Wunden der Vergangenheit
Trauma verarbeiten, überwinden und liebevoll heilen
Wie seelische Verletzungen ihr Leben beeinflussen und wie Sie zurück zur inneren Balance finden
von Jenna Lea Aufmut
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Wunden der Vergangenheit
Copyright © 2020 Jenna Lea Aufmut
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Auflage 2020
Dieses Buch ist für alle, die sich ihrer Vergangenheit stellen wollen, aber nicht wissen, wie. Es ist für die, die nächtelang wachliegen, unter unerklärbaren Ängsten oder Schmerzen leiden, mit Depressionen zu kämpfen haben und ständig an diese eine Situation erinnert werden, die sie so sehr belastet. Es ist für die, die ein Trauma überlebt haben und nun dafür sorgen wollen, tatsächlich wieder zu leben und nicht nur vor sich hin zu vegetieren und ständigem Leid, sowohl körperlich als auch seelisch, ausgesetzt zu sein. Es ist aber auch für die, die helfen wollen, weil sie jemanden kennen, der genau das durchmachen muss. Es ist für Freunde, Verwandte, Betreuer und Partner von Trauma-Opfern, die wissen wollen, wie sie diesen am besten unter die Arme greifen können. Dieses Buch soll ihnen helfen! Damit sie die Verletzungen ihrer Vergangenheit überwinden und liebevoll heilen können.
Ein schwerer Autounfall, ein sexueller Übergriff oder ein Terroranschlag und plötzlich ist alles anders! Ihr Leben stellt sich innerhalb weniger Minuten, teilweise im Bruchteil von Sekunden auf den Kopf. Sie fürchten um Ihr Leben, um Ihre Gesundheit, um Ihre gesamte Existenz und sind dabei völlig machtlos. Hilflosigkeit, Angst und pures Entsetzen übermannen Sie. Was auch immer Ihnen in diesem Augenblick widerfährt – die Bedrohung scheint so groß, dass Sie keine Möglichkeit haben, mit ihr umzugehen - geschweige denn, sie zu bewältigen. Überleben Sie das furchtbare Ereignis, bleiben in der Regel Narben zurück, die sich tief in Ihre Identität einprägen. Gezeichnet von der Vergangenheit und das ein Leben lang. Im schlimmsten Fall bedeutet das andauerndes Leid, dem Sie einfach nicht entkommen können. Sie sind traumatisiert. Doch was bedeutet das eigentlich und wie entsteht so ein Trauma? Schließlich bleibt nicht jeder, der eine lebensbedrohliche Situation erfahren muss, traumatisiert zurück. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie verarbeiten, was Sie durchmachen mussten und lernen, Ihre Wunden zu heilen oder Sie scheitern an dieser überaus schwierigen Aufgabe. Das Trauma, das durch die nicht gelungene Aufarbeitung einfach nicht gehen will, bestimmt fortan Ihren Alltag. Es ist Ausdruck dessen, dass Sie mit den (seelischen) Verletzungen, die Sie erfahren mussten, nicht abschließen können. Keine Heilung, keine Regeneration, keine Rückkehr zur Normalität! Traumatisierte Personen leiden an Folgeschäden wie körperlichen Beschwerden ohne medizinischen Befund bis hin zu schweren Depressionen. Den Betroffenen fehlt es an Unterstützung, an Wissen über die Bewältigung eines traumatischen Ereignisses oder ihnen ist gar nicht bewusst, dass sie überhaupt an einem Trauma leiden, das für ihre Beschwerden verantwortlich ist. In diesem Ratgeber möchten wir darüber aufklären, was unter einem Trauma verstanden wird, wie Sie es erkennen und behutsam heilen können. Dabei konzentrieren wir uns auf den Bereich der Psychotraumata, der sich von den physiologischen Traumata abgrenzt. Welche Ursachen kann ein Trauma haben? Liegen sie vielleicht schon in der Kindheit des Traumatisierten und sind ihm deshalb nicht unbedingt bewusst? Welche weiteren Auslöser können ein Trauma zur Folge haben? Traumata begleiten die Betroffenen im Alltag Schritt für Schritt, sie weichen nicht von ihrer Seite. Wichtig ist uns deshalb auch, auf das soziale Umfeld der Traumatisierten einzugehen und deutlich zu machen, welchen Einfluss die Angehörigen einer traumatisierten Person auf den Heilungsprozess haben. Welche Auswirkungen haben Reaktionen wie Unverständnis und Ignoranz auf die Betroffenen? Vor welchen Herausforderungen stehen Paare, von denen ein oder mehrere Teile Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind und wie können sie diese meistern? Welche Ängste beschäftigten Traumatisierte und wie können sie lernen, mit ihnen umzugehen? Genau darum geht es uns in diesem Ratgeber! Wir möchten aufklären, das Tabuthema Trauma und dessen Ursachen brechen und vor allem möchten wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Nicht selten verzweifeln die Betroffenen an dieser schier ausweglosen Situation und rutschen z. B. in Suchterkrankungen ab oder verlieren ihren Lebensmut. Wir möchten helfen, wir möchten Betroffene selbst und deren Angehörige unterstützen und ihnen Tipps und Techniken geben, mit denen sie ihr Trauma, auf welche Art auch immer es ihnen zugefügt wurde, überwinden können. Mit Hilfe praktischer Übungen für den Alltag und Hinweisen, worauf bei der Traumaverarbeitung geachtet werden sollte, lernen sie in kleinen Schritten, die Verletzungen ihrer Vergangenheit auszukurieren und machen ihr Leben wieder lebenswert. Wir begleiten sie dabei – sensibel, liebevoll und wissenschaftlich fundiert!
Trauma als „Modebegriff“
Warum es so nötig ist, zu klären, was Trauma genau bedeutet, wird schnell klar, wenn man sich die verschiedenen Bereiche ansieht, in welchen der Begriff verwendet wird. Das Wort ist aus den Lexika klinischer Fachbegriffe in den Alltagswortschatz vieler Menschen gewandert und wird inflationär in den Massenmedien genutzt – ob einfach als Beschreibung für schreckliche Ereignisse oder als politischer Kampfbegriff, das Wort „Trauma“ besitzt assoziative Kraft und auf Definitionen wird weitgehend verzichtet. Es hat sich also durch erhöhten und meist ungenauen medialen Gebrauch zu einem Modebegriff entwickelt. Von Scheidung der Eltern über Naturkatastrophen bis zu politischen Niederlagen wird jedes schreckliche Ereignis als „traumatisierend“ beschrieben, obwohl das nicht in jedem Fall zutrifft. Mittlerweile gibt es allerdings genaue wissenschaftliche Definitionen, welche in den nächsten Kapiteln erklärt werden. Außerdem gibt es seit den 1980er Jahren die Psychotraumatologie, also eine Wissenschaft, welche sich mit der Erforschung von Traumata und Traumafolgestörungen beschäftigt. Für eine Wissenschaft ist die Psychotraumatologie somit noch recht jung, weshalb sie vielen Menschen auch noch unbekannt ist. In erster Linie ist es zu begrüßen, dass das Wort Trauma im Alltag häufiger benutzt wird. Traumata sowie der gesamte Bereich seelischer Verletzungen sind in vielen Kulturen immer noch sehr stark tabuisiert. Es war ein erster wichtiger Schritt, dass Traumata und Traumafolgestörungen in unseren Kulturkreisen offiziell als psychische Erkrankungen anerkannt wurden. Die soziale Akzeptanz ist trotzdem noch nicht besonders hoch. Das ist für viele Betroffene und Angehörige eine zusätzliche Belastung. Viele Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung leben, machen die Erfahrung, dass diese vom sozialen Umfeld anders angenommen wird als eine physische Erkrankung. Dieser Umstand kann häufig dazu führen, dass Betroffene keine Hilfe bekommen, obwohl Hilfe möglich wäre. Die Integration des Fachbegriffs in die Alltagsprache kann einen ersten Schritt auf dem Weg darstellen, um die soziale Akzeptanz zu erhöhen. Dazu sind aber genaue Definitionen nötig. Das Wort „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet zunächst einmal „Verletzung“ oder „Wunde“. In den meisten Fällen, in denen das Wort Trauma im Alltag genutzt wird, ist also eigentlich „Psychotrauma“ gemeint - eine seelische Verletzung. Um erst einmal die dringend nötige Klarheit zu schaffen, wird in den nächsten Kapiteln erklärt, was das klassische Psychotrauma im Gegensatz zum klassischen Trauma ist und wie die Wissenschaft Traumata offiziell definiert.
Gut zu wissen:
Nicht immer, wenn in den Medien von „Trauma“ die Rede ist, handelt es sich auch wirklich um eins.
Das klassische Trauma
Aus physiologischer Perspektive
Wir haben gerade gesehen, dass Trauma erst einmal „Wunde “ oder „Verletzung“ bedeutet. Lange Zeit meinte Trauma also nur eine plötzliche, von außen zugefügte und körperliche Verletzung, bevor der Begriff auf den Bereich der Psychologie ausgeweitet wurde. In der Medizin wird zwischen einmaligen, nicht lebensbedrohlichen Verletzungen (Monotraumata), einmaligen, lebensbedrohlichen Verletzungen (Barytraumata) und Verletzungen, welche sich auf mehrere Bereiche des Körpers beziehen (Polytraumata) unterschieden. Beim Psychotrauma gibt es ähnliche Unterscheidungen. Im Jahr 1980 wurde erstmal die Diagnose PTSB in das offizielle amerikanische Klassifikationssystem der psychischen Erkrankungen aufgenommen und somit also Trauma offiziell als Ursache einer Krankheit anerkannt. Seitdem wird vermehrt auch von psychischen Traumatisierungen gesprochen.
Aus psychologischer Sicht
Im Gegensatz zum physiologischen Trauma bezieht sich eine psychische Traumatisierung also nicht in erster Linie auf den Körper, auch wenn Traumafolgestörungen auch physiologische Symptome miteinschließen können. Eine psychische Traumatisierung liegt dann vor, wenn ein Ereignis, welches das Leben und/oder die körperliche und sexuelle Integrität des Individuums bedroht, von diesem nicht bewältigt werden kann. Das Ereignis, welches dann als Trauma bezeichnet werden kann, hinterlässt also eine „Wunde“, welche ohne passende Versorgung nicht heilen kann, wovon man dann als „Traumatisierung“ spricht. Zu den mittlerweile wissenschaftlich anerkannten traumatischen Ereignissen gehören:
„Erlebte körperliche und sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, Entführung, Geiselnahme, Terroranschlag, Krieg, Kriegsgefangenschaft, politische Haft, Folterung, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, Naturkatastrophen oder durch Menschen verursachte Katastrophen, Unfälle oder die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit.“ (Eichenberg & Zimmermann, 2017)
Diese Liste darf allerdings nicht als universal angesehen werden. Ein Trauma hat immer mehrere Komponenten. Unter anderem spielen das traumatisierende Ereignis und die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten der betroffenen Person zusammen. Das bedeutet, dass nicht jeder Mensch, welcher ein Ereignis aus der obigen Liste erleben musste, zwangsläufig traumatisiert ist. Erst dann, wenn eine Person aufgrund des traumatisierenden Ereignisses an Traumafolgestörungen leidet, liegt eine Traumatisierung vor. Bei Traumafolgestörungen wird in erster Linie an eine „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) gedacht, diese ist allerdings nur eine von vielen möglichen Folgen, welche in einem späteren Kapitel genauer beschrieben werden.
Außerdem wird zwischen Monotrauma (oder Typ-I-Trauma) und komplexer Traumatisierung oder (Typ-II-Trauma) unterschieden. Ein Monotrauma wird von einem einmaligen Ereignis ausgelöst, also zum Beispiel ein Unfall. Eine komplexe Traumatisierung hingegen entsteht durch einen länger anhaltenden Zustand, z. B. durch die Vernachlässigung eines Kindes der Eltern. In diesem Fall wird auch von „Beziehungstraumata“ gesprochen und es ist häufig besonders schwer, diese traumatischen Ereignisse zu erkennen, da die verantwortliche Person in vielen Fällen eigentlich für den Schutz der betroffenen Person zuständig ist.
Neben dieser Unterscheidung gibt es allerdings auch noch die Möglichkeit einer kumulativen Traumatisierung. Das bedeutet, dass viele verschiedene Ereignisse zusammenkommen, wobei jedes einzelne von ihnen nicht traumatisierend gewirkt hätte, dem Individuum aber durch die Anhäufung der Ereignisse nicht genug Zeit bleibt, um sich zu erholen. Somit können also auch Ereignisse, welche nicht in der obigen Liste stehen, im Endeffekt traumatisierende Kraft haben.
Weiterhin spielt unabhängig von diesen ganzen Unterscheidungen natürlich immer die individuelle Erfahrung eine Rolle. Welches Ereignis genau die Bewältigungsmöglichkeiten einer Person überschreitet, was also von jemandem als traumatisierend erfahren wird, kann in der Realität ganz verschieden aussehen. Häufig spielen Todeserfahrungen und sexualisierte Gewalt eine Rolle, das ist aber nicht allgemeingültig und stark individuell.
Wissenschaftliche Definitionen
DSM-5 Definition von Trauma
„Ausgesetztsein von tatsächlichem oder drohendem Tod, schwerer Verletzung oder sexuellem Missbrauch als Opfer oder Zeuge.“ (Stahlschmidt, 2020)
1980 wurde die posttraumatische Belastungsstörung erstmals in die amerikanische Klassifikation der Krankheiten aufgenommen. Die aktuell gültige Version heißt DSM-5 und das obenstehende Zitat beschreibt die heutige Definition von Trauma. Man sieht, dass die Definition recht oberflächlich ist. Wir wissen bereits, dass Traumatisierungen, auch anders, zum Beispiel durch ein kumulatives Trauma, stattfinden können. Die Definition der ICD-10 ist schon etwas genauer:
ICD-10 Definition von Trauma
„Belastendes Geschehen oder Lebensereignis (life event). Zum Beispiel kann bei Kindern ein erschreckendes Erlebnis, das nie verarbeitet wird, sich negativ auf die spätere Entwicklung auswirken. Bei Erwachsenen kann katastrophenartiges Geschehen zu akuten posttraumatischen Belastungsstörungen führen.“ (Dilling, 2002)
Die ICD-10 ist die offizielle Klassifikation der Krankheiten. Das fünfte Kapitel der ICD-10 ist die internationale Klassifikation psychischer Störungen. Diese Klassifikation ist für alle in Deutschland praktizierenden Ärzte und Psychotherapeuten gültig. Es wird allerdings ersichtlich, dass auch hier nicht alle Fälle abgedeckt werden. Das ist auch überhaupt nicht möglich, da jede Traumatisierung hochgradig individuell ist. Die Tatsache, dass Trauma und Traumafolgestörungen wie PTBS in die offiziellen Klassifikationen aufgenommen sind allein ist wichtig, damit es Betroffenen ermöglicht wird, Hilfe zu bekommen, damit es also überhaupt möglich ist, die Diagnose einer Traumatisierung zu stellen.
„Wir sprechen von Trauma, wenn es um Erlebnisse von Todesgefahr, Todesangst, Lebensgefahr und/oder sexualisierte Gewalt geht. Also diese unfassbaren Erlebnisse, die jemandem extrem nahegehen beziehungsweise jemanden erheblich erniedrigen und einem Menschen dadurch eine psychische Verletzung zufügen.“ (Goltermann & Maercker, 2018)
So spricht der Psychologe Andreas Maercker in einem Interview über Traumatisierungen. Wichtig dabei ist, dass somit seit den 1980er Jahren ein äußeres Ereignis als Ursache für innere (seelische) Erkrankungen anerkannt wird. Zuvor wurden die Ursachen für psychische Erkrankungen immer in der Veranlagung des Betroffenen gesucht. Dieser Umschwung im Denken ist also wichtig für die generelle „Destigmatisierung“ psychischer Erkrankungen.
Viele Traumatisierungen finden bereits im Kindesalter statt und sind deshalb besonders schwer zu erkennen und zu heilen. Die Psychologin Maria Pia Andreatta, welche sich auf Notfallpsychologie und Krisenintervention spezialisiert hat, beschreibt in einem ihrer Bücher über Trauma, dass jeder Mensch in seinem Leben eine „innere Welt“ entwickelt, welche Theorien und Modelle darüber enthält, wie die Welt funktioniert. „Diese Modelle umfassen beispielsweise einen Glauben an eine grundlegende Sicherheit in unsere soziale Umwelt oder Sinnhaftigkeit der Welt. Dazu zählen auch Annahmen einer geordneten und gerechten Welt, wo Dinge nach einer entsprechenden Struktur verlaufen.“ (Andreatta, 2006) Diese innere Welt ist keineswegs statisch oder „fertig“, wenn die Person das Erwachsenenalter erreicht. Die Theorien und Modelle, nach welchen wir unsere Erfahrungen ordnen, verändern sich allerdings nur sehr langsam. Unsere innere Welt passt sich behutsam und graduell der sich verändernden Umwelt an. Wenn das Individuum nun eine traumatische Erfahrung macht, sind innere und äußere Welt plötzlich nicht mehr miteinander vereinbar und es ist nicht mehr möglich, Erfahrungen nach den gewohnten Schemata zu verarbeiten. „Der Glaube an uns selbst, die Sicherheit und Stabilität der Welt, das Vertrauen, geschützt zu sein, wird fundamental erschüttert oder zerstört.“ (Andreatta, 2006) Kindheitstraumata stellen nun noch einmal einen Sonderfall dar. Bei einer Traumatisierung im Erwachsenenalter wird versucht, nach dem traumatischen Ereignis wieder zur „alten“ inneren Welt – also zu den inneren Schemata, welche vor der Traumatisierung die Erfahrung geordnet haben – zurückzukehren. Bei Kindern kann es nun geschehen, dass die „neue“ innere Welt – also die durch die Traumatisierung gestörten Modelle und Schemata – die einzige bleibt. In einem späteren Kapitel werden verschiedene Ansätze gezeigt, durch welche sich innere und äußere Welt wieder in Einklang bringen und somit Traumata heilen lassen.
Verschiedene Studien zeigen, dass ca. ein bis elf Prozent der Bevölkerung eine Traumatisierung in der Kindheit erlebt haben. Die Ergebnisse variieren je nachdem, ob die Studie nur nach starken Traumatisierungen sucht, welche den Alltag der Betroffenen einschränken oder auch mittelschwere Fälle mit in die Statistik aufnimmt. Kindesmisshandlung, sexueller Missbrauch von Kindern, körperliche oder emotionale Vernachlässigung sowie Kriegserlebnisse können traumatisierende Ereignisse der Kindheit darstellen. In den folgenden Unterkapiteln werden einige der häufigsten Ursachen für Kindheitstraumata näher untersucht. Zuerst wird dazu näher auf die Strukturen innerhalb der Familie, in welcher das Kind aufwächst, eingegangen. Dysfunktionale Familienstrukturen oder ein Ungleichgewicht in der Eltern-Kind-Beziehung können Traumatisierungen begünstigen oder auslösen. Danach wird auf den konkreten Fall des sexuellen Kindesmissbrauchs eingegangen.
Eine Familie, ob sie biologisch oder sozial definiert ist, ist der wichtigste Punkt für die persönliche Entwicklung eines Individuums. Die Familie ist dafür zuständig, die Bedürfnisse jedes Familienmitgliedes so gut wie möglich zu decken. Menschen sind von Natur aus Gemeinschaftswesen. Die Sicherheit, ein soziales System zu haben, das einen im Krisenfall auffängt, ist wichtig für die emotionale Gesundheit. In der heutigen Gesellschaft ist dieses System für viele die Familie oder ein familiärer Freundeskreis. Wenn die sozialen, materiellen, emotionalen oder kulturellen Bedürfnisse eines oder mehrerer Familienmitglieder über längere Zeit zu kurz kommen, spricht man von einer dysfunktionalen Familienstruktur. Dysfunktional bedeutet, dass etwas seine Funktion nicht erfüllen kann. In diesem Fall kann die Familie ihre Funktion, also das bestmögliche Unterstützen jedes Familienmitgliedes, nicht erfüllen. Im Folgenden werden einige Beispiele aufgezählt, wie ein dysfunktionales Familiensystem konkret aussehen kann.
Die folgenden Merkmale sind häufig in dysfunktionalen Familien zu finden. Es gibt natürlich noch weitere Merkmale und problematische Verhaltensweisen innerhalb von Familien, welche nicht in der Aufzählung enthalten sind. Außerdem ist keine Familie perfekt. Sollten Sie feststellen, dass Ihnen ein Punkt aus der Liste bekannt vorkommt, bedeutet das noch lange nicht, dass bei Ihnen eine dysfunktionale Familienstruktur vorliegt. Am Ende kommt es immer darauf an, ob eine Familie in der Lage ist, alle ihre Mitglieder bestmöglich zu unterstützen. Die Liste dient einer groben Orientierung.
1. Fehlende Kommunikation
Kommunikation mit anderen Menschen, sowohl verbal als auch nonverbal, ist eine erlernte Fähigkeit. Vielen Menschen fällt es schwer, offen und klar zu kommunizieren, wenn ihnen die Situation oder das Verhalten eines Familienmitgliedes nicht guttut. Es ist ein typisches Merkmal von dysfunktionalen Familien, dass Probleme lange Zeit nicht angesprochen werden, bis es schließlich zum Konflikt kommt. Probleme werden häufig verdrängt und Meinungsverschiedenheiten führen nicht zu einer Diskussion zwischen den beteiligten Personen, sondern im schlimmsten Fall zu jahrelangem Schweigen.
2. Überschreitung persönlicher Grenzen
Es kommt häufig vor, dass einige Mitglieder einer dysfunktionalen Familie die Grenzen anderer Familienmitglieder nicht respektieren. Das kann zum Beispiel so aussehen, dass Eltern das Zimmer eines Kindes betreten, ohne anzuklopfen, Schränke durchsuchen oder Tagebücher lesen. Auch das Lesen der privaten Nachrichten des Partners/der Partnerin kann eine Überschreitung darstellen, wenn dies nicht ausdrücklich erlaubt wurde. Es ist weiterhin wichtig, Rückzugsorte zu schaffen und jedem Familienmitglied ein gewisses Maß an Privatsphäre zu bieten. Wenn diese zwar gewünscht, aber nicht vorhanden ist (Z. B. wenn die Badezimmertür nicht abschließbar ist oder eine Person keinen persönlichen Rückzugsort hat.) und dieser Wunsch von anderen Familienmitgliedern ignoriert oder als nicht wichtig betrachtet wird, kann dies ebenfalls auf ein dysfunktionales Familiensystem hinweisen.
3. Keine bedingungslose Liebe
Liebe und Zuneigung sind in dysfunktionalen Familien häufig an Bedingungen geknüpft. Ein Kind erfährt nur dann Liebe von seinen Eltern, wenn es gewisse Erwartungen erfüllt. Bedingungslose Liebe ist für die Entwicklung eines Kindes von sehr hoher Bedeutung. In frühester Kindheit die Erfahrung zu machen, nur unter bestimmten Bedingungen geliebt zu werden, kann dazu führen, dass das Individuum im späteren Leben Probleme mit Selbstliebe und Selbstakzeptanz hat. Es kann weiterhin zur Folge haben, dass intime Beziehungen seltener eingegangen werden, da viele Betroffene sich für nicht liebenswert halten.
4. Fehlende Vorbildfunktion
Besonders die Eltern, aber auch andere ältere Familienmitglieder wie eine ältere Schwester, ein Onkel oder die Oma haben eine starke Vorbildfunktion den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6672-8
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