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Wir folgen ihm – ihm, dessen Gesicht noch niemand sah. Er trägt eine Laterne. Aus der weißen Kerze wachsen feine Nasen aus klebrigem Wachs, die Rotze des Feuers. Es geht nur bergab. Wir gehen schweigend. Still und friedlich wie Lämmer. Wieso wir mitgehen? Weil wir gesehen haben. Die Schuld, das Verwerfliche unserer Tat. Wir haben es alle verdient, das wissen wir, deshalb stapfen und stolpern wir ihm nach, durch die Nacht, immer abwärts über den glitschigen Pfad.Er bleibt stehen, dreht sich und zeigt uns das schwarze Nichts unter seiner Kapuze, die Stelle an der Mund, Nase und Augen sein sollten. Er fragt, ob jemand umkehren wolle. Niemand. Wir gehen weiter.

„Wieso hast du das getan?“, hatte sie gefragt. „Warum hast du das nur getan?“ Mein Schweigen. Das Unaussprechliche. Der vor mir hat sich in die Hosen gemacht. Später kniet er im Dreck vor dem gesichtslosen Mann. Winselt. Fleht um sein sofortiges Ende. Fordert unter Tränen die Befreiung von seinen Gedanken. Der Gesichtslose lässt ihn zurück, am Wegrand, erbarmungslos, kaltblütig.

Am Boden liegt ein Schädel, blank genagt von den Tieren. Ohne Skelett. Er wird unter unseren Schritten zermahlen zu Mehl. Je tiefer wir steigen, desto größer wird die Hitze, wir schwitzen und lassen nach und nach unsere Kleidung zurück. Die Ratten, vereinzelt, sie beißen nicht tief unter die Haut. Von hinten höre ich einen Mann laut beten. Monotones Gemurmel: „Ich glaube an Gott den Allmächtigen, den Schöpfer von Himmel und Erde.“ Ein anderer schreit den Betenden zusammen: „Halts Maul, Gott ist für die Guten, nicht für uns.“

Einer gibt mir einen glimmenden Stummel. Das Zigarettenpapier ist nass von seinem Speichel. Dann Lichter aus einem Abgrund. Leuchtfeuer. Verführerische Tiefe. Anziehend. Lockend. Es wäre ein leichtes zu springen. Hoffnung hält uns zurück. Wir marschieren weiter. Barfuss. Hoffnung, sinnlose Hoffnung. Auf ein milderes Ende. Begrifflose, leere Worthülse. Wert sie zu vergessen für immer. Impulsives Hoffen aus den Eingeweiden, die keinen vernünftigen Gedanken kennen. Rechts eine Leiche. Die Haut bewegt sich, wahrscheinlich von Maden und Würmern, die sich nicht darum kümmern, ob das Fleisch, das sie fressen, frisch oder morsch ist. Der Duft, der fade Geruch, der süße Gestank der Verwesung. Es steigt Neid auf, für den wurmstichigen Kadaver. Er hat es geschafft. Ruhe für ihn. Ruhe vor dem Gedanken, der ins Gehirn schneidet mit rostigen Klingen.

Dann die Sümpfe. Morastig. Wir stapfen im Schlamm. Im lauwarmen Wasser. Blutegel. Einer an meiner Wade. Obschon ich mein Blut verachte für das Leben, das es durch meine Venen trägt, reiße ich das Tier von meiner Haut. Blut fließt bis an den Knöchel. Mein Herz schlägt dumm in der Brust, unerreichbar für den gebieterischen Schrei der Vernunft, das Pochen abzustellen. Das einzig verlässliche am Körper. Die Füße. Mit jedem Schritt streben sie dem Ziel entgegen, der möglichen Chance. Einer von uns trägt, ansonsten nackt, Stiefel, als hätten seine Füße Zukunft.

Rast in der Kloake. Die Wiege ekligen schmierigen Lebens. Klebrige Fruchtbarkeit überall, legt sich auf unsere Haut. Das Beet für Bakterien und Viren. Ich habe alles gehabt. Das Leben hat mir nichts verwehrt. All die Jahre des Glücks. Erst jetzt wird mir bewusst, welchen Reichtum ich lebte. Die Made im Speck. Der treue Ofen der Zufriedenheit. Liebe, Leid, Lust. Worte wie viele mehr, gemästet mit Bedeutung für mich.
Es geht weiter bergab. Die Särge aus billigen Holz neben dem Pfad, aufgerichtet zu Pyramiden. Hunderte. „Wir gehören nicht zu denen, die sterben dürfen. Das sind Betten für die anderen.“, sagt einer.

Ihren schlanken Hals mit den hochgesteckten Haaren. Die kleinen wohlgeformten Ohren. Ihr Mund mit den vollen Lippen. Stete Quelle verbaler Glückseligkeit. Die weißen Zähne. Die Augen, funkelnde Perlen voll Licht und Freude. Ihre Brüste locken meine Hände. Ihr Lachen wie Musik. Ich sehe sie, wie sie sich schön macht vor dem Spiegel für den Abend. Unterwäsche, die ich nicht vergesse, selbst wenn sie angekleidet ist. Der Stich in der Brust weil ein anderer sie für Augenblicke beim Tanzen berühren darf. Die letzte Nacht, als wir einander auffraßen. Stundenlang. Tränen vermengt auf der Haut mit dem Schweiß der Liebe. Salz zu Salz. Ich werde sie nicht mehr sehen. Nicht in diesem Leben.

Zwischen Felswänden endlich ein Tor. Über dem Tor prangt ein mächtiges Schild mit der schütteren Aufschrift: „Alles ist erlaubt - außer Sterben.“ Einer von hinten schreit wie von Sinnen: „NEIN!“ Sein erbitterter Schrei für Sekunden gefangen, gefroren im Echo der Schlucht. Er bricht zusammen in den Schmutz und verstummt. Die anderen stehen unter Schock, versteinert. Starren mit leerem Blick und offenen Mündern auf die Schrift. Ich renne zurück mit aller verbleibenden Kraft, falle, raffe mich auf, renne Menschen in den Schlamm. Sieben Gesichtlose vor mir in der engen Furt der Felsen hindern meinen Weg. Sie ergreifen mich, treten mich hinab in den Boden und ziehen mich liegend durch das geöffnete Tor hinein.

Zu Beginn hat einer versucht die Tage zu zählen. Er ritze mit den Fingernägeln Kerben ins Holz der Baracke. Die Baracke brannte ab, weil sich einer mit Benzin übergossen selbst in Brand steckte und als Fackel in den Verschlag rannte. Einer der wenigen, die es geschafft haben. Seither treiben wir durch die Zeit, ohne Anker von dokumentierten Momenten, ohne Gefühl für Vergangenheit und Zukunft. Letztlich ist es nur die verhasste Gegenwart die zählt. Das jetzige, anwesende Widerwärtige vor dem Auge. Es wäre Labsal, das höchste Gut die Erinnerung zu verlieren. Wir zimmern Särge für die Guten.

Einer versucht es mit Aushungern. Frisst, geht in die Latrine und steckt sich den Finger in den Hals. Gebrochener Eintopf wohl drei Dutzend mal. Sie sehen alles. Füttern ihn intravenös mit Nährlösung. Einer erklimmt den fast senkrechten Felsen im Barackenhof, steigt fünf Meter und springt kopfüber, in der Hoffnung das Genick würde brechen. Er bleibt bis zur Brust im Schlamm stecken, tief genug um zu ersticken. Sie ziehen ihn heraus, zu zweit und waschen sein Gesicht.

Ich weiß nicht mehr, wem es zuerst aufgefallen ist. Erst war es nur eine Vermutung. Mit jedem Jahr wird es mehr und mehr zu Gewissheit: Wir altern nicht. Geknechtet in ewigen Qualen im endlosen Gedanken an unsere Schuld. Wir sehen uns nicht in die Augen. Wir reden in verzerrten Wortfetzen. Die lallenden Phrasen von Verdammten. Eine seltsame Sprache für Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben. Wir gehen gebeugt, gebrochen. Die Schuld gesühnt in einer Existenz, in der es verboten ist zu erlöschen. Es gibt größere Strafen als den Tod. Ich blicke in einen verfetteten Spiegel und sehe kein Gesicht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Resi&Alois Hannelore&Hans-Jürgen

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