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Zuckersüße Neuigkeiten für eine Naschkatze

 

Meine Augen gleiten über den blanken Stahl des Skalpells. Ich halte das für keine gute Idee, wirklich nicht. Aber ich habe leider auch keine andere Wahl, als dem Wunsch der Kundin Folge zu leisten. Auch wenn dieser Wunsch eine lange, unschöne Narbe zum Ergebnis hat. Nein, ich bin kein Auftragskiller, selbst wenn ich mich heute so fühle.

Versonnen lasse ich meine Finger durch das weiche Fell des Teddies vor mir gleiten. Mir ist selten ein so schöner Bär unter die Augen gekommen. Eindeutig eine selbstgenähte Handarbeit. Laut meiner Kundin befindet sich das Stück seit vier Generationen im Familienbesitz.

Braunes, sehr dichtes, nur an manchen Stellen abgegriffenes Fell, tief dunkelblaue Glasknopfaugen mit goldenen Sprenkeln darin und eine hellbraune Schnauze. Um den Hals ist ein rotes Samtband geknotet und an den vier Pfoten sind Bärentatzen verarbeitet. Quer über die rechte Poseite ist ein kleiner, karierter Einsatz genäht, der ein Pflaster darstellen soll. Sein Schwanz ist ein weicher Puschel, der über die Jahre hinweg wohl am meisten abbekommen hat, da dort das Fell richtig abgewetzt ist.

Alles in allem scheint mir der Bär nahezu perfekt. Er erzählt seine persönliche Geschichte, der ich gerne lauschen würde.

 

Mein Problem ist jetzt nur, dass ich dieses Meisterstück verschandeln muss. Ein absoluter Nachteil in meinem Beruf. Ich bin Puppendoktor. Für gewöhnlich macht mir mein Job außergewöhnlich viel Spaß. Ich gehe mit ihm meiner Passion nach, doch wenn eine Kundin, wie Frau von Riedmüller hereinkommt und mir ihren Familienteddy mit den Worten Machen Sie da was Gruseliges draus vor die Nase legt, zweifle ich wirklich an der Richtigkeit meiner Berufswahl.

 

Vor vier Jahren habe ich diese kleine Klinik der besonderen Art von meinem Großvater übernommen. Schon als kleiner Junge war ich begeistert von dem Laden mit den unterschiedlichen Spielsachen drin, auch wenn ich damals um die wahre Kostbarkeit noch nicht wusste.

Unterschiedliche Puppen, Teddys und andere Plüschtiere reihen sich in den Regalen fein säuberlich aneinander, von der Decke hängen vereinzelt die kostbaren Marionetten, welche ich über die Jahre hinweg gesammelt habe. Nicht jedes Stück ist schön anzusehen und vor manchen grusele ich mich selbst ein wenig, doch das ist egal.

Mein Großvater sagte mir immer: „Es geht nicht darum, was du in den Arbeiten siehst, sondern darum, was der Besitzer darin sieht. Seine Erinnerungen hängen daran und nicht deine!“

 

Ich gestehe, dass ich dies lange Zeit nicht verstand, doch mit dem Älterwerden, begriff ich Stück für Stück, was er mir sagen wollte und ich verlor immer mehr mein Herz in den heiligen vier Wänden des 'Himmelsstückes'.

 

Als ich damals den Laden übernommen oder besser gesagt, vererbt bekommen habe, änderte ich nicht viel. Der Name ist bis heute der gleiche, weil ich der Meinung bin, dass er perfekt zu dem passt, was ich verkaufe.

Nur aus dem ehemals großen Raum habe ich zwei kleinere gemacht, indem ich im hinteren Drittel eine Mauer einzog und dort die Reparaturwerkstatt einrichtete. Die Regale und Auslagen sind in klassischem, dunklem Holz gehalten und der Dielenboden gibt an manchen Stellen sein ursprüngliches Knarren von sich. Jeden Tag, wenn ich den Laden aufschließe, begrüßt mich der Geruch von gebohnertem Holz, Stoff, Plüsch und den Materialien der Restauration und Reparatur.

Ich verbinde mit dem Geschäft so viele Erinnerungen, dass es mir nicht einmal in den Sinn kam, irgendetwas groß zu verändern. Vielleicht ist das borniert oder altmodisch, aber ich bin der Meinung, dass eine Puppenklinik nicht unbedingt modern sein muss. In meinem Laden ist Tradition ein Aushängeschild, auf das ich sehr stolz bin.

 

Es ist zwar nicht immer leicht, über die Runden zu kommen, da die Aufträge im Laufe der Jahre stark zurück gegangen sind, doch mir kam niemals der Gedanke, dass ich den Laden aufgebe. Meine Seele, mein Herz, ja mein ganzes Sein hängt einfach an ihm.

Leider sind in der heutigen Zeit besonders Kuscheltiere zu Wegwerfartikeln geworden. Ich kann das nicht verstehen, aber wenn ich mir die Preise in den jeweiligen Abteilungen der Kaufhäuser ansehe, bekomme ich immer mehr eine Idee davon, wie diese Industrie läuft. Da geht es nicht mehr um das Produkt oder das wofür es steht, sondern ausschließlich ums Geld.

 

Mir war Geld noch nie besonders wichtig, auch wenn ich weiß, dass ein gewisser Grundsatz zum Überleben da sein muss. Als eigenständiger Unternehmer und Mensch mit Grundbedürfnissen muss ich rechnen können. Und vermutlich ist dies auch der Grund, warum ich nun das Skalpell nehme, an der linken Schulter des Teddys ansetze und einen Schnitt quer über den Bauch ziehe. Mir springt direkt die Füllung entgegen und Tränen stehen in meinen Augen. Ich bin wirklich nicht nah am Wasser gebaut, aber bei sowas werd ich immer sentimental.

 

Ich hasse diesen Teil meiner Arbeit. Elf Monate im Jahr kommen Kunden zu mir, die ihre Lieblinge repariert bekommen wollen, am besten so originalgetreu wie möglich, doch pünktlich im Oktober kommt dann mein Hauptklientel, wie ich es nenne. Leider muss ich zugeben, dass ich gerade in diesem Monat die meisten Aufträge habe.

Und warum? Halloween sage ich nur dazu. Seit dieses Fest immer mehr Einzug in meine Stadt erhalten hat, sind die Menschen ganz verrückt danach, ihre Häuser, Wohnung und Restaurants mit Gruselartikeln zu schmücken. An sich habe ich ja nichts dagegen, doch viele denken sich, sie nehmen alte Plüschtiere und lassen diese einfach schaurig und makaber umarbeiten. Ohne Rücksicht auf die lange Tradition des Gegenstandes.

 

So auch Frau von Riedmüller. Lange habe ich mit ihr darüber diskutiert, ein anderes Stück zu nehmen und nicht ausgerechnet diesen Bären, doch diese Dame war einfach zu stur. Ich habe ihr sogar einen Teddy angeboten, den ich vor drei Wochen extra wegen Halloween gebastelt hatte, doch sie sagte mir nur, dass sie dann ja noch mehr Müll zu Hause hätte.

Müll! Ich wäre ihr beinahe an die Gurgel gegangen.

Schlussendlich konnten wir uns darauf einigen, dass der Teddy eine Narbe über den Bauch bekommt, ich einen Einsatz im Kürbismuster über das rechte Auge nähe und sein linkes Ohr zerrupfe. Sie bestand auch noch darauf, dass ich ihm eine Blutspur über den Rücken lege, doch ob ich das wirklich mache, steht noch in den Sternen. Ja, ich würde damit nicht auf den Wunsch meiner Kundin eingehen, aber mal ehrlich, die hat ´nen Schuss in der Birne!

 

 

Ein leises Ding Dong lässt mich meine Arbeit unterbrechen und mit einem Seufzen gehe ich in den Verkaufsraum und entdecke dort den Paketboten.

 

„Hallo Malte! Was hast du heute denn Schönes für mich?“

Ich stelle mich hinter den kleinen Tresen und hebe die Hand zum Gruß. Malte braucht jedes Mal eine Weile, bis er sich von den ganzen Puppen und Plüschtieren loseisen kann. Ich habe ihn schon oft gefragt, ob er nicht einfach mal etwas kaufen will, aber er schüttelt jedes Mal aufs Neue den Kopf und murmelt etwas davon, dass seine Freundin ihm dann zu Hause die Hölle heiß machen würde.

 

„Hey, Janus. Heute hab ich nur ein Paket für dich.“

Malte kann sich gerade so von einer kleinen Laterne mit Gesicht losreißen und legt das Päckchen auf dem Tresen ab. Neugierig schaue ich mir den Karton an und wundere mich.

 

„Kein Absender?“

„Nee, weiß auch nicht genau, wie er oder sie das hinbekommen hat, aber anscheinend ging es irgendwie.“

„Komisch.“

 

Normalerweise ist die Post da richtig pedantisch. Ich hatte schon öfter das Glück, dass ich nochmal so einen doofen Klebezettel ausfüllen durfte, weil nicht alles akkurat und komplett aufgeschrieben war.

 

„Hast du was für mich?“

Zur Antwort zeige ich neben den Tresen, wo sich ein kleiner Haufen mit Paketen stapelt.

„Diesen Monat ist ja bei dir wieder die Hölle los.“

„Schon. Aber ich will mich nicht beschweren. Das lässt meine Kasse klingeln.“

Ein schiefes Grinsen stiehlt sich in mein Gesicht, bin ich doch in Gedanken kurz bei dem armen Teddy von Frau von Riedmüller.

 

„Komm schon, ich sehe es dir an. Die Hälfte von den Aufträgen hast du nur mit Widerwillen gemacht.“

„Hmmm.“

„Du musst dir da echt noch ´ne härtere Schale zulegen. Denk dran, was dein Opa immer gesagt hat. Es geht nicht darum, was du in den Sachen siehst, sondern was deine Kunden darin sehen.“

„Manchmal glaube ich, dass die gar nichts drin sehen.“

Meine Stimme hört sich ziemlich zerknirscht an und ich ernte von Malte nur ein Seufzen.

„Nimm es nicht so schwer. In vier Wochen ist Halloween vorbei, dann kannst du dich wieder entspannen. Ich muss jetzt leider auch wieder los, hab heute ich noch einiges vor mir.“

 

Mit einem Winken und Bye Bye verabschiede ich mich von Malte und mache mich daran, meine neue Arbeit zu entdecken.

 

Mein neuer Kunde schien Wert darauf zu legen, dass sein Stück heil bei mir ankommt, denn mir kommt erst einmal nur Luftpolsterfolie entgegen. Langsam und vorsichtig befreie ich die kostbare Fracht von ihrem Schutz und bestaune dann das seltsame Etwas, das ich zu Tage befördert habe.

Es ist ein Kürbis. Kein echter zum Glück, denn sowas kann nicht einmal ich reparieren. Die künstliche Frucht ist aus Metall, bezogen mit Stoff. Vier Aussparungen sind vorhanden, in die vermutlich Arme und Beine rein gehören. Ich schaue durch eines der Löcher ins Innere und entdecke ein Wirrwarr aus Drähten, Leiterplatten, Kupferlagen und einer kleinen Glühbirne in der Mitte. Auf der flachen Unterseite entdecke ich ein Schlüsselloch.

Vorsichtig stelle ich das Metallding hin und betrachte es von außen. Wer immer den Kürbis gebaut hat, hat ganze Arbeit geleistet. Der dunkel orangefarbene Stoff spannt sich passgenau über das Gehäuse und zeigt mir ein grinsendes Gesicht mit drei viereckigen Zähnen. Zum Glück ein sympathisch grinsendes und kein schaurig grinsendes, auf diesen vermeintlichen Gruselfaktor kann ich nämlich gut verzichten. Die Augen bestehen aus Dreiecken, die mit schwarzem Stoff verkleidet sind. An der Oberseite des Kopfes befindet sich ein grüner, dicker Ast mit ein paar Blättern.

Alles in allem sieht das Ding schon gut aus. Ich frage mich nur, was ausgerechnet ich damit machen soll. Von Reparaturen, die mit Metall zu tun haben, verstehe ich nämlich nicht die Bohne!

 

Auf der Suche nach Antworten durchforste ich weiter den Karton und halte am Ende sowohl einen Brief wie auch eine große Handvoll von meinen Lieblingssüßigkeiten in den Fingern. Vollkommen verdattert schaue ich die Lollis und kleinen Pralinen an und schüttle den Kopf.

 

Ich bin eine echte Naschkatze, allerdings eine richtig schleckige. Es gibt nur eine Lolliart, die ich liebe und diese gibt es leider nicht in Deutschland. Viele habe ich probiert und alle sind durchgefallen außer dieser Köstlichkeiten. Nur ein Betrieb stellt sie her, ein Dreimannunternehmen aus der Schweiz, das erst seit vier Jahren existiert und leider sind die Süßigkeiten auch nicht gerade die billigsten.

Allerdings haben mich die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen richtig süchtig gemacht. Es gibt tatsächlich alles Mögliche, von süß über sauer, salzig, bitter bis hin zu würzig/ pikant ist alles dabei. Ich bin mit den drei Jungunternehmern in regem Kontakt und bekomme von Ihnen manchmal Lollis zur Kostprobe geschickt.

Ebenso ergeht es mir mit Schokolade. Es gibt eine Pralinenfirma, bei der ich Stammkunde bin, der Rest kann mir meistens gestohlen bleiben. Ja, ich weiß, da bin ich verwöhnt, jedoch ist das auch eine Eigenart von mir, die meine Familie immer wieder zum Lachen bringt.

 

Und genau da ist auch der Hund im Heu begraben, denn nur die wissen von diesem Spleen. Ist der Kürbis also ein Geschenk von ihnen? Irgendwie kann ich mir das nicht richtig vorstellen.

 

Nachdenklich betrachte ich den weißen Briefumschlag aus Büttenpapier. Edel!

Vorsichtig öffne ich ihn und befördere einige Seiten aus dem gleichen Material zu Tage, falte sie behutsam auseinander. Eine gestochen klare Schrift springt mir ins Augen und ich beginne zu lesen.

 

Guten Tag Janus Sol,

 

ich möchte mich gerne bei dir vorstellen – mein Name ist Jules.

Vermutlich bist du verwundert über dieses kleine Paket, das ich dir zugeschickt habe. Bevor du dich fragst, was du an dem Kürbis reparieren sollst, nehme ich dir gleich deine Bedenken – gar nichts. Der kleine Mann ist ein Geschenk von mir an dich, das eine Geschichte erzählen soll. Zumindest hoffe ich das. Welche Geschichte und wie sie endet, liegt ganz alleine in deinen Händen.

 

Seit beinahe einem Jahren überlege ich, wie ich dich am besten ansprechen soll. Überrascht dich diese Zeitspanne? Mich hat sie auf jeden Fall ein wenig geschockt, besonders da ich kein schüchterner Typ bin. Daher musste ich nun einfach in Aktion treten.

Ein lapidarer Spruch, wie 'Willst du mit mir ein Bier trinken gehen?' ist mir eindeutig zu schade, um dich kennen zu lernen. Zumal ich mittlerweile davon ausgehe, dass du mit 'Nein' antworten würdest. Woher ich das wissen will? Na ja, ich hatte ein wenig Zeit, dich zu beobachten und habe einige Rückschlüsse aus deinen Handlungen ziehen können.

 

Bitte sei nicht geschockt, ich bin kein Spanner oder Stalker, auch wenn es auf dich jetzt vielleicht den Anschein machen mag. Ich bin jemand, der dir ein kleines Spiel vorschlagen möchte.

 

Heute ist der 01. Oktober und damit hast du heute mein erstes Paket erhalten. Am 08. Oktober bekommst du ein weiteres, sieben Tage darauf noch eines und das Abschlusspäckchen wird dich dann am 22. Oktober erreichen. Mit jedem Geschenk wird der Kürbismann kompletter und am Ende darfst du dich dann bis zum 31. Oktober entscheiden, ob er leuchten soll oder nicht.

 

Wie ich das meine? Dieser Kürbis ist eine Art kleine Leuchtmaschine, der, wie dir aufgefallen sein wird, noch Arme und Beine fehlen. Diese befinden sich in den nächsten Paketen ebenso wie der Schlüssel. Die Gliedmaße lassen sich ganz einfach in die dafür vorgesehenen Löcher klicken und mit dem Schlüssel lässt du in dem Kürbis das Licht angehen.

 

Mit jedem Päckchen werde ich dir auch einen Brief mitschicken. In diesen Briefen möchte ich mich dir näher vorstellen, damit du ein Bild von mir bekommen kannst.

Zugegeben, dieses wird subjektiv ausfallen, da ich dir die Dinge ja nur aus meiner Sichtweise schildern kann, dennoch hoffe ich, dass es dich überzeugt. Wozu? Damit du an Halloween den kleinen Kürbis aufziehst und leuchtend vor deinen Laden stellst. Wenn du dies tust, werde ich an diesem Abend in dein Geschäft kommen und dich ganz klassisch zu einem Abendessen einladen. Zu deinem Lieblingsinder, ins Karma.

 

Warum ich diesen Weg gewählt habe, um mit dir in Verbindung zu treten?

In Zeiten des Internets, der Szene-Bars und Gay-Clubs ist es nicht mehr sonderlich schwer, Kontakt zu Gleichgesinnten zu bekommen. Natürlich muss man dafür über seinen eigenen Schatten springen und sich nach draußen trauen, doch das Angebot ist riesig. Manchmal denke ich mir, dass es sogar größer ist als die Nachfrage.

Über WhatsApp, Email, Sms, Skype, Facebook oder den Account von Singlebörsen ist Mann ständig erreichbar und doch erreicht Mann sich nicht. Zumindest empfinde ich es so. Nicht dass du mich falsch verstehst, ich bin ein Fan der modernen Kommunikation und gehe gerne abends in die Kneipe ein Bier trinken und am Wochenende raus, um mal wieder richtig zu tanzen und meinen Kopf frei zu kriegen.

 

Doch ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine Karte von meinen Kumpels aus dem Urlaub bekommen habe oder einen handgeschriebenen Brief. Wenn ich bedenke, dass dies vor 100 Jahren noch eine gängige Art war, wie sich die Menschen erreicht haben, dann erschreckt es mich schon ein wenig, wie sehr sich unsere Gesellschaft gewandelt hat.

 

Daher möchte ich dir mit meinen Briefen die Chance geben, mich kennenzulernen, ohne dass du mir gleich gegenübertreten musst und dich damit möglicherweise in unangenehme Situationen bringst. Du hast die freie Wahl, was mit den Paketen geschieht.

 

Ja, niemand garantiert dir, dass ich kein Irrer bin, der dich nur verarschen will. Doch im Umkehrschluss garantiert mir ebenfalls niemand, dass ich am 31. Oktober nicht von der Polizei verhaftet werde, weil du mich bei ihr angezeigt hast. Oder dein Bruder mir vor dem Laden auflauert, um mit mir ein paar Takte zu quatschen.

Ich gehe dieses Risiko jedoch ein, weil ich die Hoffnung habe, dass du mir glaubst und der Kürbis seine Arbeit in Angriff nehmen darf.

 

Also, möchtest du mit mir spielen?

 

Jules

 

Nachdem ich den Brief zum zweiten Mal gelesen habe, lasse ich die Seiten nachdenklich auf meinen Tresen gleiten und schaue aus dem Schaufenster zu dem Menschenstrom, der dort vorbeizieht. Ich gebe zu, so ganz geheuer ist mir diese Sache nicht. Dieser Jules, sollte dies sein echter Name sein, könnte tatsächlich ein Irrer sein, der mir nach dem Leben trachtet.

Aber andererseits sehe ich mich nun wirklich nicht als ein potentielles Opfer eines Serienkillers. Gut, ich bin schwul und homophobe Idioten gibt es überall, doch warum sollte sich jemand erst die Mühe machen und so ein kompliziertes Spiel starten, um mich hinterher umzubringen?

Außer, er ist ein Psychopath. Sollte er einer sein, dann hab ich ihn jedoch so oder so an der Backe, dennoch frage ich mich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass dies der Realität entspricht.

Ist es da nicht vielleicht doch glaubwürdiger, was in dem Brief steht?

 

Ich sehe den kleinen grinsenden Kürbis an und seufze. Sollte dies allerdings kein krankes Spiel sein, dann wäre das natürlich schon ziemlich interessant. Ja, ich gebe zu, ich bin eher der altmodische Typ, den man nicht mit einem 0815- Spruch in die Kiste bekommt. Auch nicht mit mehreren. Meine Mutter sagt immer zu mir, dass ich viel zu jung für mein Verhalten sei. Das bringt mich hingegen zum Lachen, denn ich bin tatsächlich gerade 29 Jahre alt geworden.

 

Doch sie war auch niemals begeistert davon, dass ich in die Fußstapfen ihres Vaters trete. Immer wieder predigte sie mir, dass ich doch was Ordentliches lernen soll. Am besten ein Studium und anschließend irgendeinen Job, bei dem ich viel Geld verdienen kann.

Das sagt sie mir auch heute noch bei jedem Besuch.

 

Ich kann sie ja schon verstehen. Sie musste in ihrer Kindheit und Jugend des Öfteren auf ihr Taschengeld verzichten, wenn der Laden nicht richtig lief und daher war es für sie ein richtiger Schock, als ich ihr erklärte, dass ich mich von Opa ausbilden lasse und auch den Laden eines Tages übernehmen will. Sie zeterte damals, drohte mir mit Enterbung und damit, dass ich nie wieder ihr Haus betreten dürfte, aber schlussendlich hat meine Mum ein viel zu weiches Herz dafür, um ihre Aussagen in die Tat umzusetzen. Diese Eigenschaft habe ich von ihr übernommen.

Dass ich das Familiengeschäft jedoch so früh übernehmen musste, damit hatten wir beide nicht gerechnet. Vor vier Jahren verstarb mein Großvater an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Zum Glück dauerte seine Krankheit nicht lange an. Doch diese Erfahrung schweißte meine ganze Familie noch enger zusammen und seither ist meine Mutter auch zu meiner besten Freundin geworden.

 

Daher greife ich jetzt nach dem Telefon, tippe auf die Kurzwahltaste eins und warte darauf, dass das Freizeichen ertönt.

 

„Brennmann.“

„Hey Mum, hier ist dein Lieblingssohn.“

„Flórián, wie schön, dass du dich mal wieder meldest!“

„Mum!“

„Ach so, du bist es Janus Sol.“

 

Diesen Scherz macht sie immer mit mir. Mein älterer Bruder bekommt das Grinsen dabei nie aus dem Gesicht, wenn er unsere kleine Kabbelei miterlebt.

 

„Mum, ich brauche deinen Rat.“

„Könntest du das bitte wiederholen? Aber warte kurz, ich muss erst den Sprachschnitt starten, damit ich mir den Satz immer und immer vorspielen kann. Ach, deinem Vater im Übrigen auch, der würde mir das sonst nämlich nicht glauben. “

„Du bist schon ein Biest.“

„Ich liebe dich auch, mein Schatz. Also, was ist los?“

 

Eine Stunde später lege ich den Hörer mit einem Seufzen zur Seite und bin genauso schlau wie vor dem Telefonat. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass meine Mutter ganz aus dem Häuschen sein wird, wenn ich ihr von meinem möglichen Verehrer, Schrägstrich bekloppten Serienmörder erzähle. Sie ist natürlich der Meinung, dass ich mich auf Jules einlassen soll, beziehungsweise auf sein Spiel.

Klar hat sie recht, wenn sie mir sagt, dass mir immer etwas passieren kann. Auch wenn ich der Meinung bin, dass so etwas ein Kind zu seiner Mutter sagen sollte und nicht umgedreht. Ich könnte, so ihre Wortwahl, von einer intergalaktischen Kloschüssel erschlagen werden oder mir könnte das altersschwache Dach auf den Kopf fallen.

Janus Sol, das Leben ist zum Leben da und nicht zum Grübeln. Hab doch einfach mal Spaß, genieße was dir geboten wird und häng nicht immer zwischen den gruseligen Puppen rum!

Das waren ihre Abschlussworte, bevor sie einfach auflegte. Ohne ein Bye oder ein Tschüss. Meine Mutter, wie sie leibt und lebt.

 

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Eine Woche später warte ich ungeduldig auf Malte. Ich habe seit dem Telefonat mit meiner Mum auch noch mit meinem besten Freund Leon über die ganze Sache gesprochen. Er war zwar nicht ganz so aus dem Häuschen, wie sie, aber er riet mir auch, dass ich die Sache einfach auf mich zukommen lassen soll. Ich musste ihm zwar das Versprechen geben, ihn auf dem Laufenden zu halten, schließlich konnte es sich immer noch um einen Bekloppten handeln, doch ermahnte er mich auch dazu, endlich einmal etwas zu wagen. Besonders, wenn mir jemand so ein Geschenk macht.

 

Malte kündigt sich mit seinem üblichen Ding Dong an und ich muss mich wirklich zusammen reißen, damit ich nicht zu ihm renne, um ihm mein Päckchen aus der Hand zu zerren. Gut, dieses Mal hat er drei bei sich, aber nur eines hat die gleiche Form wie das Letzte.

 

„Hey Janus!“

Er hat ein herzliches Lächeln auf den Lippen, legt die Pakete ab und reicht mir das Formular zum Gegenzeichnen.

„Hey Malte.“

Meine Stimme zitterte leicht, meine Hände noch mehr. Während ich meine Unterschrift setze, schiele immer wieder zu dem Karton ohne Absender.

„Ist das von dem Gleichen, wie letzte Woche?“

„Hmmm.“

Oh Mann, bin ich wortfaul heute!

„Kann schon sein. Ich hoffe es zumindest.“

 

Malte zieht seine Augenbrauen nach oben und sieht mich einen Moment verwundert an, beginnt dann zu grinsen.

„Hast du ´nen Fan?“

„So könnte man es auch nennen.“

„Dann will ich mal nicht weiter stören. Wir sehen uns ja morgen wieder. Tschüss.“

 

Ich winke Malte hinterher, schnappe mir anschließend den Karton und öffne ihn. Wieder kommt mir zuerst Luftpolsterfolie entgegen, dann halte ich den rechten Arm und das linke Bein meines Kürbismannes in Händen. Grinsend klicke ich beides in die Aussparungen und freue mich wahnsinnig darüber, dass er beinahe komplett ist. Zugegeben, er sieht so schon ein wenig komisch aus, aber das stört mich nicht.

 

Den weißen Brief aus Büttenpapier finde ich mit meinen Lieblingssüßigkeiten auf dem Paketboden. Mit zitternden Fingern öffne ich den Umschlag und falte die Seiten auseinander, klemme mir dabei einen Lolli zwischen die Lippen und keuche erst einmal erschrocken auf.

Huch, was ist das denn? Wasabi? Meine Augen suchen nach der Bezeichnung und tatsächlich entdecke ich auf dem Zellophan die klassische grüne Knolle. Nein, zu dem Brief passt das nicht. Also lieber erst einmal keinen Lolli.

 

Hallo Janus Sol,

 

Halbzeit! So schnell kann es manchmal gehen, nicht wahr?

Obwohl … Wenn ich ehrlich sein darf, dann geht es mir immer noch zu langsam. Ich gehöre nicht gerade zu den geduldigsten Personen der Welt.

 

Nachdem ich dich letztes Mal zu diesem Spiel eingeladen habe, möchte ich dir heute ein wenig etwas über mich erzählen, damit du ein kleines Bild von mir bekommst. Ich werde versuchen, hierbei nicht nur auf meine positiven Eigenschaften einzugehen, sondern auch auf meine negativen.

 

Seit sieben Jahren lebe ich nun in dieser schönen Stadt. Ausschlaggebend für meinen Umzug hier her war mein Traumstudium, das es deutschlandweit nur hier gibt. Ich bin Student im Masterstudiengang des Fachbereiches Umwelt- und Verfahrenstechnik. Mit dem beginnenden Semester stecke ich in meinem letzten, im Moment herrschen ja noch Ferien.

Ich gestehe, ich habe mir ein wenig Zeit gelassen. Mein Praxissemester zog sich in die Länge, aber aus gutem Grund! Ich arbeitete insgesamt ein Jahr an einem interessanten Forschungsprojekt in Neuseeland, welches sich zum Ziel gesetzt hat, eine neue Energie aus der Wasserkraft zu gewinnen. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen und ich bin noch immer in regem Kontakt mit meinen ehemaligen Kollegen.

 

Ansonsten bin ich wahrscheinlich der typische Student. Semesterpartys find ich gut, vor allem günstig, auch wenn ich diese nicht mehr so viel frequentiere wie in meiner Bachelorzeit. Vielleicht bin ich mit den Jahren ruhiger geworden? Ich weiß es selbst nicht genau.

 

Ich hasse es, früh aufstehen zu müssen, bin eine richtige Nachteule, daher fällt für mich die erste Unterrichtseinheit meistens flach. Zum Glück haben wir im kommenden Semester nur zwei Mal in der Woche um acht Uhr Vorlesungsbeginn. Ich bin selber sehr gespannt darauf, wie oft ich es pünktlich zur Hochschule schaffe.

Wenn du jetzt denkst, dass es ja sowieso nicht auffällt, wenn ich nicht da bin, dann irrst du dich gewaltig. Im Gegensatz zu der Universität mit ihren überfüllten Kursen findest du mich an der Fachhochschule. Dort ist alles ein wenig kleiner, auch die Studiengänge und gerade in meinem befinden sich neben mir nur noch zehn andere Studenten. Meine Profs kenne ich seit meinem ersten Tag und auch, wenn du es mir vielleicht nicht glauben wirst, mit manchem kann man echt gut ein Bier trinken gehen. Habe ich in den vergangenen Jahren schon ausgetestet und es war jedes Mal ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Ich könnte dir da Geschichten erzählen!

 

Meine Lieblingsjahreszeit ist zum einen der Herbst und dann wiederum der Frühling. Sie symbolisieren für mich einmal den Abschluss und dann den Anfang von etwas unglaublich Schönen, etwas absolute Einmaligem. Die Natur hat mich schon immer fasziniert, schon als kleiner Bub und wenn ich einmal angefangen habe, über sie zu sprechen, dann kann es sein, dass ich drei Stunden lang ohne Punkt und Komma über dieses Thema referiere.

Das ist ein Schwachpunkt, aber auch eine Stärke von mir. Ich gehe in dem, was mich wirklich interessiert, vollkommen auf, kann mich an schwierigen Aufgaben festbeißen und lasse erst wieder los, wenn ich das Problem geknackt habe. Dabei bemerke ich nicht einmal die Zeit. Ich bin ein entweder-ganz-oder-gar-nicht-Mensch.

 

Den Hochsommer hasse ich zumeist. Außer ich verbringe ihn am See oder Meer. Wasser ist mein liebstes Element. Die Stärke und Geschmeidigkeit, die in ihm stecken, sind so vollkommen, dass mir manchmal die Worte fehlen. Ein Tipp: damit kannst du meinen Redefluss fast immer stoppen. Wenn ich mit meinen Freunden unterwegs bin und mich mal wieder vergesse, knallt mir manchmal einer von ihnen einfach nur das Wort 'Wasser' an den Kopf und ich verstumme. Danach herrscht immer großes Gelächter.

 

Freunde sind für mich sehr wichtig. Du musst wissen, dass meine Eltern mein Outing nicht besonders gut aufgenommen haben. Ich habe mich kurz vor Studienbeginn zu Hause geoutet und eigentlich war mir ihre damalige Reaktion schon vorher bewusst, auch wenn das kein Grund ist, dass es nicht immer noch schmerzt.

Meine Mutter ist kalkweiß geworden und musste sich beinahe übergeben, während mein Vater vollkommen versteinert an meinem Verstand gezweifelt hat. Wir haben noch Kontakt, allerdings nur auf Weihnachten und die jeweiligen Geburtstage beschränkt. Seit meinem Auszug habe ich sie nicht wiedergesehen.

 

Hier in dieser neuen Stadt habe ich mir mein Leben aufgebaut, wie ich es führen will. Meine Umgebung weiß, dass ich schwul bin und stört sich nicht groß daran. Ich achte darauf, dass ich mich von denen fernhalte, die ein Problem damit haben, dass ich auf Männer stehe und stattdessen verbringe ich lieber Zeit mit jenen Leuten, denen wirklich etwas an mir liegt.

Mein Freundeskreis ist dadurch nicht unbedingt der größte, aber das brauche ich auch nicht. Ich möchte Menschen um mich herum haben, die für mich da sind, wenn ich nicht mehr weiter weiß und im Umkehrschluss ist es dasselbe. Ich bin kein oberflächlicher Freundschaftsjäger und -sammler.

 

Ich koche sehr gerne, auch wenn diese Leidenschaft eher aus der studentischen Not heraus geboren wurde. Mittlerweile kreiere ich sogar meine eigenen kleinen Gerichte. Backen kann ich hingegen überhaupt nicht. Sogar ein einfacher Rührkuchen missglückt mir.

 

Mein Lieblingsgericht ist im Übrigen Kartoffel-Käse-Auflauf, ich hasse Cocktails, trinke gerne ein Bier oder einen kräftigen Rotwein und für ein Walnusseis mit echten Kernen könnte ich einen Einbruch begehen. Ohne Kaffee bin ich kein richtiger Mensch, auch wenn ich meinen Konsum schon stark zurückgedreht habe. Wir haben in unserem Fachbereich eine sehr billige Kaffeeecke und die frequentiere ich sehr häufig. Vor der ersten Tasse morgens erhält man von mir meistens nicht mehr als ein Brummen.

 

Während meiner Bachelorzeit habe ich in einer WG gewohnt, mittlerweile bewohne ich meine eigenen vier Wände: Eine kleine Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss mit einer großen Terrasse. Ein Luxus, für den ich hart schuften muss, aber er lohnt sich. Neben meinem Studium arbeite ich in der nahegelegenen Maschinenbau Firma in der Abteilung Umweltschutz. Nicht mein Traumjob, viel zu viel Bürokratie, doch so kann ich wenigstens etwas machen, das mir ansatzweise Spaß bereitet.

 

Mit meinem Auszug habe ich aufgehört die Dinge zu tun, die mich belasten. Ein Beispiel? Meine Mutter hat mich seit meiner Kindheit gezwungen, Klavier zu spielen. Ich habe es immer gehasst, aber das Klavier stand in ihrer Augen für Prestige. Meine Familie achtet extrem darauf, was andere von ihnen denken und wie sie in der Öffentlichkeit gesehen werden. Da ist es egal, was im Verborgenen tatsächlich abgeht.

Heute spiele ich Blockflöte. Zwar echt mies, aber das ist mir egal, solange ich Freude daran habe.

 

Ich bin ein aktiver Mensch, der viel draußen ist. Eine bestimmte Sportart verfolge ich nicht, probiere mich aber in vielem aus. Letzten Sommer waren die Clique und ich eine Woche lang wandern und klettern in den französischen Alpen. Ich hatte am Ende vollkommen wunde Füße, die eigentlich nur noch aus einer einzigen Blase bestanden, aber der Spaß hat die Schmerzen wieder aufgewogen.

 

Wenn ich krank bin, mutiere ich zu einem Kleinkind. Meine beste Freundin Charlotte hat schon oft Krankenschwester gespielt und droht mir jedes Mal aufs Neue Prügel an, wenn ich mit dem Quengeln nicht aufhöre.

Das beste Mittel in dieser Zeit: mein Bett, eine Kanne Holunderblütentee (ja, da verzichte ich auf meinen Kaffee, das muss was heißen) und meinen Lieblingsfilm 'Wie im Himmel'.

 

Fridolin habe ich im Übrigen selbst gebaut. Ich meine den Kürbis. Warum Fridolin? Keine Ahnung, aber ich finde den Namen passend. Sollte er dir nicht gefallen, dann benenne ihn einfach um, schließlich gehört er ja dir.

 

Vermutlich könnte ich noch ewig weiterschreiben, aber ich denke, das war für den Anfang ein ganz guter kleiner Querschnitt durch mein Leben. Natürlich gibt es noch viel mehr, aber ich möchte dich erstens mit so vielen Infos nicht erschlagen und zweitens muss ja auch noch etwas zum Kennenlernen übrig bleiben. Vorausgesetzt, du möchtest dies.

 

Jules

 

Ich atme tief ein und aus und falte die Seiten anschließend zusammen. Das war mehr als ein Querschnitt, er hat mir schon verdammt viele Informationen über sich gegeben, auch wenn ich manches nur am Rande heraus hören kann, wie zum Beispiel seine Trauer über die Beziehung zu seinen Eltern.

Ich bin wirklich sehr froh, dass ich in dieser Hinsicht Glück hatte.

 

Diese Person, die da auf dem Papier steht, ist so ganz anders als ich. Doch ich finde sie faszinierend. Er scheint sehr strebsam zu sein und sein Studium hört sich nicht gerade nach dem leichtesten an. Doch wenn es ihm wirklich so viel Spaß macht, wie er schreibt, dann wird er sich durch sein letztes Semester auch noch durchboxen. Was er wohl nach seinem Abschluss machen möchte?

 

Es ist schwierig anhand von vereinzelten Infos ein Bild von einer Person zu kreieren. Irgendetwas fehlt immer. Dennoch finde ich es total spannend. Noch nie hatte ich so viel Spaß daran, jemanden kennenzulernen. Gut, ich gestehe, ich habe auch nicht besonders viel Erfahrung damit.

Ich bin kein Typ, der alleine auf die Piste geht, um sich jemanden anzulachen. Das war ich noch nie. Mein Outing fiel ziemlich unfreiwillig aus und im Gegensatz zu Jules Eltern hielten meine von Anfang an zu mir. Vor allem als die Hänseleien in der Schule zur absoluten Qual wurden.

 

Ich hatte in meinem Leben bisher zwei nennenswerte Beziehungen. Beide endeten damit, dass sie sich von mir nicht richtig gesehen fühlten. Dem kann ich leider nicht einmal etwas entgegensetzen, denn es stimmt. Marc und Dennis sind sehr nette Männer, aber auf Dauer wurde mir in unserer Beziehung zu langweilig und ich verbrachte immer mehr Zeit bei meinem Großvater im Laden, als bei ihnen. Das hält kein Mann aus. Lustiger Weise sind die beiden mittlerweile zusammen. Wir haben noch sporadischen Kontakt, aber das vermutlich auch nur aus einer seltsamen Verpflichtung heraus.

 

Ich hatte noch nie einen großen Freundeskreis, das war mir auch niemals besonders wichtig, meistens haben mich meine Exfreunde mit in ihren gezogen. Sie fanden immer, dass mir der Kontakt zu den Lebenden fehlt.

Vielleicht haben sie recht. Seit Großvaters Tod verbringe ich mein Leben ausschließlich hier in meinem Laden. Ja, ich liebe meine Arbeit und ich würde sie auch nicht aufgeben, doch wenn ich mir Jules Worte durchlese, dann fällt mir auf, dass es viele Dinge gibt, die ich nicht kenne. Ich frage mich, ob es die Sehnsucht nach dem Unbekannten gibt, denn wenn ja, dann packt sie mich gerade.

 

Das ist für mich neu. In meinen ehemaligen Beziehungen empfand ich es als lästige Pflicht, mit meinen Exfreunden an Treffen mit deren Clique teilzunehmen, bei Jules hört es sich irgendwie nach Spaß an. Oder bilde ich es mir nur ein, weil ich das alles so aufregend finde?

Auf der anderen Seite würde die Antwort mir vermutlich nicht viel bringen. Ich habe dieses Gefühl in mir, unabhängig von seinem Ursprung. Vielleicht sollte ich es einfach so hinnehmen?

 

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Müde reibe ich mir über die Augen und sehe Frau von Riedmüller nach, die gerade meinen Laden verlässt. Ich hatte tatsächlich eine ausführliche Diskussion mit ihr bezüglich des Blutes auf dem Rücken ihres Teddys. Ich habe gewonnen, sofern man das so nennen kann. Natürlich kann es sein, dass die Dame zu Hause ihren roten Nagellack nimmt und „zusticht“, doch ich hoffe es nicht. Sie klang gegen Ende einsichtig meinen Argumenten gegenüber.

 

Eine Woche ist mittlerweile vergangen. Heute kommt das nächste Päckchen von Jules. Ich sehe der ganzen Sache im Moment mit gemischten Gefühlen entgegen. Die letzten Nächte fand ich keine Ruhe, meine Gedanken wirbelten immer um dieses Spiel.

 

Ganz unabhängig davon, was für eine Person sich hinter Jules verbirgt, hat er mir eine Sache klar gemacht. Ich möchte etwas an meinem Leben ändern. Ich habe in dieser Woche viele lange Gespräche mit meiner Mutter und vor allem meinem großen Bruder geführt.

Am meisten überrascht hat es mich, dass ich auf einmal eine ganz neue Ebene mit Flórián gefunden habe. Es war zwar nie so, dass wir uns nicht verstanden haben, doch meine Homosexualität stand irgendwie zwischen uns. Zumindest dachte ich das und da wir nie darüber gesprochen hatten, wurde die Entfremdung immer größer.

 

Mein großer Bruder hat sich für ein, in meinen Augen, recht konservatives Leben entschieden. Er arbeitet schon lange als Immobilienmakler in Köln, hat sich dort ein schickes Apartment gekauft und hat eine sehr hübsche Freundin. Das sehe ich auch als homosexueller Mann.

Im Gegensatz zu mir ist meinem Bruder Geld sehr wichtig. Er fliegt zweimal im Jahr in den Urlaub, hat vor, seiner Freundin demnächst einen Antrag zu machen und er hat meinen Eltern angedeutet, dass es auch sein kann, dass sie in naher Zukunft Großeltern werden.

 

Mein Bruder hat einen Plan in seinem Leben, den er stets geradlinig verfolgt. Ich hingegen hänge irgendwie fest.

 

Weißt du Janus Sol, es ist nicht so, dass ich mich daran störe, dass du auf Männer stehst. Ja, am Anfang war es seltsam, aber ich habe mich damit ziemlich schnell arrangiert. Was mich hingegen echt ärgert, ist die Tatsache, dass du dein Leben nicht auf die Reihe bekommst.

Seit Opas Tod bist du nur noch in deinem Laden, reparierst Kuscheltiere und restaurierst Puppen. Das ist sehr ehrenhaft von dir und ich gestehe, ich bewundere dich auch ein wenig dafür. Doch was hast du sonst noch? Wann warst du das letzte Mal so richtig verliebt? Wann hattest du das letzte Mal Sex?

Vielleicht hältst du mich für spießig, aber ich kann voller Stolz behaupten, dass ich Emma über alles liebe, mein Beruf mich vollkommen erfüllt, ich aber nach dem Feierabend wirklich abschalte und machen kann, was ich möchte.

Ich finde, du solltest mal darüber nachdenken, was für dich wirklich wichtig ist.

 

Flóriáns Worte haben sich zu dem Gefühl gemischt, das Jules Brief in mir ausgelöst hat. In den letzten vier Jahren hatte ich tatsächlich nur den Laden. Sicher, am Anfang war es schwer, alles alleine zu managen und ich musste sehr viel Zeit investieren, damit alles am Laufen bleibt, doch mittlerweile habe ich mich so daran gewöhnt, meinen kompletten Alltag im Geschäft zu verbringen, dass ich gar nicht mehr sehe, was mir das Leben sonst noch bietet.

 

Ich blicke durch mein Schaufenster nach draußen und entdecke zum ersten Mal seit langem wieder, dass sich die Jahreszeit verändert. Ebenfalls eine Sache, die vollkommen sang- und klanglos an mir vorüberzog. Die bunten Blätter der Bäume werden vom Wind umher gewirbelt, der Himmel hat sich mit dicken Wolken zugezogen und die Menschen packen vorsorglich den Regenschirm aus.

 

Ich weiß gar nicht so genau, ob ich den Herbst mag oder nicht. Er ist unbeständig, soviel kann ich sagen und eigentlich gefällt mir das. Ja, ich brauche eine gewisse Sicherheit in meinem Leben, aber im Moment stecke ich in einem Käfig fest und habe dabei noch schwere Ketten um mich herum. Alles aus eigenem Verschulden und ohne, dass ich bisher den Antrieb sah, mich daraus zu befreien.

 

 

Maltes Eintreten reißt mich wieder aus meinen Grübeleien. Er grinst mich wissend an und legt das Päckchen auf den Tresen.

 

„Eine Unterschrift, dann bin ich schon wieder weg.“

 

Ich lächle, gebe ihm das Gewünschte und tatsächlich verabschiedet sich Malte direkt. So ein kurzes Gespräch hatten wir noch nie, aber ich muss gestehen, dass mir heute der Sinn auch nicht nach Smalltalk steht.

 

Ungeduldig reiße ich den Karton auf, befreie den linken Arm und das rechte Bein von Fridolin aus seinem Schutz und klicke sie an meinen Kürbismann. Ich muss lachen. Er sieht echt süß aus. Jules hat sich richtig viel Mühe damit gemacht. Ich glaube, so viel Engagement hat noch niemand aufgebracht, nur um mich kennenzulernen.

 

Bevor ich den neuen Brief lese, greife ich in den Karton und hole einen Lolli heraus, sehe dieses Mal aber vorsorglich auf das Bild und packe ihn aus, als ich keine grüne Knolle entdecke. Mhm, lecker, Zitrone mit Himbeeren.

 

Hallo Janus Sol,

 

dies ist mein dritter Brief an dich. Ich gestehe, dass ich mittlerweile ganz schön nervös bin. Eigentlich habe ich mir unser Kennenlernen auf diese Weise nicht so nervenaufreibend vorgestellt, doch ich muss einsehen, dass es sehr viel intimer und auf seltsame Art auch direkter ist, als alles, was ich bisher kennengelernt habe.

 

Ich möchte dir heute von einer ganz privaten Fantasie erzählen. Eine Vorstellung, die ich schon seit einiger Zeit im Kopf habe und von der ich mittlerweile sogar richtig träume! Und das muss etwas heißen, denn normalerweise passiert mir das nicht.Zumindest ist es mir noch niemals passiert.

 

Doch bevor ich beginne, möchte ich dir noch eine Sache sagen:

Vielleicht ist dir der Gedanke gekommen, vielleicht auch nicht. Ich bin kein Filou. Das kommt jetzt etwas plötzlich, aber mir ist es wichtig, dass du das weißt. Ich schreibe dir nicht, um dich ins Bett zu bekommen. Gut, ich gestehe, ich möchte dich gerne zwischen meinen Laken wissen, aber das war nicht der ausschlaggebende Punkt für dieses Spiel.

 

Vor einem Jahr bin ich durch Zufall auf deinen Laden aufmerksam geworden. Obwohl ich schon so lange hier lebe und auch immer wieder durch „deine“ Straße durchgekommen bin, habe ich ihm nie eines Blickes gewürdigt. Mittlerweile tut mir das leid, denn ich weiß, wie schön und gemütlich das Innere deines Geschäftes ist. Es hat seinen ganz eigenen Flair, der einen direkt ergreift und fest hält.

Doch von außen wirkt der Laden irgendwie nichtssagend. Nicht lieblos, aber es fehlt das gewisse Etwas. Es tut mir leid, dass ich das so ausdrücke, aber ich möchte von Anfang an ehrlich zu dir sein. Du legst Wert auf Bodenständigkeit und das finde ich gut, daher bin ich mir sicher, dass du mit dem richtigen Blickwinkel die Tradition auch in deine Fassade einbauen kannst.

 

Aber das wollte ich nur am Rande ansprechen.

Ich habe damals deinen Laden bei einem langen Herbstspaziergang in der Sonne entdeckt und sofort nach dem Eintreten war ich restlos begeistert. Ich konnte die Liebe, mit welcher du deine Arbeiten ausstellst, richtig fühlen. Du verwendest die perfekte Mischung aus Moderne und Klassik bei den Plüschtieren und Puppen, ohne dass die Regale zu überfüllt und damit erschlagend wirken.

Ich gestehe, ich konnte vorher nichts mit Kuscheltieren und dergleichen anfangen, aber in einem Gespräch mit dir, begriff ich plötzlich, welche Bedeutung diese „antiquierten Schätze“ tatsächlich haben. Sie sind Kunst. Ja, wirklich, so fasse ich das zumindest auf. Kunst, an der Erinnerungen hängen. Und damit wiederum kann ich mich identifizieren. Auch die Natur ist Kunst für mich und du hast mir erklärt, dass du während deiner Arbeit darauf achtest, so nah wie möglich am Original zu bleiben, an der wahren Natur des Dinges.

 

Fällt es dir auf? Wir sind uns „in echt“ schon einmal begegnet. Du wirst dich vermutlich nicht mehr daran erinnern, doch mir ging dieser Nachmittag und unser Gespräch nicht mehr aus dem Kopf. Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf.

Verrückt? Verliebt? Neugierig?

Ich möchte es gerne herausfinden, denn ich weiß es selbst nicht.

 

Ich bin immer noch nicht bei meinem Traum angekommen. Du siehst, wenn ich nervös bin, dann verzettel ich mich ganz gerne mal. Bekannte wollen das immer nicht glauben, weil sie mich für „cool“ halten, aber ich kann dir versichern, dass ich alles andere als das bin.

Ich bin kein Filou, ich bin kein cooler Aufreißer, ich bin ein ganz normaler Mensch mit Ecken und Kanten.

 

Nun aber zu meinem Traum (sonst findet dieser Brief kein Ende):

Ich betrete deinen Laden, höre das leise 'Kling' der Glocke. Ein Lächeln erscheint sofort auf meinen Lippen. Ich kenne kein anderes Geschäft, das noch ein richtiges Eingangsglöckchen besitzt. Sofort spüre ich, wie mich Ruhe und Entspannung überfallen, die Sorgen vor der Ladentüre ihren Platz finden.

Du trittst aus dem hinteren Teil, siehst mich und ich versinke in deinen Augen. Alles an dir erscheint mir perfekt, auch wenn ich weiß, dass es menschliche Perfektion nicht gibt. Doch das ist mir in diesem Moment egal.

Deine dunkelblonden Haare sind in letzter Zeit ein wenig zu lang geworden, jedoch stört mich das nicht. Es macht dich sympathischer, nicht so steif. Außerdem liebe ich es, wenn meine Finger durch die einzelnen Strähnen gleiten, mit ihnen spielen, dich an ihnen zu mir herziehen.

Ich bin wie immer von deiner Augenfarbe fasziniert. Ich kenne keine Person, die in einem Auge zwei Farben hat. Der Grundton ist grün, doch ein Teil deiner rechten Iris ist braun. Du ziehst mich oft damit auf, dass das doch nichts Besonderes wäre, es viele Menschen gäbe, die unterschiedliche Farbtöne haben. Ich erwidere dir immer, dass es für mich aber etwas Außergewöhnliches ist, über zwei verschiedene Farben zu verfügen. Ich liebe diese kleinen Plänkereien zwischen uns.

Langsam kommst du auf mich zu. Schon oft habe ich gedanklich versucht, deine Bewegungen irgendwie zu beschreiben, aber ich scheitere immer. Du bist für mich wie mein Lieblingselement, das Wasser. Tosend und doch gleitend, stark und gleichzeitig nachgiebig, schlicht nicht greifbar.

Als du vor mir stehst, legst du deinen Kopf ein wenig schief, greifst mit beiden Händen in meinen Nacken. Deine Fingerspitzen kitzeln meine empfindliche Haut direkt unter dem Haaransatz. Du weißt genau, dass ich dort leicht zu erregen bin. Meine Härchen stellen sich als Reaktion auf dein Tun auch direkt auf und ich spüre das Brennen in meinem Magen, die ersten sanften Wellen meines Verlangens nach dir.

Bekomme ich heute keinen Begrüßungskuss von dir?“

Deine Stimme ist nur ein sanftes Flüstern, gehauchte Worte, dennoch dringt sie direkt in mich, bringt mein Herz dazu, noch ein paar Takte schneller zu schlagen. Ich weiß immer noch nicht, wie du es geschafft hast, mich derartig in deinen Bann zu ziehen, doch ich komme nicht mehr von dir los, will es auch gar nicht.

Mit einem leisen Seufzen beuge ich mich zu dir, lege meine Lippen auf deine und genieße für einen Moment einfach nur. Es muss nicht immer wild und leidenschaftlich sein, auch wenn diese Momente nicht zu verachten sind. Doch gerade jetzt reichen mir deine Nähe, deine Berührungen und dein Körper, der sich vertrauensvoll gegen meinen lehnt, so dass ich dich fester in meine Arme ziehen kann.

Ich kenne jeden Zentimeter deiner Haut, kann dich im Dunkeln nur anhand deines Geruches erkennen. Alles an dir ist mir vertraut. Es ist seltsam, da wir uns noch gar nicht lange kennen, doch du hast mir eine andere Ebene des Fühlens gezeigt. Alles mit dir ist intensiver, aufwühlender, lebendiger.

Jeder Blick ist ein Geschenk, dein Lachen streichelt meine Seele, ein Streit belebt mich in meinem Inneren. Deine Küsse reduzieren alles in meinem Leben auf das Wichtigste und der Sex mit dir stimuliert nicht nur meinen Körper, sondern hat sich tief in meinen Geist gefressen, lässt mich alleine bei dem Gedanken daran stöhnen.

Deine Lippen öffnen sich für meine streichelnde Zunge und ich nehme den süßlichen Geschmack deiner Mundhöhle in mir auf. Meine kleine Naschkatze. Welche Sorte hattest du denn als Letztes? Walnuss! Extra für mich? Du wusstest, dass ich dich heute abhole. Ich muss in unseren Kuss hinein lächeln, ziehe dich ruckartig näher zu mir und versenke meine Zunge tief in deinem Mund. Willenlos gibst du dich mir hin, lässt dich umspielen, streicheln und lecken.

Das ist wie Sex, nur mit den Lippen und der Zunge. Ich bin erregt und du bist es ebenso.

Ich liebe dieses Spiel und ich weiß, dass es dir genauso geht.

Widerwillig trenne ich mich nach Augenblicken der Leidenschaft von dir, Atemnot macht dies nötig. Dein Blick sagt mir alles. Soviel Gefühl steckt in dir und du schenkst es mir. Ich danke dir, meine kleine Naschkatze.

 

An dieser Stelle wache ich immer auf. Ja, es ist ein Traum, daher kann und darf er unrealistisch sein. Doch vielleicht, eines Tages, können auch die unwirklichsten Träume wahr werden. Mann darf nur nicht zu hoffen aufhören.

 

Jules

 

Meine Finger sind schweißnass und kleben ein wenig an dem Papier, als ich den Brief auf den Tresen lege. Ich muss meinen Pulli ausziehen und bin froh, dass ich heute Morgen ein T-Shirt darunter gezogen habe. Verdammt, das war heiß. Falsch, das ist verdammt heiß! Es sind zwar nur geschriebene Worte, aber ganz ehrlich, sie haben mich angemacht. Sollte ein Kuss mit ihm so sein, wie beschrieben, dann will ich ihn nur noch küssen.

 

Ich habe in meinem Leben noch nie einen erotischen Roman gelesen, aber vielleicht hätte Jules lieber Literatur studieren sollen. Die Worte haben mich so angefacht, dass sich mein Schwanz langsam versteift. Verdammt, das ist im Augenblick echt ungünstig. Wenn jetzt ein Kunde reinkommt und das sieht, dreht er sich auf dem Absatz um und ergreift die Flucht.

 

Wie ungünstig es tatsächlich ist, zeigt mir die Glocke, die just in diesem Moment ihren Ton zum Besten gibt. Erschrocken hebe ich meinen Kopf und sehe in das Gesicht meines großen Bruders. Er lächelt mich an, ist mit wenigen Schritten bei mir und besieht sich das leichte Chaos an Luftpolsterfolie, Süßigkeiten, Karton und Fridolin auf dem Tresen.

 

„Sei froh, dass ich kein Kunde bin.“ In seiner Stimme schwingt Belustigung mit.

Ich weiß nicht so genau, was ich darauf antworten soll und starre ihn daher einfach nur an.

„Ist alles okay, Janus Sol?“

Dieses Mal klingt seine Stimme beunruhigt, daher greife ich nach dem Brief und reiche ihn an Flórián.

 

Neugierig beginnt er zu lesen. Einmal kommt ein zustimmendes Nicken, dann ein breites Lachen. Nach einer gewissen Zeit verändert sich seine Gesichtsfarbe. Flórián ist von Natur aus eher sehr hellhäutig, wie ich auch doch im Moment macht er einer überreifen Tomate Konkurrenz. Vielleicht sollte ich ihm einen Schluck Wasser anbieten?

 

„Dieser Jules muss echt was für dich übrig haben.“ Diese rau ausgesprochenen Worte bringen ihn dazu sich kurz räuspern und er weicht meinem Blick aus.

Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich irgendetwas von ihm hören will. Ich weiß nicht einmal, warum ich ihm den Brief gegeben habe. Ich habe einfach nur gehandelt, ohne nachzudenken.

 

„Janus Sol, ich habe mir für den 31. Oktober freigenommen. Emma und ich besuchen unsere Eltern. Ich möchte mir diesen Kerl gerne ansehen. Keine Sorge, nur von der Ferne. Ich werde dich nicht in Verlegenheit bringen, außerdem weiß ich auch überhaupt nicht, wie du dich entscheiden wirst.

Aber als großer Bruder habe ich die Verpflichtung, dich zu beschützen. Da ich während unsere Schulzeit nicht klar Partei für dich ergriffen habe, möchte ich wenigstens jetzt für dich da sein, so gut ich kann und so sehr du es zulassen willst.“

 

Erneut bin ich sprachlos. Dachte ich gerade, mich von dem Schock erholt zu haben, den Jules Brief mir beschert hatte, gibt Flórián so was plötzlich von sich.

 

„Ich bin nicht sauer auf dich. War ich nie.“

„Ich schon. Ich habe mich dafür gehasst, so feige zu sein, um nicht klar zu dir zu stehen. Ich weiß genau, wie sehr das Mobbing dir zugesetzt hat, wie sehr es dich in die Enge getrieben und dir das Vertrauen zu den Menschen genommen hat.

Doch ich konnte einfach nicht aus meiner Haut raus. Nicht weil du schwul bist, sondern weil ich Angst davor hatte, selbst in das Fadenkreuz der Anschuldigungen zu kommen. Heute weiß ich, wie falsch das war. Zu Hause habe ich stets versucht, dir zu helfen, so gut ich konnte, aber in der Schule war ich immer heilfroh, wenn du mir nicht begegnet bist.“

 

Mein Mund klappt auf und zu, dann trete ich um den Tresen und ziehe meinen großen Bruder kurzerhand in meine Arme. Er versteift sich kurz, entspannt sich dann jedoch.

 

„Es tut mir wirklich leid, Janus Sol.“

„Danke, dass du mit mir darüber gesprochen hast. Danke, dass du es mir erklärt hast. Danke für deine Entschuldigung. Ich nehme sie gerne an.“

 

Noch einmal: ich bin wahrhaftig keine Heulsuse, aber im Moment muss ich mir ein paar Tränen verdrücken. Dieses Eis, das sich über die Jahre hinweg ungesehen von mir in meinem Inneren aufgebaut hat, beginnt langsam zu schmelzen. Ist Jules daran schuld? Wäre es sowieso irgendwann passiert?

 

Spielt das überhaupt eine Rolle?

 

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Die letzte Woche hat sich wie Kaugummi ins Land gezogen und war doch so schnell rum wie ein Wimpernschlag. Widersprüchlich, das ist mir bewusst, aber Gefühle und Wahrnehmungen sind dies eben manchmal.

Meine Arbeit stapelt sich im Hinterzimmer, ich hänge ihr um mindestens vier Tage hinterher. Damit ich noch alle Abgabetermine einhalten kann, muss ich einige Nachtschichten einlegen. Das liegt nicht ausschließlich an mir. Vielen Kunden fällt es immer kurz vor knapp ein, dass in etwas mehr als einer Woche Halloween ist.

Beinahe, wie mit Weihnachten. Dieses Fest kommt auch immer ganz überraschend am 24. Dezember. Keiner hätte es gedacht. Vor allem nicht die Kunden!

 

Nachdem ich Flórián letzte Woche vor die Ladentüre begleitet habe, sahen wir uns gemeinsam das Geschäft von außen an. Jules hat recht. Die Fassade, das Schaufenster, sogar der Namenszug ist nichtssagend. Die Menschen laufen einfach vorbei, ohne der Auslage eines Blickes zu würdigen. Es spielt keine Rolle, wie schön das Innere meines Geschäftes sein kann, wenn niemand hereinkommt, um es zu betrachten, ist die ganze Arbeit vergebene Liebesmühe.

 

In diesem Moment habe ich beschlossen, dass ich das ändern werde. Sobald der Halloweenstress rum ist, suche ich mir einen Architekten, der sich mit sowas auskennt. Tradition ist gut, aber Langweile und Staubmäuse machen jeden Laden dem Erdboden gleich.

 

Jules Päckchen liegt neben mir, doch ich hatte bisher noch nicht den Mut, es zu öffnen. Mit jedem Brief, habe ich eine Person kennengelernt, die vor Vielseitigkeit nur so strotzt, von der ich noch mehr wissen will, die mich neugierig macht, die eine Saite in mir klingen lässt, welche ich bisher immer unterdrückt habe.

 

Ich habe Angst davor, mich in ihm zu verlieren. Oder nein, das ist es gar nicht, ich habe Angst davor, dass ich mich in ihm entdecke. Irgendwann habe ich mal gelesen, dass Halloween für die Kelten Samhain war, das Fest der Vereinigung, des Resümees. Laut manchen Überlieferungen feierten sie in dieser Nacht den Beginn eines neuen Jahres, den Beginn eines neuen Lebens.

 

Was wird mir wohl diese Nacht bringen? Habe ich wirklich noch die Kontrolle über dieses Spiel oder hatte ich sie niemals?

 

Ich beiße mir entschlossen kurz auf die Zunge und straffe meine Schultern. Mit einem schnellen Ratsch ist das Paket offen und ich packe vorsichtig den Schlüssel aus. Er ist simpel und doch gerade deshalb richtig schön. Als ich mir die Räute, den Schlüsselgriff, genauer ansehe, muss ich grinsen. 'Für Fridolins Licht' ist dort eingraviert. Ich bin versucht, meinen kleinen Kürbismann zum Strahlen zu bringen, schüttle dann jedoch entschieden den Kopf.

Sollte ich mich dafür entscheiden, so soll Fridolins erstes Mal an Halloween, an Samhain sein.

 

Ich suche nach dem Brief und bin verwundert darüber, dass ich heute nur eine Seite von Jules erhalte.

 

Hallo Janus Sol,

 

ich habe lange darüber nachgedacht, was ich dir in meinem letzten Brief schreiben könnte. Mir sind unzählige Ideen gekommen, doch keine ist hängengeblieben.Sie hinterließen alle einen faden Nachgeschmack.

 

In den letzten Wochen habe ich dich zu diesem Spiel eingeladen und dir Fridolin geschenkt. Ich hoffe, er gefällt dir. Du hast Einblick in mein Leben bekommen und ich konnte dir etwas über meine Träume, meine Fantasien schreiben, die ich dank dir habe.

 

Es gäbe unzählige Dinge, die ich loswerden möchte. Es gäbe so viel, das ich mit dir erleben möchte. Doch genau hier stoße ich an die Grenzen dieser Art des Kennenlernens. Wie vermutlich auch die Damen und Herren in der Vergangenheit werde ich von der Sehnsucht getrieben, dir endlich persönlich gegenüber zu stehen und wieder deine Stimme zu hören.

 

Doch die Entscheidung liegt bei dir und egal, wie sie aussehen wird, ich verspreche, sie zu akzeptieren.

 

Ich habe in diesem „Spiel“ den ersten Schritt gemacht, nun reiche ich dir die Hand.

Wirst du mir auch weiterhin folgen?

 

Jules

 

Ich brauche jetzt was Süßes. Dieser Kerl macht mich fertig. Wie soll ich denn darauf reagieren? Er erwartet nichts und doch gleichzeitig alles.

Und ich? Mist, ich bin genauso, ich will alles und doch nichts.

Geht das überhaupt?

 

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Es ist der 31. Oktober. Halloween. Samhain. Oder wie auch immer man dieses Gruselfest nennen möchte.

 

Ich habe tatsächlich all meine Aufträge rechtzeitig beenden können. Der letzte Kunde verließ heute um 14.00 Uhr den Laden, danach habe ich abgesperrt und bin schlafen gegangen. Die Nachtschichten hingen mir ganz schön in den Knochen.

 

Es ist zwar mittlerweile spät geworden, doch ich hatte keine Eile, wieder herzukommen. Ich weiß, dass Jules wartet. Er wird mir die Zeit geben, die brauche. Seltsam, ich bin mir dessen total sicher, obwohl ich ihn ja gar nicht kenne.

 

Leon hat mich heute Morgen angerufen und gefragt, ob ich eine Entscheidung getroffen habe. Ich konnte nur verneinen und habe ihm gesagt, dass ich meinen Bauch heute Abend entscheiden lasse. Ich bin hunderte Male mit dem Kopf an das Spiel heran gegangen, vergeblich.

 

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass es keine richtige aber auch keine falsche Entscheidung geben wird. Ich stehe im Moment an einem Kreuzweg und egal welchem Pfad ich folge, mein Leben wird sich verändern. Wie? Das weiß ich nicht, aber das werde ich sehen.

 

Langsam drehe ich mich im Kreis, betrachte mir jedes Kuscheltier und jede Puppe genau. Ich bin stolz auf meine Arbeiten, sogar auf jene, die ich selbst für hässlich erachte. Aber es liegt nicht in meiner Entscheidungsgewalt, was mit ihnen passiert, denn es sind nicht meine Erinnerungen, die daran hängen. Und nur weil die Werke nun anders aussehen, bedeutet das nicht, dass sie keine Zukunft haben. Und wo es eine Zukunft gibt, da gibt es auch immer das Andenken an die Vergangenheit.

 

Mein Blick bleibt an dem kleinen Kürbismann auf meinem Tresen hängen. Er ist komplett und er ist perfekt. Mit sicheren Schritten laufe ich auf ihn zu und meine Finger greifen nach Fridolin, ich gehe mit ihm zur Ladentüre und öffne diese. Es kalt draußen, aber das macht nichts. Erste Sterne sind schon zu sehen und die Sonne verabschiedet sich immer schneller hinter dem Horizont. Der Wind zieht heulend um die Häuser, reißt an den Ästen und zerrt die bunte Blätterpracht mit sich. Diese Nacht passt zu Halloween. Vorhin sind mir schon einige kleine Hexen, Kürbisse und Zombies mit ihren Eltern begegnet. Ich konnte die Begeisterung beinahe am eigenen Leib spüren! Wenn eine Nacht tatsächlich magisch sein kann, dann ist es diese.

 

Meine Augen gleiten über den kleinen Kürbismann und ich lächle. Mit sicheren Fingern fische ich den Schlüssel aus meiner Jeans, stecke ihn in das Schloss und ziehe den Kleinen auf. Es kommen kurz einige klackende Geräusche aus dem Inneren, dann beginnt Fridolin zu strahlen. Es ist ein warmes Licht, das tief in meinem Inneren Resonanz findet.

 

Ich stelle ihn auf die Schwelle zur Ladentüre und trete einige Schritte in den Raum zurück. Mein Atem beschleunigt sich, stockt dann, als wenige Minuten später ein junger Mann vor dem Geschäft hält, sich nach Fridolin bückt und mit ihm zu mir ins Innere tritt. Er bringt mir Ruhe und Entspannung, zaubert ein Lächeln auf meine Lippen

 

Langsam streckt er mir seine Hand entgegen und ich sehe ihm in seine dunkelblauen Augen.

 

„Möchtest du mit mir einen weiteren Schritt gehen?“

 

 

Ende.

Impressum

Texte: Vollständiges Eigentum von Papilio Faye
Bildmaterialien: Gestaltung und Bild gehören Papilio Faye
Lektorat: Vielen lieben Dank Ginva. Du bist klasse, dass du so spontan eingesprungen bist!
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Sissi Kaipurgay, als Dank für all ihre Mühen in den letzten Wochen und Monaten. Worte können meinen Dank nicht einmal annähernd ausdrücken. Ginva und Lena Dia - vielen Dank! Ihr wisst warum.

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