Gebrochenes Herz
Narzissmus in Beziehungen
Praxisorientierte Hilfe bei emotionalem Missbrauch in der Beziehung
von Alena Dimitof
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Gebrochenes Herz – Narzissmus in Beziehungen
Copyright © 2020 Alena Dimitof
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Auflage 2020
Haben Sie die Vermutung, dass Ihr neuer Schwarm oder Ihr Partner ein Narzisst sein könnte? Womöglich sind Sie sich dessen sogar bewusst und es ist noch nicht einmal das erste Mal, dass Sie in eine solche Beziehung geraten sind. Selbst, wenn Sie die Partnerschaft bereits beendet haben, ist dieser Ratgeber weiterhin für Sie geeignet.
Gleich zu Beginn wird Ihnen verständlich erklärt, was Narzissmus überhaupt ist, was wirklich in den Betroffenen vorgeht, wie das Persönlichkeitsmerkmal entsteht und woran sich die verschiedenen Arten und Ausprägungen erkennen lassen. So werden Sie das Verhalten Ihres Partners viel besser einordnen und nachvollziehen können. Anschließend soll es ausführlich darum gehen, wie Narzissmus sich in Beziehungen äußert und wie es zu Abhängigkeitsverhältnissen kommt. Sobald Sie die Manipulationstricks kennen, werden Sie diese viel besser durchschauen können. Außerdem werden Ihnen viele Tipps an die Hand gegeben, sodass Sie das nächste Mal handlungsfähig sind. Denn so sehr Narzissten in der Gesellschaft auch verteufelt werden mögen, in manchen Fällen ist eine Beziehung trotzdem möglich. Erfahren Sie hier, welche Voraussetzungen dafür nötig sind und welche Dinge Sie im Umgang mit Ihrem Partner beachten müssen, damit Sie sich nicht für ihn verlieren. Oftmals funktioniert es trotz aller Bemühungen nicht und Ihr Leidensdruck wird zu groß. Dann kann eine Trennung eine Hürde darstellen, die viel zu riesig erscheint, um sie zu überwinden. Doch auch diesbezüglich werden Sie jede Menge Ratschläge erhalten, damit es Ihnen doch gelingt und Sie danach nicht wieder in alte Muster verfallen. Der Fokus wird stets auf den Maßnahmen liegen, die Sie aktiv für Ihr eigenes Wohlbefinden und für Ihr Selbstwertgefühl anwenden können, um endlich Grenzen setzen und alte Gewohnheiten hinter sich lassen zu können.
Es war einmal, vor langer Zeit, ein junger Mann, der so hübsch gewesen ist, dass er die Blicke magisch auf sich zog und Frauen ihn haufenweise anhimmelten. Das besagt zumindest die Legende der griechischen Mythologie. Ihr zur Folge ist Narziss der Sohn des Flussgottes Kephissos und der Wassernymphe Leiriope. Ein Wunschkind sei er allerdings nicht gewesen. Seine Mutter habe weder den Geschlechtsverkehr noch die Schwangerschaft gewollt. Deswegen wächst Narziss die ersten Jahre seines Lebens ohne die Zuneigung und Anerkennung auf, die er gebraucht hätte. Im weiteren Verlauf wendet sich das Blatt: Er wird von allen Seiten umschwärmt und hat eine Ausstrahlung, die unwiderstehlich auf seine Mitmenschen wirkt. Dennoch kommt ihm niemand wirklich nahe. Sein Stolz lässt dies unmöglich zu. Narziss scheint nahezu unantastbar zu sein. Ausnahmslos und herablassend weist er seine Verehrerinnen der Reihe nach zurück. Als er auf dieser Weise schließlich auch der vernarrten Bergnymphe Echo das Herz bricht, verstirbt diese einsam in einer Höhle an ihrem Liebeskummer. Daraufhin schreitet die Göttin Nemesis ein. Sie symbolisiert den gerechten Zorn und hat sich für die Arroganz und Gefühlskälte von Narziss eine geeignete Bestrafung überlegt. Es geschieht um ihn, nachdem er sich an einer Wasserquelle niederlässt, um seinen Durst zu stillen: Beim Erblicken seiner Spiegelung verliebt er sich bedingungslos in das Abbild seiner Selbst. Es gibt verschiedene Vorstellungen darüber, inwiefern ihm diese Selbstliebe letztlich zum Verhängnis wurde. Teilweise wird angenommen, Narziss habe erkannt, dass eine Vereinigung mit dem Objekt seiner Liebe niemals möglich sein würde. Aufgrund der Aussichtslosigkeit seiner Situation habe er eine derartige Sehnsucht und Verzweiflung gespürt, dass es ihn umbrachte. Eine weitere Version lautet, dass er gar nicht erst versteht, dass es sich um seine Reflexion handelt, und er versucht, die geliebte Erscheinung zu umarmen. Dabei sei er ins Wasser gefallen und ertrunken. Darüber hinaus heißt es manchmal, ein Blatt oder seine Tränen der Erkenntnis seien wie vom Schicksal vorherbestimmt ins Gewässer gefallen, sodass das Spiegelbild von Narziss verzerrt wurde. In dieser Fassung ist es die Empörung über die eigene Missgestaltung, die ihn sein Leben kostete. Jede Version endet damit, dass dort, wo der hübsche Jüngling zuvor gesessen hat, eine Narzisse heranwächst, in die er sich nach seinem Tod verwandelt haben soll.
Obwohl diese Sage bereits vor über 2000 Jahren entstanden ist, veranschaulicht sie bis heute realitätsnah den Begriff “Narzissmus”. Er wird im Volksmund vor allem mit übermäßigem Bezug auf die eigene Person und Größenwahn gleichgesetzt. Inzwischen wird förmlich mit der Bezeichnung um sich geworfen und sie wird für gewöhnlich als Beleidigung verstanden. Leider wird dabei viel zu oft vergessen, was einen Narzissten eigentlich ausmacht und was wirklich in ihm vorgeht. Tatsächlich steckt nämlich so viel mehr hinter dem Phänomen als reine Selbstverliebtheit und entgegen den Erwartungen der Mehrheit tragen wir alle narzisstische Anteile in den Strukturen unserer Persönlichkeit.
Frei von jeglichem Urteil bedeutet Narzissmus lediglich, den Fokus des psychologischen Interesses auf sich selbst gerichtet zu haben, um den eigenen Selbstwert zu regulieren. Daran ist generell nichts verkehrt. Jeder von uns begegnet Situationen im Leben, in denen das eigene Wohlbefinden Priorität hat und es erforderlich ist, sich in erster Linie auf sich selbst zu besinnen. Wie stark dieses Eigeninteresse ausgeprägt ist, variiert von Individuum zu Individuum. Wenn es überhandnimmt, tritt das Verhalten in Erscheinung, das typischerweise als narzisstisch eingestuft wird: Es dreht sich ständig nur um die eigene Person. Diese sucht andauernd nach Möglichkeiten, um im Mittelpunkt zu stehen und hier von den eigenen Fähigkeiten und Erfolgen zu prahlen. Für andere Menschen lassen sie sich allerdings nicht im Geringsten in demselben Ausmaß begeistern. Sogar im Duden wird ein Narzisst lediglich als eine Person beschrieben, die “nur auf sich selbst bezogen ist”. Dass die Betroffenen ebenfalls leiden und schlimmstenfalls, wie schon der junge Narziss, sogar an ihrem Selbstwahn zerbrechen, wird dabei ungerechterweise völlig außer Acht gelassen.
Wenn wir über Narzissmus sprechen, sollte stattdessen ein Blick hinter die eiskalte und arrogante Fassade gewagt werden. In dem griechischen Mythos wird bereits deutlich, was das Phänomen wirklich ausmacht. Genau genommen handelt es sich gar nicht um Selbstverliebtheit. Der Jüngling vernarrte sich schließlich nicht in die Person, die er wirklich war, sondern lediglich in ein illusionäres Abbild seiner Selbst. Sehr ähnlich verhält es sich mit Narzissten. Der scheinbaren Bewunderung für die eigene Person in grenzenlosem Ausmaß liegt ein zwiegespaltenes Selbstkonzept zugrunde.
Obwohl niemand auf den ersten Blick die Existenz eines negativen Selbstkonzepts bei einem Narzissten vermuten würde, ist dieses die Ursache für ihr typisches Auftreten und Verhalten. Es ist gekennzeichnet von Ängsten, vor allem von Ängsten des Versagens und des Verlusts, sowie von der Überzeugung, weder gut genug noch liebenswürdig zu sein. Von den Betroffenen scheinen lediglich konsequente Stärke und ein unzerstörbares Selbstbewusstsein auszugehen. Außenstehende mögen sich vielleicht sogar schnell unterlegen fühlen. Doch dies ist nur ein Schauspiel, das Narzissten sich im Laufe ihres Lebens angeeignet und perfektioniert haben, um sich ihre enormen Selbstzweifel nicht anmerken zu lassen. In der Regel können sie sich diese tief verwurzelte Unsicherheit noch nicht einmal vor sich selbst eingestehen, sondern verbannen sie immer weiter aus ihrem Bewusstsein.
Hier kommt das zweite, und zwar das positive Selbstkonzept ins Spiel. Um ihre Verletzlichkeit vor sich selbst und anderen im Verborgenen zu wahren, wurde meist schon im Kindesalter damit begonnen, sich eine Art Schutzschild aufzubauen. Dabei handelt es sich um ein Idealbild, das Betroffene von der eigenen Person schaffen, um ihre ausgeprägten Zweifel an sich selbst zu kompensieren. Es ist meistens völlig übersteigert und verkörpert Fantasien der Großartigkeit, der Einzigartigkeit und genereller Überlegenheit gegenüber anderen Menschen. Narzisstische Persönlichkeiten identifizieren sich zunehmend mit diesem Idealbild und verlieren die Fähigkeit, eine Verbindung zwischen ihrem wahren Selbst und dem illusionären Selbst herzustellen.
Doch die Maske ist brüchig. Aus sich selbst heraus können Narzissten den Glauben an das grandiose Selbst nicht aufrechterhalten. Schließlich ist ihr Selbstwertgefühl dafür in Wahrheit viel zu gering. Das negative Selbstkonzept wirft aus den Tiefen des Unterbewusstseins immer wieder Zweifel auf. Die Fassade der Perfektion ist somit auf ständige Bestätigung von außen angewiesen, beispielsweise in Form von messbaren Erfolgen oder von Anerkennung anderer Menschen. Dies ist der einzige Weg für die Betroffenen, sich wertvoll zu fühlen, und gleichzeitig die ausschlaggebende Erklärung für den Drang, durchgehend nach Bewunderung zu hungern. Bleibt die Bestätigung von außen einmal aus, kann es zu bedrohlichen Selbstkrisen kommen, die von Zweifeln über Depressionen bis hin zu Suizidgedanken reichen.
Dass Narzissten besonders selbstbewusst sind, ist zusammenfassend ein Trugschluss. Das psychologische Interesse stets auf die eigene Person gerichtet zu haben, resultiert viel eher aus einem fragilen Selbstwertgefühl und der Sehnsucht nach Wertschätzung.
Es existieren verschiedene Theorien darüber, weshalb diese Sehnsucht bei manchen Menschen so stark ausgeprägt ist und bei anderen nicht. Wissenschaftler halten es zwar für möglich, dass genetische Faktoren die Entstehung einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung begünstigen, viel entscheidender sind jedoch Umgebungsfaktoren, also die Erfahrungen, mit denen ein Mensch im Laufe seines Lebens konfrontiert wird. Narzissmus gehört zu den Bindungsstörungen. Sie sind von der Unfähigkeit gekennzeichnet, wohltuende zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Genau wie bei vielen weiteren psychologischen Manifestationen in der Persönlichkeit wird dabei der frühen Kindheit eine besonders hohe Bedeutung zugesprochen. Während dieser Lebensphase werden zu großen Anteilen die Überzeugungen, die ein Mensch von sich selbst und der Welt hat, sowie die dominante Ausrichtung der Gedankenwelt und typische Verhaltensmuster festgelegt. Darunter fällt ebenso die Art und Weise, wie Beziehungen zu anderen Menschen erlebt und gestaltet werden. Laut Theorien der Psychoanalyse bestimmt bereits die Qualität der allerersten Bindung, die ein Mensch eingeht, inwiefern dieser in Zukunft bindungsfähig sein wird oder nicht. In der Regel ist die primäre Bezugsperson die Mutter, doch das macht Väter nicht weniger verantwortlich für die aktive Unterstützung des Kindes bei der Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls in den frühen Lebensjahren. Es ist außerdem abhängig davon, ob Geschwister vorhanden sind, welche Rolle einem innerhalb der Familie zugewiesen wird, wie Beziehungen allgemein vorgelebt werden und so weiter.
Es wird vermutet, dass insbesondere die folgenden Kindheitserfahrungen das Risiko einer Narzissmus-Störung erhöhen:
Mangel an Zuwendung.
Die grundlegenden Bedürfnisse eines jeden Kindes sind ausreichende Versorgung, Zuneigung und Aufmerksamkeit. Menschen, die später stark ausgeprägte narzisstische Züge aufweisen, mussten sich oftmals schon als Heranwachsender stark um die Berücksichtigung ihrer kindlichen Bedürfnisse vonseiten der Eltern bemühen. Sie wurden überhört, entwertet und bekamen ständig das Gefühl vermittelt, nicht gut genug zu sein, um die Liebe zu erfahren, die sie sich wünschten. Dann wird sich nicht selten aufgrund psychologischer Schutzmechanismen in eine Fantasievorstellung geflüchtet, wo der Schmerz und die Schwächen verdrängt werden. Das verletzliche Selbst wird zum Fremdkörper und nicht in die Persönlichkeit integriert. Es kann sich übrigens auch um weniger beabsichtigte Ablehnung handeln. Wenn sich zum Beispiel vor den Ausscheidungen geekelt oder körperliche Nähe abgelehnt wird, bekommt das Kind vermittelt, es sei eine Last für die Eltern.
Liebe nach Bedingungen.
Darüber hinaus haben diese Kinder häufig nie erfahren, was es heißt, bedingungslos für die Person geliebt zu werden, die sie sind. Ihrem Verständnis nach werden sie nur geschätzt, wenn sie entsprechende Leistungen bringen, in irgendeiner Art und Weise besonders sind oder durch Fähigkeiten und Talente herausstechen. Infolgedessen eignen sich die jungen Menschen ganz automatisch ein Verhalten an, durch welches sie die sehnlichst erwünschte Anerkennung trotzdem bekommen und Verletzungen weitestgehend vermieden werden können. So beginnt die Neigung, sich ständig in den Mittelpunkt und in ein möglichst gutes Licht zu rücken, um Bestätigung zu erfahren. Sie lernen, dass es möglich ist, für diesen Preis gegebenenfalls auch andere Menschen auszunutzen und zu manipulieren. Das kann mit scheinbar harmlosen Dingen wie Notlügen und Abschreiben in der Schule losgehen. Gleichzeitig empfinden sie unterschwellig Zorn, da sie eifersüchtig auf die Kinder in ihrem Umfeld sind, die nicht so hart um die Wertschätzung ihrer Bezugspersonen kämpfen müssen. Der perfekte Nährboden für Narzissmus ist somit gelegt: Während das Kind nach außen hin voller Selbstsicherheit zu strahlen scheint und keine Rücksicht auf andere nimmt, ist es im Inneren permanent verunsichert und von der Angst geplagt, den Erwartungen seiner Mitmenschen nicht gerecht zu werden. Um den damit verbundenen Schmerz nicht zu spüren, verdrängen die Kinder ihre Verletzlichkeit und identifizieren sich mit dem Scheinbild.
Narzisstischer Missbrauch.
Dieser tritt vor allem oft auf, wenn ein Elternteil selbst stark ausgeprägte narzisstische Züge aufweist. Sie benutzen den Nachwuchs, um das eigene instabile Selbstwertgefühl zu regulieren. Das kann sich zum Beispiel dadurch äußern, dass das Kind für die Aufmunterung eines Elternteils verantwortlich gemacht wird, mittelmäßige Leistungen in der Schule ins Lächerliche gezogen werden, sich mit Erfolgen des Kindes geschmückt wird und die freie Entfaltung, unter anderem in Bezug auf Kleidung oder Freunde, enorm eingeschränkt wird. Nicht selten kommt bei Geschwistern dazu, dass ein Kind idealisiert und verwöhnt wird, während das andere ständig herabgewürdigt wird und Wut erfahren muss. Die Kinder dienen dann jeweils als Projektionsfläche für die eigenen extremen Selbstkonzepte. Nach außen hin wird in der Regel das Bild einer perfekten Familie aufrechterhalten, während es in Wahrheit zuhause ständig unharmonisch und angespannt ist. Das Kind verliert durch diesen Dualismus und die irregulären Botschaften die Orientierung und übernimmt das Verhalten wie eine Spiegelung in seine Persönlichkeit auf. Es kann sich nicht mit der Person identifizieren, die es wirklich ist, sondern nur mit der Vorstellung, wie es gefälligst zu sein hat.
Überidealisierung.
Bedingungslose Liebe bedeutet allerdings nicht, seinem Kind ausschließlich positive Rückmeldungen entgegenzubringen. Es ist sogar wichtig, dass die Heranwachsenden in angemessenen Situationen ebenso Kritik erfahren, solange ihre Bedürfnisse und Gefühle weiterhin berücksichtigt werden. Ansonsten wird der Erziehungsstil nämlich in das andere Extrem umschlagen: Das Kind wird verherrlicht, wodurch Narzissmus gleichermaßen begünstigt wird. Deutlich wird dieses Phänomen in einer Langzeitstudie der Universität in Amsterdam. In deren Rahmen wurden über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren regelmäßig Einschätzungen von mehr als 500 Kindern und deren Eltern erfragt. Die jungen Menschen sollten einordnen, inwiefern Aussagen wie, “Ich verdiene etwas Spezielles”, oder, “Ohne mich wäre es in der Klasse langweilig”, auf sie zutreffen. Die Erziehenden haben jeweils dieselben Fragebögen ausgefüllt. Dabei sind die Forscher zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kinder, von denen die Eltern meinen, sie seien in bestimmter Art und Weise besser als die anderen, diese Überzeugungen ebenfalls verinnerlicht haben. In den Augen vieler liebender Eltern sind ihre Jünglinge selbstverständlich nicht bloß durchschnittlich, sondern etwas ganz Besonderes. Diese Annahme sollte jedoch nicht dazu führen, dass Kinder stets behütet und nahezu vergöttert werden. Perfekt ist schließlich niemand. Bei Fehlern oder Niederlagen sollten die Kinder stattdessen dabei begleitet werden, sie zu verarbeiten, aus ihnen zu lernen und ihr Selbstwertgefühl trotz alldem wieder zu stabilisieren. Die Schuld immer auf andere Menschen oder auf die gegebenen Umstände zu schieben, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Menschen mit stark ausgeprägten narzisstischen Zügen heranziehen. Außerdem wird sich die Realität früher oder später sowieso unweigerlich offenbaren und die grenzenlose Überlegenheit, die den Kindern stets zugesprochen wurde, stellt sich als Lüge heraus. Wenn nie gelernt wurde, dass es in Ordnung ist, nicht immer an der Spitze zu sein, wird sich an die Illusion geklammert, um das von den Eltern übernommene Selbstbild aufrechtzuerhalten.
Neben der frühen Kindheit stellt die Pubertät einen weiteren wichtigen Lebensabschnitt für die Bildung eines gesunden Selbstwertgefühls dar. Zum einen sind die hormonellen Veränderungen teilweise mit belastenden Stimmungsschwankungen verbunden. Zudem entwickelt sich der Körper von außen erkennbar. Der Stimmbruch, das Wachsen von Körperbehaarung und der Brüste sowie Akne und die Menstruation sind nur einige Beispiele dafür. Das kann verständlicherweise mit vielen Selbstzweifeln und Schamgefühlen einhergehen. Als wäre das nicht Herausforderung genug, ergibt sich noch mehr Verwirrung für Pubertierende aufgrund des Übergangs vom Kindsein im Elternhaus zur selbstständigen Jugendlichkeit. Besonders problematisch ist das meistens, wenn die Familienideale nicht mit den Dingen übereinstimmen, die der junge Mensch nun neu für sich entdeckt und mit denen er sich zu identifizieren beginnt. Es ist als Elternteil zwar wichtig, Grenzen aufzuzeigen, doch die freie Entfaltung der Persönlichkeit sollte dabei nicht zu sehr eingeschränkt werden. Darüber hinaus birgt der Schulalltag neben Leistungsdruck ebenso Bedrohungen wie Mobbing und Ausgrenzung. Um nicht zum Opfer zu werden, liegt es oft nahe, sich einer Gruppenidentität unterzuordnen. Dies kann zwar Sicherheit und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit bieten, geht jedoch gleichzeitig mit der Gefahr einher, dass das Selbstwertgefühl zu sehr von der Anerkennung anderer abhängig gemacht wird und es schmerzlich zerbricht, falls die Clique einem doch den Rücken zukehrt. Das Potenzial für narzisstische Kränkungen während der Pubertät sollte keinesfalls unterschätzt werden. Die jungen Menschen sind ständig Unsicherheit und Versagensängsten ausgesetzt. Das ist auch der Grund dafür, dass sich Größenfantasien ausgemalt und Idole gesucht werden sowie Einzigartigkeit in Form von Tattoos oder Randgruppen angestrebt wird. Einerseits ist das total wichtig für die Identitätsentwicklung, doch wenn die Selbstzweifel zu stark werden, nimmt oft auch die Identifikation über das entsprechende Idealbild zu, wodurch Narzissmus gefördert werden kann. Das Risiko ist grundsätzlich größer, wenn es bereits in der Kindheit zu begünstigenden Erfahrungen gekommen ist.
Vermutungen zufolge tragen auch gesellschaftliche Faktoren zu der Entstehung von Narzissmus bei. Viele Sozialwissenschaftler sprechen im Hinblick auf das moderne Zeitalter, vor allem in den westlichen Industriestaaten, von einer Narzissmus-Epidemie. Schätzungen zufolge lassen sich bei etwa 4 % der deutschen Bevölkerung narzisstische Tendenzen beobachten, während die krankhafte Form als Persönlichkeitsstörung ungefähr 1 % der Bevölkerung ausmacht. Grundsätzlich wird Narzissmus eher mit dem männlichen Geschlecht assoziiert. Ganz unberechtigt ist das nicht. Forscher gehen davon aus, dass nur 20-25 % aller Narzissten weiblich sind. Ob Narzissmus wirklich zunimmt oder die Menschen einfach selbstbewusster und eigenständiger werden, ist schwer zu beurteilen. Man spricht auch von einer “Normopathie”. Das bedeutet, dass eine Störung nicht mehr als solche empfunden wird, da der Großteil betroffen ist. Allerdings wurde beispielsweise in einer aktuellen Datenerhebung festgestellt, dass etwa jeder vierte Student gehobene Narzissmus-Werte aufweist. So viele seien es noch nie zuvor gewesen. Auch der Psychologe Michael Cöllen aus Hamburg vermutet eine zunehmende Verbreitung. Seit über 40 Jahren ist er als Paartherapeut tätig und berichtet, dass circa 40-50 % seiner Klienten narzisstischen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6671-1
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