Tante Lieschen
Eigentlich hieß sie Elisabeth Krämer und war meine Taufpatin und ich habe sie geliebt. Sie war keine Schönheit und auch nicht reich, aber sie hatte ein Herz aus Gold und war der bescheidenste Mensch, dem ich je begegnet bin.
In der Geschichte „Nur eine Tasse Kaffee“ habe ich ihr ein Denkmal gesetzt.
Sie war schon ein besonderer Mensch, denn obwohl das Schicksal es nicht gut mit ihr meinte, war sie doch von einer ruhigen, gelassenen Art. Ich habe sie nicht einmal böse erlebt. Die großen Ferien durfte ich immer bei ihr verbringen und das war eine schöne unvergesslich Zeit.
Ich sehe heute noch die kleine Küche mit dem weißen Becken aus Emaille vor dem kleinen Fenster, links der Gasherd und rechts eine gemütliche Ecke mit zwei Sesseln und einem runden Tisch. Ein altes rotes Sofa lehnte an der Wand, davor ein Tisch mit drei Stühlen. Hinter einem der Stühle thronte ein Küchenschrank, so einer mit Glasscheiben, an denen Gardinen hingen.
Es gab nur noch ein Schlafzimmer, aber kein Badezimmer. Auf dem Flur war noch ein kleines Zimmer, das nicht benutzt wurde. Hatte man ein menschliches Bedürfnis, dann musste man die Treppe hinunter in den Hof auf das berühmte Holzhäuschen mit einem Herzchen. Diesen Ort hasste ich, erstens stank es dort fürchterlich, und außerdem waren die Wände voller Spinnweben und grauslichen schwarzen Spinnen.
Im Schlafzimmer stand ein Eimer mit Deckel, wenn man nachts Pippi machen musste.
Trotzdem denke ich gerne zurück an die Zeit mit Tante Lieschen.
Sie hatte ein heimliches Laster. In ihrem Schlafzimmerschrank befanden sich Unmengen von Groschen Romanen, die sie mit ihren Freundinnen tauschte. Für mich eine wahre Fundgrube, da derlei Literatur ja bei uns zu Hause verboten war. Bei Tante Lieschen durfte ich!
Während sie ihrer Hausarbeit nachging, kauerte ich auf dem Sessel und teilte den Liebesschmerz der Heldinnen in den Romanen. Aber ich kann mich erinnern, dass ich mich schon als zehnjährige darüber aufregte, weil sich die Liebenden in den Romanen so doof benommen haben. Verschlungen habe ich die Heftchen trotzdem.
Am Nachmittag dann spielte sie mit mir „Krieg“, das war ein Kartenspiel, das man zu zweit spielen kann. Es war sicher langweilig für sie, aber auch hier zeigte sie eine Engelsgeduld.
Einmal in der Woche machte sie sich „Stadt fein“ und wir fuhren zu ihrer Freundin Anna nach Neunkirchen. Während die Damen plauschten, durfte ich mit der großen Porzellanpuppe, die auf dem Sofa saß, spielen. Es gefiel mir bei den beiden alten Damen.
Einmal hatte Tante Lieschen zwei italienische Gastarbeiter als Untermieter in dem kleinen Zimmer im Flur. Jeden Abend nach der Arbeit kamen sie in die Küche und kochten einen riesigen Topf Spagetti mit Tomatensoße und anschließend brachten sie einen Teller voll für die Bambina vorbei. Ich habe noch nie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Lore Platz
Bildmaterialien: Lore Platz
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9273-4
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