausherr zum gemeinschaftlichen Senftums. Sie sind noch nicht von der edlen Denkweise erfüllt, unter Einsatz von Leib und Seele für die Gesellschaft zu arbeiten. Wir müssen das ideologische Bewusstsein der Senfbauern mit dem Maßstab des gemeinschaftlichen Senftums messen und es in vielerlei Hinsicht gut abwägen.

 

Die Senfproduktion hat Besonderheiten, die sich von der Industrie unterscheiden. Die Arbeitsergebnisse in der Industrie lassen sich rechtzeitig und richtig bewerten, weil deren Erzeugnisse täglich und monatlich ausgestoßen werden, aber in der Senfproduktion ist dies erst nach Abschluss der Senfernte des jeweiligen Jahres möglich, denn die Produkte der Senfproduktion kommen einmal im Jahr. Außerdem kann die Senfproduktion die einmal versäumte Bestellzeit nicht wettmachen und den Senfanbau des betreffenden Jahres zugrunde richten, wenn der richtige Zeitpunkt verpasst wird, während die Industrie manchmal Produktionsrückstände des einen Monats im nächsten Monat ausgleichen kann.

 

Das ideologische Bewusstsein der Senfbauern wirkt also entscheidend auf die Senfproduktion und die Entwicklung der Gesamtwirtschaft Senfglashausens ein.

 

Ich halte es dafür sehr notwendig, die Ideologie unseres angestrebten Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, dem gemeinschaftlichen Senftums, schon in der Schule im Unterricht zu integrieren. Bisher ist dies nur in unserer Eliteschule Senfwarts geschehen, aber man sieht gerade am großen beruflichen Erfolg der ehemaligen Senfwartsschüler, dass dies an allen Bildungseinrichtungen zu erfolgen hat. Für ein gemeinschaftliches Senftum und einem damit verbundenem hohen Lebensstandard für die Bürger Senfglashausens.“

Der Tod des Hausmeisters

Die Schüler von Senfwarts, der Eliteschule Senfglashausens, staunten am ersten Tag seines Schulbesuchs über sein schlichtes und bescheidenes Äußeres. Er sagte, als er das Klassenzimmer betrat, lächelnd: „Ich heiße Zwyback. Lernen wir zusammen!“ Er reichte seinen Kameraden vertrauensvoll die Hand, setzte sich ohne Zurückhaltung auf seinen Platz und öffnete seinen Rucksack, in dem er seine Schulsachen eingepackt hatte. Seine offenherzige Art, seine großmütigen Augen und seine Gestalt, die trotz quadratischer Statur irgendwie von Ehrfurcht zeugte, beeindruckte sie ungewöhnlich.

 

Der Lehrer trug ihnen auf, ein Gedicht unter dem Titel „Unser Klassenzimmer“ zu schreiben. Die Schüler griffen zur Füllfeder und zerbrachen sich den Kopf. Monnty, der neben Zwyback saß, beschrieb lediglich die Gegenstände, die er sah, und Smoky, eine Schülerin in der letzten Reihe, schrieb nur die Überschrift hin und begann ihr Klassenzimmer darunter zu zeichnen. Zwyback jedoch warf einen Blick auf den Titel an der Tafel und versank, ohne zur Füllfeder zu greifen, tief in Gedanken. Kurz vor Ablauf der Zeit nahm er seine Füllfeder zur Hand und schrieb ohne Unterbrechung nieder, woran er dachte. Der Lehrer, der das von ihm abgegebene Gedicht gelesen hatte, war ergriffen und sagte, dass er ihnen ein sehr schönes Gedicht vortragen werde, und begann:

 

„Unser Klassenzimmer

 

In unserem Klassenzimmer,

Von Sonnenschein erfüllt,

Hängt heute so wie immer

Des Senfmeisters stolzes Bild.

 

Als heute früh wir kamen,

Galt ihm der erste Blick,

Dem Bild im goldenen Rahmen:

Lernt gut für euer Glück!

 

Die Winterstürme gingen,

Nun ist es Frühlingszeit,

Die Lieder, die wir singen,

Dem Senfmeister sind geweiht.

 

Drum lasst uns fröhlich singen

Zum Ruhm des Senfmeisters laut,

Die Armut konnt’ er bezwingen,

Hat Senfglashausen erbaut.

 

In unsrem Klassenzimmer

Sitz ich auf meiner Bank,

Das Bildnis mahnt mich immer:

Gib dem Senfmeister Dank!

 

Dem Senfmeister voll vertrauen

In dieser großen Zeit,

An Senfglashausen mitzubauen

Es ist für uns soweit!“

 

Begeisterung und Bewunderung sprachen aus den Gesichtern der Schüler. Monnty bemerkte daraufhin zum ersten Mal das Bild des Senfmeisters in dem Klassenzimmer und Smoky wusste endlich, wer der alte Mann auf dem Bild war, der sie im Unterricht von der Wand immerzu anstarrte. Es war der Senfmeister, die große Führungspersönlichkeit Senfglashausens, der Vater der Nation. Deswegen war es auch nicht verwunderlich, das Monnty und Smoky sich mit Zwyback anfreundeten, denn sie konnten von dieser Freundschaft nur profitieren.

 

An einem Tag geschah es auf einmal, dass die Schüler entsetzt an die Wand starrten, nachdem sie das Klassenzimmer betraten. Was war geschehen? Das Bild des Senfmeisters hing schief. Ratlosigkeit und Unsicherheit machte sich unter den Schülern breit. Es durfte nicht sein, dass das Bild des großartigen Senfmeisters schief an der Wand hing. Monnty und Smoky sahen verzweifelt zu Zwyback. Auch die anderen Schüler drehten sich zu ihm. Und Zwyback enttäuschte seine Kameraden nicht. Er sah alle an und verließ das Klassenzimmer. Die anderen blieben erstaunt zurück und warteten, was wohl passieren würde. Nach zwei quälend langen Minuten, in der sie das schiefe Bild des Senfmeisters ertragen mussten, kam Zwyback wieder zurück. Aber er war nicht allein, denn ihm folgte ein älterer Mann. Es war der Hausmeister, ein Vietnamese, der vor Jahren als Gastarbeiter nach Senfglashausen gekommen war. Misstrauisch sahen die Schüler den Vietnamesen an. Was konnte dieser Vietnamese schon machen? Alle sahen erstaunt auf Zwyback, doch Zwyback lächelte seinen Klassenkameraden zu. Von Zwybacks positiver Energie, die das Klassenzimmer durchströmte, motiviert, stieg der Hausmeister auf einen Stuhl und rückte das Bild des Senfmeisters wieder gerade. Zunächst erstaunt, dann hoch erfreut erlebten die Schüler dieses Ereignis und erkannten, dass auch ein alter Vietnamese nützlich für die Gesellschaft sein kann und auch er ein Teil des gemeinschaftlichen Senftums war. Dank Zwyback erkannten sie das auf einmal und begannen zu applaudieren.

Der vietnamesische Hausmeister war so gerührt von der Szene, dass er sich vor den applaudierenden Schülern verbeugte. Doch da verlor er sein Gleichgewicht und stürzte vom Stuhl auf dem er stand. Er fiel zu Boden und brach sich das Genick. Aber dennoch war der Tod des Hausmeisters nicht sinnlos, denn dank Zwyback wird der tote Hausmeister immer ein glühendes Symbol für die Arbeiterklasse in Senfglashausen bleiben.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Verlag für fremdsprachige Literatur Gortschizien

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