Da stand ich nun. Völlig überfordert, vollkommen am Ende mit den Nerven. Zwei Wochen Urlaub in der tollen Friedrichstadt standen mir in wenigen Stunden bevor – und das mit der Familie!
Was meint ihr, wie ich reagiert hatte, als meine Mutter mir diese frohe Botschaft verkündete? Als launisch und mürrisch hatte sie mich daraufhin bezeichnet, doch das bin ich nicht. Ich bin ein junger Mann von 16 Sommern und derzeit einfach nur total gestresst. Seit Beginn der Pubertät hat sich so wirklich alles verändert. Erst kam der Stimmbruch, dann folgten die Pickel. Obendrein nervt mich diese Kackschule. Jugendliche können dermaßen bekloppt und vor allem grausam sein, dass man sich fragt, was in deren Köpfe verkehrt läuft. Hin und wieder würde ich dem einen oder anderen gern ins Gesicht schlagen. In meiner Fantasie ist das dermaßen amüsant, dass ich unwillkürlich lachen muss.
Manchmal frage ich mich, ob ich der einzig normale Mensch auf Erden bin. Können doch nicht alle so bescheuert sein … Dem nicht genug, habe ich auch noch eine kleine Schwester, die mich ziemlich oft fast in den Wahnsinn treibt. Erst letztens hatte sie aus purer Wut mein Handy zertrümmert – völlig gestört, das Kind. Getoppt wird das Ganze nur noch von dem neuen Kerl meiner Mutter. Ich frage mich ernsthaft, was sie an diesem Ungeheuer toll findet. Plauze, säuft ständig – aber das tun sie beide ja gern –, kleidet sich daheim wie ein Penner und spielt nach außen hin den perfekten Mann. Schicke Aufmachung und immer freundlich anderen gegenüber – außer zu mir. Entweder hat der Mann einen riesigen Prügel in der Hose oder es liegt an der Kohle, die er verdient. Ohne Scheiß. Kann mir das mal jemand erklären, bitte?!
Einmal, da machte Herbert, so der höchst erotisch klingende Name des Liebhabers meiner Mutter, mit uns einen Tagesausflug zu irgendeinem komischen Vergnügungspark – grauenvoll. Wie ich diese gespielte Fröhlichkeit doch verabscheue. Herbert kommt ja ursprünglich aus Bayern und regt sich immer über meine Ausdrucksweise auf. Scheiße, Mann! Ich bin ein waschechter Ruhrpottler, und so reden wir hier halt nun mal – zumindest in diesem kleinen Kaff, in dem jeder Dritte arbeitslos ist und mehr als die Hälfte schon morgens einen sitzen hat. Abgesehen davon hat er selbst einen seltsamen Dialekt. Gelegentlich klingt er, als hätte er einen Frosch verschluckt. Vielleicht ist das der Grund, warum Christina, meine Mutter, ihn dermaßen scharf findet. Ich möchte mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, was die beiden machen, wenn sie unter sich sind. Da läuft mir doch glatt ein Ekelschauder über den Rücken. Pfui, bah! Ich bin nicht mürrisch, nein. Mich kotzt mittlerweile einfach nur alles an.
„Steve!“ Es war die unerträglich selbstgefällige Stimme meiner Alten, die mich mal wieder, wie so oft an diesem warmen Sommertag, zum Schnauben brachte. Christina ist ganz schön selbstverliebt. Keiner darf ihr an die Haare fassen und wehe, man stört sie, während sie sich die Nägel lackiert. Aus irgendeinem Grund hatten wir nie dieses Mutter-Sohn-Verhältnis, wie man es sich immer so vorstellt. Eine liebevolle Mom, die sich rührend um ihren Sprössling kümmert. Von wegen! Mit neun Jahren tätigte ich meinen ersten Großeinkauf und durfte den vollgepackten Wagen allein nach Hause schieben. Daran erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen. Liegt wohl daran, dass ich den Einkauf noch heute erledige. Vor anderen will Muddern immer als perfekte Hausfrau dastehen, und seltsamerweise gelingt es ihr. Doch das liegt nicht daran, dass sie tatsächlich so eine tolle Hausfrau wäre, sondern daran, dass ich den meisten Scheiß alleine mache. Putzen, Wäsche – quasi alles. Kaum kommt man aus der Schule, da schwappt einem die brüllende Stimme der Alten entgegen. Selbst meine Freunde – ja, ich habe ebenfalls Freunde, wenn auch nur zwei an der Zahl – können manchmal nur noch mit dem Kopf schütteln. Kaum ist man aus dem Haus, da ruft einen die Mutter und verlangt dies und jenes. Vielleicht wurde ich ja adoptiert, oder ihr passt es nicht, dass ich nicht so bin, wie sie es sich erträumt hatte. Was weiß ich.
„Steve!“ Als ob ich sie nicht schon beim ersten Mal gehört hätte.
Genervt öffnete ich meine Zimmertür. „Was denn?“
„Komm mal eben. Wir müssen uns jetzt langsam, aber sicher beeilen!“
„Ich komme ja schon.“ Seufzend begab ich mich zu ihr. „Was ist denn?“
„Komm mir jetzt nicht so!“ Warum sie mich so anmeckerte, verstand ich nicht – aber das tat ich ja nie. Wenn ihr etwas nicht passt, dann lässt sie ihre Wut gern mal an mir aus.
„Was ist denn?“
„Du musst …“, begann sie ihren Satz, und immer, wenn ich dieses Wort müssen vernahm, dann fing es in mir an zu brodeln. Müssen muss ich gar nichts – außer sterben. „… noch einmal eben kurz …“
Ja, ich musste mal eben kurz – mal wieder – einkaufen gehen. Solange sie mich nicht eines Tages darum bittet, ihr den Arsch abzuputzen, geht es ja noch. Fuck! Das soll sie wagen – aber ohne mich! Dies können gern andere machen. Meine Zukunft habe ich mir nämlich schon bildlich vorgestellt. Ja, ja – richtig ausgemalt habe ich sie mir. Sobald ich die Schule beendet habe, und Teufel noch eines, das werde ich, dann suche ich mir einen Ausbildungsplatz, den ich erfolgreich abschließen werde, und dann werde ich meine eigene Firma gründen. Zwar weiß ich nicht, was für eine Firma das genau sein soll, aber das spielt ja auch noch keine Rolle. Oh, und nebenbei verliebe ich mich natürlich, und sofern diese Sesselpupser in der Politik es dann endlich mal erlauben, werde ich ihn heiraten. Ja – ihn. Bin ein warmer Bruder. Wie das klingt: warmer Bruder. Voll schwul.
Nachdem ich den Einkauf erledigt hatte, verbarrikadierte ich mich schnell in meinem kleinen, aber dafür sehr gemütlichen Reich. Okay, es ist nicht wirklich luxuriös oder dergleichen. Es herrscht eben mein ganz eigenes Chaos. Katastrophal würde meine Alte jetzt sagen, aber das soll mir am Hintern vorbeigehen. Mich nervt es nur, dass sie ab und zu durch mein Zimmer wütet. Sie nennt es aufräumen – ich nenne es pure Zerstörung meines Hab und Guts. Eltern sind schon etwas Komisches, findet ihr nicht? Wobei „Eltern“ so ja gar nicht stimmt. Schließlich bin ich nicht aus Herberts Sack geschossen, sondern aus dem eines anderen. Fragt mich nur nicht, wessen Klöten mich ausgekotzt haben, denn das ist ein Geheimnis, das meine Mutter hütet wie ihre Dildos. Schlechter Vergleich, denn diese unechten Dinger stehen überall in ihrem Schlafzimmer herum. Nicht, dass ich freiwillig dort hineingehen würde, aber manchmal, wenn ich die Gardinen abhängen beziehungsweise frische aufhängen muss, springen mich diese urkomischen – immer steifen – Teile förmlich an. Einer hat sogar Augen, und die Nase soll wohl die Eichel sein. Fraglich nur, warum sie überhaupt Dildos hat. Wahrscheinlich hat Herbert gar keinen Riesen in der Hose und der Spruch Dort hinterm Berg wohnt der Zwerg passt bestens zu ihm. Oder sie sind für ihn. Scheiße, Alter! So habe ich das ja noch nie gesehen. Oh, fuck! Wie auch immer. Nicht daran denken, dann wird alles gut.
„Steve, komm mal bitte“, hörte ich Herberts Stimme.
„Oha“, seufzte ich und öffnete mühevoll meine Tür. Warum ich Schwierigkeiten dabei hatte? Nun ja: Muddern hatte mal ein wenig zu tief ins Glas geguckt und war bei dem Versuch, meine Zimmertür zu öffnen, volle Kanne dagegen gedonnert. Sie ist jetzt nicht wirklich schwer, also meine Mutter, aber es hatte gereicht, um die Tür aus den Angeln zu heben oder, besser gesagt, zu brechen. Seitdem benötige ich immer ein wenig Kraft beim Öffnen und vor allem beim Schließen.
„Herbert“, sagte ich schwerfällig, als ich ihm im Flur gegenüberstand.
„Hast du schon alles gepackt?“
In diesem Moment fragte ich mich, warum er sich danach erkundigte. Schließlich hatte ich meiner Familie schon am Vortag mitgeteilt, dass ich alles beisammen hatte. „Klaro!“
„Gut, dann kannst du deine Sachen ja schon einmal runter zum Auto bringen.“
„Sicher.“
„Und ein paar von unseren Sachen auch, danke.“
Ich hatte geahnt, dass da noch etwas kommen würde – war ja immer so. Ermattend trug ich die prallen Taschen meiner Mutter die vielen Stufen hinunter. Hinterher musste ich erst einmal schwer durchatmen. Hatte meine Alte etwa ihren kompletten Kleiderschrank eingepackt? Als ich zum Auto blickte, wurde mir plötzlich total warm. Die Kiste war alt und verbraucht. Um ehrlich zu sein, würde es mich wundern, wenn uns diese Karre tatsächlich bis zum Zielort transportieren würde. Innerlich hoffte ich ja, dass der Kleinwagen irgendwo auf halber Strecke schlapp machen würde und wir dann per Anhalter oder so zurückfahren müssten. Das wäre Action gewesen und weitaus besser als zwei Wochen lang auf einem Campingplatz – irgendwo am Arsch der Welt – sein zu müssen. Da ist es wieder, dieses Wort, und dieses Mal musste ich wirklich. Mir blieb ja nichts anderes übrig. Ganz besonders freute ich mich schon auf das öde Wandern am Meer. Ehrlich – mir wäre ein richtiger Urlaub lieber gewesen. Was ich unter einem richtigen Urlaub verstehe? Am Strand von Spanien oder Australien liegen und sich von anderen bedienen lassen, aber dazu reicht das Geld ja nicht. Wieso war meine Alte gleich noch mal mit Herbert zusammen? Ich weiß es nicht, echt nicht.
„Steve!“, brüllte meine Mutter vom Küchenfenster aus.
Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich erschrak. „Ja?“
„Du sollst nicht rauchen, du sollst die Sachen nach unten bringen!“
„Sofort.“
„Nicht sofort – jetzt!“
Ja, ich rauche. Ich sollte mich dafür schämen. Wobei ich glaube, dass, würde keiner aus der Familie rauchen, ich es auch nicht tun würde, oder? Scheiße, ich kann denen doch nicht für alles die Schuld geben. Es war viel mehr eine Art Gruppenzwang in der Schule. Wer keine Kippe in der Hand hielt, der war eben nicht cool. Und da ich nicht nur gute Noten haben, sondern auch dazugehören wollte – was mehr oder weniger gescheitert war –, hatte ich damit angefangen. Dumm, ich weiß. Aber was tut man nicht alles dafür, um dazuzugehören. Die einen marschieren ins Sportcenter, um abzunehmen, und andere dröhnen sich mit Alkohol zu, was ich übrigens nicht mache – ich trinke nicht, niemals! Mein Körper ist ein Tempel, bis auf die Lungen. Ach, lassen wir das, sonst bekomme ich noch ein schlechtes Gewissen. Vielleicht werde ich eines Tages mit dem rauchen aufhören – sofern ich den richtigen Typen an meiner Seite haben werde. Aber auch nur vielleicht, wenn er mich darum bittet – mit süßen Küssen und so. Ja, ein Teil von mir ist ein hoffnungsloser Romantiker und eigentlich bin ich auch eine ganz liebe Seele. Ich kuschle unglaublich gerne – fragt mal mein Kissen. Oha, mein armer Zukünftiger. Hoffentlich werde ich ihn nicht erdrücken, sodass seine Augen herausquellen oder so. Manchmal, da schau ich einfach zu viele Filme. Wie auch immer. Seitdem ich denken kann, wünsche ich mir eigentlich nur eines: einen festen Freund. Ja, sensible Seele eben … Kein Plan, wieso, weshalb oder warum. Allerdings wusste bis dahin niemand, dass ich schwul bin. Würde ich es bekannt geben, dann würden Welten zusammenbrechen. Ohne Scheiß, jeder, den ich kenne, stänkert gegen Homosexuelle. Eine in meiner Schulklasse, eine Strenggläubige, hat vor Kurzem ein Referat über die Christen und den ganzen Kack gehalten. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sagte sie voller Überzeugung – behauptete im nächsten Moment aber, dass Schwulsein eine Sünde sei und sie sich sogar für die Todesstrafe stark mache. Total daneben, aber überraschend war es weniger, denn dieses Miststück hatte schon immer eine seltsame Sichtweise. Geschockt war ich nur von meinem Lehrer, der ihr nickend zustimmte.
Habt ihr schon einmal die Bibel gelesen? Ich musste ja zur Grundschulzeit in den Religionsunterricht und wurde regelrecht dazu gezwungen, diese „heiligen Seiten“ zu studieren. Als ich meine Mutter im wahrsten Sinne des Wortes anbettelte, mich aus dem Unterricht zu nehmen, da ich ja noch nicht einmal getauft sei, war sie erst dagegen, aber ich setzte mich durch. Ich bin die Sünde aller Sünden. Schwul und ungläubig. Herrlich.
Das Auto war vollgestopft bis oben hin. Meine kleine Schwester und ich mussten hinten sitzen. Kim brauchte noch einen Kindersitz. Es war ein Wunder, dass dieser überhaupt hineinpasste. Enger ging es wirklich nicht mehr. Meine Mutter musste ihren Sitz natürlich weit nach hinten schieben, damit ich meine Beine auch ja nicht mehr bewegen konnte.
„Und, bereit?“, fragte Herbert uns voller Vorfreude. Er schaute mit diesem gemeingefährlichen Grinsen über die Schulter.
„Ja!“, quiekte Kim erfreut, während ich nur verkrampft lächelte.
„Dann lasst uns!“ Herbert versuchte den Wagen zu starten, doch er sprang nicht an.
Ja, ja!, freute ich mich im Geiste, doch zu früh, denn beim nächsten Versuch klappte es.
„Ach“, Mama war entzückt, „diese Gegend werde ich mit Sicherheit nicht vermissen“, meinte sie mit dem Blick auf das Hochhaus.
Ich aber, ich aber, dachte ich und sah in der Ferne meine Freunde, die es sich auf einer kleinen Bank gemütlich machten. Manchmal, so glaube ich, lästern die beiden über mich. Hundert pro. Kaum dreht man ihnen den Rücken zu, schon zerreißen sie sich das Maul über einen. Bin halt sehr misstrauisch und vertraue niemanden mehr. Wieso? Na, weil ich einfach zu oft enttäuscht wurde. Trotzdem wünschte ich mir in diesem Moment, auszusteigen und zu ihnen gehen zu können. Tja, scheiße, nichts da.
Auf dem Weg zur Autobahn spürte ich immer wieder, wie das Fahrzeug leicht auf- und abhüpfte. Es hatte etwas von einem Schaukelstuhl, und bei jeder noch so kleinen Bewegung hoffte ich, dass wir stehen bleiben würden. Aber das Glück war ja noch nie auf meiner Seite.
Als wir auf der Autobahn ankamen, sah ich all diese tollen Wagen, die an uns vorbeisausten. Wahnsinn!, dachte ich immer wieder, während wir mit 100 km/h hinterher reisten. Meistens benutzte Herbert die rechte Spur – mehr war einfach nicht drin. Kim klatschte alle paar Sekunden – wie so eine Irre – in die Hände und meine Mutter musste natürlich alle 30 Minuten eine Zigarettenpause einlegen. Die Erwachsenen hätten ja im Auto rauchen können, doch aus Höflichkeit meiner kleinen, nervigen und alle paar Minuten fragenden Schwester – Sind wir schon da? – ließen sie es bleiben. Klar, ich rauche auch, aber aus unerklärlichem Grund wird mir immer ganz anders, sobald jemand während der Fahrt qualmt.
Aus geplanten vier Stunden Fahrt wurden sechs und mehr. Irgendwann schaute ich schon gar nicht mehr auf meine billige Armbanduhr. Ich wusste nur noch, dass wir um kurz nach zehn losgefahren waren und es mittlerweile kurz nach 17 Uhr war. Dabei waren es höchstens 500 Kilometer.
Die letzte Pause an einer Raststätte stand an, und ich war froh, als ich endlich wieder meine Beine bewegen konnte. Allerdings hatte ich kaum noch Gefühl darin und fiel, als ich aus dem Auto stieg, fast hin. Hastig hielt ich mich an der Tür fest, während meine Alte mich ganz dämlich anstarrte und dann kopfschüttelnd davon ging. Hattet ihr das schon mal, also kein Gefühl in den Beinen? Die ersten Schritte haben dann etwas von einem Gehbehinderten. Wirklich elegant sieht das Ganze nicht aus.
„Sind wir bald da?“, hörte ich Kims nervtötendes Organ.
„Ja, nicht mehr lange und wir sind am Ziel“, erwiderte Herbert und setzte sich mit seinem Kampfgewicht von 120 Kilogramm auf eine Bank. „Bald sind wir auf dem Campingplatz.“
„Cool!“, freute sie sich, während ich genervt die Augen rollte und ein wenig über den Gehweg lief. Stundenlang mit der Familie in einem Auto zu sitzen ist echt kein Spaß. Erst labert der eine, dann die andere und schließlich lachen sie alle. Manchmal, so glaube ich, hat man mich im Krankenhaus vertauscht. Kann ja nicht anders sein, denn so verrückt bin ich nicht – oder doch?
Beim Öffnen der letzten Schachtel Zigaretten fragte ich mich allen Ernstes, wie ich diese zwei Wochen überleben sollte, denn Geld besaß ich keines, und ich bezweifelte, dass ich von Muddern oder ihrem Macker welches bekommen würde. Urlaub ohne Taschengeld. Harte Zeiten standen mir also bevor.
„Stevieee“, rief mich meine Mutter. Ich hasse es, wenn sie mich so nennt. Sie winkte mich zu sich. „Nun komm schon, wir wollen weiter!“
„Klar, sicher“, fluchte ich leise. Die anderen durften pausieren, wann sie wollten, nur ich nicht. Dabei hatte ich doch gerade erst wieder ein Gefühl in den Beinen und aufgeraucht hatte ich auch noch nicht.
„Steve!“ Kennt ihr Malcom Mittendrin? Dessen Mutter brüllt den Namen der Kinder auch immer so laut, dass wirklich jeder sie hören kann.
„Ich komme ja schon!“ Leicht gereizt, aber wirklich nur leicht, ging ich zurück zum Auto. Es war so scheiße heiß in dieser Kiste, dass ich schon beim Anblick zu schwitzen begann. Dem nicht genug, hatte Kim Verdauungsprobleme und ließ des Öfteren einen knattern. Zu gern hätte ich ja das Fenster ein Stückchen geöffnet, doch es besaß keine Kurbel – nur die beiden vorderen. Der Albtraum ging weiter. Zum Glück war es nicht mehr ganz so weit.
Irgendwann fuhren wir dann durch einen wirklich wunderschönen, langen Tunnel. Das Licht hatte etwas Beruhigendes, etwas, das sich toll anfühlte. Minutenlang hatte ich diese Zufriedenheit in mir verspürt, bis das Tageslicht mich wieder blendete und die Sonne direkt auf uns herab schien. „Im Tunnel war es schöner“, redete ich vor mich hin.
„Ja“, stimmte Herbert mir zu. „Hat was, nicht?“
„Jupp.“ Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass er sich wohl mehr erhofft hatte, aber was hätte ich sonst noch darauf erwidern sollen? Sollte ich ihn dafür loben, dass er mir zustimmte? Also echt.
Endlich verließen wir die Autobahn und fuhren durch ein Kaff nach dem anderen. Langweilig war es nicht, nein – es war mehr als das. Dort ein Häuschen, hier ein Baum. Dann kamen wir an und ich sah nach langer Zeit endlich mal wieder einen Menschen. Als ich die Tankstelle, die sich ziemlich nah an der Einfahrt zum Camp befand, erblickte, freute ich mich tierisch. Dort würde ich Zigaretten und Zeitungen bekommen, sofern ich Geld ergattern könnte.
Herbert fuhr in die Einfahrt und freute sich. „Endlich sind wir da!“
„Wurde aber auch Zeit“, stöhnte meine Mutter und lachte dann unerwartet.
Wohnwagen, Zelte und sogar Hütten sah ich. Noch machte Herbert es spannend, denn bisher hatte er uns nicht mitgeteilt, wo wir überhaupt schlafen würden. Ich hoffte ja nur, dass es kein Zelt sein würde. Eine Hütte wäre doch perfekt. Eine für mich ganz allein … Ach, man darf ja noch träumen.
„Ich parke dann mal“, verkündete Herbert. Als ob wir es nicht mitbekommen hätten.
Endlich konnte ich mich wieder frei bewegen. Ein herrliches Gefühl, wenn man laufen kann. Gerade als ich mir eine Zigarette anzünden wollte, hielt Mama mich davon ab. „Du musst …“
Ja, ich musste, und zwar alle Taschen aus dem Auto heben. Sie stand währenddessen daneben und qualmte eine. Sehr nett, ich weiß. Ihr Freund hingegen ging zur Rezeption, um uns anzumelden, und kam erst etliche Minuten später wieder zurück.
„So.“ Herbert grinste uns an. „Können wir?“
„Gerne“, stöhnte die Alte völlig erschöpft.
Sitzen kann so anstrengend sein, dachte ich. Glaubt mir, das kann es wirklich.
Mama griff nach ihrer Handtasche, schüttelte ihr langes, gelocktes, schwarzes Haar und ging voran. Den Rest durften Herbert und ich tragen. Kim hüpfte wie ein Flummi vor uns herum und jubelte alle paar Sekunden.
„Das da“, erklärte Herbert und nickte nach rechts zu einem kleinen Gebäude, „sind die Duschen und Toiletten.“
Wie jetzt? Ich war geschockt! Hat die Hütte keine Dusche und keine Toilette?
„Aha“, sagte Mama ausgelaugt. „Ist es denn weit von unserem Platz aus?“
„Ähm“, überlegte er kurz, „nein.“ Nun grinste er. „Da ist es. Müsste es zumindest. Man sagte mir an der Rezeption, dass es so ziemlich der letzte sein soll.“
„Wo ist was?“, fragte ich und blieb abrupt fassungslos stehen, nachdem Herbert auf dieses Objekt gezeigt hatte. Ein Wohnwagen mit Vorzelt. Der Caravan wirkte auf mich ziemlich klein. Schließlich waren wir zu viert. Wo sollten wir alle schlafen?
Total begeistert stellte Herbert die Taschen ab und spähte durch die Panoramafenster des Vorzelts. „Das ist unserer.“ Sein Gesicht war so voller Stolz, dass ich ihn aus purer Höflichkeit anlächelte. Noch war ich ja – mehr oder weniger – guter Dinge und stellte erst einmal die vielen Taschen im Vorzelt ab.
„Das ist ja groß“, behauptete Mama perplex.
War das jetzt Sarkasmus?, fragte ich mich. Ihre Miene hatte etwas Rätselhaftes an sich.
„Bereit?“ Herbert versuchte, Spannung aufzubauen, und rieb die Hände aneinander. Dann öffnete er die Tür des Wohnwagens und ging die drei Stufen hinauf. „Das ist echt schön!“, sagte er erfreut. Schnell folgten ihm die beiden Mädels, während ich noch warten musste. War mir aber auch ganz recht, denn endlich konnte ich mal eine rauchen.
Da stand ich also. Allein auf einem Rasen. Einige Meter schräg gegenüber – auf der anderen Seite des Gehweges – war ein weiterer Wohnwagen. Hinter unserem befand sich nichts als Bäume. Interessant war der Blick auf die andere Seite, denn dort war ein großer Hügel – ja, ganz toll, ich weiß, aber neugierig war ich schon. Was sich wohl dahinter befindet?
„Steve!“ Mamas Organ schallte über den Platz.
Mit hochgezogener Augenbraue schaute ich sie genervt an. „Ja?“
„Jetzt darfst du gucken kommen.“ Dies ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. „Auf der rechten Seite im Wohnwagen schläfst du – mit Kim.“
Sofort begann mein Auge zu zucken. Ist so ein nervöser Tick von mir, den ich seit Kurzem habe. Ich ließ mir den Schock durchaus nicht anmerken und ging einfach an ihr vorbei. Doch das Zucken meines Lides wurde stärker, als ich mich im Inneren des Palastes befand. „Du sagtest doch, dass ich mit Kim hier schlafen soll“, sagte ich völlig verwirrt. „Aber hier ist eine Essecke.“
„Die kann man ausfahren“, klärte Herbert mich auf. „Cool, nicht?“
„Ja, ganz cool“, murmelte ich entgeistert. „Habe ich wenigstens eine eigene Bettdecke?“ Ganz verzweifelt guckte ich meine Mutter an.
„Ja, die hast du.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen – leider waren noch zu viele darauf.
Herbert überlegte kurz und machte dabei dieses nachdenkliche Gesicht. Das tut er immer – vor allem, wenn er etwas möchte oder uns etwas ganz Wichtiges mitzuteilen hat, was aber total unbedeutend ist. „Ich gehe mal eben ein Bierchen trinken.“ Er sagte es so, als ob er sich das gänzlich verdient hätte.
„Mach das.“ Mama sah mich auffordernd an. „Wir werden dann schon einmal die Taschen auspacken.“
„Okay, bis gleich“, hörte ich Herbert noch sagen, während ich die Alte ansah und ihr am liebsten ein Nein vor den Kopf geknallt hätte. Doch stattdessen gehorchte ich wie ein Sklave – wie immer. Eine ganze Stunde lang scheuchte Mama mich von links nach rechts und von da nach dort. Es war wie zu Hause. Mach dies, mach jenes.
Nach knapp einer Stunde setzten Muddern und ich uns auf Campingstühle. Die Sonne verschwand bereits am Horizont und ich wusste immer noch nicht, was sich hinter dem Hügel befand. Doch war es mir gerade auch egal, denn ich war nur eines: völlig erledigt und hungrig. Essen gehen war allerdings nicht drin. Stattdessen gab es die belegten Brötchen vom Morgen.
„Wollen wir uns die Gegend anschauen?“, wollte Mama mit erschöpfter Stimme wissen.
Ich schüttelte den Kopf. „Können wir doch auch morgen noch tun.“
„Recht hast du. Bist auch müde, nicht?“ Nun klang sie wieder freundlich. Solche Stimmungsschwankungen kann doch kein Mensch haben. Sie war weder in der Pubertät noch in den Wechseljahren. Mal ist Muddern total nett und lieb und dann wieder wie ein Monster, das manchmal kurz davor ist, einem den Kopf abzureißen. Versteh einer diese Frau.
Bettzeit war bereits um kurz nach zehn, schließlich war Kim ja noch ein Kind. Mein Alter spielte dabei keine Rolle, was mir in diesem Moment aber auch egal war, denn die Müdigkeit war mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben. Bevor es jedoch zu Bett ging, mussten wir an die fünf Minuten bis zu der Gemeinschaftsdusche laufen und uns brav die Zähne putzen. Meine Mutter und ihr Freund gingen noch duschen. Ich verzichtete darauf, denn Gemeinschaftsduschen sind mir einfach zuwider. Früher oder später müsste ich duschen, das war mir bewusst, nur jetzt nicht. Nicht heute.
Zurück im Wohnwagen machte Herbert das tolle Bett für mich und Kim fertig. Zwar hätte ich es selbst gekonnt, aber er wollte uns ja zeigen, dass er handwerklich begabt ist. Von wegen! Die Lampe im Schlafzimmer hängt auch nach einem halben Jahr noch schief von der Decke und der Wasserhahn im Badezimmer tropft auch schon seit geraumer Zeit.
„Na, ist das nicht schön?“, fragte Herbert uns. Er setzte sein gewinnendstes Lächeln auf, während ich nur nickte. Besonders groß war das Bett nämlich nicht und unter einer weichen Liegefläche verstand ich auch etwas ganz anderes. Ich versuchte, so weit wie es nur ging von Kim entfernt zu schlafen, denn ihr langes, blondes Haar, das sie natürlich offen tragen musste, war einfach überall. Außerdem furzt sie ziemlich gerne. Zum Glück, und das war es wirklich, konnte ich das kleine Fenster über mir ein Stückchen öffnen. So erstickte ich wenigstens nicht. Eine angenehme Nacht war es trotzdem nicht. Meine Stirn drückte fast schon gegen die Wand. Nun hoffte ich nur noch, ausschlafen zu können.
„Weck mal deinen Bruder“, hörte ich Herberts Stimme im Halbschlaf. „Der pennt mir schon wieder zu lange.“
Wenige Sekunden später brüllte Kim: „Aufstehen!“ Mit einem Satz besprang mich das kleine Monster und zog mir die Decke weg. „Los jetzt!“
„Boah!“ Zuerst wollte ich sie vom Bett schubsen, doch dann hätte sie sich wahrscheinlich das Genick gebrochen, und auf das Theater hatte ich nun wirklich keine Lust. „Gleich!“ Langsam richtete ich mich auf und streckte die Glieder in alle nur möglichen Richtungen.
„Steve!“, brüllte die Alte.
„Bin doch schon wach!“ Als ich auf meine Armbanduhr schaute, hätte ich am liebsten um mich geschlagen. Gerade mal kurz nach neun war es!
Herbert stöhnte unüberhörbar. „Jetzt mach mal hinne! Wir wollen duschen und uns die Zähne putzen.“
„Dann geht doch“, gab ich gleichgültig zurück. Wieder hörte ich ihn geifern, was mir aber ziemlich egal war.
„Hat keinen Zweck.“ Endlich erhob er sich und ging mit Kim und meiner Mutter davon.
Vorsichtig spähte ich aus dem kleinen Fenster und wartete einen Moment ab, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Schnell stand ich auf und griff nach meinen Fluppen. Draußen beschirmte ich die Augen gegen die Sonne. Die warmen Strahlen fühlten sich toll auf meiner blassen Haut an. Was für ein Kontrast das wohl gewesen sein muss: schwarze Boxershorts, Sneakers und ein bleichhäutiger junger Mann, den man aus der falschen Perspektive wahrscheinlich gar nicht erst sah – bis auf die Unterhose –, da der helle Hintergrund des Wohnwagens womöglich mit der Hautfarbe verschmolz. Eine laufende Boxershorts, herrlich. Warum stelle ich mir so etwas immer gleich bildlich vor? Wie auch immer.
Genüsslich rauchte ich eine und atmete dabei die frische Luft der Natur ein – und natürlich aus – wollte ja nicht ersticken. Ich erblickte einen Campingbewohner, der, bekleidet mit komischen Latschen und einer weiten Sommerhose, über den Gehweg ging und grüblerisch zu mir schielte. Natürlich musste ich so blöd sein und ihn grüßen. Ja, ich hob sogar meinen Arm. Schnell schaute er wieder weg. Ich erkannte, wie sich sein dicker Bauch kurz bewegte. Anscheinend schmunzelte King Kongs Baby über mich. Nett fand ich es nicht gerade, aber lange dachte ich auch nicht mehr darüber nach, denn ich wurde abgelenkt, und zwar von dem Hügel. Ich wollte endlich wissen, was sich dahinter befand. Hastig rauchte ich auf, lief zurück in den Wohnwagen und beschloss, mich erst einmal zu säubern. Ich griff nach meiner Zahnbürste und machte mich auf den Weg zu der tollen und sehr hygienischen Gemeinschaftsdusche. Dauernd guckte ich auf den Boden – warum? Kein Plan, Mann. Es juckte mich. Sofort kratzte ich mich am Hintern. Auf einmal vernahm ich ein Kichern. Gespannt schaute ich auf und entdeckte in einigen Metern Entfernung eine fünfköpfige Familie, die vor ihrem Wohnwagen auf schicken Stühlen saß und mich lachend musterte. Was die für ein Problem hatten, wusste ich nicht. Vielleicht lag es ja an meinen blond gefärbten Haaren, über die sich schon so manch einer lustig gemacht hatte. Ich ging nicht darauf ein und lief weiter. Noch eine Weile hörte ich sie gackern. Am liebsten hätte ich ja irgendetwas von mir gegeben, wie: „Fickt euch“, aber wer weiß, ob die Walzen mich dann nicht platt gemacht hätten.
In der Gemeinschaftsdusche war niemand außer mir anwesend. Mit schief geneigtem Kopf putzte ich mir die Zähne. Als ich in den Spiegel blickte und hinter mir eine offenstehende Kabine samt einer Dusche sah, fragte ich mich, ob ich mich unter die Brause stellen sollte. Der Gedanke verflog schnell wieder, denn ich hatte das Handtuch im Wohnwagen liegen lassen. Eine Katzenwäsche musste also reichen. Duschen gehen konnte ich auch noch später. In aller Ruhe machte ich mein Haar zurecht, stattete dem Klo noch einen Besuch ab und ging dann zurück zum Wohnwagen. Keine Spur von Herbert, meiner Mutter oder der kleinen Kim. Als mein Magen zu rumoren begann, vergaß ich den Hügel ganz schnell. Es gefiel mir nicht, dass ich kein Geld besaß. Brummend zog ich mir meine weiße Sporthose und ein Shirt über.
Ich lief quer über den Platz und suchte nach meiner – ach so liebevollen – Familie. Endlich hatte ich mal die Möglichkeit, die Gegend ein wenig zu erforschen. Viel zu erkunden gab es allerdings nicht. Ein paar mollige Bewohner, viel Rasen und das war es dann eigentlich auch schon. An der Tankstelle guckte ich mich verzweifelt um. Wo zum Henker waren sie? Eine Zigarette musste her. Natürlich qualmte ich die nicht direkt an der Tankstelle – bin ja nicht lebensmüde. Es nervte mich, dass ich die anderen nicht finden konnte. Da so allein herumzustehen hatte etwas vom letzten Menschen auf Erden. Ohne Scheiß, keiner betrat den Tankstellenshop. Ich hätte es ja getan, wenn da nicht dieses kleine Problemchen gewesen wäre. Der Hunger wurde von Minute zu Minute größer, die Laune immer mieser. Alleine Urlaub zu machen wäre sicherlich toll, aber doch nicht ohne Kohle, Mann!
Ich kehrte zum Wohnwagen zurück, doch noch immer war niemand anwesend. Jetzt reichte es mir. Verzweifelt suchte ich nach den Geldbörsen meiner Mutter und Herberts. Es war mir egal, wie sie darauf reagieren würden. Hauptsache Geld, um mir etwas zu essen kaufen zu können. Doch ich fand sie nicht. Beleidigt setzte ich mich auf einen Stuhl und wartete. Nach etlichen Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, hörte ich endlich meine kleine Schwester.
„Schlafmütze“, motzte Kim. Sie zog eine Grimasse, in die ich am liebsten reingeboxt hätte.
„Ach“, staunte Herbert, „auch schon wach?“
Schnell stand ich auf und fragte an meine Mutter gewandt: „Wo seid ihr gewesen?“
„Ach, der Herr auch schon wach, ja?“, wich sie gekonnt aus.
Wenn man die gleiche Frage zweimal gestellt bekommt und schon beim ersten Mal nicht darauf reagiert, dann würde man bei einer Wiederholung am liebsten sofort ausholen und zuschlagen. „Wo wart ihr? Ich habe Hunger.“
„Wir waren frühstücken“, antwortete sie trocken und rieb sich über die Wampe. Noch deutlicher hätte sie nicht ausdrücken können, dass sie satt war.
„Wie jetzt?“
„Ja, du warst ja noch am Pennen bis in die Puppen.“
Was sollte ich darauf erwidern? Ich wusste es nicht und guckte nur ziemlich doof aus der Wäsche. „Und jetzt?“
„Tja“, meinte Herbert, während er in seiner Geldbörse kramte. „Hier.“
Wie großzügig, dachte ich nur, als er mir zwei Euro entgegenstreckte.
„Ein Stück hinter der Tankstelle ist ein Kiosk. Die haben, soweit ich weiß, belegte Brötchen.“
Entgeistert nahm ich das (viele) Geld entgegen. Mann, war das reichlich Pulver! So viel hatte ich noch nie bekommen. „Wo wart ihr denn frühstücken?“
„In einem Restaurant.“ Herbert drehte mir den Rücken zu und streckte sich ausgiebig, während ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte.
Mutter sah mich auffordernd an. „Beeile dich.“
„Wieso?“
„Weil wir nachher noch wegfahren wollen.“
„Wohin denn?“
„Ähm“, Herbert tat so, als müsste er angestrengt überlegen, „in die Stadt. Mal ein wenig schauen, was es hier so Interessantes gibt.“
„Muss das sein?“, nörgelte ich.
„Steve!“, meckerte die Alte sofort.
„Was denn? Wir sind doch gestern erst angekommen. Wieder im Auto zu sitzen ist doch doof.“ Mein Schmollen ließ sie kalt. „Ist ja schon gut!“ Beleidigt begab ich mich zum Kiosk. Wieder hörte ich diese komische Familie kichern. Dieses Mal konnte ich nicht anders und zeigte ihnen prompt den Mittelfinger. Mann, waren die geschockt, Alter! Krasse Scheiße. Am Kiosk fragte ich sofort nach einem belegten Brötchen, doch es gab keine mehr. Stattdessen bot mir die Verkäuferin ein Hörnchen und einen Donut an. Die zwei Euro reichten gerade noch aus. Schnell verputzte ich das Gebäck und schlenderte zurück zum Caravan.
Mit wem unterhält er sich da?, rätselte ich. Herbert quatschte mit einem Mann. Irgendwie kam mir der Fremde bekannt vor. Ist das etwa …? In der Tat! Es war der Dicke von der gackernden Familie.
„Ach“, hörte ich Herbert. „Da kommt er ja.“
Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. „Morgen“, grüßte ich mit gesenktem Kopf und wollte schnurstracks an ihnen vorbei laufen, doch sofort hielt mich Herbert zurück.
„Steve!“
„Ja?“, fragte ich mit einem scheinheiligen Lächeln.
„Das kannst du nicht machen!“
„Was denn?“, stellte ich mich doof.
„So etwas gehört sich nicht“, behauptete er. Unter dem seltsamen Blick des fremden Mannes fühlte ich mich absolut unwohl. Wie dämlich der mich angaffte – schrecklich! „Du solltest dich entschuldigen“, verlangte Herbert.
„Wofür?“
„Ich glaube, du weißt, wofür.“
Noch immer glotzte mich dieses Etwas an.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“
„Steve!“, fluchte Herbert, doch ich reagierte nicht darauf und ging einfach in den Wohnwagen hinein. „Steve! Unmöglich, dieser Junge.“
Muddern starrte mich an und fragte eindringlich, was ich denn getan habe. Doch statt zu antworten, zuckte ich nur – gespielt – ahnungslos mit den Schultern. Natürlich musste sie sich sofort bei den Erwachsenen erkundigen, was ich denn so Schlimmes angestellt habe. Kaum wusste sie Bescheid, gab es eine kleine Standpauke. Vom dauernden Nicken wurde mir schon ganz anders in der Birne.
„Steve!“ Wieso hetzte Herbert so? Wir waren doch im Urlaub und nicht unter Zeitdruck. Boah, wie mich das abfuckte.
„Beeile dich doch mal.“ Selbst meine Mutter, die ihr schönes Körbchen in der Hand hielt, wollte anscheinend ganz schnell ins Auto steigen.
„Ich komme ja schon!“ Ich ließ die anderen vor mir her laufen. Sie unterhielten sich über – was weiß ich. Ich hatte einfach keine Lust darauf. Mehrmals hielt ich Ausschau nach einem süßen Typen, aber ich erblickte nur alte oder mollige Männer mit ihren Weibern, die ihre hängenden Brüste in bunten Bikinioberteilen verpackt hatten. War schon ein wenig eklig. Wo sind nur die süßen Typen?
Im Auto musste Muddern ihren Sitz wieder soweit es nur ging nach hinten schieben.
„Mama!“, schimpfte ich.
„Ach, was denn?“, meinte sie scheinheilig. „Bin ich dir zu nahe gekommen?“
„Wäre nett, wenn du mir noch ein wenig Raum für meine Beine lassen würdest.“
„Ich halte den Korb. Ich brauche Platz.“ Eine bessere Ausrede hätte sie sich nicht einfallen lassen können. Prustend guckte ich aus dem Fenster.
Wir fuhren eine Weile – fast schon planlos – durch die Gegend. Zwar hatte Herbert eine Karte, doch anscheinend wusste er nicht, wohin. Seine Doofheit, sich kein Navigationsgerät zu kaufen (er wollte ja Geld sparen), stahl meine kostbare Lebenszeit. Zuerst kamen wir in Büsum an. Dann fuhren wir wieder hinaus. Später erkannte Herbert dann, dass es doch die richtige Stadt gewesen war, und kehrte wieder um. Eigentlich sind solche Situationen ja ganz lustig, aber wenn man niemanden an seiner Seite hat, mit dem man auf einer Wellenlänge ist, dann ist es nur nervig. Leise schnaubte ich vor mich hin. Kerl, war mir langweilig!
Nach knapp zwei Stunden machten wir dann endlich auf einem Parkplatz halt und durften aussteigen. Jetzt brauchte ich einfach eine Zigarette.
„Rauch nicht so viel“, waren Mamas Worte, die sie sich auch hätte sparen können, denn sie zündete sich selbst eine an.
„So“, sagte Herbert stolz. „Jetzt sind wir da.“
„Und wo?“, wollte ich neckisch wissen. Ich wusste ja, dass er es selbst nicht so genau wusste, und fand es amüsant ihn zu fragen.
„In dem schönen Büsum.“
„Ja, und wo genau?“, stichelte ich weiter.
„Steve“, stöhnte er. „Wir schauen uns jetzt die Stadt an.“ Sein Blick hatte etwas Bedrohliches.
„Ach so.“ Mehr sagte ich nicht. Wer weiß, ob er sich nicht auf mich gestürzt hätte. Wieder liefen die drei vor mir her, während ich immer ein wenig Abstand hielt. Für mich war das Ganze einfach nur total öde. Kein süßer Typ – nicht ein einziger!, dachte ich immer wieder. War recht interessant, dieser Stadtrundgang, denn wir liefen überall nur vorbei. Statt dass wir mal irgendwo stoppten und uns etwas, irgendetwas, von innen angesehen hätten. Aber nein. Nach einem langen Fußmarsch erreichten wir den Hafen. Wasser, dachte ich und schaute vorsichtig über das Geländer.
„Buh!“, erschreckte mich Mutter und lachte dann los. Was daran so lustig sein sollte, wusste ich nicht, doch ihre komische Lache war dermaßen ansteckend, dass ich ebenfalls kicherte.
„Wollen wir ein Eis essen gehen?“, erkundigte Herbert sich hibbelig.
„Ja!“ Kim war so aus dem Häuschen, dass sie beim Hüpfen prompt zu Boden fiel.
„Alles in Ordnung?“ Sofort half Herbert ihr auf, und ich staunte nicht schlecht, denn Kim heulte gar nicht. Ja, sie jammerte nicht einmal, wie sie es sonst immer tat. Stattdessen freute sie sich weiter auf das tolle Eis – ich hingegen weniger. Sofort stürmten Herbert und Kim die Eisdiele. Mama und ich folgten langsam. Begeistert schien sie auch nicht gerade zu sein.
„Den Korb“, sagte sie, „hätte ich auch im Auto lassen können.“
„Was hast du denn da drin?“
Mit Schmollmund sah sie mich an und ließ mich einen Blick in den Korb werfen. „Handtücher, Sonnencreme und so.“
„Oh.“ Ja, meine Mutter hatte anscheinend wirklich gedacht, wir würden irgendwo am See entspannen.
„Tja, Pech, ne?“, neckte ich sie umbarmherzig. Hey, sie tat es auch ständig, also durfte ich auch mal ein wenig gemein sein.
„Trägst du ihn ein bisschen?“
„Muss das sein?“ Dieses Teil war so ein typischer Frauenkorb – riesig und auf jeden Fall auffallend!
„Ach, komm schon! Schließlich darfst du auch von unserem Tabak mitrauchen.“
Zornig schaute ich in ihr frech grinsendes Gesicht. „Erpresserin.“
„Entweder Lungenschmacht oder den Korb tragen.“ Sie streckte ihn mir entgegen. Stöhnend nahm ich ihn an mich. Sofort schüttelte Mama ihr langes Haar und stolzierte selbstbewusst zu den anderen. Es hatte etwas von einem Lauf auf einem Catwalk. Da stand ich also – in einer mir unbekannten Stadt – mit einem Korb und dem Gefühl, als würde mich jeder anstarren. Nicht aufzufallen war unmöglich, und das lag nicht nur an meinen Haaren!
Später schleckten wir alle unser Eis und betrachteten dabei das Wasser im Hafen. Aufregender ging es wirklich nicht. Schmeiß mich einer ins Wasser, betete ich, doch meine Wünsche gingen ja sowieso nicht in Erfüllung. Also brauchte ich auch keine Angst zu haben, dass dies wirklich geschehen würde. Nur ein wenig Spaß und Action, hoffte ich, doch das sollte einfach nicht sein. Wieder liefen wir durch die Innenstadt – immer in der Mitte der Fußgängerzone. Wahrscheinlich wollten die Erwachsenen nicht, dass Kim oder ich etwas Schönes in einem der Schaufenster entdeckten. Bloß kein Geld ausgeben und ein Souvenir kaufen müssen. Hätte ja der finanzielle Ruin werden können. Den Korb musste ich übrigens weiterhin tragen.
„Habt ihr Hunger?“, fragte Herbert nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Total!“, kam es sogleich von Mama. „Schon die ganze Zeit“, gestand sie im gleichen Atemzug.
„Dann lasst uns mal irgendwo reinsetzen und was essen.“
„Der Korb“, erinnerte ich meine Mutter.
„Kannst ihn ja gleich abstellen.“ Sie guckte mich dabei nicht einmal an.
Ich weiß nicht, wie oft ich mich nach einem süßen Typen umschaute, doch es war die einzige Beschäftigung, die ich hatte. Während ich es tat, fragte ich mich, was ich tun würde, wenn mir wirklich einer begegnen würde. Würde ich ihn einfach so ansprechen? Ich glaube nicht – oder doch?
„Wie wäre es mit Pommes und Currywurst?“ Herbert blieb stehen und kratzte sich an seinem langen Oberlippenbart, der schon viele weiße Härchen hatte. „Wäre doch perfekt, nicht?“
Mir war alles recht. Hauptsache feste Nahrung.
Nach der leckeren Currywurst, und sie war wirklich lecker, gingen wir langsam zurück zum Auto. Es war bereits kurz nach 17 Uhr.
„Jetzt bin ich aber erledigt.“ Muddern stöhnte, als sie sich ins Auto setzte.
„Dein Korb!“, frischte ich ihr Gedächtnis abermals auf.
„Jetzt kannst du ihn auch noch auf deinem Schoß lassen, bis wir wieder zurück sind.“
Der ganze Tag war dahin. Nichts Aufregendes war geschehen. Eis und Pommes essen konnte ich auch zu Hause. Mit ein wenig Geld in der Tasche und einem Schnuckelchen an meiner Seite wäre es sicherlich lustiger gewesen. Die Fahrt zurück zum Campingplatz erwies sich als schwierig, denn Herbert hatte sich verfahren. Kim war von dem vielen Laufen bereits im Wagen eingeschlafen – immerhin etwas.
„Endlich“, seufzte Mama, als wir die Tankstelle am Lucky Camp erreichten.
„Ja, bin auch erledigt“, gestand Herbert, was bei seinem Gewicht aber auch kein Wunder war. Sein längeres, zerzaustes Haar schien im Licht des Autos total fettig. Es war also kein Wunder, dass er jeden Tag – morgens und abends – duschen ging. Herbert stellte den Motor ab. Mama öffnete rasch die Autotür, beugte sich in Windeseile nach vorn und kam dann mit einem Ruck zurück. Warum sie das tat? Anscheinend wollte sie ihr langes Haar zu einem Zopf binden. Machen das alle Frauen so? Hat etwas von einer ungekonnten Tanzeinlage.
Da meine Schwester ja bereits schlief, trug Herbert sie in den Wohnwagen. Selbst jetzt musste ich noch den bekloppten Korb tragen! Als ich an der Familie vorbeilief, die mich am Morgen in Teufelsküche gebracht hatte, konnte ich ihre Blicke auf mir ruhen spüren. Und da ich leichte Segelohren habe, konnte ich sie auch wispern hören. Sie lästerten. Ob man mit Segelohren besser hört? Kein Plan, Mann! Am liebsten hätte ich denen den Korb mit Schmackes gegen die Köpfe geschlagen.
Später setzte ich mich auf einen der Stühle vor dem Wohnwagen, überkreuzte die Beine und starrte gelangweilt vor mich hin.
„Wir gehen noch ein Bierchen trinken“, meinte Herbert zu mir. „Du bleibst bitte hier – falls deine Schwester aufwacht.“
„In Ordnung.“
„Und nirgendwo hingehen!“, ermahnte mich meine Mutter. „Wir bleiben auch nicht lange.“
„Ja, ja“, murmelte ich. Die beiden nahmen einander bei der Hand und gingen über die Wiese davon. Was für ein toller Urlaub das doch war! Keine Musik, keine Leute in meinem Alter, kein süßer Typ und obendrein hatte ich auch nur noch zehn Zigaretten! Nach einer Weile des Herumsitzens blickte ich automatisch zum Hügel. „Jetzt aber!“ Ich versicherte mich, dass Kim schlief, und huschte davon. Auf dem Weg zu dem geheimnisvollen Hügel zündete ich mir eine Zigarette an. Mann, war das aufregend! Endlich mal ein wenig Spannung. Es gab sogar eine Treppe, die sich ein wenig weiter links befand. Gespannt lief ich die vielen Stufen hinauf. Scheiße, war ich neugierig! Dann erreichte ich die letzte Stufe und war total platt. Mir fiel ja beinahe wirklich alles aus dem Gesicht, was vorhanden war. Dass ich meine Nase und Augen nicht wieder vom Boden aufheben musste, war ein Wunder! Was ich sah? Wiesen, Felder und ein angrenzender See. Ja, da war in weiter Ferne sogar eine Brücke. Boah, war das geil! Ich glaube, dermaßen blöde aus der Wäsche geguckt hatte ich noch nie. Enttäuscht lief ich zurück zum Wohnwagen. Schlimmer konnten die Ferien doch echt nicht mehr werden – oder?
Wo war nur die Sonne hin? Dunkle Wolken zogen auf und die ersten Regentropfen prasselten herab. Seufzend zog ich mich an, während die anderen schon im Vorzelt saßen und frühstückten. „Moin“, begrüßte ich sie freundlich. Herbert sah mich mit einem Gesicht an, als wäre die Welt untergegangen, und auch die Alte guckte ziemlich genervt drein. Kim bemerkte mich nicht einmal. „Ist wer gestorben?“, fragte ich sarkastisch.
Sofort rollte Herbert die Augen. „Ich finde das überhaupt nicht lustig.“
„Was denn?“ Wieso mussten alle immer so griesgrämig zu mir sein? Kein Wunder, dass ich fast den ganzen Tag über immer so miese Laune hatte.
„Ach“, meinte er nur mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Genervt schaute ich zu Mutter, die sich das Schmunzeln verkneifen musste. „Es regnet“, klärte sie mich auf.
„Das sehe ich selbst.“ Ich setzte mich neben meine Schwester und griff nach einem Brötchen.
„Ja, und Herbert wollte doch heute mit uns am Meer spazieren gehen.“
„Ach so.“ Mehr gab ich nicht zurück, denn so wirklich Lust auf Herberts Vorhaben hatte ich nicht. Man konnte also nur noch beten, dass es weiter regnen würde, doch das sollte sich dann urplötzlich ändern. Nie wieder werde ich mir etwas wünschen!
„Ja endlich!“ Herbert stöhnte erleichtert auf. Er streckte die Arme aus, über den Kopf, dann zu beiden Seiten, und rollte kräftig mit den Schultern. „Bereit?“
„Lass uns noch etwas warten“, schlug Mutter vor.
„Ja, aber nicht zu lange. Wir müssen ja schließlich erst noch dorthin gelangen – mit dem Auto.“
„Das ist mir schon klar, Schatz.“
„Schon wieder Auto fahren?“, fragte ich angestrengt. Mein Mund war noch nicht einmal leer.
„Kannst ja auch laufen“, schlug Herbert mit frecher Miene vor.
„Kann ja auch hier bleiben“, gab ich im gleichen Ton zurück.
Böse sah Muddern mich an. „Du kommst mit, mein Freund!“
„War doch nur Spaß“, erwiderte ich kleinlaut.
„Ich werde dann mal eben duschen gehen.“ Herbert fuhr sich mit der Hand durchs Haar und erhob sich. „Kommt jemand mit?“ Keiner reagierte darauf. „Dann nicht.“ Schnell griff er nach einem Handtuch und ging davon. Das Geräusch seiner Latschen, sobald er lief, machte mich verrückt in der Birne.
Meine Mutter beugte sich ein Stückchen über den Tisch und flüsterte mir zu: „Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch keine Lust.“ Sie machte ein erschöpftes Gesicht.
„Tja“, murmelte ich nur und aß weiter. Nachdem ich mit der Mahlzeit fertig war, nahm ich mir ein Handtuch sowie die Zahnbürste und rauchte auf dem Weg zu den Duschen eine Zigarette. Heute musste ich endlich mal wieder Wasser auf meiner Haut spüren. Deo hilft eben nicht immer. Außerdem war meine blonde Mähne fettig. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, blieb ich abrupt stehen. Wie gelähmt starrte ich auf den nackten Herbert, der vor dem Waschbecken stand und sich die Beißer putzte. Bei diesem Anblick war ich blitzartig weder homo- noch heterosexuell. Dieser unförmige Hintern, dieser kugelige Bauch, mehr Brüste als so manche Frau, Haare auf dem Rücken – nicht viele, aber es waren genug, um sie zu sehen –, und dazu diese komische Nudel, die von einem Busch umgeben war. Nicht, dass ich Schamhaare eklig fände, aber wenn sie alles verdecken, was da ist, dann ist es echt unerotisch. Schnell ging ich an Herbert vorbei.
„Ach, auch mal duschen, ja?“ Frech grinste er mich an.
„Jupp.“ Ohne ihn erneut anzusehen, huschte ich in eine der Kabinen und schloss sie ab. Mein Lachen musste ich mit aller Macht zurückhalten. Hätte ich solch einen Körper und so ein komisches, runzeliges und unbeschnittenes Gehänge, dann würde ich mich niemals nackt präsentieren. Peinlich, aber jeder, wie er möchte.
Während der Dusche musste ich eine Weile leise vor mich hingackern, bevor mich der Ekel überkam. Hoffentlich vergesse ich diesen Anblick eines Tages wieder. Beim Stylen ließ ich mir verdammt viel Zeit, denn ich wusste, dass ich, wenn ich jetzt schon zurückgehen und Herbert anschauen würde, lachen müsste. Das wollte ich natürlich nicht. Niemand kann schließlich etwas für sein Aussehen, wobei man schon darauf achten kann, was man aus sich macht. Immerhin wusste ich jetzt zu 100 %, dass meine Mutter nicht der Größe wegen mit ihm zusammen war. Am Geld lag es auch nicht. Was aber findet sie so anziehend an Herbert? Die Haare auf dem Rücken? Den Busch unten rum? Oha.
Knapp eine Stunde später saß ich bereits wieder im Auto. Zwar schien die Sonne nicht wirklich, aber wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Am Zielort kamen wir dieses Mal fast ohne Probleme an. Herbert hatte sich nur einmal verfahren. Kaum stieg ich aus dem Wagen, da ruinierte mir der Wind meine Frisur. Es war beinahe schon stürmisch. Trotzdem wollte Herbert unbedingt am Meer spazieren gehen. Ich liebe Wasser, ja, aber doch nicht bei einem solchen Mistwetter. Kim freute sich natürlich wie ein Kleinkind – was sie ja auch ist. Trotzdem nervte es mich. Wie immer liefen die drei vor mir her. Es war ganz schön kalt, als ich mit ihnen über diese ellenlange Brücke wanderte. Irgendwann wollten sie dann alle über den matschigen Sand laufen, und natürlich musste ich es dann auch. Wie ich es hasste. Schuhe aus und rein in den weichen Brei. Lecker. Mama und die anderen entfernten sich immer mehr von mir. Irgendwie schloss ich mich selbst aus. Es fehlte einfach etwas. Vielleicht war es der richtige Vater, aber vielleicht war es auch einfach nur der Wunsch nach einem Jungen, der mich liebte. Ich kam dem Wasser immer näher. Das kalte Nass berührte meine Füße und ich blickte über das Meer hinweg in die Ferne. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit. Langsam schloss ich die Augen. Das Rauschen des Meeres berührte meine Seele. Der Drang, jetzt von einem jungen Mann gehalten zu werden, wurde immer stärker. Sehnsucht, das war es, was ich spürte. Begierde nach Liebe. Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen und atmete die frische Luft tief in meine Lungen ein.
„Steve!“, riss mich die brüllende Stimme meiner Mutter aus den Gedanken. Von Weitem wirkte sie so winzig klein. „Nun komm schon. Wir wollen nach Hause!“
Diese Hetzerei nervte mich. Als ich Mama erreichte, lächelte sie mich unverhofft an.
„Was ist?“, stutzte ich.
„Schön, nicht?“
„Kalt“, antwortete ich, und das war es wirklich.
„Ja ich kann doch auch nichts dafür“, motzte Herbert plötzlich. Als ob wir ihm die Schuld dafür gegeben hätten. Mit einem Mal war er beleidigt.
Fragend schielte ich zu meiner Mutter, die genau so perplex zu sein schien.
„Herbert“, sagte sie. „Damit meinte er doch jetzt nicht dich.“
„Ja, schon klar“, murrte er und alberte ohne jeden Übergang weiter mit Kim herum. Hatte ich etwa seine Gefühle verletzt?
Muddern guckte mich an und schüttelte verständnislos den Kopf. „Männer …“, flüsterte sie mir ins Ohr.
Wie jetzt? Hatte sie vergessen, dass ich ebenfalls männlich bin?
„Du fährst später mit, ne?“
„Was meinst du?“
„Herbert geht nachher noch einkaufen. Wir wollen morgen grillen.“
„Einkaufen?“ Während des Urlaubs schien mir andauernd irgendetwas aus dem Gesicht zu fallen.
„Ja, was sonst?“
Also, Urlaub war das definitiv nicht. Urlaub ist es, wenn man am Strand oder am Pool liegt – umgeben von hübschen Typen. Man lässt sich bedienen und macht einfach gar nichts. Dieser Urlaub war genau das Gegenteil.
Wieder am Caravan angelangt, düste ich als erstes zu den Waschräumen. Ich wollte unbedingt den Matsch von meinen Füßen bekommen. Selbst in meinen Schuhen steckte Sand. Dabei hatte ich diese auf dem Rückweg nicht einmal angehabt und während des Laufens ständig in der Hand gehalten. Sachen gibt´s, die gibt´s gar nicht – wie die Füße dieser molligen Frau. Die gab es aber wirklich. Mann, hatte die Nägel! So lang, spitz wie ein Messer und total gelb. Da konnte man echt nur noch beten, dass man sich keinen Fußpilz holte. Zwar wollte ich es nicht, aber aus unerklärbaren Grund starrte ich immer wieder auf diese Zehennägel. Mit diesen Büchsenöffnern hätte sie jemanden töten können!
Gerade als ich wieder hinaus wollte, kam mir eine völlig aufgekratzte Frau entgegen und jagte mir einen Heidenschrecken ein. „Hallo!“, grüßte sie mich breit grinsend.
Einen Moment lang wusste ich nicht, was schlimmer war. Die Nägel der Molligen oder das runzelige Gesicht dieser Frau? „Hallo.“
„Ich bin die Petra!“, stellte sie sich vor und griff einfach nach meiner Hand, die sie hastig schüttelte. „Du musst der Sohn von Herbert und Christina sein!“
„Ja, ähm, der bin ich.“ Meine Mutter hatte mich wohl wieder bei allen Leuten bekannt gemacht, ohne dass ich dabei gewesen war. Tut sie ja gern, wenn sie nichts mehr zu erzählen hat.
„Freut mich! Ich bin die Gattin des Inhabers.“
„Oh, ach so.“ Was ich sagen sollte, wusste ich wirklich nicht.
Sie musterte mich von Kopf bis Fuß. „Ach, wenn ich dich so anschaue, dann bereue ich es, keine Kinder bekommen zu haben.“ Petra kicherte wie ein Schulmädchen. „Wenn man bedenkt, dass du mein Sohn sein könntest. Ich meine, ich bin ja so alt wie deine Mutter.“
Will sie dafür jetzt etwa ein Kompliment? Wenn die fast einen Kopf kleinere Person, die mir gegenüberstand, wirklich so alt wäre wie die Frau, die mich vor sechzehn Jahren aus sich heraus gepresst hatte, dann war dieses Wesen also Mitte 40. Ihre Haut sprach aber eine andere Sprache. Stolz stellte sie sich neben mich und verglich die Farben unserer Arme. Sie sah mich auffordernd an. Anscheinend sollte ich ihr jetzt auf der Stelle recht geben. „Ja, sie sind brauner.“ Man hätte es auch aus 100 Kilometern Entfernung sehen können, dass Petra fast verbrannt war.
„Schick, nicht?“ Mein Nicken stimmte sie zufrieden, auch wenn es gelogen war. Glücklich strich sie sich durchs Haar. Kennt ihr diese komischen Frisuren, bei denen die eine Seite so ganz kurz rasiert ist? Sieht grauenvoll aus. „Dreimal in der Woche ins Solarium, und wenn es warm ist, kommt noch einmal eine extra Prise Sonne auf meine schöne Haut.“
Nicht zu lachen, wenn der Drang dazu unglaublich stark ist, kann sehr anstrengend sein. „Ja, sehr schöne Haut“, stimmte ich ihr schmunzelnd zu und räusperte mich dann kurz. „Ich muss jetzt auch wieder zurück. Wir wollen noch einkaufen“, drängte ich.
„Hat mich gefreut“, sagte sie und schüttelte wieder meine Hand. „Wir sehen uns von nun an ja öfter.“
Der Blick auf ihre leicht krummen Finger ließ mich innerlich erschauern. „Ja, ich kann es kaum erwarten“, log ich und ging etwas schneller weiter. Komische Frau, dachte ich auf dem Weg zu den anderen. Kaum kam ich am Wohnwagen an, da stand auch schon Herbert dort. Wie es aussah, schien er auf mich zu warten.
„Was brauchst du denn so lange?“, stöhnte er. Ob ich wohl bessere Laune gehabt hätte, wenn mein Umfeld ein anderes gewesen wäre?
„Mich hat gerade noch eine Frau aufgehalten.“
„Welche Frau?“, wollte Muddern sofort wissen.
„Petra.“
„Oh!“, horchte Herbert mit strahlenden Augen auf. „Ist eine Nette, nicht?“ Seine Mimik verriet mir, dass er sie begehrenswert fand.
„Ja“, schwindelte ich, „eine sehr, wirklich sehr nette Person.“
„Sie ist die Frau des Inhabers“, müllte er mich zu. Mann, der kann freundlich reden, wenn er ins Schwärmen gerät, und Herbert schwärmte eine ganze Weile, bevor er fragte: „Bist bereit?“
„Gleich. Ich ziehe mir nur eben Socken und andere Schuhe an.“ Sein leises Brummen war mir egal. Ich laufe doch nicht barfuß oder in dreckigen Sneakers durch die Gegend. Ts, wer bin ich denn? Also echt.
Auf der halbstündigen Fahrt sagte ich kein Wort – genau wie Herbert. Stattdessen blickte ich nur total gelangweilt aus dem Fenster. Im Laden verharrte ich vor einem Zeitungsständer. Dauernd blätterte ich in ein und demselben Magazin herum – immer in der Hoffnung, dass Herbert sagen würde: „Pack es in den Wagen.“ Leider war dem nicht so. Mich regte es tierisch auf, denn das Heft kostete gerade mal 1,50 Euro. Später bettelte ich meine Mutter an, mir genau dieses Heft an der Tankstelle zu kaufen. Leider sagte auch sie „nein“. Nicht nur, dass ich jetzt selbst gedrehte Zigaretten rauchen musste, nein, ich hatte noch nicht einmal etwas zum Lesen. Wisst ihr, wie langweilig es sein kann, wenn man weder Musik hören noch etwas lesen kann? Schrecklich! Meine Laune war wirklich am Tiefpunkt angelangt. Um meine Gemütsverfassung nicht an denen auszulassen, die mich in diese Lage gebracht hatten, lief ich hinter dem Hügel ein wenig hin und her. Wieder blies mir kalter Wind ins Gesicht. Der Wunsch nach jemandem, der mich liebte, festhielt und verstand, wurde immer größer. So stark wie in diesem Moment hatte ich dieses Bedürfnis noch nie erlebt. Es war ein fast schon unerträgliches Gefühl und ich konnte es einfach nicht abstellen. Ich setzte mich auf die Wiese und schloss die Augen. Einsamkeit wurde allmählich zu meinem ständigen Begleiter. In Gedanken versunken, saß ich eine sehr lange Zeit auf dem Grün und starrte auf den See. Erst als sich die Sonne langsam neigte, ging ich zurück zu den anderen.
Und während die Erwachsenen noch bis spät in den Abend hinein Karten spielten, lag ich unter der Decke und dachte über alles Mögliche nach. Wer ist er? Und wie lange, so fragte ich mich, muss ich noch auf ihn warten?
Das Wetter nahm den Namen des Wochentages ziemlich ernst. Donner und Regen zogen über uns hinweg, wie nach einer wochenlangen Dürre. Herberts Laune war dementsprechend mies. Alle paar Sekunden stöhnte er auf, und es nervte mich unglaublich. Als ob der Niederschlag dadurch besser werden würde. Meine Mutter saß währenddessen relaxed auf einem Stuhl und häkelte einen ihrer kratzigen Pullover. Scheiße, wir hatten doch Sommer! Meine kleine Schwester kritzelte auf einem Blatt herum. Wisst ihr, wie verflucht langweilig mir war? Ich lag auf dem echt wundervoll improvisiertem Bett und starrte die Decke an. Wie sehr ich mich doch nach Musik sehnte. Eigentlich bin ich ja eine ganz liebe Seele, doch wenn mich etwas total abfucked, dann fahre ich in letzter Zeit immer häufiger aus der Haut. Mein Sarkasmus wird immer stärker und meine Laune immer mieser. Ehrlich: Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht an der lieben Familie? An dem ach so tollen Urlaub oder am Singleleben? Von morgens bis abends ging mir die Liebe durch den Kopf. Blöde Liebe. Ich wollte keine Gefühle mehr haben. Alles wäre viel leichter ohne diese Scheiße. Alleine leben und alt werden hat doch was. Man muss seinen Schatz nicht pflegen, wenn er krank ist, keine dummen Streitgespräche führen, sich das Furzen unter der Bettdecke nicht verkneifen. Also ich sehe nur Vorteile – ihr nicht? Man braucht sich nicht zu rechtfertigen, wenn man mal etwas mehr Geld ausgegeben hat, und muss keinen Sex haben, obwohl man dazu gerade keinen Bock hat. Sorgen, dass sich das Männeken verletzen könnte, hat man als Single auch nicht. Im Alter muss man keine Stütze beim Laufen sein oder ständig von einem Krankenhaus zum anderen wandern.
Den ganzen Nachmittag verbrachte ich damit, eine Liste mit all den negativen Aspekten einer Beziehung zu erstellen. An die schönen Dinge dachte ich nicht eine Sekunde. Die kamen erst an die Reihe, als ich am späten Abend mit der Familie im Vorzelt saß und dieses komische Stadt-Land-Fluss spielte. Kim schlief bereits und der Platz neben mir war frei. Erst da schossen mir all die wundervollen Sachen durch den Kopf, die man mit einem Partner erleben könnte. Man ist niemals allein, hat einen Gesprächspartner, einen Gleichgesinnten. Zusammen kochen, Spaß haben, spazieren gehen, geilen Sex haben. Ja in diesem Moment wünschte ich mir nichts mehr, als dass jemand neben mir sitzen und meine Hand halten würde.
Der Regen hatte sich endlich verzogen und das Lucky Camp erstrahlte im Licht der Sonne. Mama, Herbert und Kim waren mal wieder frühstücken gegangen und hatten mich einfach allein zurückgelassen. Ts, wie kann man nur während eines Urlaubs so früh aufstehen? War mir aber auch ganz recht, denn ich wollte allein sein. Also, nicht wirklich, aber auf andere Art und Weise schon. Ach, was weiß ich.
Ich ging zu den Duschen und machte mich frisch. Später stibitzte ich meiner Mutter zwei Euro, die ich kurz darauf am Kiosk gegen ein leckeres Brötchen eintauschte. Auf dem Weg zurück zum Wohnwagen vernahm ich plötzlich bekannte Laute. War das etwa Musik? Meine Mundwinkel gingen langsam nach oben. Woher kam die Mucke? Freudig erregt lief ich durch das Camp und folgte den Klängen. Immer wieder hörte ich, wie Menschen laut lachten und sich unterhielten. Anscheinend fand eine Party statt, und das ganz in meiner Nähe. Doch meine gute Laune verschwand, als ich Herbert vor dem Wohnwagen erblickte. Anscheinend wollten sie mal wieder irgendwo hin. Mutter packte ihr Körbchen, und ich dachte nur: Lass mich schön sterben.
„Steve!“ Muddern schaute mich streng an. „Kannst du mir mal sagen, wo du jetzt bitteschön herkommst?“
„Ich war ein wenig unterwegs.“
„Unterwegs, ja?“ Sie sah mich ungehalten an. „Machst du dich dann jetzt bitte fertig?“
„Wofür?“
„Wir wollen gleich mit Petra zum Strand.“
„Zum Strand?“, wiederholte ich perplex. „Du meinst dieses matschige Etwas?“
„Steve!“ Herbert blickte mich mit böser Miene an. „Ich weiß echt nicht, was du schon wieder für ein Problem hast.“ Dachte er etwa, dass ich Petra damit gemeint hatte?
„Ich habe doch gar …“
„Wir wollen“, unterbrach er mich sofort, „einen schönen Tag am Meer verbringen, und die Petra würde dich auch gern kennenlernen.“
„Schön, ich sie aber nicht.“
„Steve!“, meckerte meine Mutter. „Jetzt zieh dich an und hör endlich auf, herumzunörgeln! Ist ja schrecklich mit dir.“
„Aber echt“, stimmte Kim ihr zu. „Immer nur am Meckern!“
„Ich habe keine Lust“, jammerte ich, während die Musik aus nicht allzu weiter Ferne in meine Ohren drang. „Muss das sein?“
„Steve!“ Mamas Stimme wurde lauter. „Jetzt mach dich endlich fertig und hör auf, mit mir zu diskutieren!“
„Ich bin fertig!“ Ja, das war ich wirklich, und zwar mit den Nerven.
„Christina!“, unterbrach uns die rufende Stimme von Petra. Sie winkte uns zu und stolperte fast über ihre eigenen Füße.
„Hallo Petra“, grüßte Mama sie total freundlich. Sie umarmten einander.
„Ich freue mich ja schon tierisch!“ Petra war total euphorisch und lachte unüberhörbar.
Kurz musterte ich sie. Es war ein Outfit, das es echt in sich hatte. Da war kaum Stoff dran! Ein abgeschnittenes Top, das gerade mal bis unter die Brüste reichte, eine knappe Jeanshose, die ihr wahrscheinlich schon in der Ritze – welche auch immer – hing, und schwarze Latschen. Meinetwegen soll jeder herumlaufen, wie er will, aber Mensch, ich war so was von schlecht drauf. Manchmal, da nervt mich meine miese Laune selbst. Glücklichsein scheint echt ein Privileg zu sein.
„Ähm?“, stutzte ich. „Fahren wir etwa alle in einem Wagen?“
„Ich mach mich auch dünn“, grinste mich diese solariumverbrannte Frau an.
Ach du Scheiße, dachte ich. Wahrscheinlich wird mich ihre runzelige Haut berühren, was sie wenige Minuten später tatsächlich auch tat. Petra saß mit Kim und mir hinten im Auto – genau in der Mitte – und laberte ohne Punkt und Komma. Und ihre Lache – grau-en-voll! Diese Frau kann schnattern wie keine andere. Selbst meine Alte ist dagegen noch harmlos, und das soll was heißen!
An dieser ellenlangen Brücke angekommen, ließ ich die vier vor mir her gehen. Abstand war das, was meine Ohren brauchten. Irgendwann wurde mir das Laufen über dieses Ding zu dämlich und ich setzte mich einfach im Schneidersitz hin. Die Leute betrachteten mich, als wäre ich ein Penner. Es nervte mich dermaßen, dass ich die Beine über den Rand hängen ließ und gedankenvoll hinab ins Meer guckte. Außer mir war echt keiner in meinem Alter zu sichten. Überall nur ältere Paare, die glücklich – Hand in Hand – über die Brücke liefen und einander hin und wieder ein Küsschen gaben. Hätte ich einen Freund, würde ich das dann auch so machen?
Eine knappe Stunde blieb ich dort hocken, bis Herbert mich dazu aufforderte, mitzukommen. Nun musste ich mit ihnen gehen und durch den Matsch latschen. Petra alberte eifrig mit Kim herum, und auch meine Mutter amüsierte sich mit ihrem Macker. Lachend liefen sie durch das Wasser – schrecklich. Die Stunden vergingen im Schneckentempo und erst gegen 16 Uhr gingen wir zurück zum Wagen. Hunger machte sich in unseren Mägen bemerkbar. Herbert war so großzügig, uns zu einer Pizza einzuladen.
Gegen 19 Uhr kamen wir dann endlich wieder am Lucky Camp an. Glücklich war ich allerdings kein bisschen. Kim legte sich sofort schlafen, denn sie war völlig platt. Herbert und meine Mutter gingen noch mit Petra in die Bar, und ich saß da – allein.
Freitagabend, dachte ich, während die Geräusche der Party und der Musik in meine Ohren drang. Zwar sollte ich auf Kim aufpassen, aber sie schlief ja, und ich bezweifelte, dass sie jemand klauen würde. Ich brauchte einfach ein wenig Abwechslung. Leise zog ich mich im Wohnwagen um und schlich davon. Aufgeregt folgte ich der Musik, die durch die vielen Bäume schallte.
„Party!“, rief mir ein vorbeilaufendes Mädchen zu, das mit Sicherheit zu tief ins Glas geguckt hatte. Sie jubelte. Schmunzelnd sah ich ihr nach und erreichte einen Ort, an dem sich zig Menschen aufhielten und feierten. Die Gegend war umgeben von brennenden Fackeln, die alles ein wenig mysteriös wirken ließen. Eine große Bühne, auf der große Boxen standen, ein DJ, der den Kopfhörer an sein Ohr hielt, tanzende Mädchen, viel nackte Haut und das Beste: Jungs ohne Ende! Manche trugen so enge Badehosen, dass ich froh war, weite Pants zu tragen, denn sonst hätte man bei mir eine fette Wölbung erkennen können. Dass man immer einen Steifen bekommen muss, wenn einen etwas antörnt. Frauen haben dieses Problem nicht, oder habt ihr schon Mal ein Mädchen mit spitzen Schamlippen gesehen? Also, ich nicht. Okay, ich glotze den Weibern jetzt aber auch nicht unters Höschen, wenn sie feucht sind – bäh.
Aus jeder Ecke kam freudiges Gebrüll. So viele süße Typen auf einem Haufen hatte ich noch nie gesehen. Anscheinend war das der Himmel – sofern zumindest einer der Jungs schwul wäre. Auf einmal fiel mir dieser junge Mann auf. Wie angewurzelt blieb ich stehen und starrte ihn aus der Entfernung an. Dieser süße Typ in der schlabberigen, schwarzen Stoffhose, ein Cap auf dem Kopf und schicke weiße Sneakers an den Füßen, tanzte mit freiem Oberkörper. Er war nicht gerade muskulös, doch seine kleinen Bauchmuskeln bewegten sich im Takt der Musik und brachten mich fast zum Sabbern. In seiner Hand hielt er einen Becher, der wahrscheinlich mit Alkohol gefüllt war, doch das war mir egal. Mir wurde dermaßen warm, dass ich spontan einem Mädel das Getränk aus der Hand riss, daraus soff und es sofort wieder ausspuckte. Bier ist wirklich nicht mein Fall. Plötzlich blickte dieses Schnuckelchen in meine Richtung. Verträumt sah ich ihn an, bis ein Mädchen sich zu ihm begab und er wieder wegguckte. Sie hatte langes, gelocktes, braunes Haar und wirkte auf mich recht edel. Er legte seine Hände um ihre Hüften und tanzte ausgelassen mit ihr weiter.
„War ja klar“, murmelte ich beleidigt und ging weiter durch die Menge. So viele Menschen auf einem Haufen und alle schienen ausgelassen zu sein. Jeder kannte jeden – nur ich nicht. Wäre ich ein Draufgänger, dann hätte ich bestimmt jemanden angesprochen und einfach mitgefeiert, doch so bin ich nun mal nicht. Scheiß Schüchternheit! Aber selbst wenn ich so der Checker wäre, würden die meisten doch nichts mit mir zu tun haben wollen. Schließlich bin ich schwul, und aus Erfahrung weiß ich, dass die meisten Menschen, egal, wie alt sie sind, ein Problem damit haben. Sie sagen zwar immer, dass sie es okay finden, aber direkten Kontakt zu einem, der anders ist, will dann doch lieber niemand haben.
Ich ging zum Steg des nahe gelegenen Sees, zog mir die Schuhe aus, setzte mich und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Hier waren nicht all zu viele Menschen – nur ein paar, und die knutschten wild herum. Endlich konnte ich mal wieder nonstop Musik hören. Wäre nur schön gewesen, wenn sich jemand zu mir gesellt hätte. Ich beobachtete die Sonne, wie sie allmählich unterging, und versank in Gedanken.
„Oh, Mann!“, schreckte mich auf einmal eine weibliche Stimme auf.
Vorsichtig blickte ich zu einem Mädchen, das völlig fertig zu sein schien. War das nicht diejenige, die mit dem Süßen getanzt hatte?
„Ich bin so durch“, lachte sie klagend. Sie nahm neben mir Platz und musterte mich mit müden Augen. „Hab ich dich schon mal hier gesehen?“, rätselte sie mit einem eindringlichen Blick.
„Ähm“, überlegte ich, obwohl es eigentlich nichts zu überlegen gab. „Nein.“
„Ach, und ich dachte schon – jetzt hätte es auch mein Gehirn erwischt.“
„Häh?“
„Ach, vergiss es“, meinte sie, kicherte und reichte mir blitzartig die Hand. „Ich bin die Mareike. Und die Mareike hat völlig einen sitzen.“
Nun musste ich einfach schmunzeln. „Steve.“
„Hallo Steve. Ich bin die Mareike“, stellte sie sich erneut vor. „Aber das weißt du ja bereits.“ Erschöpft legte sie sich auf den Rücken und stöhnte. „Ich trinke nie wieder so viel.“ Hastig richtete sie sich wieder auf und sah mich ernsthaft an. „Hast du keinen sitzen?“
„Ich trinke nicht.“
„Hast du ein Glück!“ Sie seufzte und atmete tief durch. „Ich wünschte, ich könnte das von mir behaupten, aber das kann ich nicht und werde ich auch nie.“ Sie stockte und meinte dann staunend: „Du hast schöne Augen – so schön blau.“
„Danke.“ Kurz betrachtete ich ihre Frisur. „Ich mag dein Haar.“ Ja, das habe ich wirklich gesagt.
„Oh, mein zerzaustes Haar mag er“, sagte sie mit höhnischem Unterton. Ihr Gekicher machte mich ein wenig unsicher. „Du bist nicht von hier, oder?“
„Nein, ich mache hier mit meiner Mutter, meiner Schwester und dem Macker meiner Alten …“
„Dem Macker deiner Alten“, unterbrach sie mich gackernd.
„Urlaub“, endete ich mit leiser Stimme.
„Und seit wann bist du hier?“
„Seit Montag.“
„Wie lange bleibt ihr?“
„Bis nächste Woche Sonntag.“
„Ach“, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, „dann bist ja noch ein Weilchen hier und wir können uns alle kennenlernen.“
In diesem Moment fragte ich mich, ob sie scharf auf mich sei. „Ja, wäre cool.“ Was sie mit uns alle meinte, kapierte ich jedoch nicht.
„Rauchst du?“ Im gleichen Augenblick hielt sie mir eine Schachtel Zigaretten hin.
„Ja.“ Wie sehr ich mich doch freute, endlich mal wieder eine fertige Zigarette qualmen zu können. Mareike machte mir sogar das Feuerzeug an. „Dankeschön.“
„Nicht dafür“, sagte sie. Noch heute rätsle ich, was jemand meint, wenn er nicht dafür sagt. Es ist völlig verwirrend.
„Wohnst du hier?“, erkundigte ich mich.
„Ja, ich wohne gleich hier um die Ecke. Ist ganz nett – besonders im Sommer, wenn hier die Lutzi abgeht.“
„Verstehe. Wie alt bist denn?“
„Ich? Siebzehn. Selbst?“
„Sechzehn.“
„Passt ja“, sagte sie locker und rückte ein wenig näher.
Oha. Panik machte sich in mir breit. Hoffentlich versucht sie nicht, mich zu küssen.
„Mareike!“, rief unerwartet eine männliche Stimme.
Hastig drehte sie sich um.
Mit Bedacht blickte ich über die Schulter.
„Ach, du“, meinte Mareike unbedeutend, während mein Herz sich überschlug. Es war dieser süße Typ! Lässig lief er über den Steg, machte ein paar coole Tanzbewegungen und schnippte die Fluppe ins Wasser.
„Hier bist du also.“ Er schien beruhigt. „Hab dich schon gesucht.“
„Du hättest nur dem Gestank folgen müssen“, erwiderte sie. Zuerst dachte ich, dass das auf mich bezogen war, doch dann roch Mareike unter ihrer Achsel. „Ich stinke wie ein Fisch.“
In der Sekunde, in der ich zu Mareike schaute, setzte sich urplötzlich der Typ neben mich. Ohne Scheiß! Er saß links neben mir und berührte – wohl ungewollt – mit seinem Bein das meine. Ich starrte nach vorn, bewegte mich kein Stückchen und fragte mich, ob meine Atmung ausgesetzt hatte. Vorsichtig schielte ich zu ihm. Mein Gesicht begann zu glühen.
Er nahm das Cap ab, wuschelte durch sein kurzes Haar und reichte mir die Hand. „Bin der Jean.“
„Steve.“ Ich klang dermaßen leise, dass ich einen zweiten Anlauf brauchte. Kurz räusperte ich mich. „Steve“, wiederholte ich und sah ihm für einen winzigen Moment in die Augen, bevor ich ungewollt auf seine deutlich erkennbare Wölbung blinzelte. Sofort starrte ich wieder nach vorn und schluckte schwer. In meiner Hose regte sich etwas.
„Steve macht Urlaub hier“, plapperte Mareike drauf los. „Er ist hier mit seiner Mutter, seiner Schwester und dem Macker seiner Alten.“ Jetzt lachte sie.
„Cool.“ Jean lächelte charmant und entblößte dabei vollkommene weiße und gerade Zähne. Scheiße! Wie kann jemand, der offensichtlich zu den Rauchern gehört, nur so schicke Zähne haben?! Meine eigenen erinnern mich manchmal an meine Haarfarbe, und das trotz der Zahnpasta, die einem ein schönes Weiß nach nur zwei Wochen verspricht. Darauf warte ich jetzt schon seit Jahren. Wo ist es?! Auf meinen Zähnen jedenfalls nicht.
„Ich bin so fertig“, klagte Mareike und legte sich wieder auf den Rücken.
Jean stieß mich sanft mit dem Ellbogen an, biss sich schmunzelnd auf die Unterlippe und guckte mich etwas verträumt an. Nun musste ich einfach klanglos lachen.
Mit gespitzten Lippen und hochgezogener Augenbraue sah er mich wachsam an. „Was ist?“
„Ach, nichts.“ Scheiße, ist Jean ein Süßer! Schmales Gesicht, volle Augenbrauen, schimmernd braune Rehaugen, eine leicht spitze Nase – erinnert mich an meine eigene –, schmale Lippen und Ohren, die meinen gleichen. Allerdings sind seine Muskeln ausgeprägter, obwohl er nur ein paar Kilos mehr auf den Rippen zu haben scheint als ich.
„Und?“, fragte Jean mit gedämpfter Stimme. „Wie geht es dir?“
„Super“, platzte es erfreut aus mir heraus. Schnell versuchte ich, mich wieder zu beruhigen. „Ähm, ganz gut, selbst?“
„Ein bisschen k. o., aber ansonsten gut. Woher kommst du?“
„Bielefeld. Liegt in Nordrhein-Westfalen.“
„Oh“, er hielt kurz inne. „Doch so weit, ja?“
„Ja, ist nicht gerade um die Ecke und die Fahrt hierher war auch keineswegs angenehm.“ Ich weiß nicht, wieso, aber der ganze Stress der letzten Tage schien wie verflogen. War das mein wahres Ich? Ein netter junger Mann, mit dem man eventuell sogar Spaß haben konnte?
„Wie lange seid ihr gefahren?“, erkundigte er sich.
„Viel zu lange. Glaub sieben oder acht Stunden. Ganz genau weiß ich es nicht mehr. Wir fahren ja fast täglich irgendwohin. Das nervt, sage ich dir.“ Warum ich allerdings wieder nörgeln musste, verstand ich selbst nicht. Am liebsten hätte ich ihm all mein Leid aufgeschwatzt, doch das wäre wohl mehr als nur unhöflich gewesen.
„Wohin denn zum Beispiel?“
„Entweder laufen wir durch die Friedrichstadt oder, wie heute – zum zweiten Mal –, über diese ellenlange Brücke, um hinterher durch den Matsch zu gehen. Schrecklich.“
„Machen die meisten Touris so, aber kann verstehen, dass dich das nervt. Mir würde es auch auf den Sack gehen, ehrlich.“
Für einen Moment war ich sprachlos. Da war ein Mensch, der mich zu verstehen schien. „Hast Geschwister?“, fragte ich ihn.
Jean schüttelte den Kopf.
„Ich schon. Sei froh, dass du keine hast.“ Ja, ich beschwerte mich weiterhin, auch wenn ich dabei ein Lächeln auf dem Gesicht hatte.
„Wie alt ist deine Schwester denn?“
„Sieben.“
„Also bist du mehr gelangweilt als erfreut?“
„Total. Ich meine … da ist kein süßer …“, sofort stoppte ich, denn er guckte etwas verwirrt. „Ich meine, da ist keine Abwechslung.“ Fast hätte ich mich ihm gegenüber geoutet. Aus Erfahrung wusste ich, was wahrscheinlich geschehen wäre, wenn ich es getan hätte. Jean hätte einen angeekelten Laut von sich gegeben, wäre aufgestanden und gegangen. Vermutlich hätte er mich sogar noch ins Wasser geschubst.
Nachdenklich schaute er auf mein leicht geöffnetes Hemd und meinte dann ganz unverhofft: „Schick.“
Schüchtern sah ich an mir herab. „Danke.“
„Steht dir.“ Unerwartet zupfte er sachte an meinem Oberteil. „Hat was.“
Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, als ob er mir auf die Brustwarze blinzeln würde. „Ja, ich, ähm …“ Mir fehlten die Worte.
Schnell ließ er wieder von mir ab. „Was machst du morgen?“, wollte er hastig und sichtlich nervös wissen.
„Keine Ahnung.“
Jean überlegte kurz. „Lust, dass ich dich abhole?“
„Mich abholen?“ Warum fühlte es sich auf einmal so an, als ob sich Tausende von Schmetterlingen in mir übergeben würden?
„Ja, wir könnten etwas unternehmen – sofern du Lust dazu hast.“
„Klar, warum denn nicht?“
„Ja cool.“
Plötzlich fing Mareike an zu schnarchen. Aufhorchend blickten wir über die Schulter, sahen dann einander an und kicherten leise.
„Deine Freundin?“, fragte ich schweren Herzens.
„Nein“, antwortete er. „Wie kennen uns schon seit der Grundschule. Beste Freunde sozusagen.“
Hoffnung machte sich in mir breit. „Cool.“
„Ja, schon, aber vielleicht sollte ich sie mal nach Hause bringen.“
Nicht cool – gar nicht cool. „Ja, das solltest du vielleicht.“
Jean stand auf und beugte sich zu Mareike hinunter. „Hey, aufstehen“, weckte er sie leise.
Es war zwar nicht geplant, aber als ich es tat, wollte ich gar nicht mehr damit aufhören: Ununterbrochen starrte ich auf Jeans Pobacken. Offensichtlich trug er keine Unterhose unter der Stoffhose, und es machte mich verrückt im Kopf. Einmal mit den Händen berühren – nur einmal, sabberte ich im Geiste.
„Ich will nicht“, jammerte Mareike. „Nur ein paar Minuten noch.“
„Nichts da“, widersprach Jean und zog sie am Arm hoch.
„Ist ja schon gut! Ich kann alleine laufen“, behauptete sie, doch hätte Jean sie nicht festgehalten, dann wäre sie beinahe ins Wasser gefallen.
„Ich hab dich.“ Jean schaute über die Schulter. „Wo kann ich dich denn morgen finden?“
„Auf dem Lucky Campingplatz. Der letzte Wohnwagen. Am Ende also …“
„Cool. Ich hole dich so gegen zehn Uhr ab, okay?“
„Gerne.“
Jean zwinkerte mir mit einem bezaubernden Lächeln zu und ging dann langsam mit Mareike davon.
Wahnsinn! Seine Rückansicht ist echt der Hammer. Dieser Hintern! Lüstern biss ich mir auf die Unterlippe. Noch einmal drehte ich mich um und sah ihm so lange nach, bis die beiden in der Menge verschwunden waren. Und dann, ganz plötzlich, dachte ich an meine Schwester. „Oh, oh!“ Hastig griff ich nach meinen Schuhen, zog sie an und düste zurück zum Camp. Gerade als ich am Wohnwagen ankam, jagte mir die Stimme meiner Mutter einen Schrecken ein.
„Wo kommst du denn her, mein Freund?!“
„Seid ihr schon lange hier?“, wollte ich sofort hasenfüßig wissen.
„Wir sind gerade erst gekommen, aber sag: Wo warst du?“
„Ich musste mal“, log ich und wagte ein Blick in ihr misstrauisches Gesicht.
„Dann will ich dir das mal glauben.“ Sie gähnte und streckte sich. „Es wird Zeit fürs Bett, ne?“
„Ja, sicher“, lächelte ich, im Gedanken bei Jean. „Gute Nacht.“
In jener Nacht dachte ich nur noch an Jean. An seine Augen, wie sie funkelten, an seine angenehme Stimme und an den morgigen Tag. Und natürlich fragte ich mich: Ist Jean schwul? Eine Frage, die mich fast in den Wahnsinn trieb.
Ausgiebig streckte ich mich in den wohltuenden Sonnenstrahlen. Eine angenehme Gänsehaut machte sich bemerkbar. Mit geschlossenen Augen genoss ich die Wärme, die meinen Körper umhüllte. „Herrlich, dieser Morgen.“ Langsam schaute ich nach links, dann nach rechts. Leider war Jean noch nirgends zu sehen. Aber es war ja auch noch recht früh. Aufgeregt bis ins Mark begann ich zu grinsen. Wie sehr ich mich doch auf ihn freute.
„Steve!“ Muddern schien mal wieder etwas zu wollen. „Komm mal her!“
„Aber klar doch.“ Mein Grinsen verwirrte sie ein wenig – ich sah es ihr deutlich an. „Was gibt´s?“
„Wir wollen ja nachher grillen“, sie stoppte und guckte ungewollt zu Herbert, dessen Poritze in gebeugter Haltung deutlich zu erkennen war. Mama versuchte nicht in Gebrüll auszubrechen, und pinkelte sich bei dem Versuch fast ein. Ihre lustige Mimik war ansteckend. Man musste einfach mitlachen. Sie hüstelte zweimal, um sich selbst wieder zu beruhigen. „Kannst du …“, zitterte ihre Stimme, „…gleich bitte mal …“ Als sie bemerkte, dass Herbert sich immer weiter nach vorn beugte und die Ritze immer länger wurde, stürmte sie in Windeseile davon.
Fragend äugte ich ihr hinterher. Wenige Sekunden später vernahm ich ihre gemeine Lache. Nun musste ich einfach kichern.
„War das Christina?“, rätselte Herbert.
„Ähm, jupp.“ Kurz blickte ich Herbert an und zuckte dann, als ob ich von nichts wüsste, die Achseln. „Keine Ahnung was sie schon wieder hat.“
„Frauen“, sagte er nur mit einer abschätzigen Handbewegung und ging zurück zum Grill.
„Ja, Frauen“, murmelte ich und lief meiner Mutter hinterher. Wo sie sich herumtrieb, fand ich allerdings nicht heraus.
Zurück am Wohnwagen griff ich hastig zu meinem Duschzeug, schließlich wollte ich für Jean gut riechen, auch wenn ich nicht wusste, ob er überhaupt schwul ist. „Herbert?“
Verwirrt starrte er mich an – so, als ob er total überrascht gewesen wäre, dass ich ihn anspreche. „Scherz, was denn?“
„Ähm, war gerade irgendwer für mich hier?“
„Ne, wer denn?“
„Ach, ähm …“
„Hast ein Mädchen kennen gelernt?“, fragte er ganz aufgeregt.
„Ich ähm, ja, ich …“ Mir fehlten definitiv die Worte. Zwar war Mareike ein Mädchen, doch um sie ging es ja nicht. „Ja, kann schon sein. Wir …“
„Cool“, schnitte er mir erfreut das Wort ab. „Und, wie heißt sie?“
„Ähm, ich …“ Für einen Moment schwieg ich. Der Anfangsbuchstabe von Jean lag mir bereits auf der Zunge. „Ich geh mal schnell aufs Klo – Kacken.“
Herbert rollte genervt die Augen. „Genau wie deine Mutter. Die benutzt auch immer solche Ausdrücke.“
„Drücken ist das richtige Wort.“ Schnell suchte ich das Weite. Auf dem Weg zu den Duschen kicherte ich rot angelaufen vor mich hin.
Muddern hatte es sich vor dem Zelt auf einem Stuhl gemütlich gemacht, Kim spielte mit sich selbst Fußball und Herbert war bereits dabei das Fleisch zu grillen.
Sofort grinste Mama mich an. „Na, wo kommst du denn her?“
„Vom Klo.“
Herbert begann angestrengt zu stöhnen und drehte sich mit entsetzter Miene zu uns um. „Könnt ihr damit vielleicht mal aufhören?“
„Was denn?“, stutzte Mutter.
„Dauernd von Fäkalien zu sprechen? Echt! Ist doch schrecklich!“
„Ach, Herbert, mein Schatz. Tun wir doch gar nicht.“
„Da vergeht einem das Essen.“ Er drehte sich wieder um, während Mama schmunzelte.
Ich brachte meine Sachen in den Wohnwagen, zog mir ein schwarze Shirt über, sowie die weiße dreiviertellange Stoffhose, schlüpfte in meine weißen Socken und den Sneakers, und gesellte mich dann neben meine Mutter. Viel hatte sie nicht angehabt – bis auf den Bikini und die Unterhose. Mit aller Macht schien sie braun werden zu wollen. Kim nervte uns alle paar Minuten, da sich keiner mit ihr beschäftigen wollte. Zwar verlangte Mama, dass ich mit meiner Schwester ein wenig spielen sollte, doch dazu hatte ich keine Lust. Halb elf war es bereits und immer noch kein Jean zu sichten. Fast schon im Sekundentakt blinzelte ich auf meine Armbanduhr.
„Was guckst du denn andauernd auf deine Uhr?“, wollte die Alte wissen.
„Ach, nichts.“
„Unser Stevie“, begann Herbert stolz zu erzählen, „scheint auf jemanden zu warten. Ja-ja.“
„Auf wen denn?“
„Ach, niemand.“
Muddern ließ nicht locker. „Nun sag schon. Wie heißt sie, wie sieht sie aus, wo hast du sie kennen gelernt, und …“
„Mama!“, unterbrach ich sie etwas lauter. „Ich warte auf niemanden.“
„Aber …“
„Schluss.“
„Sag doch mal.“
„Gut jetzt!“
„Hat sie feste Brüste?“ Höhnisch wackelte sie mit den Augenbrauen.
„Ach, menno“, jammerte ich und ließ den Kopf hängen.
„Du bist bescheuert“, sagte der Macker meiner Alten zu ihr.
Ich schnaubte. „Ihr seid beide, mit Verlaub, verrückt.“
„Ja, aber hör mal! Darauf bin ich verdammt stolz! Du, andere wären froh, wenn sie so eine Mutter, wie mich hätten!“
„Frag das Töchterlein in zehn Jahren“, meinte ich und blickte erneut auf meine Uhr. Mama grinste mich frech an. „Was ist?“, stutzte ich.
„Ach“, sie schaute in die Luft, „nichts.“
Plötzlich sichtete ich Jean und Mareike in der Ferne. Mein Puls stieg rasant in die Höhe. Schnell guckte ich zum Boden, tat so, als ob ich sie nicht gesehen hätte und total gelangweilt wäre.
„Steve!“, hörte ich Jean nach mir rufen.
Mama und ich sahen gleichzeitig zu den beiden. Jean hob zum Gruß den Arm.
„Wer ist denn das?“, wollte Muddern sofort wissen. Sie musterte Mareike von Kopf bis Fuß, das konnte ich erkennen. Mareike trug ein enges weißes Topp, weiße Pants und Sandaletten. Ihre Möpse sind wirklich unglaublich groß. Mein Blick schweifte hastig zu Jean. Der Anblick war in der Tat viel interessanter. Jean trug eine knallenge, dunkle Jeans, die er wohl ab den Knien selbst abgeschnitten hatte. Viele Fransen hingen hinab. Dazu hatte er ein graues Shirt an und graue Sneakers mit weißen Schnürsenkeln. Die Sonnenbrille hatte er am Kragen gehängt. Der Typ entfachte ein Bedürfnis in mir, das ich nicht erklären kann. Wunderschön!
„Hi“, lächelte Mareike.
„Hey“, grüßte ich sie und erhob mich.
Unerwartet gab Mareike mir Bussys auf die Wangen. „Wie geht es dir?“
„Ganz gut“, antwortete ich und blickte zu Jean, der mich angrinste und mir dann die Hand reichte. Wäre voll geil gewesen, wenn Jean derjenige gewesen wäre, der mich mit Küsschen begrüßt hätte. „Und selbst?“
„Sie“, übernahm Jean das Wort, „hat einen Kater.“
Mareike brummte. „Danke, ich kann auch für mich alleine reden.“ Sie sah mich eindringlich an. „Ich habe einen Kater“, bestätigte sie ernst und kicherte dann.
„Willst du …“, hörte ich Mamas Stimme, „uns deine neuen Freunde nicht einmal vorstellen?“
Ich prustete, äugte zu Muddern, die aufstand und Mareike dann die Hand schüttelte. „Ich bin die Mutter von Steve – die Christina.“
„Hallo“, sagte Mareike freundlich.
„Ja, hallo auch“, kam es nun auch von Herbert, der sich von seiner nettesten Seite präsentierte. Auf diese Art und Weise erlebten ihn nur hübsche Frauen.
„Hallo“, lächelte Mareike und reichte auch ihm die Hand.
„Du bist ja ein Süßen“, meinte Mama unverhofft zu Jean und strich ihm einfach durchs Haar! Was fiel ihr denn ein?! Was, wenn Jean sich damit große Mühe gegeben hatte?
Jean kicherte verlegen. „Danke. Bin der Jean.“
„Christina“, lächelte sie.
„Herbert“, stellte der Fleischkloß sich nun vor.
„Jean.“
„Hi.“
„Hey.“
„Herbert“, sagte er nun auch zu Mareike.
„Und ich bin die Mareike Davis.“
Genervt rollte ich die Augen. „Schön. Das hätten wir ja dann. Wollen wir?“, drängte ich die beiden.
Gerade als Jean antworten wollte, ergriff Herbert das Wort. „Wollt ihr nicht bleiben und mit uns grillen?“
Mein Augenlid begann zu zucken.
„Oh, liebend gern“, freute Mareike sich, während Jean mir wohl anmerkte, dass ich dazu absolut keine Lust hatte.
„Ja, cool“, grinste Herbert dämonisch. „Dann nimmt doch schon Mal Platz am Tisch. Das Essen ist gleich fertig.“
„Gerne.“ Mareike ging voran.
„Dann werde ich“, sagte Mama und griff nach dem Strandtuch, „mir jetzt was überziehen. Steve?“
„Was denn?“, nörgelte ich sofort.
„Du kannst ja schon Mal den Tisch decken.“
„Ja, sicher“, murmelte ich und gehorchte – wie immer.
„Deine Eltern sind nett“, flüsterte Mareike mir zu.
„Er ist nicht mein Vater“, stellte ich unmissverständlich klar.
„Ach ja. Hattest du ja gestern schon erwähnt.“ Sie erinnerte sich grinsend zurück. „Der Macker deiner Alten.“
„Genau.“ Und während ich dabei war den Tisch zu decken, tuschelten die Erwachsenen am Grill über irgendetwas. Leider verstand ich nicht über was sie redeten.
„Schickes Shirt“, sagte Jean plötzlich zu mir.
Fragend blickte ich auf mich hinab. „Ähm, danke.“
„Steht dir“, lächelte er charmant und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch ab. Die Hände ineinander gefaltet und die Unterschenkel unterm Stuhl überschlagen.
„So“, kam es aus Herbert. Er stellte sich ganz lässig hin. „Und, was wollt ihr?“
„Was gibt es denn?“, entgegnete Mareike.
„Ach so.“ Herbert tat so, als ob er es ganz unabsichtlich vergessen hatte zu erwähnen. Ich hasse es, wenn er so tut, als ob. „Also, wir haben Schnitzel, Spieße, Würste …“
„Ich nehme einen Spieß“, plapperte Mareike ihm dazwischen.
„Einmal Fleisch am Spieß“, notierte Herbert sich innerlich, „kommt sofort.“ Er guckte zu Jean. „Und du?“
„Schnitzel.“
„Ich nehme eine Wurst“, sagte ich, bevor Herbert mich fragen konnte.
„Du und deine Würste“, hörte ich Mama labern.
„Wieso ich und meine Würste?“ Mama sah mich schmunzelnd an. „Was denn?“
„Ach, nichts“, griente sie und setzte sich direkt neben Mareike. „Kim!“, brüllte sie blitzartig.
Mareike zuckte auf.
„Ach, entschuldige!“ Mama fasste sich an die Brust. „Hab ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht.“
„Schon gut“, gab Mareike zurück, während Jean leise kicherte.
„Lach nicht!“, beschwerte Mareike sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Kim kam angesaust und machte große Augen. „Wer sind denn all diese komischen Leute?“
„Ach“, schwärmte Mareike sofort. „Du bist ja eine Süße!“
Süße?, dachte ich. Wenn die wüsste.
„Wie heißt du denn?“, erkundigte Mareike sich.
„Kim, und wer bist du?“
„Ich bin die Mareike.“
Mama grinste mich neckisch an. Ich rollte erneut die Augen und hockte mich neben Jean, der einen unglaublich anziehenden Geruch an sich hatte. Ganz nah war ich ihm nun und traute mich gar nicht zu bewegen. Nervös spielte ich an meiner Unterlippe herum.
Herbert kam mit dem ersten Teller an, der für Mareike bestimmt war. „Einmal einen Spieß.“
„Dankeschön.“
„Ich will auch einen“, befahl Mama regelrecht. „Und natürlich ein Stückchen Brot, danke.“
„Ich will auch einen“, verlangte nun auch Kim.
„Kommt sofort!“
Im Radio lief I Wanna Go – passender hätte ein Titel nicht sein können. Ich wollte auch gehen und zwar sofort. Dass das Essen für mich unangenehm oder gar peinlich werden würde, war mir von Beginn an bewusst.
Nachdem alle Teller verteilt waren und auch Herbert endlich seinen Platz aufgefunden hatte, ging die Fragerei auch gleich los.
„Kommt ihr von hier?“, erkundigte Herbert sich.
„Ja“, antwortete Mareike. „Wir wohnen beide ganz in der Nähe.“
„Cool. Und ihr geht noch zur Schule?“
„Ja, ich komme jetzt in die Zehnte, und Jean ist bereits fertig.“
„Echt?“, wollte Herbert von ihm wissen.
„Ja, ich hab die Zehnte beendet und bin jetzt auf Ausbildungssuche.“
„Ja, cool. Was suchst du denn für einen Ausbildungsplatz?“
Warum musste Herbert ihn mit Fragen löchern? Natürlich war es auch ein wenig in meinem Interesse, denn so konnte ich mehr über Jean erfahren. Wäre nur besser gewesen, wenn ich ihm die Fragen hätte stellen können.
Jean zögerte und verzog die Mundwinkel. „So ganz genau weiß ich das noch gar nicht.“
„Er will tanzen“, plapperte Mareike aus.
„Ach, echt?“ Herbert war überrascht.
Schamhaft lächelte Jean.
„Unser Stevie hier“, sprach Herbert voller Stolz, „der tanzt nämlich auch.“ Seit wann war Herbert von meinem Hobby begeistert?
„Ach, echt?“, staunte Jean mit großen Augen. Er sah mich beeindruckt an.
„Und wie“, kam es abwertend aus Mama. „Türkentanz!“
„Mama!“
„Was denn? Ist doch so. Wenn du zu deiner komischen Britney Spears tanzt, erinnert mich das immer an einen Türkentanz.“ Sie fuchtelte mit ihren Armen herum. Offensichtlich wollte sie verdeutlichen, wie ich tanzen würde, was aber gar nicht der Wahrheit entsprach.
Herbert lachte, meine Schwester kicherte und auch Mareike schmunzelte. Mein Sitznachbar hingegen verzog keine Mimik.
„Du bist bescheuert“, gackerte Herbert. Ausgerechnet jetzt lief Scream And Shout im Radio an. „Wenn man vom Teufel spricht.“
„Was denn?“, rätselte Mama.
„Da“, meinte Herbert und nickte zum Radio hinüber. „Die Britney.“ Er kicherte schäbig und die Alte machte ein entnervtes Gesicht.
„Schrecklich, die Olle.“ Ja, Herbert musste gleich anfangen zu lästern. „Seit Jahren geht die mir schon mit ihrer piepsigen Stimme auf die Nüsse.“
„Ach, die wird nicht mehr lange da sein“, beteuerte Mutter.
Innerlich war ich am brodeln. Wieso müssen die beiden immer all das schlechtreden, was ich toll finde?! „Das habt ihr beide schon vor Jahren gesagt, und sie ist immer noch da.“
„Ach, die Frau kann doch nichts“, behauptete Herbert, der selbst seit Jahren erfolglos in einer kleinen Band als Gitarrist und Sänger tätig war. Wenn er anfängt zu singen, dann quaken die Frösche im Teich und die Schafe beginnen zu mähen.
„Also ich finde“, überlegte Jean und hielt kurz inne, während Mareike zu dem Takt der Musik leicht hin und her wippte. „Britney ist eine tolle Künstlerin.“
Mir wurde so etwas von heiß! Da war jemand, der mich mal unterstützte und mir Recht gab! Begeistert sah ich ihn an.
„Nicht dein ernst!“, meinte Herbert entsetzt.
„Ja, natürlich.“ Gelassen zuckte Jean die Achseln. „Sie kann tanzen, liefert immer eine perfekte Show ab, und hat eine Stimme, wie keine andere.“
„Ich höre sie auch gerne“, kam es leise aus Mareike.
Mama verdrehte die Augen. „Die ist doch total peinlich.“ Sie versank kurz in Gedanken. „Herbert!“
„Ja, Schatz?“
„Wie heißen diese komischen Awards noch einmal?“
„Ach, du meinst die MTV Music Awards.“
„Genau!“ Mama guckte missbilligend zu Jean. „Das nennst du eine perfekte Show?“
„Jeder hat doch Mal einen schlechten Tag.“
„Ey“, konterte Herbert. „Die Alte hat zwei Kinder, weißt´e und rasiert sich den Schädel.“
„Warum muss man immer auf längst Vergangenes herumhacken?“, fragte Jean gelassen.
Ja, gib´s ihm!, freute ich mich im Geiste.
„Ich meine, das ist doch schon – wie lange? Mehr als sechs Jahre her.“
Herbert erwiderte nichts. Jean hatte ihm zum Schweigen gebracht. Am liebsten wäre ich Jean dankend um den Hals gefallen.
Jean zwinkerte mir heimlich zu, während ich mir das breite Grinsen mit aller Macht verkneifen musste.
„Na ja …“, schwafelte Herbert. „Wie auch immer.“ Er blickte wieder zur Mareike und horchte sie prompt weiter aus. „Und, hast du schon eine Ahnung, was du nach der Schule machen willst?“
Planlos zuckte sie mit den Schultern. „Keine Ahnung. Mach ja erst noch Abi.“
„Wirklich? Cool! Hab auch Abi gemacht. Allerdings auf der Abendschule.“ Herbert laberte und laberte. Er tischte ihr gleich seinen ganzen Werdegang auf.
Ich sah Mareike an, dass sie genervt gewesen war, auch wenn sie eine freundliche Miene machte. Dauernd nickte sie und irgendwie erinnerte ihre Art und Weise an meine eigene. Wenn ich mich behelligt fühle, dann nicke ich auch pausenlos und gebe alle paar Sekunden ein zustimmendes Summen von mir.
„Möchtest du noch was haben?“, fragte Mama den zuckersüßen Jean.
Er schlug freundlich ab. „Ich bin satt.“
„Wie alt seid ihr eigentlich?“, horchte Herbert die beiden weiter aus.
„Ich bin Anfang des Monats 17 geworden, und Jean wird im November 18.“
„Ach, wirklich?“ Er machte ein sehnsuchtsvolles Gesicht. „So jung möchte ich auch noch Mal sein.“
Machte Herbert sich gerade etwa an Mareike ran? Mir drehte sich ja fast der Magen um. Dass Jean allerdings schon fast 18 war, verunsicherte mich. Ob er wohl schwul ist? Ganz unauffällig schielte ich auf seine Beine. Schlagartig wurde mir ganz warm. Mama lächelte mich freundlich an. Versteh einer diese Frau!
„Jetzt bin ich aber auch satt“, meinte Mareike.
„Hat es dir denn geschmeckt?“, wollte Herbert hoffnungsvoll wissen.
„War sehr lecker.“
„Freut mich.“ Nun wollte er erkennbar gleiches von Jean hören. „Und dir?“
„Alles Bestens.“
Plötzlich rülpste Mama quer überm Tisch. Ich wäre vor Scham ja am liebsten im Erdboden versunken. Mareike starrte regungslos auf ihren Teller und Jean saß da mit gespitzten Lippen und schien seine Gedanken zu sortieren.
„Ach, Schatz!“, meckerte Herbert.
„Ach, entschuldige“, meinte sie und rülpste beim zweiten Mal mit der Hand vorm Mund. „Was raus muss, das muss raus.“
„Ich bin noch am Essen und du rülpst hier quer durch die Gegend. Finde ich nicht in Ordnung.“
„Ach, Schatz! Jetzt hab dich nicht so. Du willst mich heiraten, also lebe damit.“
Nun musste Jean leise lachen. Schamrot drehte er den Kopf zur Seite.
„Ist doch wahr“, sagte Mama zu Jean. „Soll sich nicht so anstellen hier. Ist das Natürlichste der Welt.“
Jean schwieg und biss sich grinsend auf die Unterlippe. Dieses Weiß auf seinen Zähnen leuchtet bestimmt auch im Dunklen. Wisst ihr, wie süß der Kerl ist, wenn er kichert? Zum verlieben!
„Und?“, fragte Herbert weiter. „Was habt ihr drei gleich so vor?“
Fragend blickte Mareike zu Jean, danach zu mir und zuckte dann planlos die Achseln.
„Wir werden Steve gleich entführen“, übernahm Jean das Wort, „und ihm die Gegend ein wenig zeigen.“ Er lehnte sich locker zurück und sah mich mit diesem herzigen Lächeln an, das mir eine Gänsehaut schenkte. „Sofern“, sagte er hastig und schaute zu Mama, „ihr es erlaubt.“
Ihr?, dachte ich durcheinander. Als sei sie eine Königin.
„Ja, aber natürlich doch.“ Mama guckte blitzartig mit ernster Miene zu mir. „Um spätestens 18 Uhr bist du wieder hier, mein Freund. Ich will nachher nämlich noch mit Herbert zu Petra – die hat uns eingeladen.“
Ja, saufen – was sonst? „Keine Sorge“, versicherte ich ihr. „Das werde ich.“
Jean schielte zu Mareike und nickte. Sollte wohl heißen: Sag was. Ich will hier weg!
„Ja, dann, lasst uns doch Mal – so langsam“, schlug Mareike vor und erhob sich. „Ich danke für dieses köstliche Essen.“
„Immer wieder gerne.“ Herbert stand ruckartig auf und sofort reichte er ihr die Hand. „Hat mich gefreut euch kennengelernt zu haben.“
„Und mich erst.“
„Ihr könnt jeder Zeit vorbeikommen“, kam es von Herbert, der Mareike unentwegt anschaute.
Oh, Mann!, dachte ich. Sie liegt außerhalb deiner Reichweite!
„Gerne“, gab Mareike zurück.
Ich überlegte, wie ich meine Mutter heimlich nach ein paar Euros hätte fragen können.
Jean rutschte mit dem Stuhl ein Stückchen zurück und stand auf. Plötzlich packte er seine Hände auf meine Schultern. „Kommst du?“, fragte er liebevoll.
„Ja, gleich.“ Kurz blinzelte ich auf seine Finger. Jeans Fingerkuppeln sind ohne diese hässlichen Halbmonde verziert, was ich ziemlich ansprechend finde. „Moment noch.“
„Ist gut.“
Ich hätte schwören können, dass Jean meine Schultern einmal kurz knetete, bevor er sich zu Mareike begab, die sich vor dem Zelt eine Zigarette anzündete.
Herbert und Kim gingen hinaus, und als Mama aufstand, ergriff ich die Chance.
„Ma-ma?“ Ich zog die letzte Silbe in die Länge.
„Was denn?“
„Hast du ein paar Euro für mich?“ Die Frage hätte ich mir eigentlich sparen können.
„Wofür denn?“
„Zigaretten und …“
„Nein“, unterbrach sie mich sofort. „Wenn du rauchen willst, dann dreh dir welche, aber keine Zigaretten für 5 Euro.“ Sie kehrte mir den Rücken zu.
Klasse!, dachte ich nur und drehte mir auf die schnelle ein paar Fluppen.
„Da bist du ja endlich“, stöhnte Mareike, als ich wenige Minuten später hinaus kam. „Wir warten schon.“
„Bin schon da“, lächelte ich mit einem kurzen Blick auf Jean, als ich rasch die Zigaretten in meiner Hosentasche steckte.
„Ich will auch mit“, hörte ich Kim jammern. In diesem Moment hoffte ich nur, dass mir die Alte meine Schwester jetzt nicht aufschwatzen würde.
Mama verneinte zum Glück. „Das ist nichts für Kinder.“
Dem Teufel sei Dank!
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Tag der Veröffentlichung: 04.06.2017
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