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Die blinde Künstlerin

Ich ertastete die Tür zu meinem Arbeitszimmer und angelte nach der Türklinke.
Als ich sie gefunden hatte, drückte ich sie leise herunter und schob mich durch den Türspalt. Sofort stieg mir der Geruch von Farbe in die Nase. Acrylfarbe, Ölfarbe, Kreidestaub, Pastellfarbe, ja selbst die Wasserfarbe hatte ihren eigenen Geruch.
Leicht drehte ich den Kopf und nahm so die Sprühfarbe aus den Spraydosen wahr.
Sofort fühlte ich mich wohl. Heimisch.
Ich machte einen Schritt in den Raum hinein, drehte mich um und machte die Tür zu.
Erneut tief einatmend lehnte ich mich gegen sie. Viel zu lange hatte ich die Farbe nicht mehr gerochen.
Der Pinsel in meiner Hand wurde plötzlich sehr präsent, zeigte mir, was ich vor hatte, erinnerte mich an mein Leben bisher. Sanft strich ich den Pinselkopf entlang. So weich.
Jedes Haar spürte ich, erfüllte mich mit Erinnerungen an das, was ich schon alles mit dem Pinsel gemalt hatte.
Das Zucken in meiner Hand. Die Freude darüber, endlich wieder malen zu können. Es war unbeschreiblich.
Ich spürte das Grinsen auf meinem Gesicht und stieß mich wieder von der Tür ab.
Mitten im Raum stand meine Staffelei.
Ich streckte den Arm aus und ging auf sie zu. Zögernd. Ich hatte die Entfernung von der Tür aus vergessen.
Sieben kleinere Schritte brauchte ich, bis ich mit der Hand gegen die Stützstrebe des Holzgestells stieß.
Ich lachte auf und fuhr mit den Fingerspitzen das Holz entlang.
Ich merkte, wie sich ein Holzsplitter in meine Haut bohrte. Vermutlich blutete ich nun, doch es machte mir nichts.
Hier in diesem Zimmer war ich zu Hause.
Ich wischte meine Hand an meiner Hose ab. Wenn ich eine Leinwand aufstellen wollte, sollte kein Blut auf ihr sein.
War ich erst einmal hier in diesem Raum, so bekam man mich nicht mehr so schnell hier heraus. Ich schlief nicht, ich aß nicht. Trinken durfte ich nicht. Wenn ich mein Glas umstieß, so könnte der Inhalt meine Farben verfälschen oder meine Bilder aufweichen.
Mein Blick verfinsterte sich bei dem Gedanken daran automatisch.
Schnell schüttelte ich den Kopf und verbannte so die Gedanken an etwas zu Trinken wieder weit weg.
Ich bückte mich und tastete nach den Leinwänden, die ich immer ein Stück weit rechts von der Staffelei auf dem Boden liegen hatte.
„Noch ein Stückchen weiter.“
Ich lächelte liebevoll und tastete noch ein Stück weiter rechts, wo ich dann auch tatsächlich die Leinwände fand.
„Danke“ Sagte ich leise, während ich mich wieder aufrichtete und die Leinwand auf die Staffelei stellte.
„Was ist mit deinen Augen?“
Ich drehte mich um und suchte das Regalbrett, was an die Wand geschraubt war. Dort waren ein paar Becher gelagert, in die ich etwas Terpentinöl füllte, mit dem ich meine Farben später wieder weg bekommen würde.
Ich drehte die Flasche Terpentin auf und schnupperte kurz.
Ein vertrauter Geruch. Angenehm. Stechend.
Während ich den Becher füllte, tunkte ich meinen Zeigefinger in die Flüssigkeit, um abzumessen, wie weit ich den Becher noch füllen durfte. Dabei antwortete ich in den Raum rein: „Ich wurde operiert. Der Verband um meine Augen ist dafür da, dass meine Augen geschont werden.“
„Warum?“ Die Stimme kam nun vom Fenster und ich drehte mich mit dem Becher wieder um, der Stimme entgegen.
„Die Ärzte sagen, dass ich bald vielleicht sehen kann.“
Ein Zischen brandete um mich herum auf und ich musste lächeln, obwohl es nicht gerade freundlich klang. „Nun seid nicht so. Wenn ich sehe, kann ich ja vielleicht viel besser malen.“
Ich steckte den Becher in die dafür vorgesehene Halterung und hob meinen Pinsel: „Wo sind meine Ölfarben?“
Eine helle Stimme, direkt neben mir antwortete: „Oben im Regal. Ganz links.“
Ich lächelte zu der Stimme hinunter und tastete dann nach den verschiedenen Tuben Farbe.
Ich strich über die Deckel und suchte sie nach den Buchstaben ab, die ich in das Plastik geritzt hatte, um die Farben zu erkennen.
Als ich das Schwarz hatte, drehte ich die Tube auf und gab einen Klecks auf meine Farbpalette.
„Was malst du jetzt?“
Die Stimme kam von der Tür, doch ich drehte mich nicht um, um zu antworten.
„Ich will malen, wie es in meinem Kopf aussieht. Ich habe Angst, weißt du?“ Ich schüttelte leicht den Kopf und tunkte den Pinsel in das Schwarz. „Was ist, wenn ich nicht sehen kann? Werde ich dann hässlich sein? Weiterhin ohne Augenlicht. Mit diesem dämlichen Stock!“ Mein Arm flog Richtung Tür, hinter der mein Stock an der Wand lehnte. „Und wenn ich sehen kann, kann ich dann noch malen?“
Ich setzte den Pinsel energisch auf die Leinwand an und zog den ersten Strich.
Ruhe breitete sich aus. Innere Ruhe und Stille um mich herum. Ich spürte die Präsens der Stimmen um mich. Sie waren bei mir und sahen mir beim malen zu.
Ich griff nach einiger Zeit nach dem Rot und gab auch davon einen Klecks auf die Palette.
„Bald bin ich fertig.“
„Es macht mir Angst“ Wimmerte eine helle Stimme und ich legte den Kopf schief.
Ich wusste, dass mein Bild nicht schön war. Ich konnte es zwar nicht sehen, doch ich hatte meinen Pinsel malen lassen, wie es in meinem Kopf aussah. Wirr, ängstlich, hoffend, panisch.
„Ich schau es mir an, ja?“ Fragte ich in mein Arbeitszimmer.
Ich bekam keine Antwort, doch ich brauchte auch keine. Ich nahm den Pinsel in den Mund und hob die Hände zu meinem Hinterkopf. Behutsam löste ich die Klammer, mit der der Verband zusammen gehalten wurde und wickelte meine Augen frei.
Ehe ich die letzte Wicklung abnahm, presste ich meine Hände auf meine Augenlieder. Wenn ich nun nichts sah?
Ich musste es riskieren.
Alle legten so viel Hoffnung in mich. Meine Mutter, mein Vater, mein Arzt.
Wenn ich sehen könnte, dann könnte ich wundervolle Bilder malen und sie auch sehen, sagten sie. Ich wollte sie nicht enttäuschen.
Es klingelte.
Das Geräusch kam von weit weg. Zu weit, als das ich es bewusst wahrnahm.
Ich ließ die Hände sinken und atmete ein, ehe ich meine Augen öffnete.
Licht flutete unter meinen Augenliedern her.
Es blendete mich, war zu hell. Brannte in meinen Augen und ich schrie auf. Es tat weh. Das war bestimmt nicht normal. Irgendwas musste falsch gelaufen sein bei der Operation.
Ich schlug die Hände wieder vor die Augen, doch es war noch immer nicht wieder so schwarz wie zuvor. Es war ein leuchtendes Schwarz. Das Licht bahnte sich seinen Weg und ich konnte nichts dagegen machen.
„Mach sie auf!“ Fauchte eine Stimme vor mir.
Ich schüttelte den Kopf und schrie: „Ich kann nicht! Es tut weh! Es brennt.“
„Es ist normal! Sieh mich an. Du kannst mich sehen.“
Ich trat einen Schritt zurück, stolperte fast über meine eigenen Füße, riss die Hände dabei hoch und ruderte in der Luft. Dabei gingen meine Augen automatisch auf. Ich fing mich wieder und versuchte meine Augen erneut zu schützen.
„SIEH MICH AN!“
Ich lugte zwischen zwei meiner Finger her und suchte die Stimme. Wer redete da überhaupt mit mir?
„Nimm die Hände weg.“
Die Stimme klang ungeduldig und böse. Ich wollte niemanden böse machen. Ich wollte doch nur was sehen können, aber es tat so weh.
„LOS JETZT!“
Ich wimmerte leise und ließ dann die Hände sinken.
Es war das Bild was mit mir sprach.
Ich hatte einen schreienden Kopf gemalt und zwei Hände, die sich Hilfe suchend an den Rahmen des Bildes klammerten.
Wilde Pinselführung, eigentlich nur einzelne Striche, zusammen gesetzt zu einem Bild durch die schiere Masse.
Schwarz in schwarz mit etwas rot.
Ein roter Mund. Weit aufgerissen, wie ein unendlicher Schlund, der einen zu verschlingen drohte. Schaut man zu lange hin, so wird man hinein gezogen.
Die Hände waren knöchern, nur angedeutet durch feine, aber noch immer wilde und unsortierte Linien. Sie krallten sich fest in den Rahmen und hinterließen dort schwarze Flecken.
Rote Farbe lief die Arme hinunter, die man zum Teil neben dem Kopf sehen konnte.
Die Augen panisch aufgerissen, Weiß mit einem Graustich für die Tiefenwirkung.
„Mach ich dir Angst?“ Fragte das Bild, ohne dabei auch nur einen Pinselstrich zu bewegen.
Ich nickte panisch. Was hatte ich da gezeichnet? Sah es wirklich so in mir aus? Wollten alle, dass ich DAS sah, dass ich weiter zeichnete, wenn das, was ich zeichnete, so schrecklich aussah?
„Sowas willst du nicht sehen müssen oder? Du hast Angst vor mir!“
Ich nickte erneut, doch streckte nun meine Hand aus und fuhr die Linie unter dem leeren, rechten Auge des Bildes nach. Keine Pupille hatte ich gemalt.
Aus leeren, weißen Augen sah mich das Bild an. „Dann will ich dir helfen.“
Sonne, die bis gerade hinter einer Wolke verborgen war, flutete in das Zimmer und ich riss die Hände wieder hoch. Es war zu hell. Zu schnell. Es tat weh.
Es klingelte erneut.
„KOMM HER!“ Rief das Bild und ich stolperte näher. Suchte Schutz bei dem Bild, um dem Licht zu entkommen, doch ich bekam keinen Schutz.
Knisternd lösten sich die Hände von dem Rand des Bildes und griffen nach mir.
Zogen an meinen Haaren, fuhren mir über Lippen und Nase, hin zu meinen Augen. Zogen mich hoch, so dass ich in das Gesicht schauen musste, was ich gemalt hatte.
Meine Augen zuckten zwischen den Händen und den Augen des Bildes hin und her, versuchten es aufzunehmen, es zu sehen, zu ahnen, was es vor hatte.
Eine Hand legte sich unter mein Kinn und die andere zog sich zurück.
„Schrei nicht, hörst du!“
Damit schnellten die Finger des Bildes vor und stachen mir in die Augen.
Es war glitschig und schmerzhaft. Ich wand mich hin und her, spürte, wie sich die Finger in meinen Augäpfeln drehten, wie sie bis tief in meine Augenhöhlen stießen, sich ihren Weg wühlten und dann an meinen Augäpfeln rissen.
Das Licht hatte aufgehört.
Tiefe Schwärze umfing mich und alles was ich wahrnahm war der Schmerz, der hinter meinen Liedern pochte.
Ich kratzte mir mit den Händen über die leeren Höhlen, tastete nach den Augen, doch die Höhlen waren sauber und leer.
Ich spürte das Blut, was an meinen Händen hinab lief und sank auf die Knie.
Ich wollte weinen, doch ich konnte nicht.
Schon hörte ich eine Tür aufgehen. Hörte Schritte und dann ein Keuchen.
Jemand kam zu mir auf den Boden, zog mich in seine Arme. Ich wehrte mich nicht. Ich wollte nur, dass es aufhörte, dass ich wieder in der Schwärze versinken konnte.
„Kind. Kind, warum hast du das gemacht? Sch….nein, meine Kleine. Sch….alles wird wieder gut.“ Meine Mutter wiegte sich langsam mit mir in den Armen hin und her und strich mir über den Kopf.
Nasse Tropfen landeten auf meiner Schulter. Ich schrie. Panisch, vor Schmerz und vor Wut über mich selber.
„Sch…komm, wir gehen jetzt ins Krankenhaus.“ Sagte meine Mutter und zog an mir.

 

 

Ich schrei. Laut.
Ich saß aufrecht im Bett, wollte um mich schlagen, wollte alle von mir schubsen, doch ich konnte nicht. Meine Arme waren fest. Ich konnte sie nicht heben, nicht drehen, nichts.
Ich schrie lauter. Ich hatte Angst, verfiel in Panik.
Meine Atmung beschleunigte sich.
Eine Tür ging scheppernd auf. Schnelle Schritte, dann Hände, die sich auf meine Schultern legten, mich hinunter drücken wollten. Ich wehrte mich, wollte wissen was los war, doch sie waren unerbittlich. Immer fester drückten sie, bis weitere Hände dazu kamen und mich auf dem Bett fixierten.
Stimmen.
„Sie hat es wieder geträumt. Stellt sie ruhig. So stellt sie doch endlich ruhig! Marta! Marta, tu was!“
Ein Geräusch, was ich nicht einordnen konnte, dann eine andere Stimme. Marta vermutlich. „Diese Verrückte! Reicht es nicht, dass sie sich selber die Augen auskratzt? Muss sie uns alle noch in Aufruhr versetzten?“
Etwas Spitzes an meinem Arm. Ein kurzer Schmerz, dann Ruhe.
Endlich Ruhe.
„Sie ist schizophren Marta. Sie ist nicht um sonst in einer Anstalt.“
Stille.
Schwärze.

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Tag der Veröffentlichung: 22.08.2015

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