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Bruder

»Wo ist dein Bruder, verdammt noch mal, Alma?«
Alma hörte den Schmerz in der Stimme der Mutter und sah von der Streichholzschachtel auf, die sie soeben zusammenklebte. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und trank einen Schluck Wasser. Die Julihitze machte das Wohnen in der Mansarde zur Qual. Erst tief in der Nacht kühlte die Luft in der kleinen Wohnung ein wenig ab, an erholsamen Schlaf war nicht zu denken. Das Jahr 1902 war das heißeste, an das sich Alma erinnern konnte. In keinem Sommer ihres Lebens hatte sie bisher so unter der Hitze gelitten.
»Träumste schön, Madamchen? Krieg’ ich mal ’ne Antwort?«, riss die Stimme der Mutter Alma aus dem erschöpften Tran, in dem die Gedanken so zäh wie Zuckerrübensirup tropften.
»Welcher Bruder?«, fragte sie, und nickte zum Schlafzimmer, wo der Jüngste schlief: »Is’ ja nur der Kleene hier.«
»Na, welcher denn wohl? Richard natürlich. Der Jupp, der Lollo und der Martin sin’ ja noch bis nach zehne inner Fabrik.«
»Bei Gatters im 2. Stock, glaub’ ich«, antwortete sie und zuckte mit den Schultern, sah im Augenwinkel, wie Mutter die Hand auf den runden Bauch drückte.
»Dann hol ihn, er soll gefälligst arbeiten«, befahl sie und trat zu der schmalen Pritsche in der Ecke, auf der die siebenjährige Ursula eingeschlafen war. »He, aufgewacht, Ursel. Du musst der Alma helfen.«
»Lasse doch schlafen, Mutta. Die Kleene is völlich fertich«, murmelte Alma und legte die fertiggestellte Schachtel in die Kiste zu den anderen.
Einen Groschen bekam man für 100 in Heimarbeit geklebte Schachteln von der Streichholzfabrik in Kreuzberg. Wenn alle mithalfen, schafften sie 150 Stück am Abend. Fünfzehn Pfennige, dafür dass Ursula, Richard, Josef, Lorenz, Martin, Mutter und sie selbst die halbe Nacht lang im Klebstoffdunst die dünnen Spanplättchen zu Zündholzpackungen zusammenfügten. Eineinhalb Groschen, die man in einen dreiviertel Liter Milch oder fünf Eier investieren konnte. Für acht – bald neun – hungrige Mäuler war das viel zu wenig. Wenn die Mutter nicht mindestens vier Tage pro Woche in einem Hinterhofbordell im Wedding anschaffen ging, mussten sie hungern.
»Och, dit Madamchen will nix zwischen die Zähne, wa?«, höhnte die Mutter und rüttelte Ursula wach, die unwillig brummte und nach der Hand auf ihrer Schulter schlug. »Hat dein Liebster dir jeflüstert, dass de fett wirst?«
»Ick hab’ keen Liebsten nich. Ick geh mal den Richard holen.« Alma erhob sich und deutete auf den Bauch der Mutter, den diese unablässig rieb. »Wasn los? Will dit Kleene raus?«
»Ja, ick gloobe, der Bastard macht sich uffn Weg.«
Alma seufzte tief und nickte, bevor sie die Treppe von der Mansarde in den 5. Stock hinunterstieg. Aus dem Klo auf halber Treppe kamen würgende Geräusche und sie wusste, wer später am Abend wieder einmal das Erbrochene des Mieters von 5a wegwischen durfte: Alma Baluscheck, genannt die feuerrote Alma, 16 Jahre alt, und auf wundersame Weise für alles verantwortlich.
Blöder Suffkopp, dachte sie und überlegte, was zu tun war, wenn der jüngste Baluscheck-Spross tatsächlich in dieser Nacht zur Welt kam. Zunächst musste sie Richard finden, dann das Abendbrot für die älteren Brüder auf den Tisch bringen, Ursel zu Bett schicken, der Mutter bei der Niederkunft beistehen, zwischendurch die Sauerei im Klo beseitigen und noch ein paar Streichholzschachteln kleben. Alma hielt inne und lehnte sich an die Wand auf dem Treppenabsatz. Die Tränen kamen ebenso überraschend wie heftig und sie musste sich setzen, weil ihr die Knie weich wurden.
»Wasn mit dir los?«, fragte eine wohlbekannte Stimme und Alma sah Fritz Sagelsberg aus der 4. Etage ein halbes Stockwerk unter ihr stehen.
Alma mochte ihn. Der Nachbarsjunge, ein Jahr älter als sie, ausgestattet mit einem großen Herzen und einer noch größeren Klappe, hatte sich einen besonderen Platz in ihrer kleinen Welt erkämpft. Er war der Einzige, dem sie all ihre Sorgen, Hoffnungen und Träume anvertraute, in dem Wissen, dass er ähnlich dachte wie sie.
Das Holz knarzte, als Fritz, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe nach oben kam und sich neben sie auf den Treppenabsatz fallen ließ.
»Nix«, schluchzte Alma und wischte sich den Rotz am Ärmel ab.
»Watt solln dit? Seit wann lüüchste mich denn an, feuerrote Alma?«, fragte er und entfernte eine nassgeheulte und vielleicht sogar vollgerotzte Strähne roten Haares aus ihrem Gesicht.
»Die Mutti kriegt noch’n Balg, heut’ Nacht noch. Ich muss noch hundert Streichholzschachteln kleb’n, das Abendbrot für alle mach’n, der olle Meixner hat mal wieder das Klo vollgekotzt, ich werd’ keine Stunde schlafen und muss morgen unbedingt in der Schneiderei aufkreuzen, sonst schmeißen die mich achtkantig raus. Ich war schon die ganze Woche nich’, weil die Ursel krank war und wegen Mutter und dem neuen Balg.« Es dauerte, bis all das Elend, unterbrochen von unzähligen Schluchzern, gebeichtet war, doch Fritz schien alle Zeit der Welt zu haben.
»Det volljekotzte Klo übernehm ich«, bot er an und streichelte über ihre Schulter. »Haste Hunger? Ick hab ’n paar Hundekuchen ausse Fabrik mitgehen lass’n. Schmecken gar nich’ mal so jut.«
Alma musste, trotz der Tränen, lachen und gab ihm einen sanften Schubs, bevor sie wieder ernst wurde: »Die Mutta sagt, ick soll für sie anschaff’n geh’n, solang’ sie im Kindbett ist. Icke wär’ jetzt alt jenuch.«
»Dit jibs ja janich, dit hat die Olle jesacht?«, murmelte Fritz. »Nee, dit machste nich, oder, feuerrote Alma?«
Alma trocknete die letzten Tränenspuren und zuckte mit den Schultern: »Ick weeß nich’, ob ich ’ne Wahl hab’. Von irjendwoher muss ja die Kohle kommen, wa? Und et liecht inner Familie – die Tante in Rummelsburg vakooft sich ooch, wenn’s Geld mal wieder knapp is’.«
Sie verbarg das Gesicht in den Händen und holte tief Luft. Fritz sollte nicht sehen, wie sehr sie sich schämte. Alma Baluschek, dumm geboren und nichts dazugelernt, schmeißt ihre mühsam erkämpfte Schneiderlehre hin und tritt in die Fußstapfen ihrer Mutter, der berühmt-berüchtigten Therese Baluscheck. Diese war eine in Gesundbrunnen und im Wedding wohlbekannte Dirne aus altem Berliner Hintertreppenadel, und hatte acht Kinder von acht anonymen Freiern in die Welt gesetzt. Immerhin an Almas Erzeuger erinnerte sie sich lebhaft, der feuerroten Haare und der unzähligen Sommersprossen wegen, die Alma von ihm geerbt hatte. Sie wusste, dass er Henry hieß und Engländer oder Ire war. Damals hatte sich Therese Baluscheck noch als »Mademoiselle Genevieve« im vornehmen Salon Gigi in der Nähe des Kommandantenhauses teuer verkauft. Doch nun, zweiundzwanzig Jahre später, reichte es nur noch für eine billige Absteige in einem Hinterhof im Wedding.
»Hömma, du hast drei Brüder, die schuft’n alle inner AEG. Da muss doch Asche rüberwachsen«, unterbrach Fritz ihren düsteren Gedankengang.
Alma schüttelte den Kopf: »Das reicht nicht. Der Lollo vazockt alles auffer Rennbahn, Jupp vasäuft das Meiste und von Martins Lohn alleene könnwa nich’ leb’n. Deswegen kleb’n wa ja jede Nacht die dämlichen Streichholzschachteln.« Alma hielt inne und knibbelte einen Klebstoffrest vom linken Zeigefinger, atmete dann tief ein und fuhr leise fort: »Der Flossen-Winfried kann mich in ’nem Salong unterbring’n, für den Hinterhofpuff im Wedding wär’ ich zu schade. Die Kerle steh’n auf Rothaarige mit Sommersprossen, hat er jesacht.«
»Der Flossen-Winfried ... dit is auch so ’ne Flaume. Mann, Mann, feuerrote Alma, du bringst mir janz schön inne Bredullje«, seufzte Fritz und legte den Arm um sie.
»Nee, nur ins volljekotzte Scheißhaus,« erwiderte sie mit einem Grinsen und befreite sich aus seiner Umarmung. »Ick muss den Richard hol’n, sonst kriegt die Mutta det Kleene noch ohne mir.«
Alma stand auf und sprang die Treppen hinunter.
»Warte!«, rief Fritz nach ein paar Sekunden und holte sie im 3. Stockwerk ein. »Watt hältste davon, wenn ... wenn wir uns vadünnisieren? Wir zwo? Ick hab ’nen Onkel in Stuttgart, der is’ sogar Schneider und braucht bestimmt Hilfe inner Werkstatt. Hundekuchen kann ick ooch in Stuttgart inner Fabrik herstellen, wa?« Er grinste und zuckte mit den Schultern. »Besser, als sich zu vakoofen, Kleene, findste nich?«
»Allet is’ bessa, als sich zu vakoofen, Fritz.«
»Eben. Als deine Olle so alt war wie du, hat se schon im Salong Gigi den ersten Brat’n inne Röhre jekriecht, den Martin. Und nu kiek dir an, wo det hinjeführt hat. Willste das wirklich, Alma?«
»Nee, du Flitzpiepe, will ick nich. Aber ick werd müss’n.«
»Dann geh’n wa«, entschied er und sah mit einem Mal ernster und erwachsener aus. »Uns hält hier doch nix. Morgen früh um sechs. Ick hab jenuch Asche für zwee Fahrscheine nach Stuttgart.«
Alma nickte und fiel ihm spontan um den Hals.
»He, allet wird juht, feuerrote Alma, ick vasprech’s, wa?«
Sie nickte noch einmal, drehte sich um und rannte den Flur hinunter zur Wohnung der Familie Gatter. Sie hatte sich viel zu lange aufgehalten.

Die Nacht erschien endlos, die Geburt zog sich zäh bis in die frühen Morgenstunden. Lollo und Jupp hatten sich gleich nach dem Abendbrot verkrümelt, während Martin seufzend Spanplättchen und Klebstoff zu sich gezogen hatte und gegen zwei Uhr morgens mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen war. Ursula und Richard waren bereits um Mitternacht zusammengeklappt. Um halb vier schlief Alma im Bett der Mutter ein, erwachte bei jeder Wehe, um sofort nach deren Abklingen wieder einzuschlafen. Zwei kurze Minuten Schlaf, endlose 60 Sekunden wach, zwei kurze Minuten Schlaf, endlose 60 Sekunden wach. Um fünf schrie Therese so laut, dass sie jetzt pressen müsse, dass der volltrunkene Meixner ein Stockwerk tiefer mit dem Besen erbost gegen die Decke hämmerte.
Eine Viertelstunde später erblickte das achte und hoffentlich letzte Kind der Dirne Baluscheck die Welt.
»Es ist wieder ein Junge, Mutta«, sagte Alma leise, nabelte ihn ab und legte ihn seiner Mutter an die Brust.
»Nimm das Balg da wech und gib mir was zu trink’n, verflucht, Alma!«, stöhnte Therese und gestikulierte nach dem Wasserkrug auf dem Waschtisch.
Alma tat wie geheißen, während Erschöpfung und Schlafentzug das Mitleid mit dem kleinen Jungen ins Unendliche wachsen ließen. Er hatte noch viele elende Jahre vor sich, bis er die Mansardenwohnung in der Ackerstraße hinter sich lassen konnte. Sie selbst würde dem Milljöh noch heute den Rücken kehren, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
»Wie soll er denn heiß’n?«, fragte sie und wickelte den schreienden Säugling in ein altes Handtuch.
»Mir scheißegal. Such du ’nen Namen aus.« Therese schloss die Augen, stöhnte laut, presste, und entledigte sich der Nachgeburt.
Alma wandte sich ab, denn das viele Blut löste ein leichtes Schwindelgefühl aus.
»Dann soll er Felix heiß’n. Das bedeutet ›der Glückliche‹, das hat mir die Jette aus der Schneiderei erzählt«, sagte sie, befeuchtete einen Lappen und wischte dem Bruder Blut und Käseschmiere aus dem Gesicht.
Therese machte ein ebenso abfälliges wie höhnisches Geräusch und streckte dann die Arme nach ihrem Sohn aus: »Gib schon her, dit glückliche Balg. Det Gewinsel hält man ja im Kopp nich’ aus.«
Alma überreichte Felix seiner Mutter und ging in die Kammer, die sie sich mit Ursula und Richard teilte. Irgendwann, gegen drei Uhr morgens, hatte sie ihr Bündel gepackt. Nun holte sie es unter dem Bett hervor und schlüpfte leise aus der Mansarde.
Ich wünsche dir nur das Beste, kleiner Felix, dachte sie, Martin wird sich um dich kümmern. Und um Ursel und Richard.
Alma erreichte die Tür der Wohnung 4b und klopfte zaghaft. Fritz öffnete und drückte ihr umstandslos einen Koffer in die Hand: »Haste allet?«
»Ja.«
»Und? Dem Jeplärre die janze Nacht nach hat die Olle jeboren, wa?«
»Ja, ein Junge, Felix heißt er.«
»Herzlichen Glückwunsch, Kleene«, sagte Fritz mit einem Lächeln.
»Glückwunsch? Wozu? Zu ’nem Bruder, den ich nie kennenlern’?«, fragte Alma, drehte sich um und schaute ein letztes Mal hoch in Richtung Mansarde.
»Irjendwann komm’ wa wieda, wenn wa glücklich jeworden sind. Und dann kiek’n wa, und dann machwa ihn glücklich, den kleenen Felix, dit versprech ick«, sagte er und drückte tröstend ihre Schulter.
Alma nickte und machte sich auf den Weg zur Haustür. Fritz folgte ihr und pfiff eine Melodie, so schräg, dass sie einen Moment brauchte, bis sie wusste, welches Lied es war.
»Schön ist die Welt, drum, Brüder, lasst uns reisen, wohl in die weite Welt, wohl in die weite Welt«, sang sie leise mit und lachte dann.

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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2018

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