Aufatmend ließ sich Marthe auf den knarzenden Stuhl fallen – und bereute den tiefen Atemzug sofort, die feuchte Luft im Gastraum stank erbärmlich nach ungewaschenen Menschen und Pfeifenrauch. Aber es war warm und sowohl sie als auch Fritz und Liesbeth waren durchgefroren. Sie hatte sich den letzten freien Tisch im Raum gesichert, ganz hinten in einer Ecke, im Halbdunkeln. Die Hoffnung, die Wirtstochter würde sie erst einmal nicht bemerken und damit den Aufenthalt in der Wärme verlängern, erfüllte sich. Mit einer geschickten, tausendfach geübten Handbewegung entblößte Marthe die linke Brust und legte die wimmernde Liesbeth an. Ihren rechten Arm legte sie um Fritz, der sich an sie drängte.
„Hunger, Mama“, sagte er und Marthe nickte, rückte ihm den Stuhl heran und half ihm einhändig hinauf.
Die Stuhlbeine schabten über den Holzboden, als Marthe Fritz näher zog und er ihre rechte Brust aus dem Stoff befreite. Marthes Hand bedeckte seinen kleinen Kopf so gut wie möglich, sie zog ihre Jacke über die Köpfe beider Kinder, doch die Gäste hatten anderes zu tun, als in die dunkle Ecke zu schauen. Fritz war schon lange abgestillt gewesen und die Muttermilch war nur eine Notlösung für den Dreijährigen, doch Marthe wusste sich nicht mehr anders zu helfen. Besser ein bisschen warme Milch im Bauch als gar nichts.
Marthe schloss die Augen und ließ die Kinder trinken, ließ ihre Gedanken wandern, sechs Monate zurück. Sie dachte an ihr letztes Gespräch mit Ludger, an den Moment, an dem sie am Erkerfenster ihres gemieteten Zimmers saß und hörte, wie er geköpft wurde, hörte, wie die Menschenmenge jubelte. Sie vermisste ihn furchtbar und heute war Ludgers Geburtstag. Wäre es gewesen. Hier, in diesem Wirtshaus am Rand der Alpen, hatten sie sich alle wiedertreffen wollen, nachdem Gras über die Sache mit den gestohlenen Briefen gewachsen war, heute, am 16. Dezember 1786. Deswegen war sie hier. Sie wartete auf Johannes mit Sidonie und ihrem gemeinsamen Kind, Michel, Norman, Gabriel und Ludger. Doch sie alle waren gegangen, tot und begraben, und hatten Marthe mit ihren Kindern alleine gelassen. Nun standen die längsten und vermutlich kältesten Nächte des Winters bevor, Marthe war pleite und hatte kein Zuhause. Vielleicht würden sie erfrieren. Vielleicht würde sie Ludger bald wiedersehen, in der Hölle, bei den Teufeln. Sie, die sonst nicht zu Sentimentalitäten neigte, weinte bittere, stumme Tränen um die Liebe ihres Lebens, den Vater ihrer Kinder. Sie hatte alles klaglos ertragen, was seit der Verhaftung der Männer passiert war. Sie hatte sich verkauft, hatte ihre Kinder so gut es ging ernährt, doch nun war sie am Ende. Am Ende ihrer Kraft und am Ende ihres Geldes. Das Hurenhaus war rappelvoll und man hatte sie weggeschickt. Es gab kein freies Bett für sie, nicht einmal für die Kinder, obwohl sich Marthe, ganz entgegen ihrer Natur, die Seele aus dem Leib gebettelt hatte. Irgendwann in den nächsten Nächten würde sie einschlafen und nicht mehr aufwachen. Eigentlich konnte sie nur noch hoffen, dass Fritz und Liesbeth gemeinsam mit ihr, in derselben Nacht, erfrieren würden. Sie wollte nicht, dass sie morgens wach wurden und ihre eiskalte, tote Mutter fanden. Die Vorstellung, was in diesem Fall mit den beiden passieren würde, war so schrecklich, dass Marthe den Gedanken wieder von sich schob. Sie durfte nicht zuerst sterben. So einfach war das. Die drei Hemden, die sie unter dem Kleid trug und die dreckige, stinkende Männerhose, die sie vor ein paar Tagen in einer Scheune gefunden hatte, würden sie warm genug halten. Im Zweifelsfall durfte sie einfach nicht schlafen. Wer nicht schlief, erfror nicht.
„Bestellung?“, fragte eine weibliche Stimme und Marthe fluchte innerlich.
Die Gnadenfrist war vorbei, die Wirtstochter hatte sie entdeckt und musterte sie mit kühlem Blick, blieb dann mit den Augen an den beiden Ausbuchtungen unter Marthes Jacke hängen.
„Eine kleine Schüssel von der dünnen Suppe und eine Scheibe Brot“, bestellte Marthe und die Wirtstochter nickte, drehte sich um und ging zum nächsten Tisch.
Noch einmal schloss Marthe die Augen, konzentrierte sich auf das Gefühl an ihren Brüsten, hoffte, dass ihre Milch nicht versiegen würde. Doch sie wusste, dass das früher oder später der Fall sein würde, wenn sie nicht ordentlich aß. In den letzten sechs Monaten hatte sie abgenommen, das Kleid war mittlerweile deutlich zu weit und hing an ihr wie ein Sack. Vielleicht einer der Gründe, warum sie immer weniger Freier hatte. Sie war schlecht angezogen und hatte den Großteil ihrer Kurven eingebüßt. Es klapperte, als die Schüssel mit der Suppe auf den Tisch gestellt wurde. Mit einem leisen „Plopp“ ließ Fritz ihre Brustwarze los und wandte sich dem Tisch zu. Die hochgezogenen Augenbrauen der Wirtstochter verrieten ihre Missbilligung, doch sie sagte nichts. Noch nicht. Marthe packte die rechte Brust wieder unter die drei Lagen Hemden, zog das Kleid hoch und nahm den Löffel in die Hand. Sie aß, von Fritz mit großen Augen beobachtet, einen Löffel Suppe und biss eine kleine Ecke von der Brotscheibe ab. Dann schob sie ihm Schüssel, Löffel und Brot zu.
„Iss, Fritzi. Aber langsam. Wenn du aufgegessen hast, müssen wir gehen und wir wollen so lange wie möglich im Warmen bleiben, nicht wahr?“
Marthes Magen schmerzte vor Hunger und der Löffel Suppe und der eine Bissen Brot konnten daran nichts ändern. Fritz nickte und griff nach dem Löffel, rührte in der Suppe herum, eine Fleischbrühe, die so dünn war, dass sie den Namen „Brühe“ schon gar nicht mehr verdient hatte. Ein einsames, daumennagelgroßes Stück Steckrübe schwamm neben einer Fleischfaser. Fritz balancierte den Löffel vorsichtig zu seinem Mund, sorgsam darauf bedacht, keinen Tropfen zu verschütten. Langsam und genießerisch schlürfte er den Löffel leer und Marthe lächelte. Wenigstens der Junge würde einigermaßen satt werden, den Bauch voller Milch und warmer Brühe.
Stuhlbeine schabten über den Boden und Marthe nahm im Augenwinkel wahr, dass sich großer, breiter Mann mit einem Schlapphut auf dem Kopf zu ihnen an den Tisch setzte. Das Lokal war voll bis auf den letzten Platz, da konnte man nicht darauf hoffen, lange alleine zu bleiben.
„Langsam, Fritzi“, mahnte Marthe, ohne sich weiter um den neuen Gast zu kümmern. „Lass dir Zeit.“
„Was willst?“, fragte die herbeigeeilte Wirtstochter den Mann und Marthe wunderte sich, dass er so schnell bedient wurde.
Dem unfreundlichen Tonfall entnahm sie, dass er hier nicht gut gelitten war – vermutlich wollten sie ihn so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Was gibt’s heut?“ Seine Stimme war dunkel und leise, kaum zu verstehen unter dem Lärm in der Schankstube.
„Eintopf mit Kraut und Rindfleisch.“
„Bringst mir a Schüssel und zwoa dicke Scheibn Brot.“
Ein paar Tische weiter entbrannte ein Streit, doch die Wirtstochter kümmerte sich zu Marthes Erstaunen nicht darum, ging in die Küche und servierte – oh, Wunder – eine Schüssel Eintopf und zwei dicke Scheiben Brot. Sofort. Er hatte keine drei Minuten gewartet. Jetzt war sich Marthe sicher, dass man diesen Gast so schnell wie möglich wieder loshaben wollte. Leider hatte sie über ihre Beobachtungen vergessen, Fritz zur Langsamkeit zu mahnen. Die Schüssel war leer und er schob sich den letzten Bissen Brot in den Mund.
„So, wenn i dann glei abkassiern dürft? Oder wollts ihr noch was bestellen?“
„Ich wollte noch ein bisschen sitzen bleiben. Vielleicht bestelle ich später noch was.“ Marthe setzte ein bittendes Gesicht auf und lächelte, zeigte auf die nach wie vor an der Brust liegende Liesbeth – die nicht mehr trank, sondern eingeschlafen war, doch das konnte die Wirtstochter nicht sehen, die Jacke verhinderte den Blick auf den Kopf des Kindes.
„Mir san keine Wärmestube, gell? Entweder ihr bestellt was oder i kassier ab und ihr macht den Platz frei für Gäste, die wos zahln kenna, ja?“
Marthe spürte den Blick des Mannes auf ihrem Ausschnitt und schluckte die Tränen der Verzweiflung hinunter, die plötzlich in ihren Augen brannten. Keine zwanzig Minuten in der Wärme waren ihr gegönnt gewesen und sie hatte so darauf gehofft, vielleicht zwei oder sogar drei Stunden hierbleiben zu können.
„Bringst zwoa Schüsseln Eintopf und zwoa dicke Scheibn Brot und gibst es ihr. I bezahl. Aber i will Fleisch in der Schüssel sehn, gell?“
Die Wirtstochter richtete einen überraschten Blick auf den Mann mit Hut und sah dann zu Marthe: „Ah! Ghörts ihr zamm? Na, da wundert mi nix mehr.“
Sie drehte sich um und verschwand in Richtung Küche. Marthe hörte auf, in ihrer Rocktasche nach dem letzten Geld zu kramen und schenkte ihm ein dankbares Lächeln, als ihr bewusst wurde, was der Fremde getan hatte.
„Das ist … sehr nett, vielen Dank.“
Er schnaubte nur und aß weiter. Marthe betrachtete ihn, doch viel konnte sie nicht erkennen. Er trug einen Vollbart, der breitkrempige Hut verdeckte seine Augen und er hielt den Kopf tief über die Schüssel gesenkt. Der Löffel wirkte klein in den großen Händen mit den kräftigen Fingern. Die Nägel hatte er sich erst geschnitten, mehr konnte Marthe bei diesen Lichtverhältnissen nicht ausmachen. Sein Körperbau war breit, stark, und er war riesig, so viel konnte sie sagen. Sicher noch größer als Ludger, der die meisten Männer auch um eine Handbreit überragt hatte. Vielleicht wollte man ihn deshalb schnell wieder loswerden. Er wirkte wie ein Schläger, gefährlich und aggressiv.
„Kann ich vielleicht … etwas anbieten? Der Kleine kann ein paar Minuten auf seine Schwester aufpassen, wenn du … willst. Wir könnten rausgehen und ich hebe meinen Rock für dich.“ Marthe sprach leise, so dass niemand an den Nebentischen ihr Angebot mitbekommen würde.
Der Riese aß unbeeindruckt weiter, würdigte sie weder eines Blickes noch einer Antwort.
„Ich kann’s auch gut mit dem Mund“, versuchte sie es noch einmal.
Er stockte für eine Sekunde, der Löffel zitterte ganz leicht, dann aß er weiter. Als hätte sie nichts gesagt. Die Wirtstochter servierte zwei Schüsseln Eintopf und zwei Scheiben Brot und Fritz stürzte sich sofort hungrig darauf.
„Tja, also … dann … danke“, murmelte Marthe und tauchte den Löffel in die Schale, sog den Geruch des würzigen Gerichts tief ein.
Die erste warme Mahlzeit seit mindestens drei Wochen. Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft in froher Erwartung und sie seufzte, als sie den Löffel an den Mund führte. Der Fremde verlangsamte sein beachtliches Esstempo und Marthe fühlte, dass er sie beobachtete. Sie versuchte, trotz des bohrenden Hungers langsam und manierlich zu essen, ermahnte auch Fritz immer wieder, sich Zeit zu lassen. Keine Minute, nachdem die Schüssel des Mannes leer war, stand abermals die Wirtstochter am Tisch, kassierte drei Portionen Eintopf und vier Scheiben Brot ab. Der Mann erhob sich grußlos, die Wirtstochter wich erschrocken zurück und fiel fast einem Bauern am Nachbartisch auf den Schoß. Marthe schluckte und starrte auf das breite Kreuz, auf die hellbraunen Haare, die zwischen Hutkrempe und Mantelkragen hervorblitzten. Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen oder ein Wort zu sagen, bahnte sich der Mann einen Weg zum Ausgang, die Tür klappte und dann war er verschwunden.
„Iss um Himmels willen langsamer, Fritz!“, flüsterte Marthe und nahm ihm den Löffel ab, „Wir machen jetzt eine kurze Pause.“
Es dauerte nur ein paar Sekunden, da war der Stuhl ihres schweigsamen Gönners wieder besetzt, diesmal von einem kleinen, drahtigen Mann, der redete wie ein Wasserfall.
Eine Stunde später stand Marthe auf der Hauptstraße des kleinen Dorfes, Liesbeth vor die Brust gebunden, ihr Bündel auf dem Rücken verschnürt und Fritz an der Hand. Sie überlegte, in welche Richtung sie gehen sollte und entschied sich für die linke Seite. Weil links das Herz sitzt. Und es völlig egal war. Sie mussten eine Scheune finden, in der sie übernachten konnten, eine Waldhütte, einen Unterstand, irgendwas. Der Himmel war klar, pechschwarz und übersät mit Sternen, ihr Atem bildete kleine Wölkchen und Marthe wusste, dass es bitterkalt werden würde, noch kälter als es jetzt schon war.
Vielleicht war der Eintopf unsere Henkersmahlzeit. Vielleicht erfrieren wir heute Nacht, dachte sie und wischte sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Gesicht.
Einerseits wollte sie zu Ludger, andererseits wollte sie aber auch nicht tot sein. Aber so weiterleben? Von der Hand in den Mund, auf der Straße, nicht wissend, wo man am Abend schlafen würde? Das war im Sommer einigermaßen erträglich, im Winter war es eine Qual. Marthe wusste, dass sie bald zu alt sein würde, um sich gewinnbringend verkaufen zu können, die Konkurrenz war hart und es gab genügend Mädchen, die jung und schön und nur halb so alt wie Marthe waren. Hatte sie Ludger jemals für seine Großzügigkeit und seine Liebe gedankt? Dafür, dass er sie aus dem Hurenhaus geholt hatte und ihr fast neun Jahre lang ein wunderbarer Liebhaber gewesen war? Dafür, dass er sie ernährt und ihr zwei Kinder geschenkt hatte?
Sie hatte es nicht. Marthe wusste nicht, warum sie so schrecklich sentimental war, so wenig wie die alte, freche, selbstbewusste Marthe, doch sie glaubte, es könne daran liegen, dass sie bald sterben würde. Nämlich in wenigen Stunden.
„Mama?“, fragte Fritz und zupfte an ihrer viel zu dünnen Jacke. „Können wir gehen?“
„Ja“, antwortete sie knapp und schlug den Weg nach links ein.
Sie passierten die Dorfgrenze und wanderten die Straße entlang, auf plattgefahrenem Schnee. Es dauerte keine halbe Stunde, da war Marthe so durchgefroren wie vor ihrem Aufenthalt im Wirtshaus, aber immerhin sah sie eine Feldscheune, ein Stückchen den Berg hinauf. Marthe blieb stehen und lauschte, gedämpftes Hufgetrappel und das leise, zischende Geräusch eines Schlittens kamen aus Richtung des Dorfes.
„Gehen wir ein Stück zur Seite, Fritzi“, sagte Marthe. „Da kommt ein Pferdeschlitten.“
Das Geräusch wurde lauter und Marthe sah das Pferd um eine Kurve biegen, langsamer werden und das Gefährt an ihr vorbeiziehen. Zwanzig Schritte von ihr entfernt kam der Schlitten zum Stehen. Das Pferd schnaubte und schüttelte sich, das Rasseln des Geschirrs war in der stillen Einsamkeit, die sie umgab, fast unnatürlich laut. Der Schlitten war leer und auf dem Kutschbock saß ein Mann, ein riesiger Mann mit einem Schlapphut. Der Fremde aus dem Gasthof.
Marthe ging langsam näher, Fritz‘ Hand fest umklammert. Der Mann wartete geduldig, bis sie auf Höhe des Kutschbocks angekommen war und fragte dann, den Blick starr geradeaus gerichtet: „Wo wollts ihr hin?“
„Zu der Scheune da vorne“, antwortete Marthe und streckte die Hand aus, deutete mit dem Finger auf das Gebäude.
„Was wollts ihr da?“
„Übernachten.“
„Nah.“ Er schüttelte den Kopf und schnaubte verächtlich.
„Doch.“
„Steig auf.“ Ein knapper Befehl, kein höfliches Angebot.
Marthe überlegte nicht lange. Es war egal, ob sie in der Scheune erfrieren oder von dem unheimlichen Kerl mit dem Schlapphut abgeschlachtet werden würden. Tot war tot. Sie hob Fritz auf den Kutschbock und kletterte dann selbst hinauf, murmelte einen Dank und rückte sich Liesbeth zurecht. Der Fremde schnalzte mit der Zunge und das Pferd setzte sich in Bewegung, trabte die verschneite Straße entlang, vorbei an der Feldscheune, immer weiter in die einsame Dunkelheit, in die menschenleere, eiskalte Ödnis. Der Weg stieg ein wenig an und Fritz kuschelte sich dicht an sie, müde und frierend. Marthe zog ihn auf ihren Schoß, setzte ihn auf ihrem Oberschenkel ab und platzierte ihn so, dass er und Liesbeth sich gegenseitig ein wenig wärmen würden. Die Minuten vergingen und der Mann schwieg, Marthe, die sonst nicht auf den Mund gefallen war, wusste nicht recht, was sie sagen sollte und hielt deswegen ihre Zunge im Zaum. Aus dem Augenwinkel heraus musterte sie ihren Gönner, doch sie konnte nicht mehr erkennen als in der Gastwirtschaft. Der Schlitten fuhr nun schon eine ganze Weile an einem Wald entlang und bog nach rechts ab, als der Wald endete. Nach ungefähr hundert Schritten machte der Weg einen Knick nach links und Marthe erkannte ein Bauernhaus, keine Viertelmeile entfernt. Der Fremde hielt genau darauf zu und der Schlitten kam vor dem Stall zum Stehen. Er sprang ab und begann das Pferd auszuschirren, während Marthe Fritz vom Bock half und dann selbst vorsichtig abstieg. Das Bauernhaus war klein, der Stall nicht viel größer und die Scheune kaum größer als eine Hütte, so klein, dass Marthe nicht einmal sicher war, ob man dazu überhaupt Scheune sagen konnte. Ob hinter dem Haus noch ein Gebäude war, konnte Marthe nicht erkennen, allerdings war ihr das im Moment auch ziemlich egal.
„Also …“, sagte Marthe, die immer noch nicht wusste, was sie von diesem seltsamen Mann zu halten hatte, der sie ohne sie zu fragen hierhergebracht und seit seiner Anweisung, mit ihm mitzufahren, kein Wort mehr gesagt hatte, „Also, dann vielen Dank fürs Mitnehmen und …“
Wieder war sie den Tränen nahe. Die letzte Scheune, die sie passiert hatten, war meilenweit entfernt, bis sie mit Fritz dorthin zurückgelaufen war, wäre die halbe Nacht vorbei. Sie könnte auf gut Glück irgendwohin laufen und hoffen, dass sie recht bald auf eine Übernachtungsmöglichkeit traf, aber auch das konnte stundenlang dauern. Marthe starrte auf den Rücken, den er ihr die ganze Zeit demonstrativ zugewandt hatte und fragte sich, ob sie es wagen sollte, ihn zu fragen, ob sie in seinem Stall schlafen dürften.
„Da drin“, brummte er. „Auf dem Heuboden könnt ihr schlafen.“
„Danke“, antwortete Marthe und atmete erleichtert ein.
Über dem Stall war es wärmer als in einer Feldscheune, das Heu würde die schlimmste Kälte abhalten. Marthe folgte Mann und Pferd in den Stall und murmelte abermals einen Dank, als er auf eine Leiter zeigte, die nach oben auf den Heuboden führte. Fritz begutachtete fast schon fachmännisch die beiden Milchkühe und die fünf Hühner, die in getrennten Verschlägen lebten und sah zu, wie der Fremde das Pferd in einem dritten Verschlag unterbrachte und abrieb.
„I hol a Licht“, murmelte er dann und ging nach draußen, ließ Marthe und ihre Kinder im dunklen Stall zurück.
Es dauerte nicht lange bis er zurückkam, eine Öllaterne in der Hand. Er hängte sie an einen Nagel in der Nähe der Leiter, ging wieder nach draußen und zog dann den schweren Schlitten in die Stallgasse. Anschließend nahm er einen Eimer und den Melkschemel und begann, die erste Kuh zu melken. Marthe, die immer noch wie gelähmt vor dem Hühnerverschlag stand, riss sich zusammen und sagte: „Das kann ich doch machen. Ich kann melken.“
Der Mann antwortete nicht und setzte seine Arbeit fort. Marthe zuckte mit den Schultern und streichelte Liesbeth, die offenbar fand, sie habe nun lange genug in dem Tragetuch gehangen, beruhigend über den Kopf. Dann hob sie Fritz auf die unterste Sprosse der Leiter und gab ihm einen zarten Klaps auf den Po.
„Zeit zum Schlafen, mein Schatz“, flüsterte sie und folgte ihm nach oben in die Dunkelheit.
Als sie fast ganz oben war, blieb sie noch einmal stehen und sah nach unten, betrachtete den immer noch melkenden Mann und sagte: „Die Kinder werden bald schlafen. Wenn ich dann etwas für dich tun kann, ruf mich einfach. Ich heiße übrigens Marthe.“
Als er nicht im Geringsten darauf reagierte, fragte sie sich, ob er vielleicht schwerhörig sei und wiederholte ihr Angebot, diesmal etwas lauter.
„Ich hab dich schon beim ersten Mal verstanden“, antwortete er und verfiel dann wieder in Schweigen.
Marthe wartete noch eine knappe Minute, ob er noch etwas sagen würde, doch als er weiterhin so tat, als sei sie gar nicht anwesend, kletterte sie die restlichen Sprossen nach oben und begann mit den Vorbereitungen für die Nacht. Nachdem sie es mittlerweile gewohnt war, im Stockfinstern ein Bett für sie drei zu bauen, ging es schnell und wenige Minuten später strampelte Liesbeth vergnügt unter der Decke, während Fritz versuchte, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen.
„Hier oben ist nichts“, flüsterte Marthe. „Leg dich hin und schlaf, Fritzi.“
Sie hatten es wärmer als in den Nächten zuvor, nichtsdestotrotz war es empfindlich kalt und Marthe versuchte, ihre eiskalten Füße zu vergessen, schloss die Augen und dachte an Ludger, dachte an den Tag, an dem er zum ersten Mal in das Hurenhaus gekommen war, in dem sie sich verkauft hatte. Sie konnte seine Stimme hören, diesen tiefen, vollen Bass, das ansteckende Lachen. Sie erinnerte sich an ihre kleine Freude, als er am nächsten Tag wiederkam und nach ihr verlangte. Huren mochten Stammfreier, insbesondere dann, wenn sie so freundlich und aufmerksam waren wie Ludger. Sie hatte sich nichts mehr gewünscht, als das Ludger ein Stammfreier werden könnte, an etwas anderes, an so etwas wie Liebe, hatte sie gar nicht zu denken gewagt. Doch sie hatte sie bekommen, diese Liebe. Ludger hatte sie mitgenommen, sie zu seiner Geliebten gemacht und sie neun Jahre lang umsorgt und verehrt. Keiner der Freier des letzten halben Jahres war auch nur ansatzweise an Ludger herangekommen. Marthe wischte sich Tränen aus den Augen – schon wieder – und konzentrierte sich auf Ludgers Herzschlag. Sie schob eine Hand unter ihr Ohr, hörte ihren eigenen Puls rauschen, spürte die Kühle ihrer Finger und versuchte sich vorzustellen, es sei Ludgers Brust und Ludgers Herz, das sie hörte. Fritz schnarchte leise und Marthe lächelte unter Tränen. Genau wie sein Vater, nur sehr viel leiser. Schwere Schritte in der Stallgasse und das Klappen der Tür verrieten Marthe, dass ihr Gastgeber mit seiner Stallarbeit fertig war und ins Haus ging. Der sanfte Schein der Öllaterne war verschwunden und die Welt um Marthe herum war stockfinster. Und eiskalt.
Als Marthe erwachte, dämmerte es bereits, eine Kuh muhte leise. Sowohl Liesbeth als auch Fritz schliefen noch. Beide atmeten. Eine weitere Nacht war vorbei und sie hatten sie alle drei überlebt. Während sie sich aus den Decken und dem Heu befreite, fühlte sie, dass ihre Zunge am Gaumen klebte, sie hatte furchtbaren Durst. Leise stieg sie die Leiter hinunter, ging aus dem Stall nach draußen, suchte sich eine Stelle, an der der Schnee noch unberührt war und aß ihn, sich immer wieder ob der Kälte schüttelnd. Lieber Schnee gegessen als verdurstet. Im Haus brannte Licht, der schweigsame Bauer war offensichtlich schon wach. Marthe fragte sich, ob er Familie hatte und seiner Frau treu war, ob er deswegen nicht auf ihr Angebot eingegangen war. Die Menschen hatten nie etwas zu verschenken und alles, was man bekam, verlangte eine Gegenleistung. Marthe warf dem kleinen Steinhaus mit dem rauchenden Kamin einen letzten Blick zu, dann ging sie in den Stall, nahm sich einen Eimer und den Schemel und setzte sich zu der ersten Kuh. Nachdem sie zwei Fingerbreit Milch in den Eimer gemolken hatte, warf sie einen verstohlenen Blick zur Tür, nahm den Eimer an die Lippen und trank gierig, alles, bis zum letzten Tropfen. Der Lohn fürs Melken, dachte sie und wusste bereits, dass sie für Fritz auch noch ein wenig Milch abzweigen würde. Sie hatte einen Becher in ihrem Bündel, den würde sie benutzen. Die warme Milch in ihrem Bauch fühlte sich paradiesisch an und Marthe machte sich daran, den Eimer diesmal ganz zu füllen. Kaum war sie fertig, stellte sie den Eimer in die Stallgasse, stieg die Leiter hoch und suchte in ihren Habseligkeiten nach dem Becher. Sie krabbelte hinunter, füllte ihn und stieg vorsichtig wieder nach oben, suchte einen sicheren Platz, an dem er nicht umfallen würde und widmete sich anschließend der zweiten Kuh. Sie war fast fertig, als die Tür knarrte und der Bauer mit einer Öllaterne in der Hand den Stall betrat.
„Guten Morgen“, grüßte Marthe. „Ich habe schon gemolken. Bin gerade fertig.“
„Mhm“, brummte er und hängte die Laterne an den Nagel.
Wieder trug er einen Schlapphut und hatte denselben dicken Wolljanker an wie am vergangenen Abend. Um seinen Hals lag an diesem Morgen ein Tuch, das er fast bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte. Marthe konnte damit sein Gesicht noch weniger sehen als am Tag zuvor. Ohne sie zu beachten fütterte er die Hühner und das Pferd und begann dann die Ställe auszumisten. Marthe hörte Fritz nach ihr rufen und stieg die Leiter nach oben.
Fritz trank die Milch und Marthe nahm die mittlerweile ebenfalls erwachte Liesbeth an die Brust. Sie schloss die Augen und küsste Fritz auf den Scheitel, dankbar dafür, dass er sein Frühstück aus einer Tasse trinken konnte und somit mehr für Liesbeth blieb. Der Tag fing wirklich gut an. Kaum, dass Liesbeth satt war, fing Marthe an, ihr Bündel zu packen und kletterte dann mit Liesbeth im Tragetuch die Leiter hinunter.
„Du!“, knurrte der Mann und deutete auf Fritz, der erschrocken die Luft anhielt, „Nimmst dir a Milli. Du aa.“
Er nickte Marthe zu und verließ den Stall, eine Schubkarre voll Mist vor sich herschiebend. Fritz blickte seine Mutter ratlos an und Marthe flüsterte: „Wir dürfen uns Milch nehmen, hat er gesagt.“
Fritz strahlte und streckte die Hand aus, eine stumme Aufforderung, den Becher wieder auszupacken. Schwere Schritte kündigten die Rückkehr des Bauern an, der, wie Marthe sah, als sie über die Schulter blickte, einen Becher von einem Bord neben der Tür nahm.
„Da“, sagte er und hielt Marthe den Becher hin, als er sie umrundet hatte.
Seine Stimme war so tief, so dumpf, dass alles, was er sagte, wie ein gefährliches Knurren klang, doch Marthe war diese Tonlage von Ludger gewöhnt, es klang fast vertraut, von dem fremden Dialekt einmal abgesehen.
„Danke.“ Marthe schenkte ihm ein Lächeln und hoffte, dass sie damit die wirklich große Dankbarkeit, die sie empfand, transportieren konnte.
Er nickte und ging in den Hühnerverschlag, suchte nach den Eiern und legte sie in eine kleine Schüssel, die er dann in der Stallgasse deponierte. Marthe füllte den Becher mit Milch und reichte ihn an Fritz weiter, der noch einmal einen großen Schluck trank, bevor er fragte: „Wie heißt du?“
„Ich?“ Die breiten Schultern zuckten, so als sei es egal, wie er hieß.
„Ich heiße Fritz“, erklärte ihr kleiner Junge ernsthaft und Marthe sah, wie er die Stirn runzelte, ganz konzentriert darauf, dem Mann verständlich zu machen, was er von ihm wollte. „Und du?“
„Drees. Ich heiß Drees.“
Fritz kicherte und wiederholte den ungewohnten Namen leise: „Drees, Drees, Drees.“
„Genau. Des kimmt vo Andreas.“
Marthe räusperte sich und bedeutete Fritz, die Milch entweder auszutrinken und oder den Becher ihr zu geben, damit sie sie trinken konnte.
„Wir werden dann wohl weiterziehen. Danke für die Gastfreundschaft und die Milch und das Essen gestern Abend.“
„Bleibts hold.“
„Wie bitte?“
„Bleibt halt hier. I hab nix dagegen. Stört mi ned, wenn ihr im Heu schlaft.“
„Aber vielleicht stört es deine Frau?“
Drees lachte freudlos auf und schüttelte den Kopf: „I bin alaans.“
Marthe nickte und erklärte dann, so einfühlsam wie möglich, mit dem Ziel, noch ein wenig mehr Informationen über ihren Gastgeber zu bekommen: „Mein Mann ist vor einem halben Jahr gestorben.“
„Aha.“ Mehr Reaktion bekam Marthe nicht.
Sie wusste, sie musste eine Entscheidung treffen. Sollte sie hierbleiben, in der Einöde, bei einem Mann, dessen Gesicht sie noch nicht einmal richtig gesehen, der offensichtlich etwas zu verbergen hatte, bei einem riesigen, kräftigen Kerl, vor dem die Wirtstochter Angst gehabt hatte?
„Wie alt bist du?“, fragte Fritz und hob drei Finger, „Ich bin drei.“
„Siemazwanzge.“
Marthe hob erstaunt die Augenbrauen – sie hätte ihn älter geschätzt. Er war tatsächlich jünger als sie, allerdings konnte man jemanden, dessen Gesicht man nicht wirklich sehen konnte, auch nur schlecht schätzen.
„Häh?“
„Siebenundzwanzig“, übersetzte Marthe und Drees nickte bestätigend. „Wenn wir bleiben, kann ich dann wenigstens etwas helfen?“
„Wennst mogst.“
„Ich denke, wir bleiben. Wenn ich abhauen soll, musst du es mir nur sagen.“ Marthe hatte sich entschieden.
Im Heuboden über dem Stall würden sie nicht erfrieren und falls er sich nehmen wollte, was sie ihm bereits zweimal freiwillig angeboten hatte, würde sie das auch ertragen. Solange ihre Kinder nicht erfroren und sie ein bisschen Milch schnorren konnte, würde sie damit leben können.
„Die Leut redn über mi. Nix Guads. Nur, dass des woaßt.“
Marthe schnaubte verächtlich und fühlte plötzlich, dass sie wieder da war, die alte Marthe. Sie schüttelte den Kopf und antwortete: „Über mich haben die Leute auch noch nie etwas Gutes zu erzählen gehabt.“
„Weil du a Freudenmadla bist.“
„Ja.“
Drees nickte und ging dann zur Stalltür: „I hob Wasser aufgsetzt. Zum Baden. Und zum Waschen. Kommt mit.“
Eine halbe Stunde später lag eine saubere und warme Liesbeth auf einer Decke auf dem Boden der Wohnstube und lutschte einen Holzlöffel ab, während Fritz badete. Marthe half ihm sich zu waschen und beobachtete im Augenwinkel ihren Gastgeber, der sich an den Tisch gesetzt hatte und Rechenzinken schnitzte. Weder hatte er den Hut noch das Tuch abgelegt, noch hatte er eine weitere Lampe angemacht. Die Wohnstube hatte recht kleine Fenster und lag im Halbdunkel. Marthe war sich nun hundertprozentig sicher, dass er etwas zu verbergen hatte. Das Haus war fantastisch warm, denn es hatte, ungewöhnlich für ein Bauernhaus dieser Größe, einen Kachelofen. Was für ein Luxus. Und was für ein unverschämtes Glück, dass sie gerade ihn getroffen hatten. Falls die Sache nicht doch noch einen Haken hatte.
„Hast du den Kachelofen gebaut?“, fragte Marthe, während sie Fritz abtrocknete und dabei überlegte, ob sie sich einfach vor ihm ausziehen sollte.
„Nah. Mei Vadder. Der war Ofenbauer.“
Marthe nickte und fragte sich, warum ein Ofenbauer auf einem Hof lebte und eine kleine Landwirtschaft betrieb, es wollte ihr aber kein Grund einfallen. Ihre Gedanken kehrten zu ihren aktuellen Problemen zurück und sie beschloss, dass sie sich einfach ausziehen würde. Sie hatte ja nichts zu verlieren und Drees war offenbar – obwohl er ledig war – an ihr nicht interessiert. Marthe steckte Fritz in seine letzten einigermaßen sauberen Wäschestücke und löste die Bänder an ihrem Kleid. Als der Stoff raschelnd zu Boden fiel, sah Drees auf und blickte Marthe an, beobachtete sie. Zumindest nahm Marthe das an, denn sie konnte seine Augen immer noch nicht sehen, der breitkrempige Hut beschattete seine obere Gesichtshälfte.
Langsam wandte sie sich um, drehte ihm den Rücken zu und schlüpfte aus der alten, ekligen Männerhose, zog sich ein Hemd nach dem anderen über den Kopf. Als sie nackt in der Wohnstube stand, sagte sie mit fester Stimme über die Schulter: „Das Angebot gilt noch, Drees. Jederzeit. Aber nicht vor den Kindern.“
Drees antwortete nicht, stand auf und ging in die Schlafkammer. Marthe hörte ihn einen Schrank öffnen und stieg in die Wanne, seufzte zufrieden, auch wenn das Wasser schon fast wieder kalt war. Sie wusch sich die Haare und merkte, dass sie sie schneiden musste, denn sie reichten ihr mittlerweile bis zum Po, lange, dicke, blonde Haare, zart gewellt durch den Zopf, den sie Tag und Nacht trug. Drees kam wieder in die Wohnstube und legte ein Hemd auf den Küchentisch.
„Zieh das an, wenn du fertig bist. Dann kannst du dein Zeug waschen. I geh raus, Holz hacken.“
Marthe blieb ein wenig länger als nötig im Wasser, sah zu, wie Fritz auf die Ofenbank kletterte und mit den beiden Holzfigürchen spielte, die Ludger für ihn geschnitzt hatte. Von draußen hörte sie das regelmäßige Krachen der Axt auf Holzscheite. Sie nahm den Lappen, mit dem sie Fritz abgetrocknet hatte, und stieg aus der Wanne. Nachlässig rieb sie ihren Körper ab, der bei der Wärme in der Stube schnell von selbst trocknen würde. Sie nahm das Hemd vom Tisch und roch daran. Nichts. Das Hemd war sauber und roch maximal ein wenig nach Holz. Sie zog es sich über den Kopf, kippte dann noch einmal heißes Wasser in den Badezuber und warf alle Kleider von Fritz, Liesbeth und sich hinein. Lange konnte sie sie nicht einweichen lassen, maximal eine halbe Stunde, wenn sie sich heute Abend nicht in nassen Kleidern ins Heu legen wollte. So warm, wie es in der Stube war, würde die Wäsche schnell trocknen. Marthe setzte sich zu Fritz auf die Ofenbank, nahm ihren Kamm zur Hand und begann, sich die Haare zu entwirren. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass Drees zum Fenster hineinsah, Sekunden später öffnete sich die Tür und er betrat den Wohnraum. Wieder nahm er am Küchentisch Platz und machte mit seiner Schnitzerei weiter. Wenig erfolgreich allerdings, bemerkte Marthe, denn er beobachtete sie sehr genau. Als die Haare glatt gekämmt und bereits schon fast wieder trocken waren begann Liesbeth zu murren und Marthe nahm sie hoch. Sie löste die Schnürung, hob die linke Brust aus dem Hemd und schenkte Drees ein Lächeln. Liesbeth schnappte ungeduldig nach der Brustwarze und Drees räusperte sich verlegen, blickte auf den Rechenzinken in seiner Hand und hob den Kopf erst wieder, als Liesbeth zu seinen Füßen auf dem Boden lag.
„Hast du eine Schere?“
Drees nickte mit dem Kopf in Richtung Herd und Marthe sah eine Schere an einem Nagel an der Wand baumeln. Sie stand auf, holte sie und kürzte ihre Haare zwei Handbreit, bevor sie sie wieder zu einem Zopf flocht und die Haare auf dem Boden zusammenkehrte. Danach begann sie, die Kleider zu waschen und hängte sie auf die Leinen, die sich unter der Decke durch die Stube spannten. Es war erst Mittag und Marthe wusste nicht, was sie jetzt anfangen sollte. Das Haus war soweit sauber, das Waschwasser konnte sie erst nach draußen bringen, wenn ihre Kleider wieder trocken waren.
„Warum reden die Leute nicht gut über dich?“, fragte sie in die Stille und Drees reagierte wie so oft erst einmal gar nicht.
Schulterzuckend wandte sich Marthe Fritz zu und kämmte ihm noch einmal die Haare, was ihr lauten Protest einbrachte. Dann nahm sie Liesbeth vom Boden hoch und setzte sie auf ihren Schoß, küsste sie auf den Kopf und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Bald würde Liesbeth alleine sitzen, immerhin rollte sie schon durch das Zimmer. Sie würde anfangen zu krabbeln und auf ihren kleinen Füßen stehen. Marthe lächelte bei dem Gedanken, auch wenn sie wusste, dass es dann noch schwieriger werden würde. Liesbeth würde selbst laufen wollen und damit das Tempo noch mehr verlangsamen, die Strecke, die sie jeden Tag zurücklegen konnte, würde noch kleiner werden. Außerdem wuchs Liesbeth, wenn auch langsam, und sie wurde trotz Hunger jeden Monat ein wenig schwerer, was es für Marthe immer anstrengender machte, sie zu tragen. Der Stuhl, auf dem Drees saß, schabte über den Boden als er sich erhob und ihr den Rücken zuwandte. Er nahm den Hut ab und Marthe betrachtete die halblangen, hellbraunen Haare, die seinen Hinterkopf bedeckten. Die Spitzen ringelten sich über dem Tuch in seinem Nacken und als er begann, eben dieses Tuch abzuwickeln, wusste Marthe, dass sie gleich den Grund erfahren würde, warum die Leute schlecht von ihm sprachen. Und sie wusste, dass sie keinesfalls eine schockierte oder angewiderte Miene zeigen durfte.
Drees faltete das Tuch ordentlich zusammen und legte es auf den Tisch, nahm den Hut und platzierte ihn darauf.
Er schindet Zeit, dachte Marthe und atmete tief ein, konzentrierte sich darauf, eine ganz und gar neutrale Miene aufzusetzen.
Er fuhr sich durch die vom Hut plattgedrückten Haare und hielt sich dann an der Stuhllehne fest.
„Die Leit nenna mi den Deifi vom Mareiner Forst.“
„Was heißt Deifi?“, fragte Fritz und schaute von seinem Spiel auf.
„Teufel“, erklärte Marthe und fügte schnell hinzu: „Aber das ist dumm und gelogen, denn der Teufel und die Seinen wohnen in der Hölle und nicht auf einem Einödhof im Mareiner Forst.“
„Ja. Aber des glaubt mir koaner. Für die Leit bin i a Ausgeburt des Leibhaftigen. Teufelsbrut.“
Marthe beobachtete, wie er unsicher die Hand nach dem Hut ausstreckte, ihn vom Tisch nahm und begann, ihn in den Händen zu drehen. Der Mut hatte ihn offenbar schon wieder verlassen.
„Zeig dich, Drees. Ich glaube dir.“
„Wennsd dann lieba geh mogst, dann gehst einfach, gell?“
„Dreh dich um“, antwortete Marthe schlicht und schickte Fritz einen warnenden Blick.
Sie hoffte, dass Fritz groß genug war, um das zu verstehen und wappnete sich für den Anblick, der sich ihr gleich bieten würde. Langsam drehte Drees sich um und Marthe erhob sich von der Ofenbank, machte einen Schritt auf ihn zu, um ihn besser sehen zu können. Er hob den Kopf und trat näher ans Licht, ließ sich betrachten. Ein Feuermal zog sich von der linken Schläfe quer über sein Gesicht. Das linke Auge war komplett von lilafarbener Haut umgeben, die obere Hälfte der Nase war ebenso betroffen wie die rechte Wange bis hinunter zum Kinn. Der Vollbart verdeckte nur einen kleinen Teil des verräterischen Mals und Marthe verstand, warum die Wirtstochter ihn loswerden wollte. Sie hatten Angst vor ihm, weil er ein Teufelskind war. Zumindest glaubten die Menschen das und Marthe konnte über so viel Dummheit nur den Kopf schütteln. Vermutlich half ihr die Tatsache, dass sie noch nie ein Wort von dem geglaubt hatte, was die Pfaffen den ganzen Tag lang erzählten. Marthe hatte ihre eigene Lebensphilosophie und die war zunächst einmal von Liebe geprägt – und von dem Gedanken an Gleichberechtigung. Doch die Menschen waren dumm und rannten verblendet irgendeiner höheren Macht hinterher, für deren Existenz nicht der Funken eines Beweises existierte. Zumindest hatte Marthe noch nichts, was sie gehört hatte, tatsächlich überzeugen können.
„Was ist das?“, fragte Fritz und deutete auf Drees‘ Gesicht.
„Ich weiß es nicht“, erklärte Marthe. „Aber es ist nicht schlimm oder gefährlich. Es sieht nur ein bisschen anders aus.“
„Wie bei Pferden?“
„Was meinst du, Fritzi?“, fragte Marthe und beobachtete, wie sich Drees anspannte, auf die Lippe biss.
„Manche Pferde haben Flecken. Und Kühe auch.“
Marthe lächelte: „Ja, genau. So ähnlich.“
Fritz nickte und wandte sich wieder den Holzfigürchen zu, während sich Marthe Liesbeth auf der Hüfte zurechtrückte und ihr einen zarten Kuss auf den Kopf drückte.
„Wovon lebst du?“, fragte sie leise und kam noch einen Schritt näher.
Sie erkannte, dass das Mal sich am Hals fortsetzte, unter dem Bart. Die untere Hälfte seines Halses war aber frei, auch sein Hemdausschnitt zeigte ganz normale, behaarte Männerhaut. Er war wirklich riesig. Marthe war groß für eine Frau, doch Drees überragte sie um fast eineinhalb Hauptlängen. Sie blieb stehen und legte den Kopf schief, schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und beschloss, dass sie genug gesehen hatte. Er sollte sich nicht begafft vorkommen, denn genau das passierte ihm oft genug und Marthe wusste, dass sein Zuhause der einzige Ort der Welt war, an dem er nicht begafft und beurteilt wurde.
„Mir ghört a großes Stück vom Mareiner Forst, da, aufs Dorf zu. Wo wir langgfahrn sind.“ Drees deutete in Richtung des Waldes und zuckte mit den Schultern. „I fäll die Baam und verkauf des Holz. Hinterm Haus is a Garten. Und dann hob i no die Kiah und die Henner.“
„Warst du in der Wirtschaft, weil du Holz verkauft hast?“
Drees nickte: „I muss es an den Toni verkaufen, weil des der Oanzige is, der wo Gschäfte mit mir macht. Und der Toni verkaufts dann weiter. Wenn i beim Toni bin, geh i dann ab und zu ins Wirtshaus zum Essn, weil i koa Zeit zum Kochen hab.“
Er räusperte sich und wirkte überrascht, vielleicht, weil er so viel auf einmal gesprochen hatte.
„Ich kann ein bisschen kochen. Wenn du möchtest, koche ich dir etwas zu essen.“
Marthe legte Liesbeth auf den Boden und beobachtete, wie sich ihre Tochter sofort auf den Bauch rollte, den Kopf hob und das Stuhlbein vor ihrer Nase betrachtete.
„Nah, schon gut. Ihr könnt hier schlafen und … und wennst morgen in da Früh geh mogst, dann is des in Ordnung.“
„Das entscheide ich morgen.“
Marthe setzte sich wieder auf die Ofenbank, was Fritz zum Anlass nahm, die Schnürung des geborgten Hemdes zu öffnen, Marthes Brust herauszuholen und zu trinken. Drees stand wie vom Donner gerührt da und starrte auf diese eigentümliche Szene. Marthe legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, streichelte zärtlich über Fritz‘ Hinterkopf. Sie hatte Drees angeglotzt, jetzt durfte er das bei ihr auch tun. Gleiches Recht für alle.
„Er hatte Hunger. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen“, erklärte sie leise und schluckte dann schwer.
Sie bekam immer Durst, wenn die Kinder an der Brust tranken und seit der Milch am Morgen hatte sie keine Flüssigkeit mehr bekommen.
„Wie lang bist schon unterwegs?“, fragte Drees und setzte sich auf den Stuhl am Küchentisch.
„Seit Juni.“
„Wo willst hin?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Marthe und schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Ziel. Ich bin zu alt um dauerhaft in einem Hurenhaus zu bleiben und ich habe zu wenig Geld um mich irgendwo niederzulassen.“
„Wie alt bist?“
„29. Als ich noch jünger war und Kurven hatte, konnte ich mich vor Freiern kaum retten. Doch jetzt …“, Marthe deutete an ihrem abgemagerten Körper hinab und zuckte resigniert mit den Schultern. „Die Konkurrenz ist groß, die jungen Mädchen ohne Kinder können sich billiger anbieten, mehr Freier bedienen, länger arbeiten. Sie sind hübscher und kosten weniger. Da hat jemand wie ich kaum noch Chancen.“
Drees antwortete nicht und Marthe wischte sich eine Träne von der Wange, als sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation wie ein Holzhammer traf. Sie wusste wirklich nicht weiter. Vielleicht wäre es das Beste, in die nächstgrößere Stadt zu gehen, sich nach den Verurteilten zu erkundigen und sich einen Mann vom Schafott zu erbitten. Allerdings wusste man nie, was man sich aufhalste und Marthe bezweifelte, dass sie so viel Glück wie Sidonie haben würde. Denn Johannes war, all seiner Fehler zum Trotz, doch ein guter Mann gewesen. Er hatte Sidonie nie geschlagen und sie nie gezwungen, ihm beizuliegen. Ganz im Gegenteil, Marthe wusste, dass er sich wirklich bemüht hatte, ein guter Ehemann zu sein. Sie wusste, dass er Sidonie geliebt hatte, auch wenn er sich schwer damit getan hatte, es ihr zu sagen. Doch wenn der Mann, den man sich vom Schafott holte, ein prügelnder Taugenichts war, dann hatte man ein noch größeres Problem als vorher. Es war ein Glücksspiel und die Chancen auf einen guten Mann standen sehr, sehr schlecht. Marthe bezweifelte, dass sie noch einmal so viel Glück haben konnte wie mit Ludger. Also würde eine Ehe vom Schafott die wirklich allerletzte Möglichkeit bleiben.
Mit einem leisen Ploppen ließ Fritz ihre Brustwarze los und Marthe richtete sich das Hemd, dann stand sie auf und befühlte die Kleider, die sie zum Trocknen aufgehängt hatte.
„Es fängt an zu schneien“, sagte Drees und deutete zum Fenster.
Marthe spähte hinaus und nickte. Dicke, weiße Flocken schwebten auf die Erde und erinnerten sie an den Durst, den sie verspürte.
„Drees, darf ich um etwas zu trinken bitten? Ich habe schrecklichen Durst.“
„Mogst auch was essn? Du brauchst doch was, damit die … die Milch ned versiegt, gell?“
„Ja, schon, aber …“
„Ah, geh. I hab no Brot und Schinken.“
Drees stand auf und deckte den Tisch mit drei Holztellern, stellte Brot und Schinken dazu und holte ein Messer. Schneller, als Marthe etwas sagen konnte, saß Fritz auf der Küchenbank und starrte begehrlich auf das Brot. Drees nahm drei Becher von einem Bord und schenkte Milch ein.
„Ich weiß nicht, wie ich das bezahlen soll“, murmelte Marthe und setzte sich.
„Gar ned. Iss.“
Marthe nahm einen Schluck von der Milch und schnitt Fritz dann eine Scheibe Brot und ein Stück Schinken herunter.
„Wie alt is des Madla?“, fragte Drees und deutete auf Liesbeth, die in Richtung Kachelofen gerollt war.
„Zehn Monate.“
„Wird sie satt?“, fragte er und sah zu, wie sich Fritz ausgehungert auf den Schinken stürzte.
Dass er erst vor wenigen Minuten an der Brust getrunken hatte, war nicht zu merken. Man könnte meinen, er hätte seit drei Tagen überhaupt nichts mehr gegessen. Doch Fritz hatte gelernt, die Chance auf Nahrung beim Schopf zu greifen und das Meiste aus dieser Chance herauszuholen.
Marthe schüttelte den Kopf: „Sie würde schon Brei essen, wenn ich welchen hätte. Ich muss sie oft anlegen und weil ich selbst so wenig esse, ist die Milch vielleicht auch zu dünn. Ich weiß es nicht.“
„Liesbeth heißts, gell?“
Sie nickte und lächelte ihm zu, bevor sie sich eine dünne Scheibe Brot und ein klein wenig Schinken abschnitt. Drees runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
„Nimm ruhig. I back alle zwei Tag a frisches Brot im Kachelofen.“
„Im Kachelofen?“
„Ja. I zeigs dir, wennsd magst.“
Marthe nickte, stand auf und holte Liesbeth, tauchte einen Brotkrümel in ihre Milch und schob ihn dem Kind in den Mund. Während der nächsten Viertelstunde beobachtete sie Drees, der sich ein wenig entspannte und langsam seinen Teller leer aß. Er hatte schöne, gleichmäßige Gesichtszüge und im Halbdunkel des Wohnraums fiel das Teufelsmal gar nicht so sehr auf. Der hellbraune Vollbart stand ihm gut, das wirre, halblange Haar ebenfalls. Marthe glaubte, dass er braune Augen hatte, ein helles Braun, umrahmt von langen Wimpern. Sie fand ihn nicht abstoßend, doch sie wusste, dass genau das sein Problem war, denn mit dieser Ansicht stand sie wohl ziemlich alleine da – die Menschen fanden ihn abstoßend, hässlich, gruselig. Sie musste damit aufhören, ihn anzustarren, denn dann würde er sich unwohl fühlen. Oder sich wieder hinter Hut und Tuch verstecken.
„Drees?“, fragte sie, als das Mahl beendet war und sie Liesbeth, den Bauch voller Brotkrümel, wieder auf den Boden gelegt hatte.
„Hm?“ Er schlüpfte in seinen Wolljanker und setzte seinen Hut auf.
„Sag ruhig, wenn ich etwas für dich tun soll.“
„Was meinst?“
„Egal was.“ Marthe nickte mit dem Kopf in Richtung der Schlafkammer. „Ich schulde dir stündlich mehr.“
„Schmarrn“, murmelte er und verschwand nach draußen.
Die Tür klappte zu und ging dann wieder auf. Drees musste den Kopf einziehen, wenn er sein Haus betreten wollte. Er richtete sich zu voller Größe auf, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Marthe ein paar lange Sekunden. Durch den Hut konnte sie seine Augen nicht sehen und trotzdem ging ihr sein Blick durch und durch. Eigentlich müsste sie sich präsentieren, ihre Vorzüge betonen, denn immerhin war dieser Mann im Moment ihr Lebensretter und sie sollte dafür sorgen, dass er das noch ein paar Tage blieb. So lange wie möglich. Doch sie konnte nicht. Sie hatte keine Kraft mehr, um etwas anderes als eine reduzierte Version ihrer selbst zu sein. Außerdem war es egal. Wenn Drees sie haben wollte – und er konnte nun ja weiß Gott nicht wählerisch sein, was die Auswahl seiner Bettgenossinnen anging –, würde er sie nehmen, ganz egal, ob sie ihm die starke Verführerin gab oder das schwache, anlehnungsbedürftige Mädchen, das zu ihm aufblickte und beschützt werden musste.
„Egal was?“, fragte er nach einer scheinbaren Ewigkeit und Marthe schluckte.
„Ja“, antwortete sie leise und nickte bekräftigend.
„Nah.“
Die Tür fiel zu und er war verschwunden. Marthe atmete aus und begann, sich endlich einmal nützlich zu machen. Sie räumte den Tisch ab und säuberte die Teller, das Messer und die Becher mit Wasser aus dem Spüleimer. Sie kehrte die wenigen Holzspäne von Drees‘ Schnitzerei zusammen und kontrollierte noch einmal den Trocknungsgrad der Kleider. Fast trocken. Noch vor der Dämmerung würde sie den Badezuber ausleeren können. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass Drees vor der Stalltür Schnee schaufelte und so nutzte sie die Gelegenheit, die Tür zur Schlafkammer zu öffnen und hinzusehen. Die Kammer war winzig, das Bett stand an der Außenwand, an der Innenwand hatte man einen Kleiderschrank platziert. Der Raum zwischen Bett und Schrank war so schmal, dass sich Marthe sicher war, dass man die Türen des Schrankes gar nicht richtig öffnen konnte. Man würde sich aufs Bett setzen und dann die Türen öffnen müssen. Auch der Platz vor dem Bett war gerade mal eine Elle breit. Das Bett an sich war zerwühlt, ungemacht, aber die Laken und Decken wirkten sauber. Entweder schlief Drees zusammengerollt oder seine Füße hingen in der Luft. Er war definitiv zu groß um in dieses Bett zu passen. Es sei denn, Marthe betrachtete nachdenklich das in der oberen rechten Ecke zusammengeknüllte Kissen, er lag quer im Bett. Dann könnte es vielleicht gehen. Leise schloss sie die Tür, sah nach Fritz und Liesbeth und erkundete den Wohnraum dann genauer. Klein, aber sauber, zweckmäßig eingerichtet und durch den Kachelofen wunderbar warm. Die Ofenbank war groß genug, um einem Kind als Bett zu dienen, die Küchenbank bot einem großen Erwachsenen Platz. Sie hob die Sitzplatte der Küchenbank an und fand darin tatsächlich ein Kissen und eine Decke. Marthe seufzte und wünschte sich, sie dürfe auf dieser Küchenbank schlafen, in diesem warmen Raum, windgeschützt und ohne tierische Bettgenossen.
Ich werde ihn einfach fragen, beschloss sie. Wenn er vom Schneeschaufeln zurückkommt, werde ich ihn einfach fragen. Was habe ich schon zu verlieren?
Als die Kleider trocken waren, hängte Marthe sie ab, kleidete sich wieder manierlich an und brachte das erschreckend dreckige Waschwasser nach draußen. Die Männerhose zog sie nicht unter das Kleid, falls Drees eine Bezahlung verlangen würde, wäre sie nicht nur hinderlich sondern auch furchtbar unerotisch. Sie konnte sie später, wenn sie schlafen ging, immer noch anziehen. Drees‘ geborgtes Hemd hängte sie an einen Haken neben der Schlafzimmertür und drehte sich dann zu ihm um. Er hatte nur eine dicke Stumpenkerze entzündet und auf den Küchentisch gestellt, der größte Teil des Hauses lag im Dunkeln. Fritz saß bei ihm und sang ein Kinderlied, das er von Sidonie gelernt hatte. Drees starrte in die Flamme und hing seinen Gedanken nach. Nachdem der Badezuber aufgeräumt war, hob Marthe Liesbeth vom Boden auf und setzte sich neben Fritz auf die Küchenbank, entblößte die Brust und ließ Liesbeth trinken. Fritz überlegte einen Augenblick, kniete sich dann neben sie und bediente sich an der zweiten Brust. Drees beobachtete das Schauspiel ein paar Sekunden, dann stand er auf und holte einen Becher Milch, den er vor Marthe auf den Tisch stellte.
„Trink“, murmelte er, nahm wieder Platz und sah zu, wie beide Kinder, selig und mit geschlossenen Augen, an Marthes Brüsten tranken.
„Danke.“
Er brummte und versuchte angestrengt, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, aber es wollte ihm nicht gelingen.
„Schau ruhig zu, Drees, es stört mich nicht.“ Marthe schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und er schluckte hart.
„Es schaut so friedlich aus“, murmelte er und schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er sah.
„Es ist sehr friedlich, es fühlt sich genauso an, wie es aussieht“, antwortete Marthe und dachte an Sidonie, die so furchtbare Angst vor dem Stillen gehabt hatte, eine Angst, die Marthe nie hatte nachvollziehen können.
„Du bist so liab zu deine Kinder.“
„Sie sind alles, was ich noch habe“, antwortete Marthe. „Sie sind mein Fleisch und Blut, wieso sollte ich sie schlecht behandeln?“
„I woaß ned. I kenns halt anders.“
Marthe nickte und streichelte Fritz über den Kopf. Drees hatte wahrscheinlich eine schreckliche Kindheit hinter sich und der Gedanke tat ihr im Herzen weh. Bei aller aufgesetzten Härte und der großen Klappe liebte Marthe ihre Kinder und hatte jedes einzelne, das sie verloren hatte, beweint und betrauert. Auch die beiden Kinder, die die Engelmacherin in den Himmel geschickt hatte, hatten sie gereut. Aber damals war es nicht anders gegangen. Mit einem Schwangerschaftsbauch verdiente man weniger Geld im Hurenhaus und Marthe war damals dabei gewesen, sich eine gute Auswahl Stammfreier zu erarbeiten. Sie hätte es weit bringen können, wäre Ludger ihr nicht begegnet.
„Drees, dürfen wir vielleicht hier schlafen? Nicht draußen im Heu?“
Er kratzte sich mit der Hand durch den Vollbart, stand auf und sah durch das Fenster nach draußen.
„Es schneit wie narrisch“, sagte er. „Wenn’s so weiterschneit, werds richtig ungemütlich.“
Marthe kommentierte das nicht und lächelte ihm noch einmal aufmunternd zu, als er sich wieder an den Tisch setzte, den Blick starr auf ihre Brüste gerichtet. Sie lehnte den Kopf an die Wand hinter der Bank und schloss die Augen, ließ sich betrachten, kraulte dabei Fritz im Nacken und streichelte an Liesbeths Bein entlang.
„Wenn die Kinder fertig getrunken haben, gehe ich in den Stall“, kündigte sie leise an, öffnete ein Auge und sah, dass er noch immer ganz versunken in ihren Anblick war.
„Der Stall ist fertig“, murmelte er. „I hob alles gmacht.“
„Ich meine zum Schlafen.“
„Nah. Kannst auf der Bank schlafn. Da ist a Kissn drin und a Deckn.“
Sein Finger zeigte auf die Bank, auf der Marthe saß – dass Bettzeug darin war, wusste sie ja schon. Ihr Lächeln wurde strahlender und sie öffnete beide Augen, genau in dem Moment, in dem Fritz entschied, dass er genug getrunken hatte, sich zurückzog und sich den Mund abwischte. Sie packte ihre Brust nicht sofort wieder ein, sah ihn abermals hart schlucken und wandte sich dann Liesbeth zu, streichelte sie und redete leise auf sie ein. Erst als die Kleine satt war und Marthe merkte, dass Liesbeth dringend eine frische Windel brauchte, zog sie sich wieder an.
„Ich muss aufs Häuschen“, erklärte Fritz und sie nickte: „Gleich. Ich wickel nur die Liesbeth, dann geh ich mit dir raus.“
„I geh mit dir, wennst willst“, bot Drees an, doch Fritz schüttelte den Kopf. „Guad. Dann schau i am Speicher nach der Wiege.“
„Du hast eine Wiege?“
„I glaub schon. Mal sehen.“
Drees entzündete die Öllaterne und stieg die Leiter nach oben unters Dach, die Laterne zwischen die Zähne geklemmt. Marthe nahm ihre Jacke und entzündete die zweite Laterne, um sie mit zum Abort zu nehmen. Sie bückte sich, nahm Fritz auf den Arm und wickelte ihn in ihre Jacke, bevor sie die Laterne nahm und hinaus in das Schneetreiben trat. Der Schnee lag schon wieder knöchelhoch, dabei hatte Drees vor nicht einmal zwei Stunden den Weg zum Abort und zum Stall geräumt. Marthe sah zum Himmel, betrachtete die Schneemassen, die sich um das Grundstück türmten und wusste: Sie würden erst einmal hierbleiben müssen. Morgen früh wären sie eingeschneit.
Fritz klapperte mit den Zähnen, als sie vom Abort zurückkamen und Marthe beeilte sich, die Tür hinter sich zu schließen. Sie ließ Fritz auf den Boden ab und zog sich die Jacke aus, beobachtete dabei, wie Drees mit einem nassen Lappen eine Wiege abwischte, die tatsächlich groß genug für Liesbeth war.
„Lang wirds nimmer gehen, aber heut wird sie noch reinpassen“, erklärte er, ohne Marthe dabei anzusehen.
Ihr fiel auf, dass er den Kopf meistens gesenkt hielt, dass er sie nur betrachtete, wenn sie nicht hinsah. Er versteckte seinen Makel ohne nachzudenken und Marthe tat es fast leid, dass sie in sein Haus gekommen waren, ihn dazu brachten, sich nicht einmal in seinen vier Wänden ohne Scheu bewegen zu können. Liesbeth lag vor der Wiege auf dem Bauch, den Oberkörper auf ihre Arme gestützt, und beobachtete ihn interessiert, quietschte begeistert auf, als er ihr zulächelte.
Marthe konnte regelrecht spüren, wie ihn diese kleine Kontaktaufnahme bis ins Mark berührte. Er betrachtete Liesbeth mit dieser unbestimmten Sehnsucht in den Augen, die sie nur zu gut von Ludger kannte. Ludger, der seine Kinder geliebt hatte und ihnen ein guter Vater gewesen war. Mit genau diesem Ausdruck hatte er Fritz angesehen, als der noch ein Säugling gewesen war. Es war diese Sehnsucht, die Marthe gesehen hatte, als er ihr damals erklärte, er würde ihr noch ein Kind machen. Ludger hatte nicht gefragt und Marthe hatte sich reflexartig gewehrt, wie immer. Sie hatten sich gestritten, obwohl sie eigentlich einer Meinung waren, hatten sich versöhnt und ein paar Monate später Liesbeth gezeugt.
Mit einem Seufzen tauchte sie aus der Vergangenheit auf und wandte sich wieder der Gegenwart zu. Drees wünschte sich eine Familie, er war einsam und isoliert, hatte die Hoffnung auf eine Frau und ein paar Kinder entweder schon lange aufgegeben oder sie nie gehabt.
„Magst du sie einmal halten?“, fragte Marthe und Drees zuckte zusammen.
Er warf den Lappen in den Putzeimer und biss sich auf die Lippe, so als überlegte er, was er antworten sollte.
„Ja“, sagte er dann schlicht und fügte nach einer Pause hinzu: „Aber i woaß ned, ob …“
„Doch, du kannst“, unterbrach ihn Marthe. „Aber ich warne dich: Sie wird dir vielleicht ein paar Haare ausreißen.“
„Des macht gar nix“, murmelte er. „Hoar hab i gnug.“
Marthe nahm Liesbeth vom Boden hoch und drückte sie vorsichtig Drees in die Arme, setzte sie auf seinen Unterarm. Sofort krallte sich ihre kleine Hand in seinen Bart und begann dann, sein Gesicht zu erkunden. Er zuckte zusammen, als sie das Teufelsmal berührte und drehte den Kopf weg, so dass Liesbeth sein Ohr in die Finger bekam.
„Tut es weh?“, fragte Marthe und hoffte, dass er nicht ärgerlich werden würde.
„Nah. I bin‘s bloß ned gewöhnt.“
„Soll ich sie wieder nehmen?“
Drees nickte und Marthe legte Liesbeth wieder auf den Fußboden, kitzelte sie am Bauch, als sie anfangen wollte zu motzen. Dann besah sie sich die Wiege, holte ihr Bündel und bereitete das Bettchen vor. In dieser Nacht würde niemand frieren müssen. Fritz konnte direkt auf der Ofenbank schlafen, sie auf der Küchenbank und Liesbeth in einer richtigen Wiege. Marthe konnte ihr Glück kaum fassen.
Sie hatte damit gerechnet, dass er sie in sein Bett holen würde, doch als sie am Morgen, noch vor der Dämmerung, erwachte, weil er an ihr vorbeilief und nach draußen ging, lag sie immer noch auf der Küchenbank, warm und zufrieden. Sie stand auf, räumte das Bettzeug weg und spähte durch das Fenster in die Dunkelheit. Drees kämpfte sich durch die Schneemaßen zum Abort. Der Schnee lag über kniehoch und immer noch schneite es weiter. Sie beschloss, das Frühstück zuzubereiten und Brotteig anzusetzen. Wenn sie hier gut gelitten sein wollte, musste sie anfangen, sich nützlich zu machen, insbesondere wenn sie ihre Schulden bei Drees nicht mit Sex bezahlen konnte.
Als Drees zurückkehrte und sich den Schnee von den Kleidern klopfte, wünschte sie ihm einen guten Morgen und schlüpfte dann mit dem mittlerweile erwachten Fritz hinaus zum Abort. Drees hatte den Weg freigeräumt und sich auch bis zum Stall durchgekämpft.
„Dankschön“, sagte er, als sie das Haus wieder betraten und zeigte auf den gedeckten Tisch.
Marthe lächelte und winkte ab. Sie nahm gegenüber von ihm Platz, schnitt Fritz ein wenig Brot ab und deutete auf die Holzschale, in der der Brotteig ruhte: „Ich habe Brotteig angesetzt.“
„Hab schon gesehen.“
„Zeigst du mir, wie man es im Kachelofen backt?“
„Ja.“
„Soll ich dir nach dem Frühstück im Stall helfen? Fritz kann mit Liesbeth hierbleiben, er passt auf sie auf.“
„Nah.“
„Ich mach’s gerne, ich will dir helfen.“
Drees antwortete nicht und aß stoisch sein Frühstück. Er schob sich den letzten Bissen in den Mund und stand dann wortlos auf, nahm Hut und den Wolljanker und ging nach draußen. Marthe überlegte, was sie machen sollte und entschied sich dafür, den Tisch abzuräumen, nach dem Brotteig zu sehen und ihm dann einfach in den Stall zu folgen. Sie konnte wenigstens die Eier einsammeln oder die Milch ins Haus tragen, vielleicht könnte sie Käse oder Butter ansetzen. Sie seufzte und begann ihr Tagwerk, fühlte sich dabei intensiv an die erste Zeit in Ludgers Elternhaus erinnert. Ein fremder Haushalt, den es zu organisieren galt. Sie würde das schaffen, das hatte sie damals geschafft, also würde sie es heute erst recht problemlos auf die Reihe kriegen.
Marthe beeilte sich und ließ Fritz mit klaren Instruktionen zurück, ging schnellen Schrittes zum Stall und öffnete die Tür.
„Was kann ich helfen?“
„Nix. Geh wieder ins Warme, Weib“, brummte Drees und warf eine Gabel voll Mist auf den Schubkarren.
„Jetzt lass dir doch helfen, Drees. Bitte. Wir essen dir deine Vorräte weg und ich möchte wenigstens einen Teil meiner Schuld abarbeiten.“
„I bin schneller fertig, wenn ich’s dir ned lehren muss.“
„Lehren?“
„Na, a Freudenmadla wird ned so viel von der Stallarbeit wissen, oda? I hab mi ja scho gwundert, dass du melken kannst.“
„Ich habe bis vor einem halben Jahr auf einem Hof gelebt. Mit meinem Mann und den Kindern. Ich habe viel im Stall geholfen und ich habe mich um Haus und Garten gekümmert, jahrelang. Du musst mir nichts beibringen, Drees. Ich kann das alles schon und bin diese Arbeit gewöhnt.“
Drees blickte auf und runzelte die Stirn: „Bist a Freudenmadla oder bist keins?“
„Ich war eins, seit ich 17 war, drei Jahre lang. Dann hat mich mein Mann aus dem Hurenhaus geholt und … und hat mich zu einer ehrbaren Frau gemacht, Drees.“ Das war zwar nur die halbe Wahrheit, doch sie wollte ihn nicht mit der unerfreulichen Realität verschrecken. „Im Juni hab ich wieder angefangen, mich als Hure zu verdingen. Weil mir nichts anderes übrig blieb. Ich habe fast neun Jahre als Bäuerin gelebt und mich insgesamt nur dreieinhalb Jahre verkauft. Kannst dir überlegen, was ich besser kann.“
„Wieso hast ned wieder gheiratet?“
„Ich habe bis jetzt niemanden gefunden, der mich heiraten würde.“
„Wieso nicht? Du bist doch ganz hübsch, hast nur zwei Kinder …“
„Ich weiß nicht“, antwortete Marthe lahm.
Ein Räuberliebchen mit unehelichen Kindern war keine große Nummer auf dem Heiratsmarkt, doch genau das konnte sie Drees ja nicht erzählen.
„Wolltest ned? Weilst ihn noch liebst?“, schlug Drees vor und Marthe nahm diese Ausrede, die eigentlich gar keine war, dankbar an: „Ja. Ich trauere noch um ihn.“
Drees nickte und deutete dann mit dem Finger auf den Hühnerverschlag: „Da war i noch ned.“
„Gut. Dann kümmere ich mich um die Hühner.“
In einvernehmlichem Schweigen gingen sie ihrer Arbeit nach und eine Stunde später war die Stallarbeit erledigt. Draußen war es heller geworden, der Schnee fiel langsam, aber stetig und Marthe lief hinter ihm her zum Haus, freute sich darauf ins Warme zu kommen. Wenn das so weiterging, würde sie so lange hier bleiben wie irgendwie möglich. Bis er sie rauswarf. Und wenn es so weit war, würde sie betteln, um noch ein wenig länger bleiben zu dürfen.
Es schneite unablässig, Tage, eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen. Das Jahr 1787 brach an und Marthe saß immer noch im Mareiner Forst fest, fühlte sich mit jedem Tag wohler. Drees war zwar wortkarg, doch er wurde mit jedem Tag ein wenig offener, gesprächiger. In der ersten Januarwoche fing Liesbeth an zu krabbeln und Drees lachte zum ersten Mal überhaupt in Marthes Gesellschaft.
„Guad, Liesbeth!“, lobte er, freute sich sichtbar und Marthe fand, er sollte viel öfter lachen.
Wie die meisten Menschen wurde auch Drees durch ein Lächeln noch viel schöner. Aber er konnte auch anders sein, ernst und streng, was er an einem Abend Anfang Januar bewies.
Dadurch, dass Marthe jetzt eine Küche hatte, konnte sie Liesbeth Brei kochen und versuchte sie abzustillen. Das eingeweichte Brot, die Suppe und der Brei sättigten sie viel besser und Marthe brachte ihr bei, aus einem Becher zu trinken. Liesbeth erwies sich als Naturtalent und war begeistert bei der Sache, wenn es ans Essen und Trinken ging. Sie nahm schnell zu und sah Anfang Januar schon nicht mehr so verhungert aus wie noch vor Weihnachten. Marthe war glücklich, bis auf einen Wermutstropfen, der ihr schwer auf der Seele lastete. Denn wer sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, wieder abgestillt zu werden, war Fritz. Er bockte, schrie und kämpfte. Kaum saß Marthe auf der Bank, stürzte er zu ihr und holte sich eine Brust aus dem Hemd. Es waren strenge Worte nötig und der eine oder andere kleine Kampf. Fritz weinte abwechselnd bittere Tränen und bettelte zum Herzerweichen oder schlug um sich und versuchte mit Gewalt an die Brust zu kommen. Marthe tat es in der Seele weh, dass er so litt und war drauf und dran, ihm nachzugeben und ihn weiter an der Brust trinken zu lassen. Drees, der sie nach wie vor aufmerksam beobachtete, bemerkte ihr Zögern, ihr Weichwerden und mischte sich dann eines Abends einfach ein. Als Fritz an Marthes Hemd zerrte und nach ihr schlug, stand er auf und packte ihn am Hosenboden. Er hob den verblüfft schweigenden Jungen hoch und knurrte gefährlich: „Lass das, Fritz. Die Liesbeth kriegt keine Milch mehr, also gibt’s für dich auch keine mehr.“
Er sprach langsam und so hochdeutsch wie möglich, damit der Junge ihn verstand. Und das tat er, denn Fritz rief empört: „Liesbeth kriegt Milch!“
„Aber nur noch ein bissi vor dem Frühstück und zum Einschlafen. Des brauchst du doch gar ned.“
„Ich will aber!“, brüllte Fritz und Drees schüttelte den Kopf.
„Hör auf, dei Mutter zu schlagn, Freund. Benimm di oder du musst bei die Kiah schlafn.“
„Ich will aber Milch haben!“
„Na, sag halt was, no geb i dir an Becher voll“, erklärte Drees ruhig und stellte ihn auf dem Boden ab.
„Nein!“, schrie Fritz, „Ich will von der Mama trinken!“
Er stampfte mit dem Fuß auf und Drees hob ihn abermals hoch, blickte ihm fest ins Gesicht und hob den Zeigefinger der freien Hand. Er wartete, bis Fritz still war und sagte dann: „Dei Mama sagt, du kriegst keine Milch mehr aus der Brust, i sag, du kriegst keine Milch mehr aus der Brust. Des bisserl Milch, was die Mama noch hat, ghört der Liesbeth. Verstanden?“
Fritz schniefte nur und strampelte mit den Beinen, doch Drees hielt ihn gut fest.
„Hast mi verstandn, Bua?“
„Ja.“
„Für wen ist die Milch in der Mama ihrer Brust? Für di oder für die Liesbeth?“ Seine dunkle Stimme war fest und duldete keinen Widerspruch, er würde sich dieses Verhalten nicht mehr tatenlos ansehen und er schaffte es, Fritz das spüren zu lassen.
„Für die Liesbeth“, murmelte Fritz beleidigt und wurde abermals auf den Boden gestellt.
„Hamma des jetzt ein für alle Mal geklärt?“, fragte Drees abschließend und setzte sich wieder hin.
Fritz nickte, verzog sich auf die Ofenbank und schmollte ein wenig, bevor er die Holzfigürchen nahm und anfing zu spielen.
Drees starrte schweigend in die Kerzenflamme, während Marthe zwischen ihm und Fritz hin und her sah. Liesbeth schlief schon in der Wiege und sie wusste, dass Fritz über seinem Spiel auch bald einschlafen würde. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie Fritz würde trösten müssen, dass er nach dem Anraunzer von Drees erst recht an die Brust wollte, in ihre tröstliche Umarmung, doch scheinbar fand Fritz, das sei eine Sache unter Männern und machte es deswegen mit sich alleine aus.
„Was ist mit deinen Eltern?“, fragte sie eine schweigsame halbe Stunde später, in der er sie weder angesprochen noch angesehen hatte.
Drees hob überrascht den Kopf und blickte Marthe an, bevor er leise sagte: „Tot. Alle beide.“
Marthe stand auf und deckte Fritz zu, der seit ein paar Minuten schlief, schenkte Drees noch einen Becher Milch ein und setzte sich dann wieder an den Tisch.
„Hast du Geschwister?“
„Nah. I war das erste Kind. Und nach mir wolltens koane mehr. Was ist mit dir?“
„Ich habe Geschwister. Aber heimgehen brauch ich nicht mehr. Ich hab seit zehn Jahren nichts mehr von meiner Familie gehört. War es wegen dem Mal, dass deine Eltern …“
„Ja. Der Vadder hat mei Mudder jahrelang nimmer angfasst, sie hat auf der Küchenbank schlafn müssen. Er hat immer gsagt, sie hat’s mim Deifi triem. Er hätt niemals so a hässliches Balg gezeugt.“
Seine Stimme war ruhig und fest, emotionslos und kalt. Er klang, als ginge ihn das alles gar nichts an. Marthe war sich sicher, dass er diese Geschichte noch nie jemanden erzählt hatte und fasste es als großen Vertrauensbeweis auf, dass er sie ihr erzählte.
„Sprich weiter, Drees“, forderte sie sanft und beugte sich vor, zeigte ihm, dass sie an ihm und seiner Geschichte interessiert war.
Er zuckte mit den Schultern und fuhr leise fort: „Sie musstn ausm Dorf naus, die Leit ham sie vertrieben. Des Land hier hat meim Großvadder ghört, da habn sie dann das Haus baut. Der Vadder ist rumgreist und hat Öfen baut, die Mudder und i ham den Hof und die Tiere versorgt.“
„Was hat deine Mutter zu deinem Mal gesagt?“
Drees schnaubte: „Dass sie’s nur mit meim Vadder triem hat. Mit niemand anders. Wenn’s der Deifi war, dann hat sie gschlafen. Sie woaß von nix. Was hätt sie auch sonst sagen sollen, oder?“
„Ich weiß nicht. Ich hätte ihr geglaubt.“
„Da wärst aber die Einzige gwesen.“
„Du hast ihr auch geglaubt. Wären wir schon zu zweit.“
Drees schnaubte und drehte den Becher mit der Milch nachdenklich in den Händen, bevor er mit dem rechten Zeigefinger quer über sein Gesicht fuhr, das Mal nachzeichnete, das so viel Unglück über die Familie gebracht hatte.
„Sie hat mi ned bsonders guad behandelt, weil der Vadder sie halt auch ned guad behandelt hat. Deswegen schau ich dir immer zu. Weil du so nett zu deinen Kindern bist. I kann mi gar ned sattsehn manchmal.“
Sie nickte und meinte ihn zu verstehen. Er war ein ungeliebtes Kind gewesen und zu einem einsamen Mann herangewachsen. Vielleicht schmerzte es ihn sogar zu sehen, was er verpasst hatte und doch konnte er nicht wegsehen, musste das alles in sich aufsaugen, sich ein eigenes Bild von Liebe machen.
„Wann sind sie gestorben? Wie lange bist du schon alleine hier?“, fragte Marthe und spielte mit der Verschnürung ihres Hemdes, an der Fritz herumgerissen hatte.
„Die Mama starb als ich elf war. Der Vadder hatte getrunken und hat sie verprügelt, wie immer, wenn er sternhagelblau war. Aber an dem Abend hat er ihr Kleid hochgschoben und sie gnommen. Ich glaub, er hat ihr schlimm wehtan, denn sie hat sich gwehrt und sie hat sich sonst nie gwehrt, wenn er sie gschlagn hat. Er hat sei Hände auf ihrn Hals glegt und als er fertig war, war die Mama tot.“
„Hast du etwa zusehen müssen?“, fragte Marthe und schloss die Augen, mochte sich dieses Grauen gar nicht vorstellen.
„I war im Stall und hab die Schreie ghört. Dann bin i herglaufen und hab durchs Fenster einigschaut. Aber i hab ned gwusst, was er da macht und als ich’s verstanden hab, war’s schon zu spät.“
Marthe schluckte und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Sie schwiegen ein paar Minuten, Drees starrte in die Flamme der Kerze und fuhr sich mit einer Hand immer wieder durch die Haare.
„Als die Mama tot war, ist es immer schlimmer gworden. Dann hat er mich verprügelt, hat seine ganze Wut an mir ausglassen. Er hat gsoffn wie ein Loch und hat immer weniger Geld verdient. Als ich 17 war, wollt er mich mit dem Schürhakerl verprügeln.“
Drees verfiel wieder in Schweigen und Marthe nahm vorsichtig seine Hand in ihre. Sie wusste, was kommen würde. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck, dieses namenlose Entsetzen, die trotzige Rechtfertigung. Ludger hatte auch so ausgesehen. Jedes Mal, nachdem er jemanden hatte töten müssen.
„I war mit 17 schon so groß und schwer wie heut. Und i hab mir denkt, i lass mir jetzt nix mehr gfallen. Also hab i ihm den Schürhaken abgnommen und ihn derschlagn. Totgeprügelt. Dann hab i ihn draußen im Wald verscharrt, ganz in der Nähe, wo er die Mama verscharrt hat. Seitdem bin i alaans.“ Drees entzog ihr seine Hand, stand auf und ging zur Schlafkammer: „Morgen früh fahr i ins Dorf, bring dem Toni a Ladung Holz und kauf ein paar Vorräte. Wennst nix mehr da bist, wenn ich wiederkomm, dann sag i schon mal Dankschön für alles, gell?“
„Drees …“, sagte Marthe und stand auf, doch die Tür zur Schlafkammer fiel zu.
Trotz seiner Größe konnte sich Drees offenbar völlig lautlos bewegen, wenn er wollte. Oder Marthe hatte einfach nur tief und fest geschlafen. Als sie am Morgen erwachte, war er bereits fort. Sie stand auf und legte Holz im Kachelofen nach, setzte Waschwasser auf und bereitete das Frühstück vor. Während sie frühstückten und Marthe sich anschließend um den Stall kümmerte – wobei sie fast sicher war, dass Drees das vor seiner Abfahrt alles erledigt hatte – konnte die Wäsche einweichen.
„Wo ist Drees?“, fragte Fritz, als sie das Frühstück beendeten und Marthe ihn den Tisch abwischen ließ, was der kleine Junge mit Feuereifer tat, so konzentriert, dass er sich auf die Zunge biss, die zwischen seinen Lippen hervorschaute.
„Er ist ins Dorf gefahren um ein paar Einkäufe zu machen.“
„Kommt er wieder?“
„Natürlich. Das hier ist ja sein Haus, Fritz.“ Marthe fischte Liesbeth den letzten eingeweichten Brotkrümel aus dem Becher, fütterte ihn ihr und trank dann aus. „Ich schau mal im Stall nach dem Rechten. Du bleibst mit Liesbeth hier und passt auf.“
Fritz nickte und Marthe machte sich auf den Weg in den Stall. Es hatte endlich aufgehört zu schneien und zum ersten Mal seit drei Wochen mussten sie die Wege zum Abort und zum Stall nicht freischaufeln. Die kalte, klare Luft wirkte belebend auf Marthe und sie fühlte sich seit langem wieder frei und glücklich, so wie sie sich mit Ludger auch gefühlt hatte. Obwohl sie immer noch keinen Plan für die Zukunft hatte, so wusste sie doch, dass der Winter bald vorbei sein würde und damit neue Hoffnung für sie bestand. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem letzten Gespräch mit Drees zurück und sie fragte sich, ob es an der jahrelangen Gesellschaft von Räubern und Mördern lag, dass sie vor Drees keine Angst empfand. Jede andere Frau hätte spätestens nach dem Geständnis am Abend zuvor die Kinder genommen und die Flucht ergriffen, doch Marthe kannte keine Angst. Nicht einmal vor Rochus hatte sie Angst gehabt und Drees wirkte weitaus harmloser.
Der Stall war ausgemistet, die Tiere gefüttert, die Eier eingesammelt und die Kühe gemolken. Marthe trug das Körbchen mit den Eiern und den Eimer mit der Milch ins Haus und sah nach der Wäsche. Seine Hemden und Hosen waren teilweise löchrig und Marthe suchte nach Nähzeug. Sie würde ihm seine Sachen flicken, wenn sie trocken waren.
Was gäbe sie jetzt für Sidonie, die so gerne genäht und geflickt hatte, Arbeiten, die Marthe absolut verhasst waren. Doch es half nichts, sie würde sich damit herumquälen. Seufzend begann sie, die Wäsche umzurühren, intensiv beobachtet von Liesbeth, die um sie herumkrabbelte.
Als der Abend dämmerte und der Wohnraum voller trocknender Wäsche hing, kehrte Drees nach Hause zurück, sichtlich erstaunt darüber, Marthe immer noch vorzufinden.
„Du bist noch da“, sagte er und legte einen Sack Mehl auf den Tisch.
„Ja. Ich habe keine Angst, Drees.“
Er betrachtete Marthe einen Moment aus zusammengekniffenen Augen, dann räusperte er sich und brummte: „Dankschön fürs Waschen.“
„Bitte. Gehört sich so, oder? Das ist meine Aufgabe.“
Er nickte und drehte sich um, ging wieder nach draußen und holte die restlichen Einkäufe vom Schlitten.
Marthe sah ihm nach und wusste, dass er ihr in diesem Moment erlaubt hatte, für immer zu bleiben. Das warme, glückliche Gefühl, dass sie sich in ihrem Bauch ausbreitete, ließ sie breit lächeln.
Als der Frühling mit riesigen Schritten auf sie zukam, hatte sich Marthe bei Drees endgültig häuslich eingerichtet. Er ging in den Wald, hackte Holz und verkaufte es, Marthe kümmerte sich um den Haushalt und ihre Kinder. Im Stall arbeiteten sie gemeinsam, Hand in Hand. Nach wie vor schlief Marthe auf der Küchenbank und Drees hatte kein Wort darüber verloren, dass er das ändern wollte. Wenn sie sich bei der Arbeit versehentlich berührten, zuckte er zusammen und beendete den Körperkontakt spätestens mit dem nächsten Wimpernschlag. Nicht, dass sich Marthe über diese Form des Zusammenlebens beschweren würde, aber sie mochte ihn von Woche zu Woche mehr und hätte nichts gegen ein wenig mehr Nähe gehabt. Sie vermisste es immer noch, dicht neben einem Mann einzuschlafen. Keine Decke der Welt konnte so gut warmhalten wie hart-zarte Männerhaut, in keinem Bett lag man so gut wie in den Armen eines Mannes. Nichts ließ einen so beruhigt einschlafen wie die tiefen, entspannten Atemzüge und der gleichmäßige, langsame Herzschlag eines Liebhabers. Wann immer sie diese Gedanken hatte, schob Marthe sie energisch beiseite. Drees wollte sie nicht und daran konnte sie nichts ändern. Enthaltsamkeit hatte zumindest den Vorteil, dass sie nicht schwanger werden würde und sich keine Gedanken darum machen musste, wie sie noch ein Kind satt kriegen sollte. Insbesondere dann, wenn er sie doch irgendwann aufforderte zu gehen.
Mitte März konnte Liesbeth laufen und fing an, sich an ihren ersten Worten zu versuchen. Drees beobachtete das interessiert und wurde nie müde, ihr die Hand zu reichen, wenn sie stumm danach verlangte. Stand Drees irgendwo, konnte man darauf wetten, dass Liesbeth an seinem Hosenbein hing und sich an ihm festhielt. Das kleine Mädchen hatte innerhalb von drei Monaten eine ganz besondere Beziehung zu Drees aufgebaut und Marthe fragte sich, ob es daran lag, dass er, genau wie Ludger, groß und dunkel war und über eine volle, tiefe Stimme verfügte. Vielleicht erinnerte sich Liesbeth in irgendeinem Winkel ihres kleinen Köpfchens an ihren Vater und mochte Drees deswegen so gerne. Fritz und Drees kamen ebenfalls gut miteinander aus und schätzten sich. An einem Abend Ende März nahm Marthe die alte Männerhose, die sie in einer Scheune gefunden hatte, aus ihrem Bündel. Sie hatte sie seit dem ersten Tag bei Drees nicht mehr gebraucht. Der Stoff war fleckiger und an mehr Stellen geflickt als Marthe es in Erinnerung hatte. Sie seufzte, doch es half ja nichts. Fritz war ein ganzes Stück gewachsen, genau wie Liesbeth auch, und er brauchte eine neue Hose und ein neues Hemd. Mit ein wenig Geschick konnte sie das aus der Männerhose schneidern. Sie begann vorsichtig die Nähte aufzutrennen und war mit der ersten Naht gerade fertig, als Drees aus dem Stall hereinkam.
„Was machst?“, fragte er und setzte sich zu ihr an den Tisch, lächelte, als Liesbeth auf ihn zukam und sich an seiner Hose festhielt.
Seine große, raue Hand streichelte über ihr Köpfchen und Liesbeth fragte: „Mama?“
„Da ist sie, schau.“
Er hob sie hoch und setzte sie auf seinen Oberschenkel, damit sie Marthe sehen konnte. Liesbeth lehnte sich an seine Brust und schaute Marthe auf die Finger, bevor sie versuchte, einen Fadenrest vom Tisch zu nehmen. Als sie ihn hatte, kuschelte sie sich fester an Drees‘ Brust und spielte mit ihrer Beute. Drees erstarrte für eine Sekunde, dann schluckte er sichtbar, umfasste mit seiner großen Hand Liesbeths Oberschenkel, damit sie nicht von seinem Bein rutschte, wenn sie unruhig wurde.
„Was machst du, Marthe?“, fragte er noch einmal und warf einen zweifelnden Blick auf die alte Hose.
„Fritz ist gewachsen. Ich trenne die Hose auf und mache ihm eine neue daraus. Wenn ich Glück habe und es einigermaßen gut hinbekomme, reicht es vielleicht noch für ein Hemd. Aber ich bin keine besonders begabte Näherin, deshalb … mal sehen.“ Marthe seufzte und zuckte resigniert mit den Schultern.
„Des is so a oids Glump, des taugt doch nix mehr.“
„Aber er muss ja irgendwas anziehen, Drees. Um ihn nackt herumlaufen zu lassen, ist es noch ein bisschen zu kalt.“
„Wir fahren morgen ins Dorf und kaufn an Stoff. I muss dem Toni eh eine Lieferung bringen.“
„Drees, ich kann das nicht bezahlen.“
„Deswegen bezahl i.“
„Das kann ich doch nicht annehmen“, erklärte Marthe und Drees zuckte mit den Schultern: „I brauch ned viel und hab immer Geld übrig ghabt.“
„Du hast uns schon den halben Winter durchgefüttert. Und ich … ich kann’s dir nicht vergelten. Das macht mich wahnsinnig!“
„Du kümmerst dich ums Haus und die Tiere, letzte Woche hast im Garten angfangen. Du tust doch was für dei Essen.“
„Aber das reicht doch nicht, Drees.“
„Des reicht ned? Womit hast du denn den Stoff bezahlt, als du verheiratet warst?“, fragte er und zog die Augenbrauen nach oben.
„Mein Mann hat ihn bezahlt“, sagte Marthe und Drees zuckte mit den Schultern: „Merkst was?“
„Drees, das ist … doch was anderes. Wir sind nicht verheiratet.“
„Also, seh i des richtig? Des Essen kannst mit Haus- und Stallarbeit abgelten, aber wenn i dir drei Ellen Stoff kaufen will, dann muss i di vorher heiraten? Weil man Stoff nur mit schnackseln abarbeiten kann?“
„Nein, aber …“
„Mehr muss i gar ned wissn, Marthe. Wir fahrn morgen ins Dorf.“ Drees bückte sich nach dem Faden, den Liesbeth fallengelassen hatte und gab ihn ihr zurück.
„Dada“, lächelte Liesbeth, „Dada.“
„Meint sie mich?“, flüsterte Drees und konnte den Blick nicht von ihr wenden.
„Ich denke schon“, wisperte Marthe zurück und zwinkerte ihm zu. „Sie mag dich.“
Am nächsten Vormittag erlebte Marthe, wie man mit Drees umging, wie unfreundlich man zu ihm war und dadurch auch zu ihr. Die Menschen im Dorf bedachten ihn mit abfälligen bis bösen Blicken, redeten nur, wenn es sein musste mit ihm und waren dann unhöflich und kurz angebunden. Die Kinder verspotteten ihn, eines warf sogar einen kleinen Stein nach ihm, der ihn aber verfehlte. Stoisch und ohne eine Miene zu verziehen erledigte er seine Geschäfte, tat so, als wäre das alles in bester Ordnung und reagierte auch auf den Steinwurf nicht.
Drees hatte einen Sack Mehl geschultert und trug ihn zum Wagen, Marthe folgte ihm mit Liesbeth auf dem Arm und Fritz an der Hand. Von weitem sahen sie wohl aus wie eine ganz normale Familie, doch die Dorfbewohner kannten Drees, sie wussten ganz genau, dass er nicht verheiratet war. Also war das Urteil über Marthe sofort gefällt und insbesondere die Frauen zögerten nicht, Marthe zu zeigen, was sie von ihr hielten.
Drees legte den Sack auf der Ladefläche ab und zog sich das Halstuch wieder höher, weil es beim Tragen verrutscht war.
„Dada!“, rief Liesbeth und streckte die Arme nach ihm aus – sie wollte vermutlich das Tuch haben.
Zwei Frauen gingen an Drees vorbei, beide bekreuzigten sich, kaum, dass sie ihn passiert hatten und die größere der beiden murmelte „Deifelshur“ in Marthes Richtung. Marthe, die das in der letzten Stunde nicht nur einmal gehört hatte, platzte der Kragen und sie beschloss, sich das nicht gefallen zu lassen. Sie trat der Frau in den Weg und lächelte sie an, erfreute sich insgeheim an dem Horror, der sich in ihrem Gesicht ausbreitete.
„Marthe Wagner“, stellte sie sich vor – nicht ganz die Wahrheit, aber die Geschichte von der gefälschten Heiratsurkunde war zu lang und zu kompliziert und viel zu skandalträchtig, um sie jemandem zu erzählen.
Ludger Wagner hatte sie nie geheiratet, doch nun, nach seinem Tod, bot sein Allerweltsnachname ihr den Schutz, den sie brauchte. Sie konnte sich wunderbar hinter seinem Namen verstecken.
Dass sie keine Antwort bekam, ignorierte Marthe einfach. Mit lauter Stimme und scheinbar höchst amüsiert erklärte sie: „Ich glaube, ich habe Ihren Namen falsch verstanden. Oder heißen Sie wirklich Deifelshur? Ich hoffe doch, dass das Ihr Mädchenname ist.“
Wie von selbst schüttelte die Frau den Kopf, vollkommen sprachlos von der Frechheit, die Marthe sich herausnahm.
„Also, ganz im Ernst, einen Mann, der Deifelshur heißt, hätte ich glaube ich nicht geheiratet. Oder mussten Sie ihn am Ende heiraten? Mhm, das dachte ich mir doch. Tja, das ist natürlich tragisch“, seufzte Marthe und setzte ein fröhliches „Schönen Tag noch, Frau Deifelshur!“ dazu.
Drees schwankte zwischen Entsetzen und unterdrücktem Gelächter, während die beiden Frauen machten, dass sie wegkamen.
„I woaß ned, ob des klug war, Marthe“, murmelte er und schüttelte den Kopf. „I ignorier sowas immer.“
„Wir werden sehen“, lächelte sie und schaute auf die Ladefläche des Wagens. „Haben wir alles?“
„Ja, i denk schon.“
Ein älterer Mann kam über die Straße, betrachtete Marthe sehr genau und blieb dann neben Drees‘ Wagen stehen.
„I hab drei Heller. Was kriag i dafür?“, fragte er und starrte auf den Ausschnitt von Marthes Kleid, leckte sich unwillkürlich über die Lippen.
„Oane aufs Maul kriagst für drei Heller“, knurrte Drees und stellte sich zwischen Marthe und den Mann.
Der Freier bedachte Drees mit einem giftigen Blick und lehnte sich ein wenig zur Seite, um Marthe ansehen zu kennen: „Nächstes Mal lässt ihn dahoam und kimmst alaans. Aber dann zahl i nur zwei Heller, gell?“
Er drehte sich um und ging seiner Wege, Drees zischte etwas Unverständliches und half Marthe mit Liesbeth und dann Fritz auf den Wagen.
„I woaß ned, ob des klug war, Drees“, lächelte Marthe als er aufgestiegen war, bemüht, seinen Dialekt und seinen Tonfall so gut wie möglich zu imitieren, „I ignorier sowas immer.“
Drees lachte leise und schüttelte den Kopf, ließ die Zügel schnalzen und murmelte: „Du bist a was ganz a was Bsonders, woaßd des?“
Auf halbem Weg zum Bauernhof fühlte Marthe seinen Blick auf ihrem Körper. Fritz, der zwischen ihnen saß und die Zügel halten durfte, sang leise vor sich hin. Drees hatte den Hut abgenommen und das Tuch heruntergezogen, deswegen konnte sie ihn betrachten. Sie sahen sich in die Augen und Marthe bemerkte, dass er tiefer atmete. Sie lächelte ihn an und er lächelte zurück. Zwischen ihnen herrschte stilles Einvernehmen, spannte sich ein Band des Vertrauens, entwickelte sich Sympathie zu einer tiefen Zuneigung, ein paar lange Sekunden, bis Fritz Drees anstupste und etwas fragte. Der Zauber war verflogen, doch Marthe wusste, er würde wiederkommen. Immer öfter.
Eine Woche später hatte sie eine Hose für Fritz genäht und das Hemd war zur Hälfte fertig gestellt. Die Abende waren lang und anstrengend gewesen, doch es hatte sich gelohnt, fand Marthe: So eine gute Näharbeit hatte sie noch nie abgeliefert. Drees hatte ihr Abend für Abend Gesellschaft geleistet, manchmal hatten sie sich unterhalten, über den Garten, über die Tiere, über eine notwendige Reparatur an der Scheune. Doch ebenso oft hatten sie auch geschwiegen und wann immer Marthe von ihrer Näharbeit aufsah, betrachtete er sie.
„Wann ist er gstorben?“, fragte er eines Abends unvermittelt, als er schon in der Tür zu seiner Schlafkammer stand.
„Im Juni. Am Tag vor Johanni“, antwortete Marthe und fragte sich, warum er das wissen wollte.
Eine Antwort bekam sie wie so oft nicht, er nickte nur und schloss die Tür hinter sich.
Am nächsten Morgen bei der Stallarbeit war die Stimmung so gelöst und gut, dass sich Marthe eine Nachfrage verkniff. Sie wollte nicht über den Tod reden, sie wollte lachen und unbeschwert sein.
„I war noch nie in einer Stadt“, erklärte Drees, als er den Kuhverschlag ausmistete, und nahm damit ihr Gesprächsthema vom Frühstück wieder auf, „Mir hat die Auswahl an Stoffen bei der Harmbuchnerin immer greicht.“
„Sei froh, dass du nie in der Stadt warst, da gibt es so viele seltsame Leute“, erklärte Marthe und musste lachen.
„Was meinst damit?“, fragte er und machte eine auffordernde Handbewegung, „Sag schon. I mog a was zum Lachn haben.“
Marthe deutete auf den Hühnerverschlag: „In der Stadt gibt’s ganz schön verrückte Typen. Zum Beispiel so jemanden wie den Federmann.“
„Und was macht der? Federn verkaufen?“
„Nein. Das wäre ja kaum verrückt. Das war … das war ein Freier im Hurenhaus. Wir nannten ihn nur den Federmann, weil er nur mit Federn … mhm … gestreichelt werden wollte.“
„Nah.“
„Doch. Ganz besonders in der Hose. Da durfte man nur mit Federn ran. Je mehr Federn, desto besser.“
„Oh.“ Drees runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf: „Na, i woaß ned, des kitzelt doch bloß.“
„Ich sag ja, der war ein bisschen seltsam. Aber ganz nett.“
Drees schüttelte den Kopf, ob ablehnend oder ungläubig, konnte Marthe nicht sagen, und fuhr die Schubkarre nach draußen.
„Hast du … auch mal jemanden kennenglernt, der so seltsam war wie ich?“, fragte er leise, als er wieder in den Stall kam.
Drees stand hinter hier, ziemlich dicht, näher, als er ihr gewöhnlich kam.
„Ich finde dich bis jetzt überhaupt nicht seltsam. Bist du es denn?“
„Wenn ich’s ned wär, würd ich hier draußen ned alleine leben, oder?“
„Das hat andere Gründe. Du bist nicht seltsam, Drees.“ Marthe legte den Kopf in den Nacken und lächelte ihn über die Schulter an.
„Bin i wohl.“
„Meinst du dein Aussehen, dein Verhalten oder deine Vorlieben in der Schlafkammer?“, fragte Marthe leise und drehte sich um.
„Ersteres. Und des zweite vielleicht auch.“
„Jemanden, der so aussieht wie du, habe ich noch nie gehabt. Aber brummige, wortkarge, zurückhaltende Männer gibt’s mehr als du denkst. Das ist nichts Ungewöhnliches.“
„Hättest du mi weggschickt? Wenn i zu dir kommen wär?“
Seine Stimme war leise und brüchig, er schluckte und setzte eine völlig neutrale Miene auf, er wappnete sich für den Schlag, mit dem er rechnete. Marthe sah das und es brach ihr fast das Herz.
„Nein, das hätte ich nicht, Drees. Du bist ein hübscher Kerl, ich hätte mich sogar gefreut.“
„Du lügst“, murmelte er und Marthe schüttelte den Kopf: „Nein. Ich lüge dich nicht an.“
Sie spürte, dass der Zauber zwischen ihnen wieder da war, dass er wirkte, von Mal zu Mal intensiver wurde. Marthe wusste, dass über kurz oder lang ihre Nächte auf der Küchenbank gezählt sein würden. Nicht mehr lange und er würde sie doch noch in sein Bett holen.
„Dada“, sagte Liesbeth, zog an Drees‘ Hose und brach damit den Zauber.
Sie hielt ihm zwei Strohhalme entgegen, die sie in der Stallgasse aufgesammelt hatte und Drees nahm sie ihr ab.
„Dankschön, Liesbeth. Du bist sehr tüchtig.“
Drees schenkte Marthe einen letzten, sehnsuchtsvollen Blick, dann hob er Liesbeth hoch und trug sie zum Misthaufen, damit sie die beiden Strohhalme entsorgen konnte.
An einem Samstagabend zwei Wochen später deckte Marthe Liesbeth zu, die jetzt auf einem Strohsack vor der Ofenbank schlafen musste, weil sie nicht mehr in die Wiege passte. Fritz war schon seit einer Stunde im Land der Träume. Er war mit Drees im Wald gewesen und fast schon beim Abendessen eingeschlafen. Die Abende waren noch kühl, deswegen hatte Marthe den Ofen angeschürt, ein kleines Feuer für die Nacht vorbereitet, das den Wohnraum ein wenig gemütlicher machte und vor allem die Kinder warmhalten sollte. Der Aprilregen prasselte gegen die Scheiben und Marthe ließ sich auf die Küchenbank sinken. Schwere Schritte vor dem Fenster kündigten Drees‘ Rückkehr aus dem Stall an. Er lächelte ihr zu, als er den nassen Wolljanker und den durchweichten Hut an einen Nagel neben der Tür hängte. Marthe strahlte ihn an, stand auf und schenkte ihm einen Becher Milch ein.
„Der Huf ist wieder guad, i hab’s grad in der Stallgasse auf und ab gführt, es lahmt ned mehr“, sagte er, setzte sich hin, zog sich die Stiefel aus und machte die Beine lang.
Er wackelte mit den Zehen und Marthe bückte sich, um die Stiefel aufzuräumen.
„Schön, freut mich“, antwortete sie, stellte die Stiefel neben die Tür und nahm dann auf der Küchenbank Platz.
Ein Blick in Richtung Ofen zeigte ihr, dass beide Kinder schliefen. Im Gegensatz zu ihr sah er nicht zu den Kindern, er betrachtete sie mit der ihm eigenen Ausdauer. Drees konnte sie ganze Abende lang ansehen ohne ihres Anblickes überdrüssig zu werden.
„Du hast zugnommen“, stellte er fest. „Des Kleid hängt nimmer wie ein Sack an dir.“
Marthe nickte und schenkte ihm ein Lächeln. „Wir haben alle drei wieder mehr auf den Rippen. Dank dir, Drees.“
Er winkte ab, trank einen Schluck Milch und sagte: „Du siehst schön aus. Noch schöner als an dem Tag, an dem i di des erste Mal gsehen hab.“
„Ich habe weniger Sorgen und besseres Essen und nette Gesellschaft. Da muss ich doch schöner werden, oder?“
Drees zuckte mit den Schultern und lächelte. Ein paar Minuten war alles still, dann räusperte er sich. Als er anfing zu sprechen, war seine Stimme leise, gedämpft, er klang unsicher und verzagt: „I woaß, der Ludger ist erst zehn Monat tot. I woaß, dass a Jahr zwölf Monat hat. I woaß, dass a Trauerjahr aa länger als zwölf Monat sei derf. Aber … Marthe, i mog nimmer wartn. I konn nimmer wartn.“
Marthe nickte und stand auf, nahm seine Hand und zog sanft an ihm, wartete, bis er aufgestanden war und führte ihn zur Schlafkammer. Drees sagte nichts, er folgte ihr einfach, in dieser stillen Übereinkunft, die zwischen ihnen herrschte.
„Lass die Tür einen Spalt offen, Drees. Der Kinder und der Wärme wegen“, flüsterte sie und zog sich bis auf das Hemd aus, bevor sie über das Bett nach hinten an die Wand rutschte.
Marthe klopfte einladend neben sich und setzte sich auf die Unterschenkel.
„Komm her, Drees“, wisperte sie, als er sich nicht rührte.
Sein Brustkorb hob und senkte sich sichtbar, er atmete tief und bemüht, dann öffnete er die Hose und ließ sie fallen, zerrte sich die Strümpfe von den Füßen und zog sich schlussendlich das Hemd über den Kopf. Drees mochte zurückhaltend sein, aber scheu war er nicht. Nackt stand er vor dem Bett und zerknüllte nervös das Hemd in seinen Händen.
Marthe betrachtete den großen, muskulösen Körper, die starken Arme, die breite Brust, den flachen Bauch. Lange, kräftige Beine. Brust und Bauch waren behaart, kurze, gerade, hellbraune Härchen bedeckten die ausgeprägte Muskulatur. Sie folgte dem Muster der Haare nach unten zu seiner Körpermitte und erkannte, dass Drees überall groß war. Verdammt, er war perfekt gebaut und verflucht schön. Wie dumm konnten Frauen sein, dass sie diesen wunderbaren Körper von sich stießen, nur weil das Gesicht einen großen Fleck hatte?
„Komm her, Drees“, wiederholte sie und streckte die Hand nach ihm aus. „Komm zu mir.“
Er warf das Hemd in die Ecke und kroch auf allen vieren über das Bett zu ihr, setzte sich, genau wie sie, auf die Unterschenkel und rieb sich mit den Händen über die Oberschenkel. Marthe richtete sich ein wenig auf, kam näher, legte eine Hand in seinen Nacken und strich mit ihren Lippen über seinen Mund, zärtlich und fast quälend langsam. Sie küsste ihn, wartete, dass er den Kuss erwiderte und streichelte seinen Nacken, als er es nicht tat.
„Küss mich“, forderte sie leise und er hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Lippen, ganz ähnlich, wie sie es bei ihm gemacht hatte.
Er gab ein leises Keuchen von sich, als Marthe ihre Zunge in seinen Mund schlüpfen ließ, und verharrte etliche Sekunden regungslos, bevor er den Kuss zögerlich beantwortete. In Marthe wuchs der Verdacht, dass Drees tatsächlich überhaupt keine Erfahrung hatte, noch nie geküsst worden war, geschweige denn schon einmal bei einer Frau gelegen hatte. Für sie fast unvorstellbar bei einem 27jährigen Mann, doch seine Geschichte legte nahe, dass es tatsächlich so war. Sie löste sich von ihm und fuhr mit dem Finger über seine Unterlippe, hielt sein Kinn fest und flüsterte: „Jetzt du. Küss mich, wie ich dich gerade geküsst habe.“
Er tat es, langsam und gründlich, und Marthe wurde warm. Drees war noch ein wenig unbeholfen, doch in ein paar Wochen würde er ein großartiger Küsser sein, das spürte sie. Er beendete den Kuss, zog sich ein kleines Stück zurück und sah Marthe in die Augen. Keine Sekunde später quiekte sie erschrocken auf, als sie sich auf dem Rücken wiederfand und Drees über ihr kniete. Seine rechte Hand strich über ihren Oberschenkel und schob das Hemd hoch.
„Drees, warte! Nein!“
Zögernd nahm er die Hand von ihrem Bein und sah sie verunsichert an: „Willsd ned mehr?“
„Doch, natürlich.“
„Guad“, brummte er und spreizte Marthes Beine, entblößte ihren Unterkörper und senkte den Blick von ihrem Gesicht nach unten auf ihre Schambehaarung.
„Nicht so schnell! Lass dir Zeit, wir haben es nicht eilig, oder?“ Sie richtete sich ein wenig auf, stemmte sich auf die Ellenbogen hoch und streichelte über seine Brust.
„Die Männer im Wirtshaus sagn, man muss sich beeilen. Zumindest hab i das so verstandn, wenn i glauscht hab. Mit mir red ja koaner.“
„Du hast noch nie das Lager mit einer Frau geteilt, oder?“
„Nah, hab i ned. Wundert’s dich? Ist des schlimm?“
„Nein, gar nicht. Was haben die Männer gesagt?“, fragte Marthe und setzte sich wieder hin. Drees machte ihr Platz und rutschte ein Stück von ihr weg. „Nein, bleib hier, Drees. Ich will dich küssen können.“
Ein kurzes Lächeln erhellte sein Gesicht, dann räusperte er sich und erzählte: „Sie habn gsagt, dass man sich beeilen muss, damit sich’s die Frau ned anders überlegt und dann gibt’s nur Streit.“
Marthe küsste ihn zärtlich auf den Mund, streichelte über seine Wangen und flüsterte dann an seinem Ohr: „Ich bin eine Hure, Drees. Huren überlegen es sich nicht anders, da kann man sich Zeit lassen. Außerdem finden es Frauen viel schöner, wenn man es so macht, dass es auch für sie gut ist. Dann beschweren sie sich hinterher auch nicht, verstehst du?“
„Ja.“
„Willst du, dass ich es schön finde?“
„Ja, schon.“
„Dann lassen wir uns Zeit. Soll ich dir sagen, was du machen sollst oder willst du es alleine herausfinden?“
„Alaans. Kannst mir ja sagn, wann i was falsch mach.“
Marthe nickte und Drees hob die Hand, zog die Schleife an Marthes Hemd auf.
„Ziagst des aus?“, fragte er leise und Marthe schlüpfte aus dem Hemd, bemerkte abermals, wie er die Luft anhielt, als sie nackt vor ihm saß.
Sie streichelte über seinen muskulösen linken Arm, über die Schulter zu seiner Brust und kam dann wieder näher, küsste ihn und presste ihren Körper an seinen. Seine Hände legten sich wie von selbst auf ihren Rücken, rutschten tiefer zu ihrem Po. Dann schob er sie ein kleines Stückchen von sich, ohne dabei den Kuss zu unterbrechen, und legte seine rechte Hand auf ihre linke Brust. Seine Erektion drückte sich in Marthes Bauch und sie seufzte glücklich, weil er mit dem Daumen über ihre Brustwarze strich.
„Mach den Zopf auf“, befahl er an ihrem Mund und küsste sie noch einmal kurz auf die Lippen.
Marthe setzte sich zurück auf ihre Unterschenkel, löste das Band und den Zopf, kämmte sich die Haare mit den Fingern durch und breitete sie wie einen blonden Vorhang über ihren Oberkörper. Drees betrachtete sie ein paar lange Sekunden, dann hob er die Hand und strich ihr das Haar auf beiden Seiten über die Schultern zurück, langsam und zärtlich, offenbarte ihre Brüste damit wieder seinen Blicken. Die Fingerspitzen seiner rechten Hand fuhren über ihre Schlüsselbeine, das Brustbein hinunter, bis zum Nabel. Dann wandte er sich ihren Brüsten zu, die zwar keine Milch mehr hatten, aber trotzdem voll und schwer wirkten. Marthe fühlte ihre Brustwarzen hart werden und sah ihn lächeln.
„Du bist so schön, Weib“, flüsterte er und beugte sich ein wenig vor um ihren Hals und die Schultern küssen zu können.
Marthe legte sich quer ins Bett, so dass er neben ihr liegen konnte, und flüsterte: „Leg dich neben mich. Dann kannst du mich besser betrachten und mich berühren, wo du willst.“
„Derf i des? Dich anfassn wo i will?“
„Ja, sicher. Es gibt nur eine einfache Regel.“
„Welche ist das?“, fragte er und klang interessiert.
„Überall, wo du mich anfasst oder küsst, darf ich dich auch anfassen oder küssen. Und umgekehrt.“
„Guad, einverstandn.“ Drees legte sich neben sie und platzierte seine Hand auf ihrem Bauch.
Er küsste sich ihren Hals entlang abwärts zu ihrer Brust, saugte an der Warze und ließ sie los, als Marthe leise stöhnte. Er warf ihr einen fragenden Blick zu und Marthe lächelte: „Mach weiter, das ist sehr, sehr schön.“
Sie streichelte seinen Rücken und öffnete die Beine, als er seine Hand über ihren Schamhügel schob. Sein Mittelfinger traf auf die warme Feuchtigkeit und er keuchte leise auf: „Ja, verreck!“
Marthe lachte und legte ihre Hand auf seine, drückte sie tiefer, schob seinen Mittelfinger in sich hinein: „Da willst du hin. Später, mit deinem Schwanz. Aber du kannst mir vorher schon mit den Fingern Freude bereiten.“
Drees stöhnte, als sie begann, seinen Finger rein und raus zu bewegen, als sie die Hüfte hob, um ihm entgegenzukommen.
„Verstanden?“, fragte sie leise und küsste ihn auf den Hals.
Drees nickte und Marthe zog seine Hand wieder höher, legte seinen Zeigefinger an ihren Kitzler und bewegte ihn vorsichtig. Sie schluckte ein Stöhnen hinunter und lächelte, als sie sah, dass Drees abwechselnd zwischen seiner Hand und ihrem Gesicht hin und her sah.
„Spürst du dieses kleine Knötchen unter deinem Finger?“
„Ja.“
„Wenn du dieses Knötchen streichelst, werde ich immer geiler. Jede Frau wird dadurch heiß und willig. Je mehr Aufmerksamkeit du diesem Punkt schenkst“, Marthe musste eine Pause machen, tief Luft holen und sich sammeln, bevor sie weitersprach, „desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie nein sagt. Diese Stelle so empfindlich wie dein Schwanz und man kann … oooh, ja, genau so, Drees … man kann eine Frau damit … jaaaah, ja, so, oh, verdammt! … zum Höhepunkt bringen.“
Marthe ließ ihre Hand sinken, schloss die Augen und überließ sich Drees‘ Fingern, gab ihm leise gestöhnte Hinweise und spürte kurze Zeit später überrascht, dass sie tatsächlich kommen würde.
Als der Orgasmus sie überrollte, bäumte sie sich auf und dämpfte ihr Stöhnen an seiner Brust. Drees hörte auf sie zu streicheln, doch er ließ seine Hand, wo sie war, wartete kurz ab, bis ihre Atmung wieder ruhiger wurde und schob dann einen Finger in sie.
„Des war richtig so, stimmt’s?“
„Ooh ja“, murmelte Marthe. „Du lernst schnell.“
„I versuch’s.“
„Du bist dran, leg dich auf den Rücken, Drees.“
Sie lächelte und küsste ihn, während sie über ihn krabbelte. Marthe verwöhnte ihn nach allen Regeln der Kunst und erfreute sich an seiner überraschten Unschuld, an jedem Stöhnen, das sie ihm entlockte. Sie ließ sich Zeit, sehr viel Zeit, es machte ihr großen Spaß diesen schönen Körper zu erkunden, die großen, starken Hände auf ihrem Körper zu fühlen und sich von ihnen erobern zu lassen. Seine Handflächen fühlten sich rau auf ihrer Haut an, in seiner linken Hand musste ein Holzsplitter sitzen, sie konnte ihn fühlen. Marthe küsste sich über seine Brust, roch den Duft nach Holz, Honig und Mann, küsste sich nach unten und nahm ihn in den Mund.
„Oh, verdammich, Weib!“, stöhnte er und presste seinen Hinterkopf ins Kissen, verschränkte seine Finger mit ihren, als er nicht mehr wusste, was er damit tun sollte.
Als sie ihn schließlich über sich zog und ihre Beine um seine Hüften schloss, sah sie ihm tief in die Augen, beobachtete sein Gesicht. Sein Gesichtsausdruck war unbeschreiblich schön, die Lippen leicht geöffnet, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen, die sich vertiefte, als er ihre Beine von seinen Hüften zog und sich auf die Unterschenkel setzte.
„Was ist?“, fragte Marthe und stemmte sich auf die Ellenbogen hoch.
„Mach i dir a Kind, wenn i in dir drin bin?“, wisperte er und seine Hand streichelte über ihren Oberschenkel.
„Kann sein“, antwortete sie schulterzuckend. „Das weiß man immer erst hinterher.“
„Könnte dir schlecht bekommen.“
„Was?“
„Ein Balg von mir zu kriegn. A Teufelskind.“
„Willst du aufhören, Drees?“, fragte sie sanft und lächelte ihn an.
Es rührte sie, dass er daran dachte, dass er so viel Verantwortung zeigte. Sein nachdenklicher Blick war auf ihre Brüste gerichtet und er biss sich auf die Lippe, bevor er antwortete: „Nah. Du?“
„Nein. Ich hab schon viele Kinder empfangen und hab trotzdem nur zwei. Und ich glaube diesen Teufels-Quatsch nicht. Du bist keine Teufelsbrut, du bist nur anders. Oder hast du schon einmal den Leibhaftigen getroffen?“
„Nah“, antwortete er kopfschüttelnd. „Aber des glaubt mir ja niemand, wenn i des sag.“
„Ich glaube dir.“
Marthe richtete sich auf, umfasste seinen Brustkorb und ließ sich nach hinten sinken, zog ihn mit sich, über sich. Ihre rechte Hand geleitete ihn zum Ziel und sie schloss die Augen, als er sehr zögerlich und sanft gegen ihren Eingang drückte. Sie bog sich ihm entgegen, keuchte leise und flüsterte: „Drees, verdammt!“
„Mach ich’s falsch?“, fragte er und Marthe schüttelte den Kopf: „Ich will dich tiefer in mir, komm her.“
Ihre Hände legten sich auf seinen Hintern und pressten ihn nach unten, langsam, aber sicher. Sie wollte, dass er es genoss solange er einigermaßen klar denken konnte.
„Oh, Himmisakra“, stöhnte Drees und schob sich weiter in sie hinein, schneller, drängender, ganz alleine, ohne ihre Assistenz.
Sein Instinkt hatte die Führung übernommen und Marthe lächelte. Nichts würde ihn jetzt noch aufhalten können.
Sie keuchte, als er ganz und gar in ihr versunken war und Drees öffnete die Augen: „Guad?“
Sie konnte nur nicken. Himmisakra, allerdings. Drees war verflucht groß, in wirklich jeder Beziehung.
„Langsam, genieß es. Schnell können wir’s beim nächsten Mal machen“, flüsterte Marthe, umfasste seine Wangen und zog seinen Mund an ihre Lippen, küsste ihn und sein Mund dämpfte den Schrei, der Marthe entfuhr, als er sich langsam zurückzog und wieder in sie stieß.
„Genau so“, ermutigte sie ihn, küsste ihn noch einmal und diesmal dämpfte sie das tiefe Ächzen, das er nicht unterdrücken konnte.
Drees stemmte sich ein wenig höher nachdem er den Kuss beendet hatte, packte Marthes rechte Brust mit seiner Hand und ließ sein Becken ein wenig kreisen, bevor er wieder zustieß, immer mutiger und schneller, als ihm Marthe deutlich zu verstehen gab, dass sie mochte, was er tat.
Er keuchte mit jedem Stoß, der Bettrahmen knarzte zunehmend lauter und Marthe ließ sich fallen. Er war genauso Mann wie jeder andere Mann auch, er wusste, was er tun musste, brauchte keine Anleitung mehr, egal, wie dezent sie auch sei. Zuckend brach er auf ihr zusammen, sein Gesicht in ihren Haaren vergraben, stöhnend, keuchend. Es hatte nicht lange gedauert, aber für das erste Mal hatte Drees sich wirklich gut geschlagen, fand Marthe, und lächelte, weil sie spürte, dass sie es nie bereuen würde, Drees in ihr Bett genommen zu haben. Sie mochte ihn wirklich, sie wusste, sie könnte sich in ihn verlieben. Wenn sie nicht schon auf dem besten Weg dorthin war.
„Und das war erst der Anfang“, flüsterte Marthe an seinem Ohr, streichelte über seinen Rücken, fühlte den leichten Schweißfilm, der seinen Körper bedeckte. „Es sei denn, du zerquetschst mich jetzt.“
„Bin i zu schwer?“, fragte er leise und Marthe nickte: „Auf Dauer schon.“
Er seufzte und rollte sich von ihr herunter, schloss die Augen und tastete nach ihrer Hand, hielt sie fest.
„Hat es dir gefallen?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.
„Ja. I woaß jetzt, was die Leit dran findn.“
Sie bettete ihren Kopf auf seine Brust und lauschte dem langsamer werdenden Herzschlag. Drees atmete in den Bauch und Marthe legte ihre Hand über seinen Nabel.
„Darf ich hier schlafen?“, fragte sie leise, weil sie merkte, dass er demnächst einschlafen würde.
„Freili.“
Marthe hob den Kopf, rutschte ein Stück nach oben und küsste ihn auf den Mund. Seine Reaktion war typisch Mann: Er legte die Hand an ihren Hals und rollte sie herum, lag wieder halb auf ihr und küsste sie zärtlich zurück. Nachdem er den Kuss beendet hatte, sah er auf sie herunter und murmelte: „Du hast vorhin gsagt, du bist eine Hure.“
„Ja, das stimmt“, lächelte Marthe und streichelte über seine Brust.
„Jetzt, als mei Frau, bist keine mehr.“
„Bin ich das? Deine Frau?“
Drees nickte: „Ja.“
Er sagte es mit ebenso großer Schlichtheit wie Ehrlichkeit und mit einem Mal fühlte sich Marthe zu Tränen gerührt. Sie wischte sich über die Augen und Drees betrachtete sie ein paar Sekunden, wartete, bis sie sich wieder gefangen hatte.
„I bin mir sicher, der Ludger hätt gwollt, dass du wieder glücklich wirst“, wisperte er. „I bin zwar bestimmt ned das, was er für di im Sinn ghabt hatt, aber i versprech, dass i mei Bestes geb.“
Er rollte sich wieder zurück auf den Rücken und bettete Marthes Kopf an seine Brust, atmete tief ein und setzte sich dann ruckartig auf.
„Hm?“
Drees schüttelte den Kopf, murmelte einen Fluch und stand dann auf, ging nackt aus der Schlafkammer und kam Sekunden später mit dem Kissen und der Decke aus der Küchenbank zurück.
„I hab mir denkt, dass du des vielleicht gut gebrauchen könntest.“ Er reichte ihr das Bettzeug und deutete dann mit dem Daumen über die Schulter: „Mit den Kindern ist alles in Ordnung, die schlafn tief und fest.“
Marthe lächelte ihn dankbar an und kuschelte sich kurze Zeit darauf zum dritten Mal an seine Brust.
„I glaub“, murmelte Drees schläfrig, „i muss den Sommer nutzen und die Kammer endlich amal vergrößern, damit da a größeres Bett eini passt.“
„Bevor du damit anfängst, zieh ich dir morgen erst mal den Splitter aus der linken Hand.“
„Einverstanden“, murmelte Drees und küsste sie auf den Scheitel.
Marthe lachte leise und schloss die Augen, genoss die hart-zarte Haut unter ihrer Wange, das Geräusch tiefer Atmung und den regelmäßigen Herzschlag.
Die Morgendämmerung war schon weit fortgeschritten, als Marthe erwachte. Sie fühlte warme Haut in ihrem Rücken, holte tief Luft und lächelte. Drees atmete ruhig und gleichmäßig, er schlief noch, ebenso wie die Kinder, denn das kleine Haus war völlig still. So leise wie möglich stand Marthe auf, nahm ihre Kleider vom Boden hoch und schloss die Tür der Schlafkammer hinter sich. Sollte Drees ruhig noch ein wenig schlafen, während sie sich um das Frühstück kümmerte. Noch im Hemd legte Marthe Holz im Kachelofen nach und betrachtete einen Moment lang ihre Kinder. Fritz würde bald aufwachen und Liesbeth vermutlich auch. Seufzend ging Marthe in die Ecke, in der sich die Küche befand, fachte das Herdfeuer an und wusch sich dann mit einem Lappen Drees‘ Samen und die Überreste ihrer Erregung von der Haut. Sie lächelte, weil sie nach mehreren Monaten zum ersten Mal wieder nach Sex roch und zu diesem Geruch eine Erinnerung hatte, die sie als sehr angenehm und schön empfand. Während sie sich anzog, summte sie leise vor sich hin, ein Zeichen dafür, dass es ihr gutging. Nachdem sie das alte Wasser in den Garten gegossen und frisches vom Brunnen geholt hatte, deckte sie den Tisch und kontrollierte die Vorräte. Am Abend würde sie Brotteig ansetzen, der dann über Nacht ruhen konnte. Leise Schritte hinter ihr ließen sie über die Schulter blicken.
„Guten Morgen, Fritz“, sagte sie leise und legte den Finger über die Lippen.
„Ich muss aufs Häuschen, Mama“, flüsterte er und Marthe nickte, schob ihn in Richtung Tür.
Auf dem Rückweg vom Abort schaute Marthe kurz in den Stall, während Fritz auf dem Vorplatz den Stock suchte, den er am Tag zuvor aus dem Wald mit nach Hause geschleppt hatte. Es war ein kurzer, dicker Knüppel, den er ihr stolz präsentierte.
Zurück im Haus sah sie Drees, der im Hemd mitten im Raum stand und die leise weinende Liesbeth auf dem Arm hatte.
„Da ist die Mama, schau“, sagte er und deutete auf Marthe, „I hab dir doch gsagt, die Mama is nur kurz draußn und kimmt glei wieder.“
Er reichte Marthe das weinende Kind und lächelte ein wenig unsicher.
„Guten Morgen. Hat sie dich geweckt?“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange, fühlte regelrecht, dass er sich entspannte.
Genau wie Liesbeth, die das Weinen einstellte und sich an Marthes Hals schmiegte, während ihre rechte Hand in Marthes Ausschnitt fuhr und nach der Brust tastete. Drees beobachtete das interessiert und sagte: „Ja, hat sie. Macht aber nix, i hab eh zu lang gschlafn.“
„Wir haben Zeit, oder?“
„Ned viel, aber ein bisschen.“
Drees ging in die Schlafkammer und zog sich an, setzte sich dann an den Frühstückstisch und aß mit der ihm eigenen Geschwindigkeit fünf Scheiben Brot.
„Säst du heute?“, fragte Marthe und Fritz rief sofort, dass er mitgehen wolle.
Er nickte und schluckte den letzten Bissen hinunter: „Ja. Bevor i wieder Bäum schlag, muss i aufforsten. Sonst ist ja irgendwann nix mehr da. Gehst in den Garten, Marthe?“
„Ja. Ich säe im Garten, du im Wald.“
„Dankschön, gell?“
Marthe griff nach seiner Hand und drückte sie, schüttelte stumm den Kopf. Er musste sich nicht bedanken, auch wenn sie ebenso erstaunt wie froh war, dass er es immer wieder tat. Aber für Drees waren weder geteilte Arbeit noch geteilte Freude oder geteiltes Leid selbstverständlich.
„Es ist einfacher, wenn man zu zweit ist. Ich mach dir aber trotzdem noch schnell den Splitter raus, der muss doch weh tun.“
Drees schüttelte den Kopf. Seine Hände waren hart und voller Schwielen, er spürte den Fremdkörper vermutlich kaum. Marthe stand auf und holte eine Nähnadel, entfernte damit schnell und geschickt den Splitter aus seiner Handfläche. Drees‘ Lächeln danach wurde sogar noch breiter, als sie ihm über die Haare strich. Seine Hand legte sich auf ihre Hüfte und er erhob sich von seinem Stuhl, zog Marthe näher, sehr sanft und zögerlich.
„Derf i dich küssen? Vor den Kindern?“, fragte er leise und warf einen schnellen Blick zu Fritz, der mit der einen Hand seinen Knüppel festhielt und sich mit der anderen das Brot in den Mund stopfte.
„Ja“, antwortete Marthe, legte den Kopf ein wenig in den Nacken und schloss die Augen.
Seine Barthaare kitzelten sie, als er seine Lippen auf ihre legte. Marthe lächelte, doch das Lächeln verschwand, als er seine Zunge in ihren Mund schlüpfen ließ. Der Kuss, der so zärtlich begonnen hatte, wurde heiß und leidenschaftlich. Drees schmeckte nach Milch und Butter und machte keine Anstalten, es bei einem kurzen Kuss zu belassen. Er zog sie an sich, seine rechte Hand legte sich um ihren Nacken und Marthe stöhnte.
„I wünscht, es wär scho wieder dunkel draußn und i könnt in dir sein, Marthe“, flüsterte er an ihren Lippen, als er nach einer kleinen Ewigkeit den Kuss beendete.
„Ich weiß“, lächelte sie und befreite sich aus seinem Griff.
Sein Blick wanderte sehnsüchtig an ihrem Körper hinab, bevor er sich sichtbar zusammenriss und sagte: „Auf geht’s, Fritz. Gemma nein Wald.“
Marthe ließ den Frühstückstisch Frühstückstisch sein und kümmerte sich zunächst um die Tiere, räumte dann im Haus auf und begann danach, immer begleitet von Liesbeth, ihre Tätigkeit im Garten. Die Arbeit, die sie am meisten von allen liebte. Sie säte Kohl aus und bereitete die Beete für die Pflanzen vor, die sie erst in zwei oder drei Wochen aussäen würde. Gegen Mittag kochte sie eine Suppe, fütterte Liesbeth damit und legte das Mädchen dann für ein Mittagsschläfchen hin. Während Liesbeth schlief bereitete Marthe den Brotteig zu, servierte Fritz und Drees, die zu einer Pause aus dem Wald kamen, ihr Mittagsmahl und begann dann aus Stoffresten ein Kissen für Liesbeth zu nähen. Kaum war der Mittagsschlaf vorüber, arbeitete Marthe im Garten weiter. Nach dem Abendessen fielen die Kinder wie tot in ihre Betten, Fritz auf der Ofenbank, Liesbeth auf dem Strohsack davor. Drees hielt sich nicht lange auf, er wartete nur wenige Minuten, bis er sicher war, dass beide Kinder so schnell nicht mehr aufwachen würden.
„Komm“, sagte er, pustete die Kerze aus und ging in die finstere Schlafkammer, durch deren kleines Fenster nur wenig Mondlicht fiel.
In der Kammer war kaum Platz genug, um zu zweit darin zu stehen, also wartete Marthe in der offenen Tür bis Drees sich seiner Kleider entledigt hatte und sich nackt auf das Bett setzte. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Außenwand und streckte die Hand nach ihr aus. Trotz der Dunkelheit konnte Marthe sehen, dass er bereits erregt war.
„Bitte“, flüsterte er. „Oder willst ned?“
Statt einer Antwort zog sich Marthe aus, warf noch einen Blick über die Schulter in den stockfinsteren Wohnraum und krabbelte dann zu ihm, setzte sich auf seine Oberschenkel.
„Du machst mi wahnsinnig, Weib“, murmelte Drees und strich mit den Fingerspitzen über ihre Wirbelsäule, löste damit mehrere wohlige Schauer aus. „I hab im Wald an nix andres mehr denkn könna.“
„Das ist am Anfang ganz normal, Drees“, lächelte sie und küsste ihn zärtlich. „In ein paar Wochen legt sich das wieder und du denkst nicht mehr ständig daran.“
„Mhm. Zu schad, dass der Fritz koan Mittagsschlaf macht. Sonst hätt i das …“, Drees nahm ihre linke Brust in die Hand und hob sie an, nahm die Brustwarze in den Mund und saugte daran, knabberte ein wenig und leckte mit der Zunge darüber, „scho heut Mittag erledigt.“
Marthes Atmung vertiefte sich und sie flüsterte: „Hast du dir überlegt, wie du mich heute willst?“
Drees stockte und weil Marthe gerade einen Kuss auf seiner Stirn platzieren wollte, fühlte sie, wie sich die Haut unter ihren Lippen in Falten legte. Sie konnte sich seinen verwirrten Gesichtsausdruck gut vorstellen.
„Nah. Und i merk grad, i muss noch viel lernen.“
Marthe lachte leise und seufzte dann, als er sie in die Brustwarze biss: „Ich bringe es dir gerne bei.“
„Einmal hab i ghört, wie oaner gsagt hat, dass er die Weiber am liebsten vo hinten nimmt, weil er dann ihre bleeden Gsichter ned sehen muss. Redst du davon?“
„Ja, zum Beispiel. Man kann’s auf viele Arten treiben, Drees.“
„Aber ich seh di gern. Und dafür isses mir eigentlich schon viel zu dunkel da herin. I hätt es lieber, wenn i di richtig sehn könnt.“
„Wenn wir das machen, geht es nicht darum, dass du mein Gesicht nicht sehen willst. Das ist nur ein dummer Spruch eines Mannes, der seine Frau hasst und sie das spüren lassen will.“
„Ah, so. Wie kann man’s noch treibn?“, fragte Drees und wandte seine Aufmerksamkeit Marthes anderer Brust zu.
„Ich kann mich auf dich setzen, so ähnlich wie jetzt.“
„Ah, versteh“, machte Drees und ließ die Finger seiner linken Hand über Marthes Po wandern, „des heißt dann reiten, oda?“
„Du bist gar nicht so unschuldig wie du tust, was?“, grinste Marthe und rieb ihr Becken ein wenig an seiner Erektion.
„I hob schon viel Bettgschichtn ghört, aber i konnt mir das nie wirklich vorstellen. Was magst du am liebstn, Marthe?“
Sie atmete tief durch, als sich für eine Sekunde Ludger in ihr Gedächtnis schob, der sie vor bald zehn Jahren genau das auch gefragt hatte, in einem ähnlichen Tonfall und in fast derselben Situation. Sie erinnerte sich, dass sie damals fast sprachlos gewesen war, weil noch nie ein Mann gefragt hatte, wie sie es am liebsten mochte.
„Ich mag alles, solange du nicht übermäßig grob wirst und mich ernsthaft verletzt, Drees.“
„Nah, du sollst scho genau sagn, was du magst. Bitte, Marthe. I sag dir dann auch, was mir am Besten gfalln hat, wenn wir ois ausprobiert habn.“
„Das merke ich dann sowieso, denn so werden wir es dann immer machen, oder, Drees?“
„Wenn dir das gfällt, dann ja.“ Drees zuckte mit den Schultern und Marthe sah das Weiß seiner Zähne aufblitzen, als er lächelte.
Seine Finger wanderten zwischen ihre Beine und sie fühlte, wie er vorsichtig nach ihrem Kitzler suchte. Marthe stöhnte, als er ihn gefunden hatte und spürte sein Lächeln an ihrer Haut. Er gab sich wirklich große Mühe, das merkte sie. Er war unverdorben und unbeeinflusst, niemand hatte ihn von Kindesbeinen an dazu erzogen, in der körperlichen Liebe etwas Sündiges, in einer Frau etwas Geringeres als er selbst war zu sehen. Niemand hatte ihm erklärt, dass er das Sagen hatte, dass seine Frau zu tun hatte, was er verlangte. Er hatte diese Haltung natürlich beobachtet, bei seinen Eltern, hatte im Wirtshaus davon gehört – und es als falsch empfunden. Ludger hatte so ähnlich gedacht und so bestimmend er in allen Aspekten ihres Zusammenlebens mitunter gewesen war, so hatte sie doch niemals das Gefühl gehabt, er würde sie nicht respektieren, nicht schätzen. Sie hatten sich gefetzt wie die Kesselflicker, um die Vormachtstellung gekämpft und sich tausendmal auf Augenhöhe versöhnt. Mit Drees würde es weniger Kämpfe geben, zumindest am Anfang. Dafür war er zu dankbar für alles, was sie zu geben hatte.
„Sag’s mir“, flüsterte Drees, „komm schon.“
Marthe mochte den wilden, harten Akt, den Ludger bevorzugt hatte, durchaus sehr gerne, aber nie hatte sie sich geliebter gefühlt als in den Nächten, in denen Ludger ausgesucht zärtlich zu ihr war, langsam und liebevoll. Seufzend stieg sie von Drees‘ Oberschenkeln herunter und kniete sich neben ihn.
„Leg dich hin, auf die Seite, mit dem Gesicht zu mir.“
Drees leistete ihrem Wunsch sofort Folge und Marthe streichelte über seinen Oberarm, seine Taille, über die Hüfte bis zu seinem Knie, bevor sie sich neben ihn legte. Ihren Rücken drückte sie an seinen Oberkörper und summte zufrieden, als Drees ohne Aufforderung seine Arme um sie schloss.
„Wenn ich mein linkes Bein ein wenig anwinkle, kannst du in mich eindringen. Wenn man das leise und langsam macht, wachen nicht einmal die Kinder davon auf, auch dann nicht, wenn sie mit im Bett schlafen.“
„Guad zu wissen. Und i kann di überall streicheln“, flüsterte er und tat es, wie um Marthe davon zu überzeugen.
„Ja. Es ist zärtlich und liebevoll und nicht besonders anstrengend. Deswegen kann man das auch gut machen, wenn man sehr müde ist. Oder gerade eben erst aufgewacht.“
„Du moanst, i kann’s jetzt so mit dir treibn und morgen früh vor dem Aufstehen glei nochmal?“
„Wenn du das möchtest, Drees.“
Er lachte leise und streichelte sie weiter, erkundete ihren Körper langsam und gründlich: „I wär a Narr, wenn ich’s ned wollt.“
Marthe schwieg und zerschmolz kurz darauf unter der großen Zärtlichkeit, die Drees ihr zuteilwerden ließ.
„War des guad für di?“, fragte er und sie konnte nur nicken, keinen klaren Gedanken fassen.
Der Orgasmus, den er ihr gerade verschafft hatte, hatte aus ihr ein wimmerndes, zitterndes Bündel Mensch gemacht und sie wollte nicht, dass er jemals wieder damit aufhörte. Drees war überaus talentiert und zeichnete sich durch große Geduld und noch größeren Enthusiasmus aus.
„Derf i?“, fragte er, als Marthe nicht antwortete, und sie spürte seine Erektion gegen ihren Eingang drücken.
„Ja, Drees, bitte.“ Nur ein Hauch, mühsam hervorgebracht zwischen den heftigen, schnellen Atemzügen, die sich nur langsam beruhigten.
Er ächzte leise als er ganz in ihr war, Marthe spürte, wie sich sein Gewicht ein bisschen auf sie verlagerte, als er versuchte, den idealen Winkel zu finden um bequem zu liegen und so tief wie möglich in sie zu kommen. Seine Brust hob und senkte sich gegen ihren Rücken und er presste ihren Unterkörper mit der rechten Hand auf ihrem Bauch an sich, seine linke Hand lag auf ihrer Brust. Er hielt ganz still, sekundenlang und flüsterte dann in ihre Haare: „I hab ned gwusst, dass es so is.“
„Wie meinst du das?“
„Alles, was ich drüber ghört und davon gsehen hab, war brutal, hart, schnell und … immer irgendwie voller Gewalt und Verachtung. I hab denkt, dass ich des ned in meim Lebn brauch, woaßt? Weil i davon schon genug ghabt hab. I hab ned gwusst, dass es so liebevoll und zärtlich sei kann.“
„Jetzt weißt du es. Und irgendwann machen wir es auch mal hart und schnell und das wird dir sicher auch gefallen. Weil es mir dann auch gefallen wird. Es ist wichtig, dass beide dasselbe wollen, weißt du? Dann wird es für beide sehr schön.“
Drees bewegte sich langsam und seine Atmung vertiefte sich. Er klang heiser als er sagte: „Du hast recht, Marthe. I versteh, warum’s dir auf die Art so gut gfällt.“
Dann sagte er für längere Zeit nichts mehr, Marthe schloss die Augen und lauschte auf das leise Stöhnen, überließ sich ganz den wunderbaren Empfindungen, die er in ihr auslöste. Drees keuchte ihren Namen und Marthe fühlte seinen Höhepunkt, stöhnte, als er sie fester packte, sich instinktiv noch tiefer in sie presste. Während sie darauf wartete, dass seine Atmung sich normalisierte, streichelte sie über seinen Arm, lehnte sich an ihn und empfing den Kuss auf ihren Hinterkopf mit einem Lächeln.
„Wenn du schnell genug bist, kannst so sogar einschlafen. In mir“, flüsterte sie.
Sie wusste, es würde funktionieren, denn Drees war groß genug dafür.
„Klingt wia des Paradies auf Erden“, antwortete er, seufzte und tat dann genau das: Er schlief ein, mit ihr verbunden.
Marthe lehnte sich an ihn und dankte Ludger stumm dafür, dass er ihr diesen wunderbaren Mann geschickt hatte.
Als der April zu Ende ging und ein strahlend schöner Mai das Leben immer angenehmer machte, musste sich Marthe eingestehen, dass Drees der zärtlichste und geduldigste Liebhaber war, den sie jemals gehabt hatte. Er war immer noch irgendwie unschuldig und begierig darauf, alles, was Marthe wusste, auszuprobieren und zu lernen, doch in Sachen zarte Berührungen war er ein Meister. Er kam noch nicht an Ludgers Finesse heran, doch er wurde von Woche zu Woche besser. Mit jeder Nacht stieg seine Ausdauer und ließ nichts mehr zu wünschen übrig. Nicht einmal Marthes Monatsblutung hielt ihn auf, ihr Hinweis darauf ließ ihn nur mit den Schultern zucken.
Liesbeth liebte ihn mit jedem Tag mehr und auch Fritz konnte seine große Zuneigung nicht verbergen. Drees baute, sein Wissen geduldig an Fritz vermittelnd, ein Bett für Liesbeth und begann, die Vergrößerung der Schlafkammer zu planen.
Marthe fand ihn eines Abends an der Seite des Hauses, er betrachtete die Wand mit zusammengekniffenen Augen.
„Eigentlich …“, sagte er, ohne sie anzusehen, „könnt ich die Außenmauer auf der kompletten Länge nach außen ziehen. Dann ist das ganze Haus größer und wir habn mehr Platz für die Kinder.“
„Drees, das ist viel Arbeit und kostet sehr viel Geld.“
„Viel Arbeit, ja. Wird ein paar Wochn dauern. Geld kostet mich das keins, das Material liegt alles in der Scheune. I wollt die Kammer ja schon lange größer machen.“
„Ich helfe dir, so gut ich kann, ja?“
„Dich hat der Himmel gschickt, Weib, woaßt des?“, fragte Drees und lächelte sie an, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.
„I dad mi freun, wann i bald noch a Bett für a Kind bauen dürft. Aber dafür brauchen wir Platz. Und den mach mer jetzt.“
Drees küsste sie zärtlich und Marthe seufzte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen und fragte sich, wer hier vom Himmel geschickt worden war.
Wenige Tage später begann Drees mit dem Umbau. Er stand sehr früh am Morgen auf, damit er schon in der Dämmerung im Wald arbeiten konnte, machte erst gegen zwei Uhr am Nachmittag seine Mittagspause und blieb dann am Haus um bis Einbruch der Dunkelheit an der Vergrößerung zu arbeiten. Drees plante, das Haus um circa sechs Schritte zu vergrößern, was fast einer Verdopplung der Wohnfläche gleichkam. Geld würde es ihn trotzdem kosten, denn die Ziegel, die in der Scheune lagerten, reichten für den Anbau bei weitem nicht. Doch Drees schob diesen Einwand zur Seite, setzte sich auf den Pferdewagen und kam wenige Stunden später mit ausreichend Ziegeln zurück. Marthe zweifelte ein wenig daran, dass ihm dieses ganze Projekt alleine gelingen würde, doch Drees, das merkte sie recht bald, konnte schuften wie ein Ochse und verfügte über einen stählernen Willen. Marthe verwöhnte ihn nach Kräften, half und unterstütze, wo sie konnte und so hatten sie nach zehn Tagen die Verlängerung der vorderen Außenmauer geschafft. Doch Drees‘ Körper verlangte Tribut für die Plackerei und so schlief er abends bereits in dem Moment ein, in dem sein Kopf das Kissen berührte. Noch vor der Dämmerung war er wieder wach und machte sich sein neu erlangtes Wissen zunutze, so dass Marthe jeden Morgen im Halbschlaf spürte, wie er vorsichtig in sie eindrang. Er blieb zärtlich und langsam, ganz und gar angepasst an die schläfrige, dunkle Stunde. Es war eine durch und durch großartige Art geweckt zu werden, insbesondere sonntags, wenn Marthe danach einfach noch einmal einschlief, in seinen Armen, mit ihm verbunden, seine Wärme im Rücken, seine Arme um ihren Körper geschlungen.
An dem Tag, an dem Drees mit der hinteren Mauer angefangen hatte, war das Glück ihnen besonders hold. Gegen Abend kamen zwei Maurer auf der Walz am Hof vorbei, sprachen vor und Drees nahm das Hilfsangebot dankbar an. Selbst wenn die beiden nur einen Tag bleiben würden, würden sie an diesem Tag mehr schaffen als Drees alleine in drei Tagen. Zu Marthes Erstaunen blieben sie eine ganze Woche – und nach dieser Woche waren die neuen Mauern fertig. Die Maurer boten sogar an, noch beim Dachstuhl zu helfen und Drees wäre ein Narr gewesen, hätte er die Hilfe ausgeschlagen. Marthe wunderte sich ein wenig darüber, dass die beiden Wanderburschen gar keinen Anstoß an Drees‘ Teufelsmal nahmen, doch vielleicht, so überlegte sie, war man dort, wo die beiden herkamen, weniger katholisch und dafür etwas vernünftiger. Als der Dachstuhl zwei Tage später stand, ließen sich die beiden Burschen die getane Arbeit und die Stunden in ihrem Wanderbuch bestätigen, kassierten ihren wohlverdienten Lohn und zogen weiter. Drees schaffte es mit Marthes Hilfe, das Dach bis zum Abend komplett einzudecken und war sehr zufrieden, als er sich an den Abendbrottisch setzte. Die Decke und der Fußboden fehlten noch, doch das meiste und schwierigste war geschafft, in weniger als vier Wochen. Drees hatte damit gerechnet, den ganzen Sommer zu brauchen.
„Dadurch das wir so schnell fertig gworden sind, könnt i drüber nachdenken, im Herbst noch zwoa Innenwänd aus Holz zu ziehen, damit die Kinder a eigne Kammer habn. Was moanst?“
„Es ist dein Haus, Drees“, lächelte Marthe, „Das kannst du halten, wie du möchtest.“
Er betrachtete sie nachdenklich und nickte dann langsam: „Also stimmt’s doch.“
„Was stimmt?“
„Dass der Mann der is, der wo des Sagn hat.“
„Bei den Dingen, die dir gehören, hast du natürlich das Sagen, Drees.“
„Ghörst du aa mir?“, fragte er leise und legte den Löffel neben seine Schüssel.
„Nein. Ich bin ein freier Mensch, ich gehöre niemanden, so wie du ja auch niemandem gehörst. Männer glauben gerne, dass eine Frau ihr Eigentum ist, aber das ist falsch.“ Marthes Tonfall war scharf, wie immer, wenn dieses Thema auf den Tisch kam.
„I würd mir wünschen, dass du zu mir ghörst.“
„Zu dir?“, fragte Marthe und der Ärger, den sie eben noch empfunden hatte, verschwand.
„Ja. Dass du schon mein Weib bist und i di so … so nennen darf. Mir is scho klar, dass du ned wirklich mir ghörst. I dad mir wünschn, dass wir miteinander …, naja, du verstehst scho, oda? I woaß ned, wie i sagn soll.“
Marthe lächelte, denn Drees nannte sie öfter „Weib“ als bei ihrem Namen, doch so, wie er es sagte, klang es immer sehr liebevoll und zärtlich, wie ein Kosename. Und sie verstand, was er sagen wollte.
„Miteinander. Nicht von oben nach unten, sondern nebeneinander.“
„Ja, genau.“
„Und trotzdem soll ich dein Weib sein.“
„Ja.“ Drees nickte und kratzte sich am Kinn.
„Bedeutet dieses Gespräch, dass ich eine Meinung haben sollte?“
„Ja.“
„Ich fände es sehr schön, wenn die Kinder eine eigene Kammer hätten.“
„Na also“, brummte Drees und grinste ein bisschen, „Des war doch gar ned so schwer, oda, Weib?“
Zwei Tage später, Drees stand auf dem Hof und bearbeitete das Holz für den Fußboden, bekamen sie Besuch. Zum ersten Mal in dem halben Jahr, in dem sie nun hier wohnte. Gemessenen Schrittes kam der Mann in der schwarzen Soutane näher und Marthe, die Drees etwas zu trinken gebracht hatte, blieb neben ihm stehen.
Drees baute sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf, verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte damit ebenso bedrohlich wie furchteinflößend. Die Schritte des Pfarrers wurden immer langsamer, je näher er kam. Marthe setzte ein einladendes Lächeln auf, um Drees‘ Gebaren ein wenig zu mildern. Nicht, dass sie glaubte, es würde viel nützen, aber es war besser als nichts.
„Gott zum Gruße, Hochwürden“, grüßte sie freundlich und verzog keine Miene, als er sie kalt und abschätzig musterte.
Marthe sah aus wie eine ganz normale Bauersfrau, gekleidet in ein schlichtes Arbeitskleid und eine Schürze, die noch Drees‘ Mutter gehört hatte. Nichts an ihr sah zu freizügig oder gar anrüchig aus, es gab – eigentlich – keinen Grund für diesen Blick. Und doch vermittelte der Geistliche stumm, was er von ihr hielt. Marthe war das gewohnt, sie kannte die seltsame Auslegung der Nächstenliebe nur zu gut. Nächstenliebe ja, aber nur denen gegenüber, die auf derselben Ebene oder höher standen. Den geringeren Brüdern und Schwestern konnte man durchaus mit Verachtung begegnen. Die Stelle im Matthäusevangelium – Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan – war nur dann von Belang, wenn es sich um herausragend gute Taten handelte, wenn es darum ging, sich selbst in den Himmel zu loben.
Marthe schluckte ihren Ärger über die Geistlichkeit hinunter, mahnte sich zu Freundlichkeit und rang sich ein Lächeln ab. Der Pfarrer blieb vor ihnen stehen, auf der anderen Seite des Holzes, und räusperte sich, bevor er ein Taschenaspergill aus der Soutane zog und – noch bevor Marthe etwas sagen konnte – sowohl Drees als auch sie mit Weihwasser bespritzte. Drees stand wie ein Fels, unbewegt, das Weihwasser tropfte ihm von der Nase, aus dem Bart, bevor er langsam die Hand hob und sich über das Gesicht wischte. Marthe war für ein paar Sekunden wie versteinert, sprachlos über diese Unverschämtheit, die sich der Pfarrer herausnahm.
„Was willst, Kuttenbrunzer?“, fragte Drees und jeder Buchstabe war die reine Bedrohung.
„I wollt mi von dem überzeugn, was mir die ehrbaren Mitglieder meiner Gemeinde zugetragen habn.“
„Und das wär was?“
„Dass es hier mim Deifi zugeht.“
„Aha. Is des was Neues?“, fragte Drees süffisant. „I hob denkt, des wär der Grund, warum scho seit siemazwanzg Jahr keiner mit mir red.“
„Die Leit habn recht.“ Der Pfarrer deutete auf das Wohnhaus und Drees zuckte mit den Schultern.
„Was ist denn das Problem, Hochwürden, ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …“, sagte Marthe, nach wie vor um Freundlichkeit und Deeskalation bemüht.
„Schweig still, Teufelsweib“, zischte er und zuckte zusammen, als Drees ein gefährliches Knurren vernehmen ließ.
„Sag, was du willst oder geh“, verlangte Drees und trat einen Schritt näher, so dass seine Knie die Holzbarriere zwischen ihm und dem Besucher berührten.
Der Pfarrer wich automatisch einen Schritt zurück, seine Hände krampften sich angstvoll in die Soutane, dann suchte er mit der rechten hektisch nach seinem Rosenkranz.
„Wer ist dieses impertinente Weibsbild, das ohne Gottes Segen Tisch und Bett mit dir teilt?“, fragte der Geistliche und Drees lachte leise. „Warum lachst du, Andreas? I kann nix komisches dran findn, in Sünde zu lebn.“
„Gehst nachts bei die Leit zum Spannen, Pfaffe, oder woher woaßt, dass sie des Bett mit mir teilt?“
Der Geistliche ging nicht darauf ein, er wiederholte seine Frage: „Wer ist sie?“
Drees lächelte Marthe zu, legte den Arm um sie und erklärte: „Mein Weib. Wennst mogst, kannst uns hier und jetzt deinen Drecks-Segen gebn, wenn di des glücklich macht.“
„Hüte deine Zunge, Andreas. Hüte deine Zunge!“ Der Pfarrer schlug das Kreuzzeichen und sah, um Beistand bittend, zum Himmel.
„Sonst was? Kimm i in die Höll? Da komm i doch her, zumindest behauptest du des doch immer.“
„Was ist mit deinem Haus passiert?“, fragte der Pfarrer und deutete auf die neu gezogenen Mauern.
„I hab’s vergrößert. Weil i Platz brauch für mein Weib und die Kinder.“
Die Gesichtsfarbe des Pfarrers wechselte von hektisch rot zu dunkelrot und Marthe fürchtete, ihn würde demnächst der Schlag treffen.
„Vor fünf Wochen sind wir zur Mariengrotte gwallt. Da war hier noch ois wie immer. Gestern warn wir wieder dort und als wir hier vorbeikemma, ist dei Haus auf einmal doppelt so groß wie vorher. Und niemand ausm Dorf hat dir gholfen, Andreas. Wie hast des gmacht?“
„Wann ich’s zaubert hätt, moanst, i dad mi jetzt mit die Fußbodenbretter ab?“, grinste Drees und zeigte auf den Holzstapel zwischen ihnen.
„Wie hast des gmacht, Andreas?“, donnerte der Pfarrer und Drees seufzte.
„Wir hatten Hilfe von Wanderburschen. Die sind zehn Tage geblieben und …“, erklärte Marthe freundlich.
„Du sollst dei schändliches Maul halten, Weib!“, brüllte der Pfarrer unbeherrscht und sie zuckte mit den Schultern.
Mit diesem Pfaffen war wahrlich nicht gut Kirschen essen, reden konnte man mit ihm offenbar nicht. Seine Meinung stand fest und nichts in der Welt würde ihn davon abbringen können.
Mit zwei langen Schritten umrundete Drees den Holzstapel, packte den Priester an der Soutane und hob ihn hoch, bis er Nase an Nase mit dem hilflos fiependen Mann war.
„Sprich nicht so mit meiner Frau, Pfaffe, oda i bring dir Manieren bei. Host mi?“
„Lass mich runter, du Deifi!“
Drees setzte den Pfarrer auf dem Boden ab und zischte: „Verschwind und komm nie wieder. Lassts mi und meine Familie in Frieden.“
„Sonst was?“
„Des willst du gar ned wissen, Kuttenbrunzer. Hau ab.“
Der Pfarrer bekreuzigte sich abermals, griff noch einmal zum Taschenaspergill und besprenkelte Drees mit Weihwasser: „Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich. Herr, erbarme dich. Christus, erhöre uns.“
„Stört’s dich, wann i weiterarbeit, während du deinen Exorzismus aufsagst?“, grinste Drees und griff wieder zum Hobel. Dann sagte er an Marthe gewandt: „Das macht er jedes Mal, wenn er hier rauskommt. Den Exorzismus. Hat noch nie irgendwas bewirkt, aber er versucht’s immer wieder.“
Seufzend wischte sich Drees das Weihwasser aus dem Gesicht und hobelte unbeirrt die Bretter weiter, während der Geistliche die Allerheiligenlitanei vor sich hinmurmelte. Er unterbrach sich, als Fritz und Liesbeth aus der Haustür traten, auf der Suche nach Marthe, die nun schon so lange draußen war.
„Du hast hier Kinder wohnen, Andreas?“, fragte er und Drees nickte: „Freili. Soll ich sie im Wald schlafn lassen, oder was?“
„Zu wem ghörn diese armen Kreaturen?“
„Zu mir und meinem Weib. I entführ koane fremden Kinder, Pfaffe.“
„I geh davon aus, dass sie ned getauft sind.“
„Natürlich sind sie das“, log Marthe. „Genau wie ich, genau wie der Drees.“
„Mama“, fragte Fritz, „wer ist das?“
„Das ist der Pfarrer aus dem Dorf. Er wollte gerade wieder gehen.“ Marthe lächelte dem Geistlichen zu, der gequält das Gesicht verzog.
Sein Ausdruck wich blankem Entsetzen, als Drees Liesbeth hochhob und sie sich auf den Unterarm setzte. Liesbeth seufzte zufrieden, legte ihren Kopf an Drees‘ Schulter und verbarg ihr Gesicht an seinem Hals, kraulte mit der linken Hand durch sein Barthaar.
Der Geistliche bekreuzigte sich, drehte sich um und ging grußlos den Weg zurück ins Dorf.
„Drees“, murmelte Marthe, „du musst freundlicher zu ihm sein.“
„Er war noch nie freundlich zu mir, wieso sollt ich?“
„Weil er Macht hat. Über die Leute und über das, was sie denken.“
„Die Leit denken doch schon das Schlechteste von mir.“
„Schlechter geht immer, Drees.“
„Mach dir keine Sorgen, Marthe, i kenn den schon lang. Der ist harmlos und scheißt sich bald in die Kuttn vor Angst.“
Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich. Marthe nickte, als er den Kuss beendete und hoffte, dass Drees recht behalten würde.
Am Montag darauf brachte Drees eine Fuhre Holz zu Toni ins Dorf und kam in der Abenddämmerung wieder zurück, ließ sich auf einen Stuhl fallen und kickte sich die Stiefel von den Füßen. Die negative Energie, die schlechte Laune, die er ausstrahlte, war nicht zu ignorieren, sie war so stark und plastisch, dass Fritz und Liesbeth nicht wie sonst gleich auf ihn zukamen, sondern sich still auf die Ofenbank verkrümelten.
„Ist alles in Ordnung, Drees?“
„I bin wütend“, brummte er und versteckte sein Gesicht in den Händen.
„Warum? Meinetwegen?“
Marthe ging langsam auf ihn zu, legte ihm eine Hand in den Nacken und streichelte ihn.
„Nah.“
Drees setzte sich gerade hin, starrte unverwandt aus dem Fenster und fuhr mit einem Finger über das Teufelsmal. Marthe massierte ihm die Schultern, sehr sanft und vorsichtig.
„Was ist passiert, Drees?“
„Der Toni hat mir erzählt, was der Kuttenbrunzer am Sonntag gepredigt hat.“
„Ich ahne Schlimmes“, flüsterte Marthe und musste sich zusammenreißen, um ihn weitermassieren zu können.
„Naja. Der übliche Dreck, den er immer über mich erzählt. Der Deifi wohnt mitten unter euch, grad naus ausm Dorf, im Mareiner Forst. Nur eben neu aufgwärmt und durch die neuesten Gschichten ergänzt. Dass es ned mit rechten Dingen zugehn kann, so schnell wie i des Haus vergrößert hab. Er hat über di gsprochen und über die Kinder. Dass neue Teufelsbrut geboren wird, wahrscheinlich schon bald. Und dass unsere Kinder ned nur Milch von der Mutter kriegn.“
„Was? Wie kommt er auf die Idee? Und was meint er damit?“
„Erinnerst di, dass i die Liesbeth auf den Arm gnommen hab?“
„Ja.“
„Der Kuttenbrunzer hat erklärt, er glaubt, dass das arme Kind mei Blut trinkt. Aus meim Hals.“
„Aber sie hat doch nur ihr Gesicht versteckt, weil er fremd war. Das machen doch alle Kinder!“, rief Marthe empört und konnte die verblendete Dummheit, den Hass und die Lügen, die dieser Mann verbreitete, kaum fassen.
„Der Toni sagt, des wär aber dann doch zu viel Gruselmärchen gewesen, das hättn die Leit ned glaubt, also, die allermeisten ned. War im Wirtshaus natürlich das einzige Thema, was besprochn wordn ist. Aber er hat sich’s ned nehmen lassen, meinen Hals recht genau zu betrachten. Aber i glaub ned, dass er Bissspuren gfunden hat.“
„Wenigstens etwas“, murmelte Marthe und seufzte.
„Eben. Stell dir vor, du hättst mi gebissn, letzte Nacht.“ Drees lachte leise und wurde dann wieder ernst: „Aber wütend bin i trotzdem auf diesen bleeden Kanzelarsch. Sauwütend.“
„Drees, du musst freundlicher zu ihm sein, ihn davon überzeugen, dass du ein guter Kerl bist.“
„Dafür ist es doch eh zu spät. Der dreht mir des Wort im Mund rum und behauptet, der Deifi will sich ihm anbiedern.“
„Und was machen wir jetzt?“
Drees zuckte mit den Schultern: „Nix. Wie immer. I halt’s aus. Besser als früher, weil i jetzt wenigstens dich hab, Weib. Wenn i früher ausm Dorf kemma bin, war hier alles still und kalt und es war koaner da, der mi hätt tröstn können.“
Marthe ging um ihn herum und beugte sich zu ihm hinunter, küsste ihn zärtlich auf den Mund und fuhr mit dem rechten Daumen über das Mal in seinem Gesicht. Drees atmete tief ein und ein Zittern lief über seinen Körper, dann packte er Marthe, zog sie auf seinen Schoß und legte alle seine Wut, seine Leidenschaft in einen Kuss. Sie schnappte nach Luft, als er endlich von ihr abließ und quiekte, als er sie noch einmal küsste. Seine Hand fuhr unter ihren Rock, den Oberschenkel nach oben und blieb auf ihrer Hüfte liegen.
„Drees“, keuchte sie an seinen Lippen, „Hör auf, bitte. Die Kinder …“
„Glei, oanen noch“, murmelte er und küsste sie ein drittes Mal, leidenschaftlicher und drängender als jemals zuvor.
Von der Zärtlichkeit, die er in den letzten Wochen so ausgiebig mit ihr gelebt hatte, war wenig zu spüren.
„I glaub“, flüsterte er ihr ins Ohr, bevor er sie losließ, „heut brauch ich’s hart und schnell.“
Marthe nickte lächelnd und streichelte über seine Wange, stand auf und richtete sich das Kleid. Sie kannte dieses Gebaren von Ludger und es hätte sie doch sehr gewundert, wenn Drees anders gewesen wäre.
Wenige Tage später kündigte sich nach einem ungewöhnlich heißen Tag ein heftiges Gewitter an. Drees war bereits recht nassgeregnet und kam kurz vor den ersten Donnerschlägen ins Haus, denn bei einem Gewitter im Wald zu arbeiten war einfach zu gefährlich. Marthe hängte seine nassen Kleider auf die Leinen unter der Decke, während sich Drees in der Schlafkammer trockene Sachen aus dem Schrank nahm. Der Regen prasselte auf das Dach, das Drees kritisch eine Zeitlang beäugte, während er über den fast fertigen Fußboden lief, hin und her, von Ecke zu Ecke.
„Dicht“, sagte er und wirkte sehr zufrieden. „Guad, dass es so stark regnet. Wenn wir erst im Herbst gmerkt hättn, dass es doch undicht ist, wär’s noch unangenehmer gwesen als jetzt.“
Marthe legte Holz im Ofen nach und nahm Liesbeth auf den Arm, die sich ein bisschen fürchtete. Drees setzte sich an den Küchentisch, starrte durch das Fenster in den Regen und plante die Innenwände und das größere Bett, fragte Marthe nach ihrer Meinung und setzte Fritz auf seinen Schoß, als das Gewitter direkt über ihnen war und es so laut donnerte, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.
„Was für ein Weltuntergang“, murmelte Marthe und Drees nickte.
Mit Liesbeth auf der Hüfte ging sie zum Herdfeuer und rührte den Eintopf um, schaute dann im Kachelofen nach dem Brot und setzte Liesbeth auf den Boden, um es herauszuholen.
„Bald ist der erste Todestag, gell?“, fragte Drees und bedeutete Liesbeth, zu ihm zu kommen.
Es donnerte so laut, dass Marthe ihn fast nicht verstanden hätte, doch dann nickte sie. Unglaublich, dass ein Jahr vergangen war, seit sie das letzte Mal neben Ludger geschlafen hatte. Sie setzte sich wieder an den Tisch, nachdem sie die Brote zum Auskühlen auf den Küchenschrank gelegt hatte.
„Warum fragst du?“
„Du hast letzte Nacht von ihm träumt, Weib.“
„Wirklich?“, fragte Marthe und zog erstaunt die Augenbrauen nach oben, „Ich kann mich nicht erinnern.“
„War koa schöner Traum, würd i sagn, i glaub, du hast Angst ghabt.“
„Hab ich seinen Namen im Schlaf gesagt?“
„Ja. Und noch was anderes auch. I hab di dann wieder in mein Arm gnommen und dann bist ruhiger gworden.“
„Danke“, lächelte Marthe und hielt das Thema für erledigt.
Drees räusperte sich, strich den Kindern über die Haare und murmelte: „Über den Rest reden wir später.“
Sie erschrak und schluckte hart. Was hatte sie im Schlaf gesagt? Marthe wurde von einer Welle der Nervosität überrollt, sah ihr schönes Leben hier bereits enden. Den ganzen Abend grübelte sie darüber nach und dachte kaum noch an das Gewitter, das schnell weiterzog, an den Regen, der ihr hoffentlich nicht den ganzen Garten unter Wasser setzte. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an das, was sie im Schlaf gesagt haben könnte.
Es war spät, als Fritz und Liesbeth endlich schliefen und Marthe atmete tief durch, als sie sich an den Küchentisch setzte. Sie war nicht bereit für das was kommen würde. Es kam nur selten vor, aber sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte. Sie mochte Drees sehr gerne und sie wollte nicht gehen. Nicht gehen müssen, vor allem. Er hatte heute nicht weitergebaut – lag das am Gewitter und den schlechten Lichtverhältnissen oder lag das daran, dass er nun gar nicht mehr eilig hatte, den Umbau fertigzustellen, weil er sie hinauswerfen würde?
Drees blieb vor dem Küchentisch stehen und sah sie an, sehr lange und nachdenklich. Marthe knetete nervös ihre Hände in ihrem Schoß und starrte auf die Tischplatte.
„Komm ins Bett, Marthe“, wisperte er. „Lassn wir die Kinder schlafn.“
Zögernd stand sie auf und folgte Drees in die Schlafkammer, in der nun so viel mehr Platz war. Er schloss die Tür hinter sich und zog sich bis auf das Hemd aus, Marthe folgte seinem Beispiel und kroch dann ins Bett. Drees löschte die Kerze und das Stroh raschelte, als er unter die Decke schlüpfte. Seine Arme legten sich um sie und er bettete sie an seine Brust.
„So, Marthe. Jetzt erzähl“, forderte er leise und Marthe schluckte: „Was soll ich denn erzählen?“
„Wie ist er eigentlich gstorben, der Ludger? Und i will die Wahrheit hören, gell? I mag ned anglogen werden, ned von dir.“
„Was hab ich denn im Schlaf gesagt?“, fragte sie und malte mit dem Finger Kreise auf seinen Bauch.
Drees hielt ihre Hand fest, verschränkte seine Finger mit ihren und flüsterte: „Des sag i dir, wenn du mir ois erzählt hast.“
„Drees, bitte, ich …“
„I bin dir ned bös, Weib. I will’s nur wissn. Egal, was es ist. I hab dir ois von mir erzählt, was i getan hab. Mit meim Vadder. Du bist ned weggrannt, i renn aa ned weg.“
Marthe seufzte und versuchte sich aufzusetzen, doch Drees hielt sie fest. Schweigend ergab sie sich in ihr Schicksal, ließ zu, dass Drees ihren Kopf wieder auf seine Brust drückte. Sie schloss die Augen und lauschte auf seinen gleichmäßigen, ruhigen Herzschlag, auf die letzten Regentropfen, die auf das Dach prasselten.
„I wart, Marthe. Du kannst des ned aussitzen.“
„Es fällt mir schwer, denn es ist keine schöne Geschichte.“
„I erwart auch koa schöne Gschichte, sondern die Wahrheit. Fang am Anfang an. An dem Tag, an dem du ihn kennenglernt hast. Dann ist es einfacher.“
Marthe lachte freudlos und schüttelte den Kopf: „Nichts war jemals einfach.“
„Fang einfach an. I werd fragen, wenn ich was ned versteh.“
Drees streichelte aufmunternd über ihre Schulter und sie holte tief Luft: „Ich hatte seit 14 Stunden gearbeitet und der letzte Freier, den ich hatte, war ein riesiger, brutaler Kerl gewesen.“
Marthe schauderte, als sie an Rochus dachte – er hatte ihr zwar keine Angst gemacht, doch er war grob und ungeduldig gewesen und sie hatte sich schrecklich gefühlt, als er endlich ging.
„Ich war wund und müde und wollte mich durch den Hinterausgang verdrücken, doch in der Eingangshalle stand Ludger. Er unterhielt sich mit der Puffmutter und zeigte auf mich, kaum, dass er mich sah. Er fragte, was ich für den Rest der Nacht kosten würde, verhandelte über den Preis und ich hatte keine Wahl. Die Puffmutter scheuchte mich wieder nach oben, ich solle mich frisch machen, der Herr würde erst noch ein Glas Wein trinken, dann käme er nach.“
„Weiter“, forderte Drees leise und küsste sie auf die Stirn.
„Ludger war sehr anständig zu mir und kam am nächsten Abend wieder. Er bezahlte noch einmal die ganze Nacht mit mir und wir hatten wirklich Freude aneinander. Wir mochten uns. Als er die vierte Nacht kam, hat er im Morgengrauen gesagt, ich solle mit ihm gehen. Und weil ich sowieso gerade die Schnauze von all dem ziemlich voll hatte und ich ihn mochte, bin ich mit ihm gegangen.“
„Auf seinen Hof.“
„Ja. Zusammen mit seinen … Freunden. Ludger war kein richtiger Bauer. Der Hof diente zwar dazu, uns zu ernähren, aber eigentlich war er nur Tarnung. Ludger hat mit den anderen Kutschen überfallen. Zumindest am Anfang.“
„Der Ludger war ein Wegelagerer?“
„Ja. Das klappte ganz gut, die ersten Jahre, aber dann kam nicht mehr genug Geld in die Kasse. Die Leute wurden vorsichtiger, bauten Geheimfächer in die Kutschen, nahmen bewaffnete Begleiter mit. Das Risiko stieg, der Gewinn sank.“
„Wie viele Räuber waren das?“
„Am Anfang waren es Ludger, Rochus, Gabriel und Johannes, später kam Norman dazu, noch später Michel. Außerdem lebte noch Ludgers Schwester Anna bei uns. Wir beide kümmerten uns um Haus und Hof, bis Anna an der Schwindsucht erkrankte und starb. Ein paar Monate später wurde Johannes erwischt und landete auf dem Schafott, doch er wurde verschont, weil ihn ein junges Mädchen zum Mann erbat. Sidonie hieß sie.“
Marthe versagte die Stimme, als sie an die zarte, liebenswerte und unschuldige Sidonie dachte, die aus einem gutbürgerlichen Haus unter die Räuber gefallen war, die so zu kämpfen gehabt hatte, mit sich und mit den Umständen, unter denen sie lebte.
„Wo sind sie jetzt?“
„Sie sind alle tot. Ludger mischte, des guten Verdienstes wegen, in irgendeinem undurchsichtigen politischen Ränkespiel mit. Eines Morgens war das Haus voller Soldaten, wir wurden verhaftet und in die Stadt gebracht. Die Männer wurden alle gefoltert, von einem Teufel in Weibsgestalt, einem echten Teufel, und zum Tode verurteilt. Sidonie war damals hochschwanger, sie stand kurz vor Niederkunft. In der Nacht vor der Hinrichtung ist sie mit einer Tochter niedergekommen, aber das Kind war winzig klein und viel zu schwach. Die Männer wurden alle geköpft, am Tag vor Johanni, Sidonie ist in der Nacht darauf verblutet. Ich habe sie und ihr kleines Mädchen am Johannismorgen tot im Bett gefunden. Dann habe ich Sidonies Ehering gestohlen, meine Kinder genommen und bin geflüchtet. Ich habe mich verkauft und habe, nach fast fünf Monaten auf der Straße, dich getroffen.“
Der Regen plätscherte sanft auf das Dach und Drees ließ seine Finger über ihren Oberarm wandern. Marthe atmete tief durch und sagte dann in die Stille: „Das ist alles.“
„Hast du ihn wirklich gliebt?“, fragte Drees leise, „Oder war er nur …?“
„Ich habe ihn geliebt. Vielleicht nicht vom ersten Tag an, aber nach einiger Zeit habe ich mich in ihn verliebt. Liebe braucht Zeit, Drees.“
„Und Ehrlichkeit“, flüsterte er und küsste sie auf den Kopf.
„Vertrauen“, ergänzte Marthe und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Was habe ich im Schlaf gesagt?“
„Dass es dir leid tut. Mehr nicht.“
„Hast du etwa gedacht …?“
„Dass du ihn umbracht hast? Nah. Aber i hab denkt, vielleicht ist er gar ned tot und du bist auf der Flucht vor ihm, weil er halt ein Arschloch ist. Kannst du schlafn, Weib?“
„Ich weiß nicht.“
„Es ist alles guad, Weib. I bin dir ned bös. I werd ned verhaftet, i halt nix von Politik und i überfall koane Kutschn. Mir san hier sicher, woaßd?“
Marthe nickte und schloss die Augen, passte ihren Atemrhythmus an seinen an. Sie fühlte sich besser, viel besser, weil er jetzt zumindest in groben Zügen ihre Geschichte kannte und sie trotzdem nicht rausgeworfen hatte. Sie schöpfte wieder Hoffnung.
Drei Tage nach dem großen Gewitter fuhr Drees eine Ladung Holz ins Dorf – und kam mit dem vollen Wagen wieder zurück, keine zwei Stunden nach seinem Aufbruch. Marthe beobachtete aus dem Fenster, wie er vom Kutschbock sprang, das Pferd angeschirrt anband und zur Axt griff, die an der Scheunenwand lehnte.
„Ist Drees wieder da?“, fragte Fritz und Liesbeth hob den Kopf von ihrem Spiel: „Papa?“
Sie stand auf und wackelte in Richtung Tür, doch Marthe war mit zwei schnellen Schritten bei ihr und zischte: „Nein. Nicht.“
Marthe nahm Liesbeth auf den Arm, während sich Fritz einen Stuhl ans Fenster schob, um hinaussehen zu können. Schweigend beobachteten alle drei, wie Drees minutenlang wie ein Berserker mit der Axt auf das Holz einschlug, die zerkleinerten Splitter und die Scheite flogen meterweit über den Hof. Schweiß rann ihm aus den Haaren und er atmete heftig, als er die Axt achtlos zur Seite warf, sich mit der Stirn an die Scheunenwand lehnte und frustriert brüllte, mit der geballten Faust auf das Holz einschlug.
Niemals hatte Marthe einen Mann gesehen, der gefährlicher wirkte als Drees in diesen Minuten. Nicht zum ersten Mal beschlich sie eine leise Angst vor diesem Mann und sie fragte sich, ob es klug war, hierzubleiben. Er hatte weder ihr noch den Kindern bislang ein Haar gekrümmt, doch wenn ihn die Wut so beherrschte wie gerade eben, würde Marthe ihre Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass ihnen nichts passieren konnte. Sie hätte ihm nichts entgegenzusetzen, wenn er brutal werden würde, vermutlich würde er ihr mit bloßen Händen das Genick brechen können, seine Hand auf ihrer Kehle würde reichen, um sie zu töten. Marthe schluckte schwer und sah zu, wie er auf die Knie sank und das Gesicht mit den Händen bedeckte. Er saß ganz still und Marthe fragte sich, ob er weinte. Hatte man ihn im Dorf so sehr gedemütigt? Was hatte sich dieser schreckliche Pfaffe einfallen lassen? Es musst grauenvoll sein, denn offensichtlich hatte ihm nicht einmal mehr Toni das Holz abgekauft.
Schwerfällig erhob sich Drees, drehte sich um und blickte zum Haus. Erschrocken ging Marthe einen Schritt zurück und zog Fritz vom Stuhl.
„Weib!“, brüllte Drees, „Komm her!“
Die Angst, die Marthe empfand, wurde plastisch, greifbar, ihr wurde kalt und sie musste tief ein und aus atmen.
„Bleibt hier, ich bin gleich wieder da. Pass auf Liesbeth auf, Fritz.“
„WEIB!“ Drees klang verdammt ungeduldig und ziemlich sauer, und sie wusste, sie sollte ihn lieber nicht warten lassen.
Schnell schlüpfte Marthe aus der Tür und rannte fast zu Drees, auch wenn sie sich lieber irgendwo verkrochen hätte. Ludger hatte sie genau einmal geschlagen, hatte ihr zwei Ohrfeigen verpasst und sie dann übers Knie gelegt, ganz am Anfang, nach ein paar Monaten, nach ihrem ersten großen Streit. Danach hatte sie ihm sehr deutlich gemacht, dass sie sofort gehen würde, sollte er sie noch einmal schlagen. Damals hatte sie bereits gewusst, dass Ludger sie liebte, wirklich liebte. Und deswegen hatte sie gewonnen. Er hatte nie wieder die Hand gegen sie erhoben, egal, was sie getan hatte. Sie würde es nun wieder so machen. Drees sollte sie schlagen, seinen Frust lieber an ihr auslassen als an den Kindern und danach würde sie ihm deutlich machen, dass sie gehen würde, sollte er das noch einmal tun. Marthe stellte sich auf die Schmerzen ein, die sie erwarteten. Eine Tracht Prügel von Drees war sicherlich kein bisschen weniger schmerzhaft als die von Ludger, eher im Gegenteil. Doch sie würde das aushalten. Es dauerte nur ein paar Minuten und war nichts gegen 12 Stunden Wehen, redete sie sich ein. Sie würde ein paar Tage schlecht sitzen können, aber das war auch schon alles. Nächste Woche wäre es vergessen.
„Marthe“, knurrte Drees dumpf, als sie bei ihm angekommen war und sie hob die Hand, schluckte und verbarg ihre Angst hinter ihrer aufrechten Körperhaltung: „Lass uns in die Scheune gehen, bitte. Ich möchte nicht, dass Fritz und Liesbeth das sehen.“
Drees stockte und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Marthe, Überraschung in seinem Gesicht zu sehen: „Was sehn?“
„Wie du deine Wut an mir auslässt. Ich weiß nicht, was ich getan habe, Drees, aber ich halte es aus. Allerdings wird es bei diesem einen Mal bleiben. Beim nächsten Mal nehme ich die Kinder und bin weg.“
„Was? Nah, Weib, wirklich ned.“ Drees schnaubte und schüttelte den Kopf.
„Was meinst du damit? Dass du mich nicht gehen lässt?“, fragte Marthe scharf und sah ihn aus schmalen Augen an.
„Ah, geh, so ein Schmarrn.“
Drees atmete tief durch und blickte auf den Boden, trat dann einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Er wirkte nicht mehr bedrohlich, eher verzweifelt und hoffnungslos.
„Keine Prügel?“, fragte Marthe leise und verkleinerte den Abstand zwischen ihnen wieder.
„Nah.“
Sie griff nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen, hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Misstrauen. Mit einem Knurren zog er sie an seine Brust und hielt sie fest, erstickte die sofort wieder aufkeimende Angst in Marthe mit einem sanften Kuss auf ihren Scheitel.
„Was ist passiert, Drees?“
„Das Gewitter vor drei Tagen …“
„Ja? Und?“, fragte sie gedämpft in sein Hemd.
„Der Kuttenbrunzer is aus der Kirch naus und wollt übern Kirchhof zum Pfarrhaus gehn. Und als er an die Baam vorbeikimmt, is ein dicker Ast abgebrochen und hat ihn derschlagn.“
„Der Pfarrer ist tot?“, fragte Marthe erschrocken und Drees nickte.
„Im Dorf glauben s‘ jetzt, dass i des Gwitter gschickt hab. Und dass i des zaubert hab, dass der Pfaffe aus der Kirch aussi gangen und vom Ast derschlagn wordn ist. Weil i ja Holzfäller bin. Des passt wia die Faust aufs Auge, woaßt? I hab des gmacht, weil er mir a paar Tag vorher exorzieren wollt und es fast gschafft hätt. Weil er eine Gfahr für mich gworden ist, weil er die Leit erzählt hat, was mit dir und mir hier draußen los ist. Deswegn hätt i ihn umbracht, sagen die Leit. Der Toni kann mir grad kein Holz abkaufn, hat er gsagt.“
„Und nun?“
„Verkauf ich’s halt im nächsten Dorf, a Stund Fahrt nach Norden. I wollt, dass mitkimmst. Und die Kinder aa.“
„Wieso?“, fragte Marthe und runzelte die Stirn.
„Weil i vorm Dorf warten werd und du des Holz ohne mi verkaufst. Wann mi koaner sieht, woaß koaner, dass des des Holz vom Deifi ist. Und dich kennt ja niemand. Sagst, du bist die Schwägerin vom Toni, der schickt di.“
„Gut“, nickte sie, „Lass mich los, dann hole ich die Kinder.“
„Wart“, murmelte er an ihrem Ohr, „vielleicht gehn wir trotzdem in die Scheune. I mach schnell, i versprech’s.“
Seine rechte Hand schob sich nach vorne, zwischen ihre Körper und legte sich über Marthes linke Brust, während die linke Hand ihren Hintern umfasste und zart darüber streichelte.
„Hast du Druck, Drees?“
„Ja. Immer, wann i mi geärgert hab.“
„Wie willst du mich?“, fragte sie leise, weil sie wusste, dass ihn das scharf machte.
Er stöhnte in ihre Haare und räusperte sich dann: „Bück di und heb den Rock. Des reicht mir schon. I versprech, i mach’s heut auf d‘ Nacht wieder guad.“
Marthe nickte, dachte daran, dass sie ihm das als Bezahlung für den Eintopf angeboten hatte, und lächelte. Sie löste sich von ihm und zog ihn mit sich in die Scheune. Besser als eine Tracht Prügel war eine schnelle, harte Nummer im Stehen allemal.
„Du musst mich ein bisschen streicheln, Drees, sonst tust du mir weh“, sagte sie, als sie sich im Halbdunkel der Scheune gegenüber standen und sie sich nach einem passenden Platz umsah.
„Woaß i doch, Weib. I hab schon a bissle was glernt seit mir des Bett mitnander teiln, oda?“
„Mhm“, machte sie, als er sie umdrehte, vor seine Brust zog und sie sanft in den Hals biss, „Du bist sehr begabt, Drees.“
„Marthe?“, flüsterte er, schob sie vorwärts bis zu einem Pfosten und bückte sich dann, um ihren Rock hochzuheben.
„Ja?“
„I würd dir niemals weh tun. Du musst koa Angst vor mir habn.“
Sie nickte und schaffte es, sich zu entspannen, sogar dann, als er ihr die Hand auf die Kehle legte und ihren Kopf nach hinten bog, um besseren Zugang zu der zarten Haut an ihrem Hals zu haben. Sie hielt sich an dem Pfosten fest und gab sich ihm hin, half ihm dabei, den Druck loszuwerden und wurde mit einem ausgeglichenen, ruhigen Drees belohnt, der sie sehr zärtlich und ausgiebig küsste, bevor er sie aus der Scheune führte.
Die Fahrt nach Norden verlief harmonisch, insbesondere weil Fritz ausdauernd vor sich hin sang und Liesbeth ihr Bestes tat, um mitzusingen. Drees grinste über die Bemühungen des Mädchens, das sich auf seinen Schoß gesetzt hatte, kaum, dass sie auf den Wagen gehoben worden war.
„Papa singen?“, fragte Liesbeth und zupfte an seinem Bart.
„I kenn des Liadl ned, Liesbeth, sings mir halt noch mal vor“, lächelte er zu ihr hinunter und Liesbeth begann zum wiederholten Mal, das Lied vom Loch im Eimer zu singen, recht unbeholfen und teilweise unverständlich.
Fritz sang mit und Marthe half aus, wenn die Kinder nicht weiter wussten. Kaum hatten sie geendet, schaute Liesbeth nach oben zu Drees, der sie kurz an sich drückte und grinste: „Bin i froh, dass meine Liese ned so dumm is wie die Liese in dem Lied.“
„Papas Liese“, lachte Liesbeth und begann das Lied von vorne.
Zweihundert Schritte vom Dorf entfernt war die Gelegenheit günstig, um Drees absteigen zu lassen. Die Straße war leer, weit und breit niemand zu sehen.
„Schau, Weib“, sagte Drees und zeigte auf eine Ecke der Ladefläche, „Über die Preise habn wir ja vorhin schon gsprochen. Des is des Buchenholz, des verkaufst am teuersten, des hat den höchsten Brennwert, gell? Da vorne is Nadelholz, Fichte hauptsächlich, dafür nimmst weniger. Wenn di oaner runterhandeln will: Bei der Hälft vom Buchenpreis is Schluss. Für des Reisig und die Anzündhölzer nimmst entweder Geld oder tauschst es gegen Lebensmittel. Fichte und Buche gibt’s aber nur gegen Geld.“
„Verstanden“, antwortete Marthe und Drees sprang vom Kutschbock, wartete, bis Marthe seinen Platz eingenommen hatte und reichte ihr dann Liesbeth nach oben.
„Bis später, Lieschen. I wart da am Waldrand und lern des Liadl, ja?“
Liesbeth nickte und winkte ihm zu.
„Sers, Papa!“, rief sie und Marthe runzelte die Stirn: „Sers? Himmel, bald verstehe ich meine eigenen Kindern nicht mehr.“
„Sers heißt Servus und des heißt ‚Auf Wiedersehn‘, Weib“, grinste Drees und winkte Liesbeth zurück.
Marthe schnalzte mit der Zunge und ließ den Wagen anrollen. Nach ein paar Metern blickte sie über die Schulter und sah, dass sich Drees am Waldrand im Schatten niedergelassen hatte und sein Schnitzmesser in der Hand hielt. Er würde die Wartezeit damit überbrücken, einen Löffel zu schnitzen, ein paar Rechenzinken oder was auch immer gerade gebraucht wurde. Sie atmete erleichtert durch, froh, dass die erste, kleine Krise gar keine gewesen war, nicht einmal halb so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Wenn es so weiterging, konnte sie mehr als zufrieden sein. Und sich ihre Gefühle diesem Mann gegenüber dann endlich wirklich eingestehen.
Marthe schlug sich gut als Holzverkäuferin, Drees war sehr zufrieden mit ihr, als sie keine Stunde später mit einem fast leeren Wagen am Waldrand anhielt und Drees den Platz an den Zügeln überließ. Sie hatte alles an Holz verkauft, auf der Ladefläche lagen nun ein kleiner Sack Mehl, ein wenig in Tuch eingeschlagenes Trockenfleisch, ein Achtel eines Käserads und ein Bündel verschiedener Kräuter.
Drees ließ sich das Geld geben, zählte es und warf dann einen Blick auf die Ladefläche: „Guad gmacht, Weib. Des rettet mir den Tag. I glaub, beim Toni hätt i weniger dafür kriagt. Vielleicht fahrn wir jetzt öfter mal her. Der Weg lohnt sich wohl.“
Marthe nickte und küsste ihn auf die Wange, sein strahlendes Lächeln ließ ihr Herz stolpern.
„Papa singen!“, verlangte Liesbeth und Drees seufzte tief: „Du gibst koane Ruh, Liese, was?“
„Nah“, antwortete sie, im gleichen Tonfall und mit derselben tiefen Überzeugung, mit der auch Drees dieses kleine Wort immer aussprach.
Drees lachte und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. Liesbeth fing an, mit ihrem dünnen Stimmchen das alberne Lied zu singen und Drees tat ihr den Gefallen und sang mit. Die Freude, die ihre Tochter dabei hatte, sorgte dafür, dass Marthe endgültig den Ausbruch vom Vormittag vergaß – und sich noch mehr in ihn verliebte. Es war wie bei Ludger. Langsam, aber sicher, verfiel sie diesem Mann immer mehr.
Im August stellte Drees den Umbau fertig und Marthe fand, dass es wunderbar geworden war. Das Haus war fast doppelt so groß wie vorher und die Kinder liebten ihre neuen, eigenen Betten. Die Innenwände würde Drees im Herbst fertigstellen, aber auch so hatten Fritz und Liesbeth bereits eine eigene Ecke. Auch das größere Bett für sich und Marthe hatte Drees bereits gebaut. Marthe hatte gelacht, als Drees in der ersten Nacht erstaunt feststellte, dass er zum ersten Mal, seit er ausgewachsen war, richtig in einem Bett lag. So, wie sich das gehörte.
„In deinem Bett, in deiner Kammer gehört sich sowieso nur das, was du für richtig hältst“, hatte sie geflüstert und sich so breit wie möglich gemacht.
Drees hatte gelacht und sich auf sie gerollt: „I halt’s für richtig, dass i auf dir schlaf.“
„Wenn du willst, nur zu“, hatte sie geantwortet und die Beine weiter gespreizt, „Wenn du in mir bist, fällst du nicht so leicht runter.“
„Weib!“, hatte er geknurrt, ihrer beider Hemden hochgeschoben und sich in ihr versenkt, „Du machst mich wahnsinnig.“
„Du machst mich glücklich“, hatte sie geflüstert und genossen, was er mit ihr tat.
Wenige Tage später, Anfang September, bekamen sie zum zweiten Mal Besuch und wieder war es der Pfarrer, diesmal der Nachfolger des von Drees so verhassten Kuttenbrunzers.
„Sei freundlich“, flüsterte Marthe ihm zu und erntete ein tiefes Knurren: „Sag mir ned, was i zu tun hab, Weib.“
„Guten Morgen, Hochwürden“, begrüßte sie den Geistlichen, der keinen Tag älter als sie selbst sein konnte und einen erstaunlich freundlichen Eindruck machte.
„Guten Morgen“, antwortete er, „Mein Name ist Keil. Matthias Keil. Ich bin der neue Pfarrer im Ort.“
„Herzlich willkommen, Pfarrer Keil. Wir freuen uns über Ihren Besuch“, erklärte Marthe freundlich lächelnd und schlug die Augen nieder, ganz anständige Frau.
Der Pfarrer quittierte das mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, ließ seinen Blick bewundernd an Marthes Gestalt auf und ab wandern, und wandte sich an Drees: „Du bist der Andreas, richtig? Die Leute im Ort nennen dich Drees.“
„Die nennen mi a no ganz anders“, brummte Drees und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Pfarrer lächelte und schüttelte den Kopf: „Davon habe ich gehört. Außerdem habe ich gehört, dass du Brennholz verkaufst.“
„Ja.“
„Ich würde gerne eine Fuhre bestellen.“
„Was?“, fragte Drees und starrte den Pfarrer mit offenem Mund an, bevor er sich zusammenriss und den Mann misstrauisch musterte.
„Eine Fuhre Holz. Für das Pfarrhaus.“
„Was wird da gspielt?“, fragte Drees und machte einen Schritt auf den Pfarrer zu, so offen bedrohend, so aggressiv, dass Marthe ihn am Oberarm packte und an seinem Hemd zerrte.
„Drees!“, zischte sie und trat mit zwei schnellen Schritten zwischen ihn und den Besucher. „Bitte entschuldigen Sie, Hochwürden. Wir liefern Ihnen gerne eine Fuhre ins Haus. Wie viel darf es denn sein?“
„Marthe!“ Drees knurrte gefährlich und der Pfarrer lächelte Marthe freundlich an, ermutigend und offen, bevor er den Blick über den Ausschnitt ihres Kleides schweifen ließ.
„Ich hätte gerne drei Ster Buchenholz.“
„Brauchen Sie auch Anzündhölzer, Hochwürden?“, fragte Marthe freundlich und nahm mit Sorge wahr, dass Drees immer wütender wurde.
„Marthe!“ Noch ein Knurren, das keinen Zweifel daran ließ, dass es Ärger geben würde.
„Die Marthe also“, lächelte Pfarrer Keil und wandte sich endgültig ihr zu, ignorierte Drees und seine unverhohlene Aggressivität vollkommen, „Ich hab schon viel von dir gehört, Frau. Verkaufst du das Holz für ihn?“
„Manchmal, wenn es sich so ergibt.“
„Dann lieferst du es auch aus? Ich meine, der Andreas wird ja den ganzen Tag im Wald sein, oder?“
„Ab und zu liefere ich auch aus, ja. Andreas nimmt für ein Ster Buchenholz …“
„Halt dein Maul, Weib, und geh ins Haus!“, donnerte Drees, packte sie am Oberarm, führte sie die wenigen Schritte zur Haustür und schubste sie nach drinnen.
„Drees, verdammt!“, rief sie und rieb sich über den schmerzenden Arm, über die Stelle, an der sein Griff so unerbittlich und fest gewesen war, so fest, dass die wenigen Sekunden gereicht hatten, um ihr blaue Flecken zu bescheren.
Die Tür krachte zu und Marthe hörte, wie Drees sagte: „Und du, Kuttenbrunzer, haust ab und kimmst nie mehr wieder, host mi? Lass mi und mei Familie in Ruh.“
„Drees, ich weiß, dass der verstorbene Pf…“, setzte er an, doch Drees ließ ihn nicht ausreden.
„Letzte Warnung. Hau ab oder es setzt was.“
„Ich würd mich freuen, wenn du mich im Pfarrhaus besuchst und wir friedlich miteinander reden können, Andreas. Vielleicht wenn du mir das Holz lieferst? Und bring deine Frau und die Kinder ruhig mit.“
Drees antwortete nicht und Marthe hoffte, dass er den Pfarrer nicht schlagen würde. Als alles still blieb, öffnete sie die Tür einen Spalt und sah, dass sich der Geistliche bereits auf den Weg zurück ins Dorf gemacht hatte. Drees drehte sich um und marschierte in den Stall, kam erst zum Mittagessen wieder ins Haus.
Abermals krachte die Tür ins Schloss und Fritz hob erstaunt den Kopf, klappte den Mund auf und dann sofort wieder zu, als ihm Drees‘ Gesichtsausdruck verriet, dass man ihn jetzt besser nicht ansprechen sollte. Das Schweigen, das über dem Haus lag, war erdrückend, nicht einmal Liesbeth wagte es, während des Essens etwas zu sagen. Drees blickte stur auf seinen Teller und schaufelte das Essen in der ihm eigenen Geschwindigkeit in sich hinein. Auf Marthes Angebot einer zweiten Portion gab er nur ein Brummen von sich, das sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten konnte. Sie stand auf, füllte ihm seinen Teller und zuckte zusammen, als er sie am Handgelenk packte und sie festhielt. Sein Blick klebte auf ihrem Oberarm und er schob den kurzen Ärmel ihres Sommerhemdes ein wenig nach oben, betrachtete die blau gewordenen Abdrücke seiner Finger. Dann ließ er sie wieder los und wandte sich seinem Teller zu.
„Ich muss aufs Häuschen“, erklärte Fritz leise und Drees nickte, hob die gemeinsame Tafel damit auf.
„Nimm die Liesbeth mit. Und wennst fertig bist, gehst auf die Wiese und spielst mit deiner Schwester. Wartest draußen, bis die Mama dich holt.“
Fritz nickte und griff nach Liesbeths Hand, machte, dass er nach draußen kam. Marthe atmete tief durch und beschloss so zu tun als wäre nichts. Sie begann den Tisch abzuräumen und hörte, wie Drees tief atmete, um Ruhe und Gelassenheit bemüht.
„Misch dich nicht in meine Gschäfte ein, Weib“, sagte er dann und Marthe drehte sich um, stemmte die Hände in die Hüften und antwortete: „Wieso? Sonst bin ich auch gut genug, das Holz für dich zu verkaufen.“
„I bestimm, mit wem i Geschäfte mach und mit wem ned. Und mit den Arschlöchern aus dem Kuttenbrunzer-Verein mach i koa Gschäfte.“
„Aber …“, begann Marthe und stockte, als Drees aufsprang und sich dicht vor sie stellte: „Nix aber!“, brüllte er, „Mei Holz, mei Geld, mei Regeln. Host mi?“
„Er war nett zu dir und …“
„Hör auf, Marthe, i warn di.“
„Drees! Verdammt noch mal! Er ist nett zu dir, du bist nett zu ihm. Das ist doch ganz einfach, oder? Wenn du freundlich zu ihm bist, dann erzählt er vielleicht keine furchtbaren Geschichten über …“
„Nah. Du hast keine Ahnung, Weib, nicht ein bissi. Du woaßt ned, wie die sind, diese bigotten Drecksschweine, und deswegen dad i dringend empfehlen, dass du endlich dei Maul hältst. Sonst stopf ich’s dir.“
„Was soll das heißen?“, fragte Marthe und starrte ihn aus schmalen Augen an.
„Anstatt dich beim Pfarrer einzuschleimen und mir mei Gschäfte vorzuschreiben, könntest du deinen Mund viel besser einsetzen. Dazu taugt er wenigstens.“
Drees deutete auf seinen Hosenlatz und Marthe holte zischend Luft, sah ihm ins Gesicht, prüfte, ob er das tatsächlich ernst meinte, holte aus und haute ihm eine runter. So, wie sie es bei Ludger so oft getan hatte. Marthe ließ sich nur ungern auf eine Frau reduzieren, die allenfalls als Bettwärmer taugte, das brachte sie jedes Mal wieder in Rage. Und in die damit verbundenen Schwierigkeiten. Ihr Erfolg als Hure hatte darauf beruht, dass sie mehr zu bieten hatte als nur willig gespreizte Beine und eine geschickte Zunge. Nachts, wenn sie alleine waren, hatte sie nichts dagegen, auf ihre Liebesdienste reduziert zu werden. Im Alltag, bei wichtigen Entscheidungen, hatte sie aber sehr wohl ein großes Problem damit, wenn ein Mann verlangte, sie möge ihren Mund dazu nutzen, ihn zu befriedigen und ansonsten die Klappe halten.
Marthe ließ die Hand sinken und wusste, dass sie zu weit gegangen war. Drees war nicht Ludger und würde sich das vielleicht nicht so einfach gefallen lassen. Er starrte Marthe ungläubig an, zwei, drei Sekunden und sie starrte zurück – eine Entschuldigung würde nichts ändern, also konnte sie sich den Atem sparen. Sie würde ihn noch brauchen, befürchtete sie. Drees packte sie und legte sie sich über die Schulter, trug sie in die Kammer und warf sie auf das Bett, völlig unbeeindruckt von Marthes Gezappel und Geschrei. Sie wehrte sich, im sicheren Wissen, dass sie chancenlos war. Doch Marthe wusste, dass der, der nicht kämpft, schon verloren hat. Drees kroch über sie, kaum dass sie lag, hielt sie fest, als sie sich ihm entziehen wollte, und setzte sich auf ihre Beine.
„Schlag mich noch einmal, Weib, und es tut dir leid bis an dein Lebensende“, knurrte er und hielt ihre Hände fest, als sie begann, nach ihm zu boxen.
„Du hast mich beleidigt, Drees!“, fauchte Marthe und wand sich unter ihm, konnte aber nichts gegen ihn ausrichten.
„Du hast di in meine Gschäfte eingmischt, ohne dass i di drum gebeten hätt.“
„Ich habe es gut gemeint, verdammt noch mal. Du musst dich mit dem Pfaffen gut stellen, Drees, das macht dir doch auch das Leben leichter.“
„Einen gottverdammten Scheißdreck muss i“, knurrte er und beugte sich tiefer über sie, sah ihr fest in die Augen. „Mach das noch mal und i vergess mich.“
„Soll ich die Klappe halten und den Blick senken, so wie eine gute Ehefrau? Nicht mit fremden Männern sprechen? Ist es das, was du willst?“
„Ja. Klingt gut.“
„So bin ich aber nicht, so war ich nie und so werde ich nie sein“, erklärte sie giftig und schaffte es, sich so weit aufzubäumen, dass sich Drees immerhin kurz bewegte.
Sie keuchte vor Anstrengung und ihre Kräfte schwanden.
„Dann wirst du es lernen müssen, Weib“, antwortete Drees schlicht und ließ ihre Hände los. „Tut mir leid, dass i dir wehgetan hab.“
Marthe sah ein, dass es keinen Sinn hatte, gegen ihn zu kämpfen und blieb still unter ihm liegen, rieb sich mit der Hand über die blauen Flecke am Oberarm. Die Aggression, die eben noch in der Luft gelegen hatte, verpuffte nach Drees Entschuldigung im Nichts. Marthe wartete, bis sich ihre schnelle Atmung wieder beruhigt hatte, bis auch Drees wieder entspannter wirkte.
„Wieso gibst du dem neuen Pfarrer keine Chance?“, fragte sie leise und streichelte über Drees‘ Oberschenkel.
„Gebranntes Kind scheut das Feuer, woaßt? Außerdem …“
„Außerdem was?“, fragte Marthe und stemmte sich auf die Ellenbogen hoch.
„Außerdem will er dich in sein Bett holen, der scheinheilige Bock. Aber du ghörst mir und …“
„Quatsch“, murmelte Marthe. „Er hat ein bisschen geglotzt, aber das machen doch alle Männer.“
„Der hat di auszogn und gfickt, der hat dich so gierig gemustert, dass man seine Gedanken grad hat lesen können.“
„Drees …“
„Nah. Es wird wirklich Zeit …“, murmelte er, griff hinter sich und zog Marthes Rock hoch, ließ seine Fingerspitzen über die Innenseiten ihrer Oberschenkel wandern.
„Was wird Zeit?“, fragte sie und musste die Augen schließen, weil Drees ihre empfindlichen Stellen so gut kannte.
„Dass i dir a Kloanes mach. Wenn der Bauch rund ist, hat der Pfaffe vielleicht koa Lust mehr auf di.”
„Verkaufst du ihm dann Holz und bist nett zu ihm?“
„Woaß ned“, antwortete Drees und holte geschickt Marthes Brüste aus dem Kleid, „Vielleicht.“
„Ich kann weder lesen noch schreiben, Drees, aber ich bin nicht ganz blöd. Ich mag es nicht, wenn ich als ein hirnloses Mädchen mit drei Ficklöchern hingestellt werde.“
Drees runzelte die Stirn und sah sie nachdenklich an, legte dann den Kopf schief und murmelte: „Sag des nochmal, bittschön.“
„Ich kann weder lesen noch schreiben, Drees, aber ich bin nicht ganz blöd. Ich mag es nicht, wenn ich als ein hirnloses Mädchen mit drei Ficklöchern hingestellt werde“, wiederholte Marthe und fragte sich, ob er sie auf den Arm nehmen wollte – und dazu war sie nun überhaupt nicht in der Stimmung.
Drees verwirrter Gesichtsausdruck schwand nicht, auf seiner Stirn bildete sich eine senkrechte Falte und er dachte nach.
„Drei Ficklöcher? Wo ist das dritte?“, fragte er dann und Marthe konnte nicht anders, sie musste lachen.
„Verdammt noch mal, Drees!“, keuchte sie und schüttelte den Kopf.
„Lachst du mi aus?“, erkundigte er sich und betrachtete Marthe sehr genau, so als suche er den Eingang, den er noch nicht kannte.
„Nein“, seufzte sie. „Bestimmt nicht.“
„Guad. Dann erklär mal, wie du des grad gmeint hast.“
„Jetzt nicht. Heute Nacht. Lass mich aufstehen, die Arbeit macht sich nicht von selbst.“
„Nah, Weib. Erst müssen wir noch was klären.“
„Was denn?“
„Es ist so ähnlich wie mit dem Küssen und dem Anfassen, Marthe.“
„Was meinst du?“
„Zukünftig gilt: Überall, wo du mich hinschlägst, derf i di auch schlagn. Host mi?“
„Ja.“
„Halt dich dran, Weib. I lass mi ned schlagn. Und a Watschn von mir tut dreimal so weh wie die, die du mir gibst.“
„Wenn nicht noch mehr.“
„So ist es.“ Drees grinste und stand auf, richtete sich die Kleider und verließ die Kammer.
Marthe atmete tief durch. Sie war billig davongekommen. Aber das Pfarrerproblem war immer noch nicht gelöst.
Wenige Tage später nähte Marthe auf der Ofenbank sitzend ein neues Hemd für Fritz, der den rasanten Wachstumsschub gerade hinter sich gebracht hatte. Marthe wusste jetzt schon, dass er groß werden würde, mindestens so groß wie sein Vater, vielleicht sogar so groß wie Drees. Als es an der Tür klopfte, ließ sie die Näharbeit sinken und runzelte die Stirn. Drees klopfte nicht, wenn er nach Hause kam, außerdem war er erst vor zwei Stunden in den Wald aufgebrochen.
„Wer ist da?“, fragte Marthe und erhob sich, legte Nadel, Faden und Stoff zu Seite.
„Pfarrer Keil“, antwortete die Stimme des jungen Geistlichen und Marthe verzog das Gesicht.
„Was wollen Sie?“, erkundigte sie sich durch die geschlossene Tür.
Marthe wollte auf jeden Fall neuerlichen Ärger mit Drees vermeiden, ihr kleines, fragiles Glück nicht dadurch zerstören, in dem sie sich ohne Not über klare Anweisungen hinwegsetzte. Er hatte ja mehr als deutlich gemacht, dass er nichts mit dem Pfarrer zu tun haben wollte.
„Mit dir reden, Frau.“ Seine Stimme klang freundlich und vertrauenerweckend, doch Marthe wusste, dass man darauf nichts geben konnte.
Ludger, Johannes und vor allem Gabriel hatten wie lebende Sonnenstrahlen gewirkt und doch nicht eine Sekunde gezögert, wenn es darum ging, einen unliebsamen Menschen die Kehle durchzuschneiden. Insbesondere Gabriel hatte jeden mit lieben Worten um den Finger wickeln können, was die Brutalität, zu der er fähig gewesen war, dann noch verstörender erscheinen ließ als die von Ludger oder Johannes. Marthe schüttelte den Kopf bei der Erinnerung an die Männer, rief sich selbst zur Ordnung. Über die Toten nur Gutes. Gabriel hatte nur dann gemordet, wenn er wirklich keinen anderen Ausweg gesehen hatte, Ludger und Johannes hatten ihr Messer da sehr viel schneller zur Hand gehabt. Wenn Sidonie gewusst hätte, was man ihr alles verschwiegen hatte, dann …
„Darf ich nicht hereinkommen?“
Marthe zuckte zusammen, als sie aus ihren Erinnerungen gerissen wurde. Den Pfaffen vor der Tür hatte sie für ein paar Sekunden völlig vergessen.
„Worüber wollen Sie denn reden?“, fragte sie und bedeutete Fritz und Liesbeth, dass sie in ihrer Ecke bleiben sollten.
Liesbeth rührte in einer Schüssel herum und kochte ihrem Bruder eine unsichtbare Suppe, während Fritz seine Holzfigürchen miteinander kämpfen ließ. Eigentlich hatte sie ihn zu den Hühnern schicken wollen, damit er die Eier einsammelte, doch das musste jetzt warten.
„Über den Drees, über dich und über euch beide.“
„Da gibt es nichts zu reden“, antwortete Marthe und ging zur Tür, lehnte sich von innen dagegen.
„Ihr seid nicht verheiratet.“
„Nein. Die Leute glauben, Drees sei ein Teufelskind und behandeln ihn entsprechend. Er ist nicht gut gelitten im Dorf und in Ihrer Kirche, warum sollte er dann vor den Altar treten, um sich einen Segen zu holen, von Leuten, die lieber auf ihn spucken würden?“
„Das ist meine erste Pfarrstelle und ich glaube, dass es falsch ist, ihn so zu behandeln. Ich würde euch gerne in die Gemeinde aufnehmen.“
„Danke, wir haben kein Interesse.“
„Marthe …“
Sie runzelte die Stirn, weil er sie so vertraut ansprach, traurig dabei klang. Was war das nur für ein seltsamer Kerl, dieser Pfarrer? Drees hatte völlig recht, wenn er ihm nicht traute.
„Was?“, fragte sie deswegen auch ruppig und überlegte, wie sie ihn am besten loswerden würde.
Ins Haus lassen würde sie ihn auf gar keinen Fall. Nicht nur, weil Drees wütend werden würde, sondern auch, weil sie sich sicher war, dass man diese Klette nicht so schnell wieder los wurde.
„Erinnerst du dich nicht an mich?“, fragte er und Marthe zog scharf die Luft ein.
„Nein. Sie müssen sich irren, Herr Pfarrer.“
„Ich habe drei Nächte gebraucht, um darauf zu kommen, warum du mir so bekannt vorkamst, immerhin ist es lange her, aber ich bin mir sicher. Wir kennen uns.“
„Sicherlich nicht“, sagte Marthe scharf und schloss die Augen. „Ich würde mich bestimmt an Sie erinnern, mit so vielen Pfarrern hatte ich es noch nicht zu tun.“
„Damals war ich auch noch kein Pfarrer. Sondern ein dummer Junge, der den Ruf nicht hören wollte. Es war im Jahr bevor ich ins Priesterseminar eingetreten bin.“
„Ich kenne Sie nicht. Sie irren sich.“
„Doch, wir kennen uns, glaub mir. Auf dieselbe Art und Weise, auf die du Drees kennst. Ich bin damals eigentlich immer zu dieser kleinen Französin gegangen, Genevieve hieß sie. Erinnerst du dich an sie?“
Marthe wurde heiß und kalt zugleich. Sie hatte keinerlei Erinnerung an den Mann vor der Tür und doch hatte sie mit ihm gegen Bezahlung das Bett geteilt. Auch, wenn ihr Gedächtnis sagte, sie habe Pfarrer Keil noch nie in ihrem Leben gesehen, so erinnerte sie sich doch gut an die hübsche, zierliche Genevieve und an ihren tragischen Tod, nur wenige Tage bevor Marthe Ludger kennengelernt hatte. Das Mädchen war auf offener Straße von einem scheuenden Pferd niedergetrampelt und dann von einer Kutsche überrollt worden, weil der Kutscher die Pferde zu spät zur Seite gelenkt hatte.
„Eines Nachts war Genevieve nicht da oder hatte schon jemanden zwischen ihren Schenkeln, ich weiß nicht mehr. Jedenfalls habe ich dann dich ausgesucht und bin nach Genevieves Tod noch einmal zu dir gekommen, um in dir Trost und Vergessen zu suchen.“
Marthe schwieg, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war unzweifelhaft, dass sie tatsächlich mit dem Pfarrer geschlafen hatte, er kannte sie tatsächlich. Marthe schämte sich plötzlich vor sich selbst, fragte sich, mit wie vielen Männern sie es wohl getrieben, an wie viele sie gar keine Erinnerung hatte. An außergewöhnliche Kunden wie den Federmann, Rochus und Ludger erinnerte man sich lange, auch an Drees hätte sie vermutlich noch lange gedacht, aber an den unscheinbaren Pfarrer? Nichts. Marthe kramte hektisch in ihrem Gedächtnis und konnte nichts finden.
Sie öffnete die Tür und betrachtete ihn von oben bis unten. Er lächelte und faltete die Hände vor dem Bauch. Nein. Nein, er kam ihr nicht ein Stück bekannt vor. Überhaupt nicht. Und doch hatte sie ihn bedient.
„Nachdem der Herr mir mein Lieblingsmädchen genommen hatte, habe ich dann den Ruf endlich hören können. Ich bin ins Priesterseminar eingetreten und wurde nach Abschluss der Ausbildung Vikar. Nun bin ich Pfarrer und möchte meine Sache gut machen. Es wäre schön, wenn du mir helfen könntest.“
„Das kann ich nicht. Wenn Drees erfährt, dass ich mit Ihnen … mit dir das Bett geteilt habe …“, Marthe senkte die Stimme, sprach leise und eindringlich: „Drees darf das niemals erfahren, verstanden?“
„Ja, ich verstehe. Ich sage nichts. Trotzdem möchte ich dich bitten, bei Drees ein gutes Wort für mich und die Gemeinde einzulegen. Ich würde euch gerne den Segen des Herrn geben und den Leuten damit einen Grund weniger, böse Dinge über euch zu sagen.“
Marthe musste lachen, sie konnte es sich nicht verkneifen: „Das wird eine sehr fromme Feier werden, wenn ich daran denke, dass ich mit dem Mann hinter dem Altar und mit dem Mann davor bereits das Bett geteilt habe.“
Pfarrer Keil lachte ebenfalls und schüttelte dann den Kopf: „Das war ein anderes Leben, Marthe. Zumindest für mich. Und ich denke, für dich auch. Sonst wärst du doch heute noch im Hurenhaus. Aber du bemühst dich um ein anständiges Leben, um deine Kinder und dein Zuhause. Alles ist anders, bei uns beiden.“
„Gehst du noch zu Huren, Pfarrer Keil?“, fragte Marthe provozierend und erntete noch einmal ein Lächeln.
„Nein. Du warst die letzte Frau, mit der ich das Bett geteilt habe. Als du eine Woche später auch verschwunden warst, bin ich unverrichteter Dinge wieder nach Hause gegangen. Ich habe über mein Leben nachgedacht und dabei endlich die Ruhe gefunden, die man braucht, um den Ruf des Herrn zu hören. Seitdem lebe ich, wie ein Pfarrer leben sollte. Gottgefällig und zölibatär.“
„Wie schön“, erklärte Marthe und konnte den Spott in ihrer Stimme nicht vollständig unterdrücken.
„Wirst du mit Drees reden?“
„Ja. Ich werde es versuchen. Aber ich kann nichts versprechen.“
„Gut. Danke.“
Pfarrer Keil drehte sich um und ging den Weg ins Dorf zurück. „Ach so“, rief er plötzlich und blieb stehen, „Fast hätte ich es vergessen: Ich bräuchte das Brennholz wirklich.“
„Geh ins Dorf zum Toni und hol es dort. Wir verkaufen es ihm, er verkauft es dir.“
Er nickte, hob die Hand zum Gruß und verschwand hinter den Büschen am Wegesrand.
Aufatmend ließ Marthe die Tür zufallen und rieb sich über die Stirn. Das Pfarrerproblem hatte sich nicht verkleinert, sondern sogar noch vergrößert. Musste denn von allen Pfarrern in diesem verdammten Landstrich ausgerechnet der einer sein, der sie für ihre Liebesdienste bezahlt hatte? Marthe ging zur Ofenbank, nahm ihr Nähzeug wieder auf und dachte über das Gespräch nach. Sie hatte keine Ahnung, was sie Drees erzählen sollte.
Drees hatte sich noch nicht richtig an den Tisch gesetzt, als Fritz bereits anfing, ihm von seinen Großtaten im Hühnerstall zu berichten. Drees, wie immer völlig ausgehungert, löffelte seinen Eintopf aus der Schüssel und hörte zu, lobte und tat furchtbar beeindruckt.
„Und davor …“, hob Fritz an und richtete sich auf, wartete, bis er Drees‘ volle Aufmerksamkeit hatte, „davor war der Pfarrer da.“
„Ach?“ Drees warf Marthe, die am Kachelofen stand und nach dem Brot sah, einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu.
Warum hast du mir das nicht erzählt?, fragte sein Blick und Marthe zuckte mit den Schultern: „Ich komme ja nicht zu Wort.“
„Und der Pfarrer …“
„Dann erzähl’s mir jetzt. I hör zu“, erklärte Drees und deutete auf Marthes Stuhl.
„UND DER PFARRER!“, schrie Fritz, der es nicht leiden konnte, wenn Drees ihn ignorierte, der mitunter von großer Eifersucht gebeutelt war, wenn sich Drees und Marthe unterhielten und sich küssten, „Der Pfarrer kennt die Mama genauso wie du, hat er gesagt.“
„Was?“, fragte Drees und runzelte die Stirn, lenkte seine Aufmerksamkeit auf Fritz, der eifrig weitererzählte: „Weil die Mama und der Pfarrer haben im selben Bett geschlafen, genau wie du und die Mama, Drees. Der Pfarrer war sogar in der Mama drin, hat er gesagt, und das hat ihn getröstet.“
Drees‘ Löffel fiel klappernd auf die Tischplatte und er stand langsam auf, starrte auf Marthe hinunter, die gegen den Drang kämpfte, ihr Plappermaul von Sohn zu ohrfeigen, auf sich selbst wütend war, weil sie es unterlassen hatte, Fritz zu sagen, er solle nichts erzählen.
„Du, Mama?“, fragte Fritz in die Stille und angelte nach einer Brotscheibe, „Wenn der Pfarrer mal in dir drin war, ist er dann eigentlich mein Bruder? Weil die Liesbeth war doch auch in dir drin und …“
„Ist er nicht“, knurrte Drees. „Esst weiter, die Mama und ich gehn in die Kammer.“
„Drees …“, begann Marthe beschwichtigend, doch er schnitt ihr das Wort ab: „Halt den Mund. Geh in die Kammer.“
Die Tür zur Kammer donnerte zu und das Feuermal in Drees’ Gesicht wurde noch dunkler. Er bebte vor Zorn und zischte: „Hurst du rum, Marthe?“
„Nein. Drees, hör mir zu. Bitte.“
Er nickte und verschränkte die Arme vor der Brust.
Marthe berichtete ihm haarklein, was der Pfarrer gesagt hatte, bekannte, dass er sie tatsächlich kennen musste, sie aber keine Erinnerung an ihn hatte.
„Was bedeutet, dass er langweilig und schlecht war“, schloss sie ihren Bericht. „Ich bin dir treu, Drees. Fritz hat nur die Hälfte von dem verstanden, was er sagte.“
„Des macht mi närrsch. Dass hier ein Kerl umeinanderläuft, der dich schon lang vor mir gfickt hat. Der jedem sagn kann, dass du wirklich a Freudenmadla bist. Ich werd dich heiratn, Marthe. Damit a jeder woaß, dass d‘ mir ghörst. Aber i lass mi ned von einem Kerl verheiratn, der sein Schwanz scho vor mir in dir drin ghabt hat. Host mi?“
„Ja.“
„Guad. I kümmer mi drum.“
Drees atmete tief durch und ging dann zurück in den großen Wohnraum, nahm Platz und aß weiter.
„Du, Fritz?“, sagte er, nachdem er die zweite Schüssel geleert hatte.
„Ja?“
„Hat der Pfarrer die Mama angfasst oder sie geküsst?“
Marthe schnalzte mit Zunge, beleidigt über Drees‘ fehlendes Vertrauen in sie. Tief im Inneren wusste sie aber, dass ihn seine schlechten Erfahrungen mit seinen Mitmenschen dazu trieben, ihr nicht vollständig zu vertrauen.
Fritz sah Drees mit großen Augen an und schüttelte den Kopf: „Nein. Das darf der doch gar nicht. Das darfst doch bloß du, Drees.“
„Naah. Nix gmacht“, bestätigte Liesbeth ernsthaft und Drees lächelte ihr zu.
„Habt’s ihr guad auf die Mama aufpasst, gell? Guad habt’s ihr des gmacht“, lobte er und Liesbeth strahlte ihn an, während Fritz das Lob wie selbstverständlich entgegennahm.
Im Dezember, als sie genau ein Jahr bei Drees wohnte, musste sie sich das eingestehen, wovor sie sich am meisten gefürchtet hatte: Sie war ohne jeden Zweifel guter Hoffnung. Marthe spürte es. Im November war ihre Blutung bereits ausgeblieben und auch in diesem Monat würde sie keine bekommen. Ihre Brüste spannten bereits und sie fühlte sich einfach schwanger. Im nächsten Sommer würde sie ein Kind zur Welt bringen. Den Gedanken an einen Besuch bei einer Engelmacherin, der kurz in ihrem Kopf aufblitzte, schob sie sofort wieder beiseite. Drees hatte sie aufgenommen und ernährt, er behandelte sie gut und hatte sogar sein verdammtes Haus für sie umgebaut. Er wünschte sich ein Kind und Marthe war ihm das einfach schuldig. Sie würde diese Schwangerschaft annehmen, das Beste daraus machen und einfach hoffen, dass sowohl sie selbst als auch das Kind die Geburt überlebten. Und wenn nicht, musste sie sich keine allzu großen Sorgen um Fritz und Liesbeth machen, denn Drees würde sich gut um sie kümmern. Dazu kam, und Marthe konnte sich noch sehr dagegen sträuben, es änderte nichts an der Wahrheit: Sie hatte sich ernsthaft in Drees verliebt. Nicht nur das: Sie liebte ihn. Tief und von ganzem Herzen. Mit ihm ein Kind zu bekommen war keine Katastrophe, ganz im Gegenteil. Der einzige Punkt, der in ihr ein wenig Verzweiflung hervorrief, war: Kaum war Liesbeth – die im Februar zwei Jahre alt werden würde – aus dem Gröbsten heraus, fing sie wieder von vorne an. Marthe seufzte tief und streichelte über ihren flachen Bauch, inständig darauf hoffend, dass sich diese Schwangerschaft problemloser gestaltete als die letzte. Denn dieses Mal war keine Sidonie da, die ihr den Haushalt führte, wenn es ihr schlecht ging. In den nächsten Monaten musste sie immer weiterarbeiten, ganz egal, wie sehr unter der Schwangerschaft zu leiden haben würde.
Nur um ganz sicher zu gehen, wartete sie noch den Jahreswechsel ab, doch natürlich blutete sie nicht, ganz im Gegenteil verstärkten sich die Anzeichen dafür, dass sie neues Leben in sich trug. Marthe schob, ohne genau zu wissen warum, das fällige Gespräch mit Drees Abend für Abend hinaus, bis er das Thema Mitte Januar selbst ansprach.
Sie lag in seinen Armen, sein warmer, hektischer Atem strich über ihre Schläfe, er keuchte leise und hielt sie fest, als sie sich ihm entziehen wollte.
„Dabliebn“, murmelte er atemlos, „I will in dir bleiben.“
Marthe nickte nur und lag still, wartete ab, bis er ganz entspannt war, ruhig atmete. Dann zog er sich aus ihr zurück und rollte von ihr herunter, griff nach ihr und bettete ihren Kopf an seine Brust.
Man sollte nicht meinen, dass dieser Mann noch ein Jahr zuvor völlig unberührt gewesen war, dachte Marthe und musste lächeln.
Er liebte sie mit größter Selbstverständlichkeit, so als hätte er sein Lebtag nichts anderes gemacht. Nach wie vor war er rücksichtsvoll und zärtlich, zumindest die meiste Zeit über. Nur wenn er sich geärgert hatte, ließ er Marthe spüren, wie groß und kräftig er tatsächlich war. Dann war es besser, einfach zu tun, was er verlangte, ihm zu geben, was er brauchte. Dafür hatte Marthe dann hinterher einen ausgeglichenen, gut gelaunten und zärtlichen Mann im Bett liegen, der eventuelle Grobheiten sofort wieder gutmachte. Manchmal kam ihr dann Ludger in den Sinn, der mitunter noch deutlich härter mit ihr umgesprungen war und sich hinterher ebenfalls jedes Mal aufs Neue auf diese zärtliche Art und Weise entschuldigt hatte. Der Gedanke an ihn schmerzte immer noch, doch der Schmerz wurde dumpfer, leiser, war nicht mehr bohrend und zerstörend. Mehr als eineinhalb Jahre nach seinem Tod war er immer noch bei ihr, nicht nur durch die Kinder, sondern auch durch die Liebe, die sie verbunden hatte. Und doch wurde die Sehnsucht nach ihm jeden Monat ein wenig kleiner, wich einer stillen Akzeptanz und dem Wunsch, wieder glücklich zu sein.
Vielleicht musste ich gerade bei Drees hängenbleiben, dachte Marthe dann, vielleicht, weil er Ludger so ähnlich ist. Oder ich mag einfach nur große, brummige Männer.
„I mach’s doch ned falsch, oder?“, fragte er leise und spielte mit Marthes Haaren.
„Nein. Ich fand es schön“, antwortete sie, aus ihren Gedanken gerissen, und streichelte über seine behaarte Brust.
„Nah, des mein i doch gar ned.“
„Was denn dann?“, fragte sie stirnrunzelnd und hob den Kopf um ihm ins Gesicht zu sehen.
„Weil i’s scho so oft mit dir triebn hab und du hast immer no kei Kind empfangn.“
„Drees, ich …“
„I woaß, Weib. Aber i megat so gern a Kloans. I will dir a Kind machn, unbedingt. Also … mach ich was falsch?“
„Nein, gar nicht. Drees, ich …“ Marthe brach ab, weil Drees sie auf den Rücken drehte und seine Hand um ihre Brust schloss.
Er lag halb auf ihr und sah auf sie hinunter. Das Feuermal wirkte dunkel und bedrohlich im flackernden Licht der einzelnen Kerze, die die Schlafkammer spärlich erhellte. Marthe merkte, dass er den Blick an ihr auf und ab schweifen ließ, während seine Hand ihre Brust fast schon prüfend betastete. Drees hatte große Hände, die wie gemacht waren für Marthes volle Oberweite – doch selbst Marthe merkte, dass es bereits nicht jetzt mehr passte.
Das geht ja gut los, dachte sie, gerade drei Monate schwanger und schon werde ich wieder fett.
„Du bist runder gwordn, Weib“, murmelte Drees, „Deine Brüste san fast so groß wie vor einem Jahr, als du die Kinder gstillt hast.“
„Habe ich auch schon bemerkt“, lächelte Marthe und streichelte über seine Wange, über das Mal in seinem Gesicht, eine Berührung, an die er sich gewöhnt hatte, die ihn nicht mehr zurückzucken ließ. „Das hat auch einen Grund.“
„Du isst mehr.“
„Ja, das auch. Aber hauptsächlich liegt es daran, dass ich dein Kind in mir trage, Drees.“
„Was?“, fragte er und starrte Marthe mit offenem Mund an. „Seit wann?“
„Ich denke, seit Mitte Oktober.“
„Jetzt is Mitte Januar. Des hoaßt, du hast vor drei Monat empfangn und sagst mir nix?“
„Ich wollte sicher sein, dass ich es nicht verliere. Ich wollte dir die Enttäuschung ersparen, Drees. Sei nicht sauer, ja? Freu dich lieber, im Sommer wirst du Vater.“
„Mi freun? Narrisch werd ich, Weib!“
Drees küsste sie zärtlich und streichelte über ihren Bauch, erstarrte dann in der Bewegung und rutschte ein Stück von ihr weg.
„Was ist, Drees?“
„Derf ich’s überhaupt noch mit dir treibn, wenn da schon ein Kind in dir drin ist?“
„Du darfst. Das macht dem Kind gar nichts aus. Und mir auch nicht.“
„I werd dich heiratn, Marthe.“
Sie nickte lächelnd und flüsterte einen Dank.
„Nah“, wehrte er ab. „I muss mi doch bedankn, Weib. Du hast so viel für mi getan und jetzt erfüllst du mir meinen größtn Wunsch.“
„Fritz und Liesbeth werden platzen vor Eifersucht, weil sie ihren Vater jetzt mit noch einem Kind teilen müssen.“ Sie lachte leise, hin und her gerissen zwischen Freude und Angst.
„Der Ludger ist ihr Vater, Marthe, und des dürfen sie auch wissen. I bin der Papa, des is mehr, als ich mir je gwünscht hab. Aber …“
„Ja?“
„Der Pfaffe wird mich fragn, ob die Kinder von mir san. Soll i dann ja sagn?“
Marthe überlegte kurz und nickte dann. Drees offiziell zum Vater von Fritz und Liesbeth zu machen erschien ihr besser, als über den wahren Vater lügen zu müssen. Alle ihre Kinder konnten dann später sagen, ihr Vater sei Holzfäller gewesen, ein unbescholtener, ehrlicher Bürger. Dass er ein Teufelsmal hatte und deswegen von vielen Menschen gemieden wurde, brauchten sie ja nicht zu erzählen. Kurz fragte sie sich, ob sie Ludger damit verraten würde. Aber Ludger war tot und Marthe wusste, dass Ludger ein sehr praktisch denkender Mensch gewesen war. Er hatte nie zu Sentimentalitäten geneigt und würde das Beste für sie und ihre Kinder wollen. Nein, Ludger hätte nichts dagegen, bestimmt nicht.
„Das ist eine gute Idee, Drees.“
„Denk ich mir“, murmelte er und holte tief Luft, bevor ein Strahlen über sein Gesicht ging: „Verdammich, i gfrei mi so!“
„Ich mich auch“, flüsterte Marthe und nahm sich fest vor, sich keine Wehwehchen anmerken zu lassen.
Es durfte ihr einfach nicht schlecht gehen, Drees hätte sonst keine Freude an ihrem wachsenden Bauch. Denn neben ihren Kindern wollte Marthe nun auch unbedingt Drees glücklich sehen.
Eine Woche später setzte Drees seine Familie auf den Pferdekarren und fuhr zwei Stunden westwärts. Als er Marthe am Ziel ihrer Reise küsste, spürte sie das schwere Säckchen voller Münzen, das unter seinem Hemd an seiner Brust baumelte. Drees würde den Pfarrer bestechen, anders würde es wohl nicht gehen. Mit Fritz und Liesbeth an der Hand klopften sie am Pfarrhaus und wurden eingelassen. In der Stube händigte Drees dem Pfarrer ohne weitere Umschweife das Säckchen aus und sah stoisch zu, wie der Pfarrer an seinem Schreibtisch das kleine Vermögen zählte, das Drees ihm ausgehändigt hatte. Dann ließ er die Münzen in seiner Kutte verschwinden und holte ein Blatt Papier aus der Schublade. Der Pfarrer begann die Heiratsurkunde aufzusetzen und fragte, an Drees gewandt: „Vollständiger Name?“
„Andreas Georg Röder.“
„Geboren?“
„25. Juli 1759.“
Der Pfaffe deutete auf Marthe und fragte, wiederum an Drees gewandt: „Sie?“
„Marthe Marie Wagner. Geboren am 1. Dezember 1756.“
Die Feder kritzelte über das Papier, Fritz rutschte gelangweilt auf Marthes Schoß herum, während Liesbeth träge ihre Finger durch Drees‘ Bart gleiten ließ, eine Tätigkeit, die das Mädchen mehr als alles andere liebte. Marthe fragte sich nicht zum ersten Mal, warum, quittierte es aber wie immer mit einem Lächeln. Drees ließ das wie immer mit sich machen, vielleicht mochte er es auch, das wusste Marthe nicht. Wie so vieles, das sie nicht über den Mann wusste, mit dem sie gleich verheiratet sein würde.
„Die Kinder?“
„Fritz, 15. September 1783. Liesbeth, 28. Februar 1786.“
„Bist du der Vater?“, wollte der Pfaffe wissen und Drees antwortete ein lautes, deutliches, „Ja“.
„Ist ja dein Leben, Bub“, murmelte der Alte und stellte dann keine weiteren Fragen, er tat das, wofür ihn Drees so fürstlich entlohnt hatte.
Eine halbe Stunde später, in der sie dem Pfarrer beim Schreiben zugesehen hatten, waren sie verheiratet. Ohne Zeremonie, ohne Feierlichkeiten, ohne Segen. Eine offizielle Heiratsurkunde genügte für ihre Zwecke, nach den Umständen der Hochzeit würde sowieso nie irgendjemand fragen.
„Danke“, sagte Marthe, kaum, dass sie das ungastliche Dorf mit dem bestechlichen Pfaffen verlassen hatten.
„Bassd scho, Weib.“ Drees lachte und legte ihr den Arm um die Schultern.
„Was?“, fragte Marthe und streichelte Liesbeth über die Haare.
„Du bist jetzt tatsächlich mein Weib. Woaßd was? I gfrei mi! Des hätt i nie denkt, dass i mal so a schönes Weib kriag und zwoa so liabe Kinder.“
„Drei.“
„Ja. Drei. Bald.“ Drees küsste sie auf den Mund und schüttelte den Kopf: „I kann’s immer noch ned glaubn.“
„Hat die Mama einen Bruder im Bauch?“, fragte Fritz neugierig und starrte interessiert auf Marthes Mitte, konnte dort aber natürlich nichts Außergewöhnliches erkennen.
„Ja. Oder eine Schwester“, erklärte Drees und strahlte über das ganze Gesicht.
„Nah!“, machte Fritz, der diesen Ausdruck mittlerweile ebenfalls von Drees übernommen hatte, „Ich will aber einen Bruder! Ich habe ja schon eine Schwester.“
„Man kann sich das nicht aussuchen, Fritz. Es passiert einfach. Im Sommer, wenn das Kind geboren wird, werden wir wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.“
Fritz nickte und schaute frustriert auf den Hintern des Pferdes, legte die Stirn in Falten.
„Darf das neue Kind dann an Mamas Brust trinken?“
„Ja. Das muss es sogar, sonst verhungert und verdurstet es.“
Über Fritz‘ Gesicht ging ein Strahlen und er wirkte mit einem Mal doch ziemlich versöhnt mit der ganzen Situation: „Dann darf ich auch wieder, oder?“
Drees und Marthe tauschten einen erstaunten Blick – dass Fritz sich daran erinnern konnte, überraschte alle beide. Drees räusperte sich und sagte mit fester Stimme: „Nah. Die Milch von der Mama is nur fürs Kloane. Wir drei trinken die Milch von die Kiah. Die Liesbeth, du und ich, wir derfen nur zuschaun, wenn die Mama des Zwergerl an die Brust legt.“
„Das ist so gemein!“, rief Fritz und Drees lachte: „Ja, find ich auch. Aber ändern könnmers ned. Wie schauts aus, Fritzi, hilfst mir, a Bett fürs Zwergerl zu baun?“
Fritz‘ Augen wurden groß und er schenkte Drees einen Blick, der deutlich besagte, dass er glaubte, der Papa sei dem Wahnsinn anheimgefallen.
„Schläft das Zwergerl etwa bei der Liesbeth und mir in der Kammer?“, fragte er und deutete auf Liesbeth, die die Unterhaltung offenbar überhaupt nicht interessierte, und leise vor sich hin sang, während sie mit den Fransen von Marthes Schultertuch spielte.
„Nicht gleich. Erst schläft es bei mir und Drees im Bett, dann in unserer Kammer in der Wiege und dann erst bei euch.“
Fritz sprang auf und Marthe fasste ihn reflexartig am Hosenboden, damit er nicht vom Kutschbock fallen konnte.
„Das Zwergerl darf bei der Mama im Bett schlafen und ich nicht?“, rief er empört und stampfte mit dem Fuß auf.
Marthe seufzte und zog ihren bockigen Großen auf ihren Schoß, erklärte ihm geduldig, warum das Zwergerl – offensichtlich würde das jetzt der Name für das Kind sein – bei ihr im Bett schlafen musste.
„Liese in Mamas Bett schlafen“, erklärte Liesbeth und nickte bekräftigend mit dem Kopf.
„Heut auf d’Nacht dürft ihr bei uns im Bett schlafn. Einverstandn?“, fragte Drees und zwinkerte Liesbeth zu.
„Ja“, nickte sie und Fritz brummelte eine beleidigte Zustimmung.
Marthe seufzte und schloss für einen Moment erschöpft die Augen. Die Eifersucht würde vermutlich keine Grenzen kennen. Das konnte ja heiter werden.
Je größer Marthes Bauch wurde, desto begeisterter wurde Drees. Er strahlte über das ganze Gesicht, als der Bauch unübersehbar geworden war, als er dem Toni im Dorf erklärte, sein Weib sei guter Hoffnung. Marthe hatte Toni zugelächelt und es zugelassen, dass Drees in Tonis Gegenwart über ihren runden Bauch streichelte. Der Besitzerstolz bezüglich Marthe und seiner schnell wachsenden Familie war ihm mehr als deutlich anzusehen. Der einzige Dorfbewohner, bei dem Drees das Lächeln sofort verlor, war der Pfarrer. Er konnte ihm nicht verzeihen, dass er vor Jahren mit Marthe geschlafen hatte, mit seinem Weib. Der einzige Mann aus Marthes Vergangenheit, den er respektierte, war und blieb Ludger. Und das vermutlich auch nur, weil Ludger nun mal keine Konkurrenz mehr darstellen konnte.
Seit ihr Bauch sich leicht rundete, musste sie sich jeden Abend ausziehen und sich ansehen lassen.
„Du bist so schön, Weib“, flüsterte Drees ein ums andere Mal und versüßte ihr damit die Schwangerschaft, die ähnlich leicht verlief wie die mit Fritz.
Drees‘ nach wie vor schwer zu zügelnder Trieb wurde von ihren neuen Rundungen, der größer werdenden Brust und den breiteren Hüften noch mehr angefeuert und Marthe war jetzt schon völlig klar, dass es sich vermutlich nur um Wochen handeln konnte, bis sie nach der Geburt wieder schwanger wäre. Sie seufzte bei dieser Erkenntnis und verdrängte das Bild der leichenblassen Sidonie und ihrer toten Tochter. Es würde schon alles gutgehen. Es musste gutgehen.
Drees half ihr, so viel er konnte, hielt Fritz und Liesbeth unerbittlich dazu an, ihren Teil zum Haushalt beizutragen und fuhr Anfang Mai ins Dorf zu einer Hebamme, obwohl Marthe sagte, sie habe zwei Kinder ohne Hebamme bekommen, sie würde auch ein drittes ohne Hilfe kriegen. Außerdem sei das Kind vermutlich schon längst auf der Welt, bis die Hebamme vom Dorf auf den Einödhof gekommen wäre. Doch Drees ließ sich nicht beirren, immerhin kannte auch er genügend Geschichten darüber, wie gefährlich eine Geburt für Mutter und Kind sein konnte.
Eine gute Woche später, am Sonntag, wachte Marthe noch vor Sonnenaufgang auf, weil das Kind in ihrem Bauch wild strampelte. Sie blieb eine Weile mit geschlossenen Augen liegen, doch in ihrem Bauch kehrte keine Ruhe ein. Offenbar hatte das Zwergerl ausgeschlafen und Marthe beschloss, dann eben auch aufzustehen.
„Wo willst hin?“, murmelte Drees schläfrig, als Marthe die Beine aus dem Bett geschwungen hatte.
„Das Zwergerl tritt mich so stark, dass ich nicht mehr schlafen kann. Ich wollte aufstehen.“
„Nah, bleib da, Weib, es is ja noch stockfinster draußen. I streichel’s a bissl, des Zwergerl, dann schläft’s wieder ein.“
Marthe seufzte und legte sich wieder hin, wurde an Drees‘ warmen Körper gezogen und fühlte seine Hand auf ihrem Bauch, erst über dem Stoff, dann Sekunden später darunter.
„Mei, des tritt aber wirklich fest“, wisperte Drees und beschrieb sanfte Kreise auf dem Bauch. „Gsund und kräftig isses, gell?“
„Ich denke schon“, antwortete Marthe leise und schloss die Augen, presste ihre Nase an seinen Hals und rümpfte sie dann, weil seine Barthaare sie kitzelten.
Drees roch nach Mann, Holz und Leder, ein Geruch, den Marthe über alles liebte. Sie fühlte die Schwere in ihren Gliedmaßen, die Erschöpfung, die immer mehr wuchs, je größer der Bauch wurde. Die raue Hand, die ihren Bauch streichelte, beruhigte nicht nur Marthe, sondern auch das Kind in ihr und es hörte auf zu zappeln und zu treten.
„Drees?“, flüsterte sie in seinen Bart und er brummte ein „Mhm?“, während er unablässig weiter seine Kreise über ihren Bauch zog.
„Ich liebe dich“, bekannte Marthe. „Du machst mich sehr glücklich.“
„I liab di aa, Weib. Hast des noch ned gwusst?“
„Doch, Drees. Aber es ist schön, das zu hören, oder?“ Marthe küsste ihn träge auf den Hals und presste sich enger an ihn.
„Ja, schon. Und jetzt schlaf, Weib, des Zwergerl gibt a Ruah.“
„Wir brauchen noch einen Namen, Drees. Es sind nur noch ein paar Wochen.“
Drees seufzte gottergeben und ließ seine Hand für ein paar Sekunden ruhig auf ihrem Bauch liegen, konzentrierte sich offenbar ganz und gar aufs Nachdenken. Marthe spürte, wie das Zwergerl gegen Drees‘ Hand trat, als ob es ihn auffordern wollte, doch weiterzumachen.
„Der erste Bua hoaßt bei uns immer nach seim Vater, Marthe. Andreas. Kannst damit lebn?“, fragte er und gab dem Drängen des Zwergerls nach, streichelte den Bauch wieder in diesem gleichmäßigen, beruhigenden Rhythmus.
„Ja, natürlich. Und wenn’s ein Mädchen ist?“
„Was hältst von einem Lenerl?“
Marthe lächelte und fragte: „Magdalena?“
„Ja. Des Lenerl oder die Leni, sagt mer dann.“
Sie nickte langsam und fragte: „Wie kommst du auf Magdalena?“
„Des is der Name deiner Mudder, oder?“
„Ja, das stimmt.“
„Du hast es irgendwann mal erwähnt. Und i hab mir’s gmerkt. Oder willst des ned, dass unser Tochter nach deiner Mudder hoaßt?“
„Doch, das ist sehr schön“, antwortete Marthe und küsste ihn abermals auf den Hals. „Dann sind wir uns ja einig, oder? Das Zwergerl heißt Andreas oder Magdalena.“
„Ja. Und jetzt mog i nix mehr hörn, Weib. Du sollst schlafn.“
Marthe nickte und flüsterte: „Schlaf schön, Liebster.“
„Halt die Klappe, Weib“, antwortete Drees und Marthe konnte regelrecht hören, dass er lächelte.
Marthe wusste, dass sich das erste Kind oft ein bisschen mehr Zeit ließ, das zweite und die folgenden oft ein wenig vor der Zeit kamen, deswegen überraschte sie es auch nicht, als sie an einem Vormittag Mitte Juni Wehen verspürte, die schnell keinen Zweifel mehr daran ließen, dass das Zwergerl aus dem Bauch wollte. Marthes Berechnungen nach kam das Kind zu früh, aber nur gut drei Wochen. Das war in Ordnung und sollte Marthes Erfahrungen zufolge kein Problem darstellen. Sie erledigte ihre Küchenarbeit und bereitete das Mittagessen soweit vor, wieder und wieder unterbrochen von immer stärker werdenden Wehen. Auch die Häufigkeit nahm rapide zu, die Abstände wurden schnell kürzer und Marthe fluchte leise. Sie stützte sich auf dem Küchentisch ab und spürte, dass die kommende Wehe bereits veratmet werden wollte. Marthe fühlte, dass sie dringend zum Abort musste, ein weiteres Zeichen dafür, dass die Geburt im Gange war. Sie ließ alles stehen und liegen, watschelte gekrümmt zum Abort und wunderte sich überhaupt nicht, als auf dem Häuschen die Fruchtblase platzte.
Wenigstens muss keiner die Pfütze aufwischen, dachte sie und säuberte sich, ging zurück ins Haus und wartete auf die nächste Wehe, die sie mit neuer Wucht traf, die so stark war, dass es Marthe fast von den Füßen zog. Ihr wurde klar, dass das, was sie Drees prophezeit hatte, genau so eintreten würde: Noch bevor Drees das Dorf erreicht hätte, um die Hebamme abzuholen, wäre das Zwergerl schon auf der Welt.
„Fritz!“, keuchte sie und schwankte in Richtung Schlafkammer, „Lauf in den Stall und hol den Drees. Sag ihm, das Zwergerl will auf die Welt.“
Der Junge sprang von der Ofenbank und rannte hinaus, dicht gefolgt von Liesbeth, die auf ihren kurzen Beinchen kaum hinterher kam, dafür aber umso lauter „Papa, Papa!“ brüllte.
Sie nahm die alten Decken, die für die Geburt bereit lagen und breitete sie auf dem Bett aus, legte sich hin und schrie die nächste Wehe in eines der Kissen. Sie hörte nicht, wie Drees den Raum betrat, erst als das Stroh laut raschelte und sie ihn neben sich spürte, nahm sie das Kissen vom Gesicht.
„I hol die Hebamme“, sagte er leise und Marthe schüttelte wild den Kopf: „Nein. Hiergeblieben. Das Kind kommt bald. Bis du im Dorf bist, ist es geboren.“
„Wann hat es angefangen?“, fragte Drees und legte die Hand auf den brettharten Bauch, wartete geduldig, bis Marthe wieder sprechen konnte.
„Kurz nach dem Frühstück.“
„Zwoa Stund und a halbe“, murmelte Drees, „des geht aber schnell.“
„Sag ich doch. Ich denke, es dauert keine Stunde mehr, bis es da ist“, keuchte Marthe, tastete nach seiner Hand und drückte sie.
„Konn i was helfn, Marthe?“, fragte er und die Besorgnis ließ seine Stimme zittern.
Drees musste sich räuspern und Marthe hätte fast lächeln müssen, als sie den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht sah, als sie die nächste Wehe ertrug.
„Mama?“, hörte sie Liesbeths Stimmchen von der Tür her und Drees stand auf.
„Fritz, nimmst d‘ Liesbeth und gehst mit ihr nein Garten, gell? I hol euch, wenn des Zwergerl geboren ist.“
„Papa!“, protestierte Liesbeth, doch Drees blieb hart und keine Minute später waren die Kinder draußen und unterwegs in Richtung Garten.
„Setz dich hinter mich, Drees“, verlangte Marthe atemlos, „halt mich fest, ja?“
Er nickte und tat, was sie verlangte, zog sie an seine Brust und legte die Hände auf ihren Bauch. Marthe war schweißgebadet und legte erschöpft den Kopf in den Nacken. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so heftige Wehen verspürt zu haben. Doch, so tröstete sie sich, wenigstens wäre es schnell vorbei.
Es dauerte auch tatsächlich nur noch eine halbe Stunde, bis Marthe den intensiven Drang verspürte, pressen zu müssen. Sie weinte vor Anstrengung, nahm den Kopf auf die Brust und presste mit aller Kraft, während Drees ihr aufmunternde Worte ins Ohr flüsterte.
„Guad, Weib, des war guad“, murmelte er nach der fünften Presswehe, bei der Marthe geglaubt hatte, es würde sie zerreißen. „I konn die Hoar sehn. Braune Hoar hat’s. Wie i.“
Marthe schluchzte und tastete nach dem Köpfchen, schöpfte Kraft aus dem Gedanken, dass es fast geschafft war. Der Drang zu pressen nahm zu, wurde übermächtig und Marthe schrie durch zusammengebissene Zähne, während sie sich in Drees‘ Oberschenkel krallte.
Zwei Wehen später schluchzte Marthe hemmungslos und ließ sich kraftlos gegen Drees sinken, während der kräftige Schrei ihres Kindes durch die Schlafkammer hallte.
„Marthe“, flüsterte Drees, „du hast es gschafft.“
„Ja“, antwortete sie mit geschlossenen Augen, „Was ist es, Drees?“
Drees beugte sich mit Marthe an seiner Brust vor, schaffte es, dank seiner langen Arme, das Kind hochzunehmen und legte es vorsichtig auf Marthes Oberkörper, als er sich zurücksinken ließ.
„Es is a Bua. Der Andreas. Und er ist gsund und so schön, wie mer nur sei kann.“
Keine vier Stunden nach der ersten Wehe hielt Marthe ihren zweiten Sohn in den Armen, ein hübscher Junge, der ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, mit Ausnahme der Haarfarbe, die unzweifelhaft von seinem Vater stammte. Marthe betrachtete den Jungen gründlich, ließ sich dann von Drees die Schnur und die Schere reichen und nabelte das Kind ab. Keine Spur eines Teufelsmals oder einer anderen Missbildung war zu sehen und Marthe atmete erleichtert auf, legte das Zwergerl namens Andreas an die Brust und stöhnte leise, als der Junge zu saugen begann. Drees legte die Arme um sie, platzierte sein Kinn auf ihrem Scheitel und flüsterte: „I konn’s ned glaubn, Weib. Des is mei Bua.“
„Lass das nicht Fritz hören, Drees“, wisperte Marthe und er antwortete: „Nah. Der Fritz is genauso mei Bua wia der Anderl. Und des Lenerl, was wir nächstes Jahr kriegn, wird genauso mei Madla sein wie die Liese. Und wie du, Marthe.“
„Drees, bitte. Sprich nicht davon. Lass mich erst diese Geburt vergessen, bevor du mir das nächste Kind machst.“
„Sowieso. I konn wartn. Jetzt woaß i ja, dass ich’s immer richtig gmacht hab“, lächelte Drees und küsste sie auf die Schläfe. „Dankschön, Weib. Für mein Andreas.“
„Ich habe eine Ladung Brennholz draußen. Vielleicht können die Ministranten den Wagen abladen, während wir uns über den Preis unterhalten, Pfarrer Keil“, erklärte Marthe liebenswürdig und lächelte ein gewinnendes Lächeln.
Sie rückte sich den schlafenden Buben vor ihrer Brust zurecht und hoffte, dass ihr Plan funktionieren würde. Drees hatte Fritz und Liesbeth mitgenommen – er wollte mit den Kindern und einer der Kühe zum nächsten Einödhof laufen und die Kuh decken lassen. Auch, wenn Liesbeth auf der Kuh ritt, wäre er stundenlang unterwegs, plus die Zeit, die der Ochse brauchen würde, um die Kuh zu besteigen. Vor dem Abendessen würden sie bestimmt nicht zurücksein, weswegen ihnen Marthe eine üppige Brotzeit eingepackt hatte und mit dem Wagen davongefahren war, als sie noch keine halbe Stunde außer Sicht gewesen waren. Darüber, wie sie Drees den überraschenden ab-Hof-Verkauf einer Wagenladung Brennholz erklären sollte, hatte sie zwar schon nachgedacht, war aber noch zu keinem überzeugenden Ergebnis gekommen. Insbesondere, weil sie ja kein Geld vorweisen konnte, wenn ihr Handel so funktionierte, wie sie sich das vorstellte. Zu behaupten, das Holz wäre geklaut worden, war blödsinnig, denn das hätte sie ja merken müssen. Im Zweifelsfall würde sie die Wahrheit sagen müssen, die fällige Tracht Prügel kassieren und im Endeffekt aber trotzdem ihren Willen haben.
„Ändern sich die Preise so schnell?“, fragte der Pfarrer und hielt ihr das Kirchenportal auf.
„Ich dachte nicht an Bargeld, Hochwürden.“
„Nicht?“, fragte er erstaunt nach und runzelte die Stirn, „Nun, was möchtest du dann, Marthe?“
Pfarrer Keil führte sie in die Sakristei und schloss die Tür hinter ihr.
„Wie alt ist das Kleine?“, fragte er dann und betrachtete das fest eingewickelte Bündel vor ihrer Brust.
„Drei Wochen. Es ist ein Junge. Andreas heißt er. Andreas Leopold Röder. Geboren am 14. Juni. Ich gebe Ihnen das Brennholz, wenn Sie den Jungen jetzt sofort taufen und ins Kirchenbuch schreiben. Und seine Geschwister noch dazu.“
„Ist er krank?“, fragte Pfarrer Keil und Marthe beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben: „Nein. Aber sein Vater ist nicht gut auf die Kirche zu sprechen und …“
„Du aber auch nicht, Marthe“, fiel ihr der Pfarrer ins Wort und Marthe nickte: „Schon. Ich will das Beste für meine Kinder. Und ohne Eintrag ins Kirchenbuch sind sie kein Teil der Gemeinde. Drees muss das nie erfahren und ich möchte, dass sie … offiziell sind.“
„Ich weiß nicht, ob ich den Fritz und die Liesbeth nachtragen kann, ich kann’s versuchen, aber …“
„Machen Sie es einfach, Hochwürden!“, zischte Marthe und holte den kleinen Andreas aus dem Tragetuch. „Taufen Sie ihn. Schnell, bitte.“
„Wer ist der Vater vom Fritz und von der Liesbeth? Wen soll ich eintragen?“
„Andreas Georg Röder. Den Drees. Wen denn sonst?“
„Die beiden älteren Kinder sind nicht vom Drees, Marthe. Das weiß ich, das weiß das ganze Dorf“, erklärte der Pfarrer mit fester Stimme und schüttelte den Kopf.
„Waren Sie dabei und haben zugesehen, wie mir die Kinder gemacht worden sind?“, fragte Marthe ruppig und setzte befriedigt hinzu: „Nicht? Na also. Ich sage, der Drees hat mich geschwängert. Und alles andere geht niemanden etwas an.“
Pfarrer Keil schüttelte den Kopf und nahm ein Blatt Papier und eine Feder zur Hand: „Der Fritz ist wann geboren?“
„Am 15. September 1783. Liesbeth wurde am 28. Februar 1786 geboren, der Kleine am 14. Juni 1788, wie gesagt.“
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, murmelte er und notierte sich die Daten.
Zumindest glaubte Marthe das, denn außer ihrem eigenen Namen konnte sie nicht besonders viel lesen. Eigentlich gar nichts.
„Und was ist mit seiner Taufe?“, fragte Marthe und der Pfarrer wiegte nachdenklich den Kopf hin und her: „Ohne Paten?“
„Bitte, Hochwürden“, bat sie eindringlich und er seufzte schwer, öffnete die Tür der Sakristei und blickte hinaus: „Die Kirche ist gerade leer, die Gelegenheit ist günstig.“
Keine fünf Minuten später war der kleine Andreas Mitglied der Kirche und Marthe war es zufrieden. Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, um den leeren Wagen zu erklären. Ihre Kinder waren nun endgültig ehrbare Mitglieder der Gesellschaft. Getauft, im Kirchenbuch eingetragen, mit einem unbescholtenen Vater versehen.
Es dämmerte bereits, als Drees mit den Kindern und der hoffentlich erfolgreich gedeckten Kuh nach Hause kam. Marthe trug ihnen die Pastete auf, die sie am Nachmittag gebacken hatte und die nur an einer Ecke ein wenig verbrannt war. Liesbeth und Fritz erzählten in den buntesten Farben von ihrem Ausflug und von der Kuh, die sich so gar nicht hatte besteigen lassen wollen, dann aber doch noch nachgegeben hatte, nachdem – so Liesbeth – der Ochse sie ganz lieb angemuht hatte. Nach dem Essen ging Drees in den Stall und sah nach dem Rechten, kam nach einer guten Stunde zurück und fragte: „Wo sind die Kinder?“
„Im Bett. Sie schlafen alle drei.“
„Was ist mit dem Holz passiert? Der Wagn ist leer und heut in der Früh war er noch randvoll“, sagte er langsam und nahm am Tisch Platz, „Setz dich, Weib.“
„Ich … ich hab’s verkauft.“
„Dann hätt ich gern des Geld, Marthe. Und i dad scho gern wissn, an wen du mei Holz verkauft hast. Und warum der unangemeldet kimmt, wann i einmal grad ned da bin.“
„Ich behalte das Geld gleich für den Einkauf am Markt nächste Woche“, lächelte Marthe und griff nach seiner Hand, doch Drees zog sie zurück.
„Aha?“
„Ja. Ich gebe es dir und du gibst es mir gleich wieder zurück, das ist doch blödsinnig“, erklärte sie leichthin und Drees gab ein knurrendes Geräusch von sich.
„Sag, Weib, hast des Holz dem Kuttenbrunzer verkauft?“
„Nein“, sagte Marthe mit fester Stimme, „es war niemand von der Kirche. Aber ich weiß auch nicht, wie er heißt.“
Das Feuermal in Drees‘ Gesicht verfärbte sich so dunkellila, dass es im Kerzenlicht fast schwarz wirkte und Marthe entging dem Anraunzer nur, weil das Zwergerl in der Schlafkammer murrte. Drees stand auf, bedeutete ihr, sitzenzubleiben und holte seinen Sohn, während Marthe ihre linke Brust aus dem Kleid holte. Die ersten beiden Tropfen glitzerten schon an ihrer Brustwarze, ausgelöst durch Andreas‘ Stimme, und sie streckte die Hände nach dem Anderl aus, während Drees seinem Sohn noch beruhigende Worte ins Ohr flüsterte.
„Der Anderl stinkt“, sagte er, überreichte Marthe das Kind und sie seufzte glücklich, als der Junge kräftig zu saugen begann.
„Ich mache ihn frisch, wenn er satt ist“, antwortete sie und Drees lachte bitter auf: „Er stinkt nicht, weil er die Windel voll hat, Weib. Er stinkt nach Weihrauch und Chrisam.“
Dann beugte er sich zu Marthe und schnupperte an ihren Haaren: „Und du stinkst aa nach Weihrauch. Was hast gmacht, Weib?“
„Nichts“, beharrte Marthe, doch sie wusste, dass sie verloren war.
„Soll i’s aus dir rausprügeln? Mogst des?“
„Fass mich an und ich bin weg. Mit den Kindern“, erklärte sie und drehte sich von ihm weg, so dass er Andreas nicht treffen würde, wenn er zuschlug.
„Ah, geh! Du warst mit meim Anderl in der Kirche, gell? Deswegen stinkt’s ihr so. Und des Brennholz hast dem Kuttenbrunzer gebn, damit der den Anderl tauft.“
Marthe fluchte innerlich, weil sie den intensiven Geruch nicht bedacht hatte, weil ihr Drees so schnell auf die Schliche gekommen war.
„Nein“, sagte sie und Drees nickte: „Guad. I glaub dir, Marthe.“
„Danke“, flüsterte sie und drehte sich wieder zurück.
„Dann will i des Geld sehn, was du für des Holz kriagt hast.“
Marthe schüttelte den Kopf und sagte nichts mehr.
„Marthe“, sagte Drees ebenso ernst wie tödlich ruhig, „i hab dir tausendmal verboten, Gschäfte mit dem Kuttenbrunzer zu machen. Mei Holz, mei Gschäft, mei Entscheidung. Und du verschenkst ned nur a ganze Fuhr Brennholz im Wert von am Wochenlohn, du lässt aa mei Kind taufn, obwohl du genau woaßd, dass i des ums Verreckn ned will. Der Anderl is mei Sohn, Weib. Und wann i sag, der wird ned tauft, dann wird der ned tauft. Aber du hast es besser gwusst, gell?“
„Drees“, flüsterte Marthe, weil ihr angst und bange wurde.
„I liab di, Weib. Aber i lass mir ned ois gfalln. Des musst endlich amal lernen. Host mi?“
Er stand auf und ging wortlos in die Schlafkammer. Marthe liefen die Tränen über die Wangen und sie fühlte sich schwach und hilflos, wie immer in den ersten Wochen nach einer Geburt. Sie war unendlich nah am Wasser gebaut und wenn es um Streit ging, so weich wie sonst nie. Sie verfluchte sich, hätte sie doch nur noch ein wenig länger gewartet, bis es ihr besser gegangen wäre. Doch die Gelegenheit war so günstig gewesen, sie hatte sie nutzen müssen. Wer wusste schon, wann sie wieder einmal mit einem beladenen Wagen, unendlich viel Zeit und alleine zuhause gewesen wäre?
Als Drees zurückkam, blieb er hinter ihr stehen und Marthe flüsterte: „Ich will doch nur, dass es die Kinder später einfacher haben als wir beide.“
„Gibst es also zu?“, fragte er und legte seine rechte Hand auf Marthes Schulter, drückte sie beruhigend und streichelte ihr über den Nacken, so zärtlich, wie sie ihn kannte.
„Ja.“
„Hast mein Anderl taufn lassn und mit meim Holz dafür bezahlt?“
Marthe nickte und presste ein ersticktes: „Es tut mir leid, bitte verzeih mir“ hervor.
„Guad. Hob i mir denkt. Wenn mei Anderl satt is und nicht mehr nach dem Kuttenbrunzer stinkt, kimmst nein Stall. Da wart i auf di. Bringst den Gürtel mit“, Drees warf einen Ledergürtel auf den Tisch, „san mir nach zwei Dutzend Streichen quitt. Kimmst ohne Gürtel, packst morgen dei Bündel und gehst. Ohne die Kinder.“
„Aber es sind meine Kinder“, begehrte Marthe auf und Drees zuckte mit den Schultern: „Im Kirchenbuch steht, dass es meine san. Hob i recht?“
Marthe nickte und wusste, dass sie um die Schläge nicht herumkommen würde. Doch im Endeffekt hatte sie ihren Willen durchgesetzt. Andreas war getauft und selbst wenn Drees sie halb tot prügeln würde, eine Taufe ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
Dummerweise hatte es offenbar doch auch Nachteile, einen Vater im Kirchenbuch eintragen zu lassen. Für das Lenerl, das Drees so gerne hätte, bräuchte sie eine neue, bessere Strategie. Oder sie spielte das Spielchen dann noch einmal. Zwei Dutzend Schläge mit dem Ledergürtel waren nichts, was Marthe erziehen konnte, denn – als dreifache Mutter wusste sie das nur zu gut – Schmerz ging vorbei und war schnell vergessen. Bei Ludger hatte sie sich rausnehmen können, was immer ihr beliebt hatte. Seine Liebe zu ihr und die Tatsache, dass sie nicht verheiratet war, hatte ihr größtmöglichen Freiraum verschafft. Bei Drees war das anders. Sie hatte ihn geheiratet und sich damit seinen Regeln unterworfen. Freiwillig, weil sie es wollte, weil die Vorteile überwogen. Mit den Nachteilen musste sie jetzt eben leben.
Nachdem das Anderl satt war und sie ihn notdürftig gewaschen hatte, legte sie ihn wieder schlafen und wartete noch ein paar Minuten, um ganz sicher zu gehen. Sie sah nach Fritz und Liesbeth, die ebenfalls tief im Land der Träume waren, ging zum Tisch und starrte auf den Gürtel.
„Selbst schuld, du dumme Nuss“, murmelte sie, nahm das Leder in die Hand, schluckte und machte sich auf den Weg zum Stall.
Drees lehnte in der Stallgasse an einem Pfosten und sah Marthe ernst an, als sie ihm den Gürtel überreichte.
„Ich hasse dich, du sturer Bock“, sagte sie leise, rein der Form halber.
„I woaß“, antwortete er ebenso leise und ganz kurz hatte Marthe den Eindruck, als täte es ihm leid, dass er sie nun schlagen würde.
Als der Wagen am Friedhof entlangfuhr, ließ Marthe den Blick über die niedrige Mauer zu den Gräbern wandern. Ludger war seit elf Jahren tot, elf Jahre und ein Tag waren es heute ganz genau. Ein kurzer Anfall von Wehmut und Sehnsucht überfiel Marthe, doch die Gegenwart holte sie schnell wieder aus den trüben Gedanken: Sie autschte, als der Wagen über einen größeren Stein rumpelte und Drees schenkte ihr einen amüsierten Blick. Zehneinhalb Jahre war sie bei ihm und es hatte sie keinen Tag gereut, geblieben zu sein. Sie schob ihre Hand auf seinen Unterarm und er lächelte – und das obwohl am Straßenrand Leute standen. Marthe küsste den Säugling in ihrem Tragetuch auf den Kopf, deutete nach links vorne und sagte: „Halt doch einfach da im Hof, das restliche Stück Weg können wir laufen.“
Drees nickte und lenkte den Wagen in den Hof vom Toni, der nicht mehr ihr einziger Kunde war, aber immer noch ihr treuester. Er sprang vom Wagen, band das Pferd fest und half dann Marthe vom Bock, während die Kinder bereits durch Tonis Hof wuselten und mit Tonis Nachkommenschaft und einigen Hühnern einen ziemlichen Wirbel veranstalteten. Marthe seufzte und sammelte ihre Kinder ein, der mittlerweile fast vierzehnjährige Fritz half ihr dabei. Liesbeth, elf Jahre alt, nahm den leeren Korb von der Ladefläche und schaute ungeduldig zum Tor, rief nach ihrem Bruder, dem Anderl, mit dem sie schon immer ein Herz und eine Seele gewesen war.
Nach dem Anderl hatte sie damals tatsächlich ein Lenerl empfangen, geboren im Dezember 1789, einen Tag nach Marthes 33. Geburtstag. Eineinhalb Jahre später, im Sommer 1791, schenkte Marthe Sebastian, genannt ‚da Basti‘, das Leben, im November 1792 folgte der Ludwig und kaum, dass sie die schwere Geburt vergessen hatte, war Drees‘ äußerst fruchtbarer Samen auf ebenso fruchtbaren Boden gefallen und er hatte ihr noch einen Buben gemacht. Georg erblickte im Februar 1794 das Licht der Welt. Da war Marthe schon 37 und dachte, nun sei sie aber endlich einmal fertig mit dem Kinderkriegen. Es hatte auch längere Zeit so ausgesehen – bis ihr Drees genau ein Jahr zuvor, wahrscheinlich sogar in der Johannisnacht, Marthe war sich da ziemlich sicher, das nächste Kind in den Bauch gepflanzt hatte. Die kleine Katharina, geboren im März 1797, war jetzt dreieinhalb Monate alt und am Abend zuvor hatte Marthe die fast schon traditionelle, mittlerweile sechste Verabredung mit dem Ledergürtel im Stall gehabt. Weil sie Kathi in der Woche zuvor hatte taufen lassen, heimlich, von Pfarrer Keil. Wie alle anderen Kinder auch. Diesmal war ihr zum Verhängnis geworden, dass Drees sie mittlerweile mehr als gut genug kannte und sie außerdem Tonis Frau in die Arme gelaufen war, die nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als Drees noch am selben Tag zu erzählen, dass sie am Morgen Marthe und Kathi vor der Kirche getroffen hätte. Jetzt war Marthes Hintern blitzeblau, Katharina war getauft und Drees tat immer noch so, als wäre ihm das zutiefst zuwider. Die Tatsache aber, dass der angebliche Teufel lauter getaufte Kinder hatte, hatte die Gerüchte verstummen lassen und nur Gutes für Drees‘ Leumund im Dorf getan. Pfarrer Keil, der trotz Drees‘ offen gezeigter Abneigung nach wie vor nur in den höchsten Tönen von der Familie Röder vom Aussiedlerhof sprach, tat sein Übriges dazu. So kam es auch, dass die Familie Röder zu den Johannisfeierlichkeiten und dem dazugehörigen Markt ganz selbstverständlich ins Dorf fuhr. Drees schnappte sich den Ludwig und setzte ihn sich auf die Schultern, während sich Fritz seinen Bruder Georg unter den Arm klemmte und mit der anderen Hand verhinderte, dass Sebastian in Tonis Misthaufen fiel. Marthe dirigierte ihre Kinder aus dem Hof hinaus und scheuchte sie über den Markt, kaufte ein wenig Stoff und Garn und nahm dann vorsichtig auf einer der aufgestellten Bänke Platz. Katharina murrte und Marthe bedeckte züchtig ihre Brust samt Säugling, als sie das Mädchen trinken ließ. Ihre Gedanken wanderten derweil elf Jahre zurück, zu Ludger und danach zur ersten Begegnung mit Drees.
„Ois in Ordnung, Weib?“, fragte er und setzte sich neben sie, „Du schaugst so glasig daher.“
„Mir tut der Hintern weh und ich bin müde.“
„Des blaue Ärschle hast dir selbst zuzuschreiben, Marthe.“
„Das ist kein Ärschle mehr, das ist ein ausgewachsener Arsch, Drees.“
„I mog des, Weib. Du bist so schön wie damals, als i di kennenglernt hab. Und genauso stur bist aa immer noch.“
„Danke“, lächelte Marthe und streichelte kurz über seine Hand.
Ausführlichere Zärtlichkeiten konnte sie sich in der Öffentlichkeit nicht erlauben, was Marthe schade fand, denn immerhin waren die Kinder jetzt gerade einmal alle beschäftigt. Drees lachte leise und murmelte, dass er genau das sehr zu schätzen wisse, dann hielt er die Klappe, weil der Bürgermeister direkt auf ihn zukam. Er stand auf und ging mit dem Ortsvorstand ein paar Schritte – Marthe war sich sicher, dass es um eine Brennholzlieferung ging. Sie kauften zwar alle ihr Holz bei Drees, doch wenn es um Gemeinschaftsbelange ging, so war Drees immer noch ein Außenseiter. Aber das störte ihn überhaupt nicht.
Als Katharina satt war, ordnete Marthe so unauffällig wie möglich ihre Kleider und seufzte, als sie in ihr Dekolleté blickte. Nachdem ihre Brust jetzt das achte Kind ernährte, war von den Rundungen nicht mehr viel übrig. Wie das Euter von der alten Bonnie, dachte Marthe verächtlich, irgendwann werde ich auch drauftreten, wenn ich nicht aufpasse. Doch so mitgenommen Marthes Körper von all den ganzen Schwangerschaften auch war – Drees störte das nicht. Er liebte sie mit ungebrochener Ausdauer, mittlerweile meistens so, wie es Marthe ihn ganz am Anfang gelehrt hatte: Von hinten an sie geschmiegt, langsam und vorsichtig, weil immer mindestens ein Kind mit ihnen im Bett schlief. Und auch an seiner Zärtlichkeit hatte sich nichts geändert. Wenn Marthe nicht immer befürchten müsste, dass sie am Ende einer Vereinigung das nächste Kind unter dem Herzen tragen würde, würde sie sich ihm noch viel öfter hingeben. Drees beendete seine Unterhaltung mit dem Bürgermeister, setzte sich wieder zu ihr und streichelte seiner jüngsten Tochter über die Wange.
„Dankschön, Weib“, sagte er und nickte mit dem Kinn in Richtung seiner sieben Kinder, die alle an einer fahrenden Garküche standen und zusahen, wie die Frau Auszogne buk.
Marthe lächelte und antwortete: „Bitte. Ich nehme dich erst wieder zu mir, Drees, wenn der Hintern nicht mehr blau ist. Strafe muss sein. Das sagst du ja selbst immer wieder.“
Er lachte leise und betrachtete seine Tochter, die ihrerseits ihn anschaute: „Des is a Wunder, immer noch. Alle san sie gsund und munter. Koans is a Deiflskind.“
„Wundert dich das? Du weißt doch am besten, dass du auch keines bist.“
Er nickte und flüsterte: „Oans dad i dir scho noch gern machn, Marthe. Aber i woaß, dass des koa gude Idee is.“
„Drees, wir haben acht Kinder. Und ich bin 40. Ich sage es mal so, dass du es verstehst ja?“, lächelte Marthe, holte tief Luft und sagte: „I konn nimma, i konn einfach nimma.“
„Moanst, es is vorbei? Weil’s bei der Kathi scho über zwoa Jahr dauert hat, bis d‘ empfangn hast?“
„Ich hoffe und bete, dass es vorbei ist, Drees. Ich hab letzte Woche sogar eine Kerze dafür in der Kirche angezündet.“
Drees gab ein missbilligendes Geräusch von sich und schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich und reichte Marthe die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
„Des is schad. Und traurig. I liab sie alle, woaßd?“
„Ja, das weiß ich.“
„Woaßd, ich hätt mir no an Buam gwünscht“, sagte Drees leise, als sie auf ihre Kinder zu liefen.
„Noch einen? Du hast schon fünf.“
„Ja. Aber den Buam, den hätt i Ludger gnannt. Weil i eahm so dankbar bin. Für den Fritz und die Liese und für di.“
„Da hättest du den Basti Ludger nennen müssen, denn der ist Ludger fast noch am ähnlichsten.“
„Wie moanst etz des?“, fragte Drees und runzelte die Stirn.
„Weil der Basti jetzt schon den Fritz beim Kartenspielen über den Tisch zieht, dass es eine wahre Pracht ist“, lächelte Marthe, „und Ludger war ein sehr, sehr geschickter Betrüger am Kartentisch. Er würde ausrasten, wenn er sehen könnte, wie Fritz Karten spielt.“
Drees lächelte und sagte: „I glaub, i muss heut auf d‘ Nacht ein ernstes Wort mit meim Basti redn. Damit der mir ein anständiger Kerl wird, wenn er eh schon im Kirchnbuch steht. Der blaue Oarsch seiner Mudder muss sich ja glohnt ham, gell?“
„Wieso hat die Mama an blauen Oarsch?“, fragte Basti, der die letzten Worte gehört hatte.
„Hat sie gar ned“, erklärte das Lenerl. „Die Mama hat letzte Woch‘ nach mir gebadet, und da war ihr Oarsch ganz normal oarschfarbn.“
„Is mein Oarsch auch oarschfarbn?“, fragte der Ludwig und Marthe rief: „Bitte ein anderes Thema, Kinder!“
Der zärtliche Blick, den Drees Marthe zuwarf, ließ Fritz laut aufstöhnen: „So wia der Babba die Mama anschaut, war die Kathi no ned die letzte Röder.“
Marthe verpasste Fritz eine zärtliche Kopfnuss und sagte, im breitesten Dialekt, den sie mittlerweile genauso gut sprechen konnte wie Fritz: „Und wenn schon: Des konn dir an deim oarschfarbenen Oarsch vorbeigehn, mei Bua.“
Die Nacht war schon zwei Stunden alt, als Marthe ihre Brustwarze aus dem offenstehenden Mund der tief schlafenden Katharina zog und sich gegen Drees sinken ließ, der in ihrem Rücken lag und die Arme um sie geschlossen hatte.
„Ein kleiner Ludger also?“, fragte sie leise und lauschte auf die Stille, die im Haus herrschte.
„Ja“, antwortete Drees ebenso leise und küsste sie auf den Nacken.
„Dann komm zu mir, Drees. Versuch dein Glück“, flüsterte sie und schloss die Augen.
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Tag der Veröffentlichung: 27.01.2016
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