Helle Blitze von der Farbe gesplitterter Knochen rissen gezackte Streifen in den dunklen Nachthimmel. In einiger Entfernung von der altmodischen Villa, die wie versteckt hinter vielen Bäumen stand, grollte Donner, kam aber definitiv näher. Regen setzte ein, prasselte fortwährend lauter gegen die Fensterscheiben. Gepaart mit dem stürmischen Wind entstanden Furcht einflößende Geräusche. Äste wirbelten gegen das Fenster des kleinen Jungen, der zusammengekauert unter seiner Bettdecke lag. Sein ganzer Leib zitterte. Mit zugekniffenen Augen hoffte er, dass der Albtraum endlich ein Ende nehmen würde. Plötzlich hörte er zwischen all den Klängen, die das Unwetter von sich gab, ihre wütende Stimme. Aus seiner Angst wurde nackte Panik. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich unter dem Bett verstecken, ehe die Frau ins Zimmer geplatzt kam. Er atmete so leise, wie es ihm nur möglich war.
Trotz des Stromausfalls betätigte sie mehrmals hintereinander den Lichtschalter. Erbost darüber, dass das Licht nicht funktionierte, gab sie dem Kleinen die Schuld dafür. „Was hast du nur wieder angestellt?!“ Abermals drückte sie auf den Schalter. „Das kann nicht wahr sein!“ Prompt blickte sie zum Bett. „Du brauchst dich gar nicht zu verstecken!“ Voller Zorn stapfte sie in ihren roten Plateaupumps auf den Schlafplatz zu und riss die Decke zur Seite. Doch statt des Bengels lag dort nur ein zusammengeknülltes Kissen, das sie um ein Haar angeschnauzt hätte.
Ein weiterer Blitz flackerte auf, zeichnete spinnenartige Linien in den Himmel und erhellte für einen Moment den Raum. Das Kind erkannte seine Chance und ergriff bekleidet in einem leicht fleckigen und von Motten durchlöcherten Pyjama die Flucht aus dem Zimmer.
In den flammenden Lichtquellen des Gewitters sah die Frau ihn davonstürmen.
Die Jagd begann.
Sein Herzchen hämmerte wild in seiner Brust, als er den finsteren Flur entlang rannte. Er blieb nicht stehen, schaute nicht über die Schulter.
„Du kannst mir nicht entkommen!“
Er hastete die gewundene Treppe hinunter, spürte die kalten Stufen unter seinen Füßen. Der Klang der Stöckelschuhe drang unaufhörlich näher an seine Ohren. Seine Freiheit schien zum Greifen nah, als er auf den Hauseingang zurannte. Mit all seiner Kraft öffnete er die Tür, doch kaum hatte er einen Fuß hinausgesetzt und in die Dunkelheit gesehen, erstarrte er bei dem düsteren Anblick. Ein lauter Donnerschlag krachte fast genau über ihm. Der plötzliche Windstoß, der auf den Knall folgte, ließ ihn regelrecht zurück ins Haus fliegen.
„Hab ich dich!“ Sie packte ihn von hinten und versuchte, den Burschen zurück ins Haus zu zerren. Er strampelte herum, krallte sich mit seinen abgebrochenen und eingerissenen Fingernägeln am Rahmen fest. „Hör gefälligst auf jetzt!“
In der Hoffnung, dass ihn irgendwer da draußen hören und ihn von dieser Qual erlösen könnte, stieß er einen Schrei aus. Die Laute, in die sich Leid und Grauen mischten, durchschritten die tobende Nacht.
Die Tür fiel laut ins Schloss.
„Hör auf, dich zu wehren, Mensch!“ Sie hatte erhebliche Schwierigkeiten dabei, ihn festzuhalten und wurde unerwartet in die Hand gebissen. Unwillkürlich ließ sie ihn los. „Aua!“
Diese Chance ließ er sich nicht entgehen. Geschwind eilte er zur Treppe.
„Bleib stehen!“ Sie kreischte aus vollem Hals.
Dieses Geräusch erschreckte ihn derartig, dass er stolperte und mit dem Kinn auf einer der Stufen aufschlug. Tränen schimmerten in seinen Augen, sein Unterkiefer und seine Lippen schlotterten. Gerade als er aufstehen und davoneilen wollte, packte sie ihn an den Beinen und zerrte ihn zu sich.
„Jetzt kannst du was erleben!“
Um nicht weitere Male mit dem Gesicht auf die Stufen zu klatschen, hielt er sich unverzüglich die Arme vors Gesicht.
Zwar hatte sie bemerkt, dass er sich verletzt hatte, besorgt war sie deswegen aber mitnichten. Mit einem Ruck zog sie ihn am Kragen hoch und warf sich den Knirps über die Schulter. Sein Gejammer und das wilde Herumgezappel machten sie schier verrückt. „Sei still!“ Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Es verleitete sie dazu, den Bengel auf den Marmorboden fallen zu lassen, ehe sie sich noch einen ihrer kostbaren Absätze abgebrochen hätte.
Der Kleine wischte mit der Hand über seine blutverschmierten Lippen. Langsam hob er den Blick und sah in diese dämonische Fratze. Intuitiv robbte er auf seinem Hintern zurück. Dieser weitere verzweifelte Versuch, ihr zu entkommen, scheiterte allerdings an der Wand hinter ihm.
„Jetzt habe ich dich!“
Beim nächsten Aufleuchten des Gewitters sah der Junge die gespreizte Hand auf sich zukommen. Sein schmächtiger Körper verkrampfte. Schützend hielt er sich die Arme vors Antlitz. Und er schrie, als sie wieder und wieder auf ihn einschlug …
In Gedanken versunken stand Bastian auf dem Hügel und sah über den weiten, grünen Abhang zum Fluss hinab, der still in der mittäglichen Hitze ausgebreitet lag. Die Vögel in den Bäumen waren verstummt, selbst die Brise hatte sich gelegt und ein tiefes, beängstigendes Schweigen hinterlassen, das die gesamte Wiese einhüllte. Bastian beschlich ein ungutes Gefühl. Er hatte die Befürchtung, dass ihm etwas Schreckliches bevorstand. Aufmerksam sah er um sich. Plötzlich erblickte er sie: Schüler, bekleidet mit teurer Markenkleidung, die hinter der Mauer hervorkamen und darauf sprangen. In Reih und Glied hatten sich die vier Jungs auf der Steinwand aufgestellt und schauten drohend in seine Richtung. Selbst aus der Entfernung und gegen die blendende Sonne konnte Bastian ihre Ohrringe funkeln sehen. Einen Augenblick später rannten sie auf ihn zu. Intuitiv sprintete Bastian in vollem Tempo den Hügel hinab, direkt auf das hohe Gras am Flussufer zu. Sein Sichtfeld schwankte im Rhythmus der schnellen Schritte auf und ab. Das trübe Wasser des Flusses, das wie zerbrochenes Glas durch das Schilf hindurch glitzerte, konnte er bereits sehen.
Hinter Bastian erscholl ein Aufschrei der Empörung: „Die blöde Schwuchtel versucht zu fliehen!“
Bastians Beine fühlten sich an, als ob sie sich verselbständigt hätten, um ihn vor der aufgebrachten Meute in Sicherheit zu bringen. In einem Moment der Unachtsamkeit stolperte er und landete mit dem Gesicht voran im Grün. Und trotz dieses Missgeschicks gab er die Hoffnung, doch noch davonzukommen, nicht auf. Er war dabei aufzuspringen, als ihn auf einmal jemand brutal von hinten am Shirt packte, hochzog und geradewegs ins flache Wasser schubste.
Die Schüler lachten aus vollem Hals, klatschten einander ab und zeigten mit den Fingern auf ihn.
„Och, bist du nass geworden?“, höhnte einer der Angreifer.
Eisern unterdrückte Bastian die Tränen, die ihm in die Augen schossen. Er wusste, dass wenn er auch nur im Geringsten angedeutet hätte, traurig zu sein, sie ihm vermutlich niemals von der Pelle rücken würden. Kniend und mit gesenktem Kopf verweilte er bewegungslos im Nass.
„Du bist so erbärmlich!“, meinte einer der Aggressoren voller Gehässigkeit und spuckte in die Richtung des Regungslosen. „Schwuchtel!“ Voller Schadenfreude lachten sie und redeten amüsiert durcheinander. Ganz cool kamen sie sich nun vor, wie Gewinner, die etwas Großes erreicht hatten.
„Lass uns gehen, Mann! Diese Schwuchtel widert mich an!“ Sie warfen ihm einen letzten abfälligen Blick zu, ehe sie davongingen und so taten, als sei nichts geschehen.
Bastian strich sich die triefenden, braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht und schaute den Jungs bekümmert nach. Nur langsam schaffte er es, sich zu erheben. Er war nahezu komplett durchnässt. Sein Rucksack trieb wie eine Blüte auf dem Wasser. Bastian ergriff ihn und schleppte sich zur Wiese. Er ließ sich auf die Knie fallen. „Warum immer ich?“, fragte er sich flüsternd. Der Neuntklässler hängte sich den Rucksack um und trat, vertieft in einer Welt ohne Kummer und Leid, den Heimweg an.
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2017
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