Seine Schritte hallten durch die Krankenhausflure, irritierend laut und übermäßig hektisch. Als er den Gang erreichte, in dem ihr Zimmer lag, zwang er sich dazu, langsamer zu werden. Vor der Tür des Stationszimmers blieb er stehen und grüßte, besprach sich kurz mit Schwester Maria Ignatia und sicherte einen weiteren, offiziellen Besuch am Nachmittag zu.
Die wenigen Schritte bis zur Tür mit der Nummer 31 zogen sich wie Gummi, Angst umklammerte sein Herz. Fast lautlos betrat er den nüchternen Raum, den einzigen Ein-Bett-Raum der Station, ein Sterbezimmer. Das Sterbezimmer.
Sacht klickte die Tür ins Schloss und er trat näher, sein Blick zwischen ihrem Gesicht und dem Kreuz an der Wand hin und her fliegend.
»Guten Morgen«, sagte er leise. »Du siehst blass aus.«
Der Anflug eines Lächelns minderte die Spuren von Krankheit und Erschöpfung in ihrem Gesicht, und sie öffnete die Augen.
»Guten Morgen«, wisperte sie und versuchte erfolglos, den Kopf vom Kissen zu heben.
»Nein, nein, bleib einfach liegen.«
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an ihre Seite, legte seine Hand über ihre.
»Wie geht es dir?«, fragte er und zwang sich zu einem Lächeln.
»Nicht besonders gut.« Ihre Stimme war schwach und tonlos, ganz anders, als er sie kannte.
»Das sehe ich.«
Sie nickte und er bemerkte, dass ihre Augen feucht wurden, dass sie gegen die Tränen ankämpfte, genau wie er.
»Gestern Abend, nach dem Gebet, habe ich die Fotoalben herausgesucht und eine Reise in die Vergangenheit unternommen«, erzählte er nach ein paar Sekunden Stille. »Ich habe mich an den Sommer 28 erinnert. Weißt du noch, das Sommerfest bei den Grafen Wachenheim?«
Sie lächelte und nickte schwach. Dort, auf der Geburtstagsfeier der Grafenmutter, hatten sie sich kennengelernt. Sie war Hilfsköchin, er der frisch ins Amt berufene Pfarrer, der sie in Tränen aufgelöst am Dienstboteneingang auffand. Sie weinte, weil ihr ein ganzes Blech voll Salzburger Nockerln verbrannt war und die Köchin sie aus der Küche geworfen hatte. Anstatt sich wieder der vornehmen Gesellschaft zuzuwenden, tröstete er sie und legte, wenn auch vergebens, ein gutes Wort bei der Hausdame für sie ein.
»Mein Vater hat mich halb tot geprügelt, als er erfuhr, dass Graf Wachenheim mich zum Monatsende auf die Straße setzt«, flüsterte sie und er spürte, wie sich ihre Hand unter seiner verkrampfte.
»Ich weiß«, murmelte er und dachte an den Schmerz, den er empfunden hatte, als er sie am Sonntag darauf in der Kirche sah.
Sie trug ein riesiges Veilchen und eine aufgeplatzte Lippe zur Schau und beteuerte, sie sei die Kellertreppe hinuntergefallen, eine Lüge, die er seit diesem Tag unzählige Male gehört hatte. So viele Frauen, so unterschiedliche Schicksale – und immer das Märchen von der Kellertreppe. Sie müsste als eine Art der Inkarnationen des Teufels in der Heiligen Schrift aufgeführt sein, wäre sie tatsächlich für all das Leid verantwortlich, das ihr zugesprochen wurde.
In den folgenden Monaten begegnete er der jungen Frau immer wieder, in den Gottesdiensten, am Sterbebett ihrer Großmutter, in der Suppenküche, in der sie nach ihrer Entlassung aus dem gräflichen Gesinde Arbeit gefunden hatte.
Er räusperte sich und blätterte für ein paar Minuten still durch die Erinnerungen in seinem Kopf, Bilder der ersten Monate. Sie, die zwanzigjährige Tochter eines trunksüchtigen Altwarenhändlers und er, der jüngste Sohn des Freiherrn von Tegerfelden, 27 Jahre alt, den Ruf von Kindesbeinen an hörend und ihm zielstrebig folgend. Sie, damals kaum des Lesens und Schreibens mächtig, er, der studierte Theologe. Und doch berührte sie sein Herz, von der ersten Stunde an, und hatte niemals damit aufgehört.
»Ich habe die Fotografie betrachtet, die anlässlich der Abschiedsfeier von Frau Feiler angefertigt wurde. Die Salzburger Nockerln, die du damals gebacken hattest, waren perfekt gelungen.«
»Ich erinnere mich«, antwortete sie. »Vermutlich hast du mich deswegen an diesem Abend gefragt, ob ich deine neue Haushälterin werden wolle.«
»Ich habe niemals großen Wert auf Süßspeisen gelegt«, lächelte er und fügte in Gedanken hinzu: ›Nur auf dich‹.
»Nun, wenn es etwas gibt, das ich sicher weiß, dann das. Immerhin führe ich dir seit über 25 Jahren den Haushalt«, flüsterte sie und schloss die Augen.
»Eine sehr lange Zeit, nicht wahr? Aber es war immer schön, voller Frieden und Harmonie«, murmelte er und wischte sich mit der freien Hand die Tränen von den Wangen.
»Es hätte anders noch besser sein können«, wisperte sie und er starrte auf das Kreuz, das für sie beide Fluch und Anker zugleich war.
»Der Herr hatte wohl andere Pläne mit uns.«
»Und seine Wege sind unergründlich«, ergänzte sie leise.
Während er sich gestattete, ihre Hand zu streicheln, dachte er über die Kriegsjahre nach. An dem Tag, an dem er einberufen wurde, hatte er sich für immer von ihr verabschiedet. Er ging fest davon aus, dass sie nach Kriegsende verheiratet war, mit einem Soldaten, der sie lieben durfte. Doch als er nach Jahren der Generalabsolutionen, Feldmessen, Massenkommunionen und nach tausenden Trostbriefen an trauernde Hinterbliebene aus dem Krieg zurückkehrte, war sie immer noch die Pfarrhaushälterin und hatte sich in seiner Abwesenheit um seine Vertretung, den uralten Pater Eligius, gekümmert.
»Damals, im Herbst 45, als ich zurückkam – erinnerst du dich an den Tag?«, fragte er und sie wandte ihm den Kopf zu.
Ihre Augen öffneten sich und sie lächelte.
»Ja. Das Wetter war genauso grau und neblig wie heute. Du hast die Haustür hinter dir geschlossen und wir haben uns lange stumm angesehen. Ich habe genickt, zum Zeichen, dass wir alleine sind. Dann hast du mit drei großen Schritten den Flur durchquert und mich in deine Arme gezogen.«
»So war es. Ich konnte mein Glück kaum fassen«, flüsterte er und wischte sich abermals eine Träne aus dem Augenwinkel.
Er erinnerte sich deutlich an das Gefühl, endlich wieder vollständig zu sein, an die Dankbarkeit, die er empfunden hatte, weil sie beide noch lebten. Die Erleichterung, das erlösende Aufatmen darüber, dass sie weder verlobt noch verheiratet war, konnte er heute noch spüren, und er schämte sich dafür, ihr das Glück einer Ehe heimlich missgönnt zu haben. Die durch und durch selbstsüchtigen Motive, die ihn dabei antrieben, verschlimmerten die Qual noch. Nur weil er es nicht sein durfte, der ihr dieses Geschenk machte, hatte sie es doch trotzdem verdient.
Er sah das Bild vor sich, den düsteren Flur mit der dunklen Holztäfelung, seine abgemagerte Gestalt, die in Zivilkleidung steckte und diese Frau an sich presste, als sei sie ein Rettungsring in aufgewühlter See. Sie trug einen blauen Rock, löchrige Wollstrümpfe und eine viel zu große Strickjacke. Ihre Frisur war dabei sich aufzulösen und ein Rußfleck zierte ihre Wange. Und doch war sie die schönste Frau, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte.
»Ich säuberte gerade die Holzöfen, ich war schmutzig und verschwitzt. Dann hörte ich die Haustür aufgehen und … oh Gott. Ich war so glücklich. Ich habe dich sofort erkannt, obwohl du so schmal geworden warst.« Sie atmete aus und fuhr fort: »Um ein Haar hättest du mich geküsst. Und mir fast gesagt, dass du mich liebst.«
Er erstarrte für eine Sekunde, schluckte schwer. Das zusammenhanglose Gestammel, das aus seinem Mund gesprudelt war, unterbrochen von Gebetsfetzen und tränenlosen Schluchzern, zählte sicherlich nicht zu den Sternstunden der Liebeserklärungen. Es war überhaupt nie eine gewesen, vor allem, weil es keine sein durfte. Trotzdem hatte sie ihn verstanden und gnädig den Mantel des Schweigens darüber gehüllt, fünfzehn Jahre lang, bis heute.
»Ich wusste schon 1930, nach Vaters Beerdigung, dass du mich liebst. Du hast niemals so sehr darum kämpfen müssen, die Abneigung gegenüber einem deiner Schäfchen zu unterdrücken wie an diesem Tag. Du hast ihn verachtet, weil er mich behandelt hat wie den letzten Dreck. Ich konnte dir ansehen, dass du seinen Leichnam lieber geohrfeigt hättest als In paradisum für ihn anzustimmen. Und ich hoffe, dass du es für mich mit etwas mehr Enthusiasmus singen wirst.«
»Lina …«, flüsterte er und schüttelte den Kopf.
»Nein, schon gut. Weißt du, ich habe einen Wunsch.«
»Welchen?« Er schluckte schwer und schob den Gedanken an ihren Tod so weit wie möglich von sich.
»Ich möchte zuhause sterben. Ich will bei dir sein, wenn ich heimkehre.«
»Du wirst nicht …«, setzte er an, doch sie winkte ab.
»Ich werde, ich kann es fühlen. Ich bin müde, Ludwig.« Sie schenkte ihm ein kleines, resigniertes Lächeln und fuhr fort: »Ich kann es kaum erwarten, ihn dort oben zu fragen, warum er uns so gequält hat.«
»Es war keine Qual. Wir hatten ein schönes Leben, wir haben einander.«
»Aber wir durften uns nicht lieben. Ich will, dass er mir erklärt, was daran so falsch sein kann, dass er nicht wollte, dass wir diese Liebe leben.«
»Ihn trifft doch keine Schuld. Die Kirche will es so«, antwortete er, beugte das Haupt und presste ihren Handrücken an seine Stirn, während er betete.
»Wirst du mich nach Hause holen?«, fragte sie, nachdem er geendet und ihre Hand sanft auf das Laken gelegt hatte.
Bevor er antworten konnte, klopfte es leise an der Tür.
»Hochwürden?«
»Ja, Schwester?« Er erhob sich und drehte sich um, schenkte Maria Ignatia ein freundliches Lächeln.
»Es tut mir leid, aber Frau Bach in der 17 …«
»Das ist in Ordnung. Ich komme sofort. Wären Sie so nett und würden mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Bitte packen Sie doch hier zusammen. Ich nehme Fräulein Weidinger mit ins Pfarrhaus, wenn ich bei Frau Bach fertig bin.«
»Aber«, setzte Maria Ignatia an, doch er schüttelte den Kopf: »Ich weiß, was ich tue. Die Runde heute Nachmittag wird leider doch ausfallen müssen, Schwester.«
Dann drehte er sich zu Lina um und atmete tief ein: »Es ist mir Bedürfnis und Ehre zugleich, Fräulein Weidinger nach Hause zu bringen.«
»Natürlich. Ich kümmere mich um alles«, murmelte Maria Ignatia und schloss die Tür.
»Was denkst du, Lina, wie viele Tage bleiben uns noch?«, fragte er und starrte aus dem Fenster in den grauen Himmel.
»Nur noch dieser. Morgen bin ich nicht mehr da, glaube ich.«
Er wusste, nach unzähligen Jahren der Sterbebegleitung, dass Sterbende recht häufig spürten, wie viel Zeit ihnen noch blieb, nicht selten sogar auf die Stunde genau.
»Dann sollte ich mich besser beeilen«, lächelte er gequält, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. »Du hast ganz recht: Ich hätte dich wirklich fast geküsst, damals, als ich heimgekehrt bin.«
»Ich weiß. Ich konnte spüren, wie sehr du mit dir gekämpft hast.«
»Nun werden wir es anders machen. Wenn du heute heimkehrst, werde ich dich in den Armen halten und dich küssen.«
»Das klingt zu schön, um wahr zu sein, Ludwig.« Lina seufzte tief und starrte an die Decke. »Letzte Woche waren es 15 Jahre, dass du aus der Gefangenschaft zurückgekommen bist«, flüsterte sie und er nickte: »Ja, du hast recht. 15 Jahre sind es schon und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke und mich frage, ob es richtig war.«
»Ob es richtig war, mich nicht zu küssen, die Soutane wieder anzuziehen und dem Weg weiterhin zu folgen?«
»Ja. Genau das.«
»Natürlich war es das, Ludwig. Und jetzt geh. Deine Schäfchen brauchen dich, so wie sie dich immer gebraucht haben.«
Drei Stunden später trug der Pfarrer seine bis auf die Knochen abgemagerte und vom Krebs ausgezehrte Haushälterin über die Schwelle des Pfarrhauses, ganz so, als seien sie Braut und Bräutigam. Behutsam stellte er sie am Fuß der Treppe ab, blieb, bis sie festen Stand hatte. Dann ging er zurück zur Haustür und schloss sie, drehte sich um und wartete auf ihr Zeichen. Sie nickte und mit drei langen Schritten war er bei ihr, zog sie vorsichtig an seine Brust und weinte die Tränen, die er damals nicht hatte weinen können. Während des Krieges war er fünf Jahre weg gewesen, sie jetzt nur sechs unendliche Wochen. Plus die Ewigkeit, die ab dem nächsten Tag beginnen würde.
»Lina«, flüsterte er. »Endlich. Ich habe dich so sehr vermisst. Bitte verzeih mir, ich wollte all das nicht. Ich wollte immer nur dich.«
Das Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, nahm abermals die Spuren der Krankheit und des nahenden Todes von ihr. Sie sah wieder jung aus, strahlend und fröhlich, sie wirkte wie damals, als sie in der Suppenküche Gutes tat, und er sich endgültig in sie verliebte: zupackend, kraftvoll, voller Empathie und ihr großes, weiches Herz niemals versteckend.
»Ich habe dich auch vermisst. Und es gibt nichts zu verzeihen«, antwortete sie und seufzte, als sich seine Lippen zärtlich auf ihre legten.
Es war nur ein unschuldiger Kuss, sanft und kurz, aber es war ein Kuss, genau der, von dem er auf der Heimreise aus der Gefangenschaft Tag und Nacht geträumt hatte. Noch einmal hob er sie hoch und trug sie die wenigen Meter in sein Schlafzimmer. Er legte sie in sein Bett und machte es ihr so bequem wie möglich. Nach kurzem Nachdenken schloss er die Vorhänge, trat sich die Schuhe von den Füßen und quetschte sich zu Lina auf die schmale Matratze.
Flüsternd ließen sie ihr gemeinsames Leben Revue passieren, bis Lina immer weniger sagte, stiller wurde, und er alleine das Reden übernahm, unterbrochen von Pausen, in denen er auf ihre zunehmend flachere Atmung lauschte. Gegen Abend reagierte sie nicht mehr, wenn er sie ansprach, also zog er sie noch fester in seine Arme und bekannte, für sich und für Lina, wie sehr er sie liebte.
Als sie heimgegangen war, wenige Minuten vor Mitternacht, den letzten gemeinsamen Tag bis ganz zum Schluss ausdehnend, wischte er sich die Tränen aus den Augen, holte tief Luft und begann »In paradisum« für sie zu singen.
Voller Inbrunst und Enthusiasmus. So, wie Lina es verdient hatte.
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2017
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