Prolog – Fers Sicht
Ich machte mir Sorgen. Ich hatte meine Gefährtin schon lange nicht mehr gesehen. Erst das Kreischen eines Trinas brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Bei der kleinen Baumgruppe schien sich ebenfalls noch ein Trinas-Gurter versteckt zu haben, der nun von meiner mutigen Socia in Engelsgestalt fortgelockt wurde. Stolz durchflutete mich, als ich sah, wie Carrie immer höher flog, das Schwert griffbereit in der Hand. Ein Schmerz in meiner Schulter ließ mich zu einem Soldaten hinter mir herumfahren und ich verwandelte mich rasch in einen weißen Tiger, um ihm die Kehle herauszureißen. Die Wunde in meiner Schulter pochte leicht, doch es kümmerte mich wenig, als ich Gan zur Seite sprang und ihm half, mit einem bereits blutverschmierten Palinas fertigzuwerden. Erst der Kampfschrei meiner Gefährtin ließ mich wieder nach oben schauen. Im nächsten Moment sah ich, wie ein schwarzer Punkt vom Himmel fiel. Plötzlich zuckte ein weißes Licht vom Himmel und ein Engel fing meine Socia zehn Meter über dem Boden auf.
„Hört auf zu kämpfen!“, brüllte der Engel. Ich erkannte Michael. Erstaunt sahen alle zu ihm hoch und hielten mitten in der Bewegung inne.
„Atro ist Tod. Es gibt keinen Grund mehr zu kämpfen.“ Als die Palinas und Trinas das hörten, verschwanden sie so schnell sie konnten. Die Soldaten warfen ihre Waffen weg und ergaben sich bis auf wenige Ausnahmen, die wir rasch überwältigen konnten. Wir hatten gesiegt. Aber um welchen Preis. Ich schaute zu meiner Gefährtin, die wie tot in Michaels Armen lag, der gerade bei mir und Gan landete. Respektvoll machten ihm die umherstehenden Krieger Platz, als er Carrie vorsichtig auf den Boden legte.
„Ist sie tot?“, fragte Lak mit gebrochener Stimme. Ich zog rasch mein T-Shirt herunter, doch die Rose blühte noch, selbst wenn das Leuchten weniger geworden war.
„Nein. Sie hat sich nur komplett überanstrengt. Dass sie schwanger ist, hat die Situation nicht besser gemacht?“
„Sie ist schwanger?“, fragte ich schockiert.
„Ja.“, hörte ich plötzlich drei Stimmen hinter mir gleichzeitig sagen. Jemin, Elena und Elias kamen angelaufen. Die beiden Elementarkinder sahen inzwischen aus wie sechzehn und zwölf.
„Sie wollte es euch nach dem Kampf sagen. Sonst hättet ihr sie nie kämpfen lassen.“, fügte Elena hinzu. Das hatte sie Recht. Ich knirschte mit den Zähnen.
„Wie kritisch ist ihr Zustand?“, fragte ich Gan, der sich neben ihr niedergelassen hatte. Statt seiner antwortete Erzengel Michael.
„Sie hat sich komplett überanstrengt und ihr Körper hat sie in eine Art komaartigen Zustand versetzt. Die Einzige, die ihr jetzt und bei der Geburt noch helfen kann, ist ihre Schwester.“
„Sie hat eine Schwester?“, fragte Lak überfordert.
„Ja, Prinzessin Elara, die erstgeborene Tochter von König Borkil und Königin Freia.“
Er erhob sich wieder in die Luft.
„Findet sie!“
Kapitel 1
Schwermütig wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und stand auf. Wieder einmal war ich Hektor und Pascal nur knapp entronnen. Die beiden Nachbarsjungen waren der Ansicht, dass so etwas wie ich nicht leben sollte, selbst wenn ich nichts dafür konnte. Meine langen Haare fielen mir vor Schweiß verklebt über die schmächtigen Schultern. Doch das war nicht das Problem. Das Problem war ihre Farbe. Sie schimmerten blau. Obwohl ich die schwarze Haarpracht bereits unzählige Male zu Färben versucht hatte, waren sie spätestens nach einem Tag wieder zu ihrer Ursprungsfarbe mutiert. Deswegen hassten mich die Beiden so. Ich seufzte noch einmal und kehrte zu dem Waisenhaus zurück, das seit Jahren meine Bleibe gewesen war. Doch nicht mehr lange. Nur noch eine Nacht, dann war ich achtzehn und dürfte selbst entscheiden. Meine meeresblauen Augen blitzten freudig, als ich mich in einer Pfütze betrachtete. Die Kleidungsstücke des Waisenhauses waren mir schon lange zu klein geworden und ließen meine Brüste noch schmaler erscheinen, als sie waren. Mein Gesicht war kantig geschnitten, doch als ich mir mit meiner langen Zunge über die zarten Lippen fuhr, machte ich einen sehr zerbrechlichen Eindruck. Dabei wusste ich mich durchaus zu verteidigen. Und meine Beine waren in den letzten Jahren dank Hektor und Pascal auch gut trainiert worden. Lautlos stieg ich die Stufen zu dem blassgrauen Haus hoch und öffnete die Tür mit einem leisen Knarren. Ich war inzwischen die Älteste hier und doch hatte ich das Gefühl, dass mich die Frauen des Waisenhauses am meisten beschützten. Warum, wusste ich allerdings nicht. Leise wollte ich die Treppe hochschleichen, bis-
„Eveline Elara Meier. Wo zum Geier hast du schon wieder gesteckt?“
Frau Ziehmann, die Köchin und gleichzeitig auch Leiterin dieses Instituts, schaute mit strengem Blick zu mir hoch, die Arme in die Hüften gestemmt. Ihre grauen, ursprünglich zu einem strengen Dutt gefassten Haare, schauten wild von ihrem Kopf ab. Sie schien mich gesucht zu haben. Ich zog den Kopf ein.
„Entschuldigung, Frau Ziehmann. Ich war –“ Sollte ich es ihr erzählen? Das mich die Jungs aus der Nachbarschaft gejagt haben. Schon wieder. Und ich weggerannt war und mich versteckt hatte? Wieder einmal. Dann würde sie sich nur wieder Sorgen machen. Ich entschied mich dagegen.
„-spazieren!“, beendete ich meinen Satz. Ich quälte mich zu einem Lächeln. Ihr Blick blieb finster. Statt einer Antwort ließ sie ihren Blick über mich gleiten und blieb schließlich an einer Rissverletzung an meinem linken Arm hängen. Sie schürzte die Lippen. Mist, dass musste ich mir an dem Zaun zugezogen haben, den ich verbotenerweise überquert hatte. Jetzt würde es noch mehr Ärger geben.
Doch die Köchin seufzte nur und schüttelte erschöpft den Kopf. „Sei das nächste Mal einfach ein wenig vorsichtiger.“ Ich konnte es nicht fassen. Sie ließ mich einfach gehen. Einfach so. Aber es war beileibe nicht das erste Mal. Soweit ich denken konnte, hatte sie mir viele Dinge verziehen. Zum Beispiel, als ich mit zehn Jahren mein Zimmer durchflutet hatte. Es war keine Absicht gewesen. Ich hatte Durst und hatte überlegt, wie das Wasser in den Rohren im Zimmer wohl schmecken würde. Daraufhin war das Rohr, auf das ich geschaut hatte, zerbrochen und hatte seinen kostbaren Inhalt verschüttet. Ich musste ihr nur beim Aufwischen helfen. Auch die anderen Male, in denen ich mich weigerte mit zu baden, nachdem ich entdecken musste, dass ich mich in eine Wassernymphe verwandele, sobald ich Wasser berührte, verzieh sie mir. Sie half mir sogar diese Verwandlung unter Kontrolle zu kriegen. An diesem Tag hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit der magischen Welt. Frau Ziehmann ließ mich noch am selben Tag in ihr Büro rufen und erzählte mir Dinge, die ich im ersten Moment gar nicht glauben wollte. Neben den normalen Menschen, gäbe es auch noch die Arsanimali, also Wesen mit besonderen Fähigkeiten. Ich würde als Wassernymphe dazugehören. Außerdem verriet sie mir, dass sie Mitglied eines Rudels von Gestaltwandlern sei und sich in ein Käuzchen verwandeln könnte. Da sie mir meine Zweifel ansah, verwandelte sie sich vor meinen Augen. Von diesem Zeitpunkt glaubte ich ihr alles. Sie erzählte mir viele Geschichten über unser Volk und ich hing gebannt an ihren Lippen. Auch an diesem Abend wollte sie mich wieder in ihrem Büro sprechen. Ich fragte mich, ob es wegen meiner morgigen Volljährigkeit wäre. So in Gedanken versunken übersah ich glatt die letzte Stufe und wäre sicher gefallen, wenn mich nicht zwei kräftige Arme aufgefangen hätten.
„Hoppla.“ Ich schaute auf und sah in zwei wunderschöne Smaragde, die mir lächelnd entgegensahen. „Immer Vorsicht mit den jungen Pferden!“ Ich wurde rot. Markus war erst seit zwei Monaten hier. Obwohl er bereits achtzehn war, hatte er darum gebeten, hier in Eisenhüttenstadt für einige Monate unterkommen zu dürfen, da er sich noch von einem Todesfall in der Familie erholen wolle. Die Pfleger hatten schließlich mitleidig zugestimmt, als sie sahen, dass Markus wirklich Hilfe brauchte. Seit er hier war, hatte er sich jedoch sehr gut entwickelt.
„Danke, Markus!“, brachte ich unter Stammeln heraus.
„Immer wieder gerne, Ev.“ Markus war der Einzige, der mich Ev nennen durfte. Früher hatte ich den Kosenamen Line gehabt, doch mit der Zeit wurde ich zu alt dafür, sodass mich alle nur noch Evi nannten.
„Was hast du gemacht?“, fragte er mich besorgt, als ich die letzte Stufe erklomm und er mich endlich richtig sehen konnte. Er war fast zwei Köpfe größer als ich, wie mir in diesem Moment auffiel. Ich zog die Augenbraue hoch, doch er deutete nur wortlos auf die Schramme an meinem Arm und meine aufgeschürften Knie, die Frau Ziehmann, doch glatt übersehen hatte. Oder vielleicht wollte sie sie auch nicht sehen.
„Bin hingefallen!“, murmelte ich und senkte beschämt den Kopf.
„Ach, Ev.“, seufzte Markus, sagte aber nichts weiter. Was sollte er auch sagen. Ich brachte nahezu jeden Tag eine neue Verletzung mit nach Hause. Umso schneller verheilten sie bei mir aber auch. Vor allem, wenn ich badete. Vermutlich lag das an den Nympfengenen.
„Kommst du mit zum Abendessen?“, fragte der Junge neben mir flehend.
„Ich ziehe mir nur noch kurz etwas anderes an!“, ließ ich verlauten und stolperte in mein Zimmer.
Drinnen sah es auch schon mal ordentlicher aus. Die Sachen, von denen ich hier im Waisenhaus allerdings wenige besaß, waren samt den Schulbüchern quer im Raum verteilt. Die Bettdecke hing halb im altertümlichen Kronleuchter, vermutlich von meinem morgendlichen Versuch, mich aus ihr zu befreien und auch der Schreibtisch schien unter der Last verschiedener Papierstapel beinahe zusammenzubrechen. Ich beschloss, gleich nach dem Abendessen hier ein wenig Ordnung zu schaffen. Erst, während ich mir eine lange Jeans heraussuchte, damit meine aufgeschürften Knie nicht so auffielen, fiel mir ein, dass ich nach dem Essen in das Büro von Frau Ziehmann musste. Na ja, dann eben ein anderes Mal. Bevor ich die Jeans überwarf, stellte ich meine Beine noch kurz in die Wanne und spülte den Dreck aus den Schorfwunden. Sofort war wieder das altbekannte Ziehen da, als das Wasser auf meine Verletzungen traf und sie vor meinen Augen verkrusteten. Die bläuliche Träne, die ich seit meinem Wassermalheur mit zehn Jahren trug, kribbelte ebenso und schien Wellen schlagen zu wollen. Auch Das war für mich Alltag geworden. Obwohl es immer noch ein wenig unvertraut für mich war. Vorsichtig, um den Schorf nicht gleich wieder abzurubbeln trocknete ich mich ab und sofort verschwanden die Muscheln wieder aus meinen Haaren. Meine Haare färbten sich von Blau wieder ins Schwarze und meine Kiemen an beiden Seiten meines Halses verschwanden. Manchmal bekam ich auch Schwimmhäute zwischen den Zehen und Händen, mit denen ich mich besser bewegen konnte. Aber dazu musste ich komplett im Wasser sein. In Erinnerung an Markus beeilte ich mich mit dem Anziehen und verließ wieder mein Zimmer. Der drahtige Junge wartete bereits ungeduldig auf mich.
„Warum ihr Mädchen immer so lange im Bad brauchen müsst?!“, neckte er mich. Ich ging nicht weiter darauf ein. Markus wusste nichts von meiner zweiten Gestalt. Das wusste keiner außer Frau Ziehmann und mir. Und ich war mir sicher, dass es auch besser so war.
„Lass uns einfach etwas Essen gehen. Ich glaube, ich könnte ein ganzes Salatfeld verspeisen.“ Noch eine Eigenart von mir. Ich war Vegetarier. Kein wirklich strenger. Nur Fleisch und Wurst schmeckten mir irgendwie nicht. Vielleicht war ich deswegen so dünn. Aber vielleicht auch nur wegen dem Fraß, der uns hier serviert wurde. Doch, da ich mein ganzes Leben hier verbracht hatte, war es für mich auch nichts Neues die Berge laschen Salats, der nach kaum etwas schmeckte und eine Scheibe trockenes Brot mit fettigem Käse in mich hineinzustopfen. Markus sah mir nur kopfschüttelnd zu.
„Ich verstehe einfach nicht, wie man so viel in sich hineinstopfen kann und trotzdem so dünn bleibt wie du.“
„Na ja, Training!“, antwortet ich ihm mit einem Schulterzucken, schluckte den Salat herunter und grinste.
Das Klingeln einer Gabel an einem Glas riss uns aus unserem herausfordernden Blickkontakt. Sofort wandten sich alle Blicke Frau Ziehmann zu. Rasch ließ ich noch meinen Blick schweifen, ob auch wirklich alle anwesend waren. Ja, alle sechsunddreißig Kinder zwischen drei und achtzehn waren da. Ich war damals als die Jüngste hier angekommen und war nun eine der Ältesten. Irgendwie eine interessante Entwicklung, dachte ich grinsend. Nicht alle hier waren Waisen, doch da ich als Waise hier angekommen war, würde dies für mich immer ein Waisenhaus sein. Frau Ziehmann räusperte sich und sofort wandte ich ihr meinen Blick zu.
„Wie ihr alle wisst, wird Eveline morgen achtzehn und kann selbst entscheiden, ob sie bei uns bleibt oder nicht.“ Einige warfen mir einen raschen Blick zu, andere nickten, doch ich war mir sicher, dass noch etwas kommen würde.
„Auch ich werde morgen von euch Abschied nehmen. Viele Jahre habe ich dieses wunderbare Haus geleitet, habe euch bekocht und viele sehr angenehme Stunden mit euch verbracht. Doch nun ist es an der Zeit, meinen Posten an Herrn Waldner abzugeben. Ich hoffe, ihr versteht meine Entscheidung und werdet ihn genauso respektieren wie mich. Ich wünsche euch noch einen angenehmen Abend.“ Sie setzte sich wieder, doch ich starrte sie immer noch entgeistert und mit weit aufgerissenen Augen an. Frau Ziehmann würde gehen? Aber warum? Sie bemerkte meinen Blick und nickte mir zu. ´Später´, formten ihre Lippen. Geistesabwesend nickte ich. Ich schaute zurück, auf die kleine Blattansammlung auf meinem Teller, schob ihn dann jedoch von mir weg. Mir war der Appetit vergangen.
„Irgendwie traurig, dass Frau Ziehmann geht, oder?“, fragte mich Markus traurig, doch ich starrte nur auf mein Wasserglas. Ja, es war traurig. Außerdem ahnte ich, dass nach ihrem Verschwinden sich hier im Waisenhaus einiges ändern würde. Herr Waldner war wesentlich strenger als Frau Ziehmann und manchmal glaubte ich sogar, dass er ein Verfechter der alten Richtlinien war, doch ich hoffte nicht, dass er die Kinder schlagen würde. Eines wusste ich jedoch ganz sicher. Frau Ziehmann hatte mit ihrer Entscheidung auch mir die Entscheidung abgenommen. Ich würde nicht länger hierbleiben können. Viel zu groß war die Gefahr entdeckt zu werden. Und Verständnis für mein kleines Wasserproblem hatte Herr Waldner sicher auch nicht.
„Ich werde gehen!“, ließ ich Markus so leise wie möglich wissen, damit die Anderen am Tisch nicht gleich meine Entscheidung mitbekamen.
„Es ist, weil Frau Ziehmann geht, oder?“, hakte Markus ebenso leise nach.
Ich nickte. „Es wird nichts mehr so sein, wie es war, wenn Frau Ziehmann weggeht. Und das macht mir Angst.“, gab ich schließlich zu.
„Mmh!“, machte Markus und strich mir beruhigend über den Arm. Mein Herz klopfte schneller, doch ich zwang mich aufzustehen und meinen Teller wegzubringen.
„Bis später!“, murmelte ich Markus zu und machte mich auf den Weg zu dem Büro der Leitung. Zögernd klopfte ich. Woher meine Angst plötzlich kam, wusste ich nicht. Vielleicht von ihrem Geständnis vorhin. Oder-
„Herein!“, hörte ich von drinnen die melodische Stimme von Frau Ziehmann.
Vorsichtig trat ich ein, die Tür leise hinter mir schließend.
„Sie wollten mich sprechen, Frau Ziehmann?“
„Ah, Eveline. Setz dich doch. Warum auf einmal so schüchtern?“ Errötend suchte ich nach Worten, doch mein Gesicht schien schon alles zusagen. Frau Ziehmann seufzte.
„Du bist verunsichert, weil ich mich vorhin verabschiedet habe und fühlst dich bei deiner Entscheidung unter Druck gesetzt, habe ich Recht?“ Ich nickte zögernd. Konnte man in mir wirklich so gut lesen?
„Nun, darüber wollte ich mit dir reden. Ich habe dir, was deine zweite Gestalt angeht, nicht ganz die Wahrheit gesagt. Wassernymphen oder Aquaeri, wie sie eigentlich bei uns genannt werden, sind sehr seltene Geschöpfe. Die letzte Nymphe, von der ich weiß, dass ist die Mutter meiner Herrin gewesen. Das Gen ist chromosomal rezessiv, falls dir das etwas sagt. Das heißt, es tritt nur ganz selten nämlich nur bei Frauen auf und kann auch mehrere Generationen überspringen. Da die Mutter meiner Herrin jedoch schon vor langer Zeit ermordet wurde, bist du soweit ich weiß, die letzte Aquaeri.“
Ich sollte die Letzte meiner Art sein, dass wurde ja immer besser.
„Was meinen Sie mit ´Ihrer Herrin´?“, fragte ich neugierig. Ihre Ansprache war schon ziemlich merkwürdig. Immerhin lebten wir im einundzwanzigsten Jahrhundert.
„Ich war Zofe im Königshaus der Lilienkrieger. König Borkil regierte dort mit seiner Frau Freia, meiner Herrin, bis vor fast fünfzehn Jahren, wo der König Borkil samt seiner zweitgeborenen Tochter Elisabeth verschwand. Von diesem Verlust geplagt starb kurze Zeit später meine Herrin und mir bliebst nur noch du.“
Ich? „Aber wieso ich?“ Ich hatte die Stirn gerunzelt, meine Fingernägel bohrten sich in meine Handflächen, da ich die Hände so stark geballt hatte, doch ich realisierte es nicht.
„Du bist Elara, die erstgeborene Tochter von König Borkil und Königin Freia.“
Kapitel 2
Ich starrte sie immer noch ungläubig an. Ich sollte eine Königstochter, eine Prinzessin sein? Und dann auch noch eine Erstgeborene und damit Thronerbin der Lilienkrieger? Aber das war unmöglich.
„Das kann nicht sein!“, protestierte ich lautstark.
„Doch. Außerdem trägst du einen Tropfen Blut von Erzengel Gabriel in dir. Meine Herrin war ein großer Verfechter von Gabriel, deswegen war auch die weiße Lilienblüte ihr Zeichen. Sie steht für den Erzengel. Neben dem Trost bat sie ihn um Segen und er schenkte dir einen Tropfen Blut im Gegenzug für den ewigen Glauben an ihn.“
Ich sollte Engelsblut in mir tragen? Das wurde jetzt wirklich zu verrückt.
„Bitte hören Sie auf. Dass wird mir alles zu viel.“ Ohne, dass ich sie kommen gesehen hatte, rollten mir nun Tränen die Wangen herunter.
„Wie du meinst!“, sagte Frau Ziehmann verständnisvoll und lehnte sich zurück. Offenbar war damit das Gespräch beendet. An der Tür drehte ich mich jedoch noch einmal um.
„Sie haben auf mich achtgegeben, bis ich volljährig wurde. Und da Sie jetzt zurückgetreten sind, nehme ich an, Sie erwarten von mir jetzt, dass ich den Thron ersteige und mit Ihnen zurückkehre. Aber das kann ich nicht. Es tut mir Leid!“ Und mit diesen Worten verließ ich ihr Büro, während weitere Kristalle meine Wangen herunterrannen. Ich überlegt kurz, ob ich noch bei Markus vorbeischauen sollte, entschied mich aber, nach einem Blick in den Spiegel, dagegen. Es tat mir Leid, ihn so zurückzulassen, doch ich hatte keine Wahl. Lautlos sammelte ich meine Kleidung und zwei Bücher als Reiselektüre zusammen und packte sie in einen kleinen Rucksack, den ich einmal beim Spielen auf dem Dachboden gefunden hatte. Anschließend griff ich nach Zettel und Stift. Frau Ziehmann und die anderen Damen hatten immer darauf bestanden, dass wir gut gebildet waren und so beherrschte ich neben Deutsch und Englisch auch noch Latein und ein wenig Russisch. Inzwischen wusste ich auch, warum Frau Ziehmann darauf bestanden hatte.
>> Lieber Markus. Es tut mir Leid, dich auf diesem Weg verlassen zu müssen, doch die Umstände haben mich dazu gezwungen. Finde dich und werde glücklich. In Liebe Ev.<<
Er würde ihn finden. Das wusste ich. Und ich hoffte, dass er mir verzieh. Den Rucksack geschultert schlich ich mich zu seiner Tür und schob den Zettel unter ihr durch. Noch einmal seufzte ich traurig, dann schlich ich die Treppe herunter. Die fünfte Stufe von unten knarrte leise, doch ich war mir sicher, dass niemand mich gehört hatte. Einem plötzlichen Impuls folgend, lehnte ich mich noch einmal an die Bürotür von Frau Ziehmann und erschrak.
„Dachtet Ihr wirklich, Ihr würdet uns so entkommen. Dämlicher Vogel?!“ Die Stimme war eiskalt und mir lief eine Gänsehaut den Rücken herunter.
„Eveline?“, fragte Markus. Er stand oben an der Treppe und hielt meinen Brief in der Hand. Ich bedeutete ihm rasch ruhig zu sein und deutete auf das Büro der Leiterin. Er schien nicht zu verstehen, schwieg jedoch glücklicherweise. Ich bedeutete ihm herunterzukommen. Ebenso lautlos wie ich es getan hatte, kam er meiner Anweisung nach. Gemeinsam lauschten wir an der Tür.
„-und die Königin Freia ist einfach nur eine Närrin gewesen. Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet SIE vor uns verbergen?“
´SIE´, formte Markus lautlos mit den Lippen. Wortlos deutete ich auf mich und seine Augen wurden größer.
„So dumm wie Atro ist, ist es kein Wunder, dass er mich erst jetzt gefunden hat. Also, was will er noch?“, höhnte Frau Ziehmann, nicht einen Hauch von Furcht in der Stimme. Ich konnte in diesem Moment gar nicht anders, als sie zu bewundern.
„Schweig, Weib. Ich frage mich, wie gut dieses Haus brennt. Was meinst du, Brain?“ Sie wollten das Haus anzünden? Das war nicht gut. Ich gab Markus ein Zeichen, sprang zum nächsten Feuermelder, schlug die Scheibe ein und drückte den Knopf so tief ich konnte, ohne auf den Schmerz in meiner Hand weiter zu achten. Dann sprintete ich los, dicht gefolgt von Markus und leider auch von zwei Männern in schwarzen Umhängen, die nahezu unmenschlich durch die Nacht schlichen.
„Lauf, Ev. Lauf!“, keuchte Markus. Irgendwie erinnerte mich diese ganze Situation an die Jagd heute Morgen mit Pascal und Hektor. Nur, dass es in diesem Moment wirklich um Leben und Tod ging. Die Situation heute Morgen schien irgendwie länger als einen Tag her zu sein. Immerhin war seitdem so viel passiert.
Ein Schrei in meinem Rücken ließ mich herumfahren. Mit Schrecken sah ich, wie Markus von einer schwarzen Klinge durchbohrt zu Boden sank. Die eine Kapuzengestalt zischte mir ein „Lauf nur, Kleine, lauf nur weg. Wir kriegen dich eh.“ zu.
Ich schluchzte kurz auf und zwang mich dann weiter zu rennen. Links, rechts, wieder rechts. Wenn mich nicht alles täuschte, würde bald ein Fluss kommen. Das war meine Rettung. In dem Moment, als ich sprang, spürte ich, wie ein Wurfstern in meine Seite fuhr. Dann traf ich endlich in der Oder ein. Das sanfte Nass umfing mich, streichelte mich. Ich spürte, wie meine Kiemen wuchsen und atmete ein, während ich tiefer tauchte. Die Männer sollten denken, dass ich ertrunken wäre. Sicherheitshalber ließ ich mich einige Kilometer mit der Strömung treiben, beobachtete die Fische und versuchte nicht das Bewusstsein zu verlieren. Der Wurfstern steckte tiefer, als ich es erwartet hatte, sodass es mir unmöglich war, ihn herauszuziehen. Noch eine weitere halben Stunde hielt ich es unter Wasser aus, dann beschloss ich ein wenig nach oben zu tauchen und herauszufinden, wo ich war. Wie es mir die Strömung bereits angedeutet hatte, trennte sich hier der Fluss. Die Menschen hatten einen Kanal gebaut, um seine Kraft besser nutzen zu können. Meine Seite brannte immer stärker. Das Wasser schien zwar zu versuchen, den Schmerz zu lindern, doch solange der Wurfstern in meinem Fleisch steckte, schien es keine Möglichkeit dazu zu haben. Da ich bereits einiges an Blut verloren hatte, tanzten langsam Sterne vor meinen Augen und ich wusste, dass ich meine Wunde dringend versorgen musste. Noch einmal warf ich einen kurzen Blick auf den Fluss. Nein, da waren eindeutig zu viele Angler. Ich würde also im Kanal entlang schwimmen müssen. Selbst, wenn die Gefahr, mit einem Schiff zu kollidieren, nicht gerade gering war. Ich holte noch einmal tief Luft, um die Schmerzen auszublenden. Dann ließ ich mich zum Grund des Kanals sinken und schwamm so schnell ich konnte durch ihn hindurch. Ein dunkler Schatten über mir, weckte meine Alarmbereitschaft und ich konnte gerade noch so zur Seite weichen, um nicht von der Schiffschraube getroffen zu werden. Durch die Wucht, stieß ich jedoch gegen ein anderes Schiff und schrammte mir meine bereits durch den Wurfstern malträtierte Seite weiter auf. Ungläubig sah ich auf das viele Blut. Der Schmerz kam eine Minute später und ich schnappte nach Luft. Ich spürte, wie ich die Verwandlung nicht mehr lange aufhalten konnte und ich hatte eindeutig zu viel Wasser in den Lungen für einen Menschen. Mit letzter Kraft stieß ich mich vom Boden ab und schaffte es die Wasseroberfläche zu durchbrechen. Im nächsten Moment durchfuhr mich ein starker Schmerz. Die Kiemen verschwanden und ich hustete, was das Zeug hielt. Wasser, Galle und Blut. Warum Blut? Ein kleiner Teil in meinem Kopf verzog besorgt die Stirn. Dann schwappte erneut Wasser über mich, da ich keine Kraft mehr hatte, mich oben zu halten und zum ersten Mal versank ich dank des Wassers in tiefster Dunkelheit.
Kapitel 3
„He, Kleine! Aufwachen!“ Immer wieder durchdrang die feste Stimme eines Mannes das schwarze Tuch, das sich um mich gelegt hatte, doch ich hatte keine Kraft, um die Augen zu öffnen. Starke Hände drückten auf meinen Brustkorb, um das restliche Wasser herauszupressen. Ich wurde auf die Seite gedreht und konnte endlich durch meine schmerzenden Lungen hindurch alles Störende in meinen Atemwegen heraushusten.
„So ist gut!“, hörte ich wieder die tiefe Stimme und jemand streichelte mir beruhigend über den Rücken. Ich versuchte meine brennenden Augen zu öffnen, doch sie tränten zu sehr, als dass ich etwas sehen konnte.
„Ganz ruhig!“, erklang die Stimme wieder. „Du bist jetzt in Sicherheit. Ich kümmere mich jetzt um deine Verletzungen und du versuchst erst einmal wieder zu Kräften zu kommen!“
Energisch schüttelte ich den Kopf. Ich durfte nicht anhalten. Sie durften mich nicht finden. Ich musste weiter. Nein, ich musste zurück. Ich musste sehen, was mit Markus und den anderen Heimkindern war. Immerhin war es meine Pflicht, den Mitmenschen, denen ich das eingebrockt hatte, zu helfen. Dabei klang der Vorschlag des Mannes ganz vernünftig.
„Ich muss…!“, begann ich. Meine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern und meinen Hals durchfuhr ein brennender Schmerz, als ich zu sprechen versuchte. Mit Mühe versuchte ich mich aufzurappeln, doch der Mann drückte mich nur sanft wieder auf den Boden.
„In deinem Zustand kommst du nicht weit, Kleine. Was auch immer du musst, dass muss jetzt warten.“
Ich schüttelte wieder den Kopf und zu den stechenden Kopfschmerzen kamen weitere Tränen hinzu. Dennoch gelang es mir unter Mühe die Augen zu öffnen. Ein älterer Mann saß vor mir, offenbar ein ehemaliger Seemann. Er war wie ein Angler gekleidet, doch als ich meinen Blick von den faszinierenden, graugrünen Augen abwenden konnte, bemerkte ich einen Dolch an seiner Seite und auch den Griff eines Messers, das aus seinem linken Schuh ragte. Offenbar war er nicht das, was er auf den ersten Moment schien.
„So ist gut!“, beruhigte er mich, als er bemerkte, dass ich mich nicht länger zur Wehr setzte.
„Wer…?“, begann ich wieder, obwohl ich mir nicht einmal wirklich sicher war, wie ich meine Frage formulieren sollte.
„Das erzähle ich dir später. Erst einmal sollten wir dich von hier wegbringen. Meine Tochter kommt gleich mit einer Trage.“
In diesem Moment hörte ich ein Auto näher kommen. Die Geräusche drangen wie betäubt zu mir durch. Offenbar hatte ich immer noch Wasser in den Ohren und mein linkes Ohr wollte wohl gar nicht funktionieren. Ich runzelte die Stirn und versucht danach zu greifen, doch der Mann fing meine Hand ab.
„Dein Trommelfell hat schwere Schäden davongetragen, doch ich musste dich so schnell wie möglich aus dem Wasser holen, sonst wärst du nicht mehr zu retten gewesen.“
Ein Husten unterbrach das Nicken, zu dem ich angesetzt hatte.
„Mmmh. Wir sollten dich doch in ein Krankenhaus bringen!“, überlegte der Mann. Bei dem Wort Krankenhaus erstarrte ich. Nein, ich durfte nicht in ein Krankenhaus. Frau Ziehmann hatte mir das immer wieder eingeschärft, sobald wir herausgefunden hatten, dass ich ein Wassernymphe, ich meine ein Aquaeri war. Offenbar konnte man dies auch anhand meines Blutbildes sehen. Durch die starke Verbindung zum Wasser, schien mein Blut anstatt der üblichen neunzig Prozent sogar dreiundneunzig Prozent Wasser zu enthalten, wodurch es wesentlich flüssiger war. Auch andere Symptome sollten darauf hindeuten, doch näheres hatte mir Frau Ziehmann nicht erläutert. Noch energischer als vorhin, schüttelte ich den Kopf. Der Mann starrte mich erst überrascht, dann nachdenklich an und ich wog meinen Kopf noch stärker hin und her.
„Schon gut!“, seufzte der Mann. „Wir werden erst einmal versuchen, dich so gut wie möglich zu versorgen. Aber, wenn sich dein Zustand nicht bessert, bleibt uns keine andere Wahl!“
Flehentlich sah ich in an.
„Kein Krankhaus!“, versuchte ich erneut auf meine Stimme zurückzugreifen und hustete wieder. Eine weitere Gestalt hatte sich zu uns gesellt.
„Kein Krankenhaus?“ Ich versuchte meinen Kopf unter Schmerzen soweit anzuheben, dass ich die Gestalt sehen konnte. Ein wunderschönes Mädchen, etwa in meinem Alter stand vor mir. Auch sie trug Waffen bei sich. Doch dass, was mich am meisten erstaunte, waren die goldenen, vogelähnlichen Augen, mit denen sich mich noch immer musterte. Wie, als wäre ich die Beute. Ich brauchte einen Moment, um mich an ihre Frage zurückzuerinnern.
„Ich muss weiter!“, schaffte ich es herauszupressen und riss mich für einen kurzen Moment von dem Mädchen mit den faszinierenden Augen los, um den Mann anzusehen.
Wieder schüttelte der Mann den Kopf und seufzte. „Später!“
Er gab dem Mädchen ein Zeichen. Im nächsten Moment wurde ich vorsichtig auf eine Trage gehoben und auf die Rückbank eines Autos geschoben. Die ganze Zeit versicherte sich der Mann immer wieder, dass mein Zustand sich nicht verschlechterte, doch noch waren die Schmerzen auszuhalten. Ein kleiner Teil in mir sehnte sich zurück nach dem Wasser, doch ich brachte ihn rasch zum Verstummen. Immerhin war ich gerade beinahe ertrunken.
So in Gedanken versunken, bemerkte ich erst, dass wir da waren, als die Autotür aufging und ich erneut herumgetragen wurde. Dieses Mal in ein kleines Haus. Das Mädchen schaute sich immer wieder um, ob auch ja niemand uns gesehen oder uns verfolgt hatte, schloss dann aber wesentlich entspannter die Tür auf. Drinnen empfingen mich Zimmer in leuchtenden, angenehmen Farben. Wie viele es waren, konnte ich nicht genau sagen, da meine Träger abrupt stoppten. Das Mädchen wischte rasch alle Sachen von einem großen Wohnzimmerglastisch, ehe sie mich sinken ließen. Wieder versuchte ich mich aufzurappeln und wieder wurde ich von der Hand des Mannes zurückgehalten.
„Wirst du jetzt wohl still halten?! Sonst bringen wir dich doch noch in ein Krankenhaus.“ Diese Warnung zeigte sofort Wirkung bei mir, denn ich blieb liegen. Nachdenklich betrachtete der Mann meine Wunden und begann dann sie fachgerecht zu verbinden. Als er an meiner Seite anlangte, zog ich zischend die Luft ein.
„Holt ihn raus!“, presste ich hervor und er betrachtete die Wunde näher.
„Wurfsterne!“, murmelte er, halb bestürzt, halb besorgt. „Mädchen, du hast dich wirklich mit den Falschen angelegt.“ Ich war mir nicht sicher, ob seine gemurmelte Erklärung überhaupt für meine Ohren bestimmt war, doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, rief er nach dem Mädchen.
„Selina, bring einen Beißkeil, Morphium und Desinfektionsmittel mit und helfe mir dann, sie festzuhalten. Sie hat einen Wurfstern in der Seite zu stecken.“ Das Mädchen kam sofort mit den gewünschten Utensilien angerannt. Ängstlich starrte ich auf die Spritze in ihrer Hand.
„Keine Angst. Danach geht es dir besser!“, sagte sie freundlich. Dieses Mal war der melodische Klang in ihrer Stimme sogar noch besser zu vernehmen, als vorhin bei ihrer kurzen Frage.
Ich sah sie zweifelnd an, ließ mir jedoch das Mittel verabreichen. Bei dem Piksen der Nadel zuckte ich kurz zusammen, doch ich hatte schon Schlimmeres durchmachen müssen. Das Mittel wirkte schneller als erwartet. Mein ganzer Körper schien auf einmal wie in Watte gepackt zu sein und ich spürte nur am Rande, wie mir ein Beißkeil zwischen die Zähne geschoben und ich von dem Mädchen festgehalten wurde. Den Schmerz, der allerdings einsetzte, als sie den Wurfstern vorsichtig herauszogen, bemerkte ich auch durch das Schmerzmittel hindurch und ich biss fest auf den Beißkeil. Tränen rannen mir über die Wangen, doch ich war zu schwach, um mich wehren zu können. Endlich war das Zahnrädchen draußen und der Mann desinfizierte die Wunde noch kurz, ehe er sie ebenso fachgerecht verband. Er warf mir noch einmal einen besorgten Blick zu, erstarrte aber, als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte.
„Warum bist du noch wach?“, fragte er mich und entfernte den Beißkeil.
„..Ich…darf….nicht…schlafen…“, brachte ich mit Mühe hervor. Meine Stimme war seltsam belegt und meine Zunge fühlte sich wie ein fremder Lappen in meinem Mund an. Mein Kopf schien nicht mehr richtig arbeiten zu wollen und ich war froh, wenigsten einen noch halbwegs vernünftigen Satz hervorgebracht zu haben.
„Das solltest du aber. Egal, was in der Vergangenheit passiert ist, dass dich die Palinas jagen, wir passen auf dich auf. Du solltest dennoch versuchen, so schnell wie möglich wieder zu Kräften zu kommen und das schaffst du am besten, indem du schläfst.“ Wieder sah ich ihn zweifelnd an, schloss dann aber gehorsam die Augen und gönnte mir den Schlaf der Besserung.
Kapitel 4
Immer wieder versank ich in tiefer Finsternis, wenn ich glaubte, endlich wieder aufwachen zu können. Vereinzelt konnte ich einige Gesprächsfetzen auffangen.
„Das Fieber will einfach nicht sinken. Ich mache ihr noch einmal ein paar Umschläge. Vielleicht-“
Hitze und Dunkelheit ließen meine Außenwelt erneut verschwimmen. Erst nach einer längeren Zeit wurde der Druck auf meinen Ohren wieder geringer.
„Ich frage mich, warum die Palinas sie jagen. Der Wurfstern gehört eindeutig ihnen…..“
„Das wäre zumindest eine Erklärung, warum sie nicht ins Krankenhaus wollte.“ Das Mädchen.
„Hast du das Mal auf ihrem Schlüsselbein gesehen. Irgendwo habe ich einmal etwas davon gelesen, dass es ein Zeichen der Lilienkrieger sein soll. Sie waren die Soldaten von König Borkil und Königin Freia im Osten von Russland. Ich frage mich, ob das Mädchen etwas mit ihnen zu tun hat…“ Der Mann.
In mir stieg langsam Panik auf. Sie schienen sogar schon zu wissen, wer ich war. Ich musste dringend von hier weg, ehe sie mein Geheimnis lüfteten. Immerhin waren die Palinas vermutlich wegen meiner Herkunft hinter mir her.
„Ich glaube, sie wacht auf.“ Die Panik hatte meinen Atem schneller werden lassen und somit ihre Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Schwermütig schlug ich die Augen auf und versuchte wegzurutschen. Erst da fiel mir auf, dass ich in einem Bett lag. Wann hatten sie mich umgelagert? Es musste irgendwann während meines Fieberschlafes gewesen sein.
„Schht. Ganz ruhig!“, versuchte der Mann mich zu beruhigen, als er die steigende Panik in meinen Augen erkannte. Doch ich dachte gar nicht daran, ruhig zu bleiben. Obwohl mein ganzer Körper vor Schmerzen aufzuschreien schien, rutschte ich so nahe wie möglich an die Wand, die Decke, die über meinen fast nackten Körper gelegt war, mit mir ziehend. Seit wann war ich denn nackt? Sie schienen mich bis auf die Unterwäsche ausgezogen zu haben, vermutlich, da meine Sachen nass gewesen waren. Kurz war ich ihnen dankbar, bis mir einfiel, dass sie deswegen auf mein Muttermal aufmerksam geworden waren, dass ich schon, seit ich denken konnte, mit mir trug. Das Blütenblatt der Lilienkrieger, erklärte mir mein Unterbewusstsein und wies somit auf das Gespräch zwischen den Beiden hin, während ich sie skeptisch musterte.
„Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wir haben dich aus dem Kanal gerettet, wo du beinahe ertrunken warst. Außerdem hattest du am ganzen Körper schlimme Verletzungen und bis gestern Nacht hohes Fieber. Wir haben uns um dich gekümmert. Du kannst uns vertrauen.“
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich am ganzen Körper zitterte. Ich hatte keine Kraft zu fliehen und ich war mir sicher, dass bei meiner ruckartigen Bewegung einige Nähte an meiner Seite aufgerissen worden waren. Offenbar hatten die Beiden mir meine Wunden genäht. Kurz war ich dankbar, doch die Angst blieb. Nun sprach auch das Mädchen, das mit einer Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit in der Tür stand.
„Er hat Recht. Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Ich bin übrigens Selina und dass ist mein Vater Nathan. Wie heißt du?“
Immerhin hatte ich jetzt schon einmal zwei Namen, mit denen ich sie ansprechen konnte. Ich betrachtete sie näher, konnte zwischen den Beiden jedoch keine Ähnlichkeiten ausmachen. Entweder log sie mich an oder sie wusste es nicht besser. Skeptisch betrachtete ich sie, ehe ich mich dazu entschied, zumindest meinen ersten Vornamen zu verraten. Immerhin hieß das Mädchen laut meinen Erinnerungen wirklich Selina.
„Eveline.“ Meine Stimme klang schon um einiges besser, als noch am Fluss, selbst wenn ich noch immer heiser war. Das Mädchen nickte zufrieden, während die Gedanken in meinem Kopf wild umherflogen. War es ein Fehler meinen Namen zu verraten? Die Palinas suchten mich sicher schon. Ob sie meinen ganzen Namen kannten? Konnte ich den Beiden vor mir überhaupt trauen?
„Okay, Lynn. Ich darf dich doch Lynn nennen, oder?“ Ein zaghaftes Nicken meinerseits. Lynn hatten mich nur wenige bislang genannt. Eigentlich immer Ev, Evi oder eben Eveline.
„Kannst du uns sagen, was genau passiert ist und wer dir das mit dem Wurfstern angetan hat?“
Wieder musterte ich sie skeptisch, schüttelte dann jedoch den Kopf. Nein, soweit vertraute ich ihnen dann doch noch nicht.
„Du vertraust uns nicht, oder?“ Keinerlei Anklage lag in seiner Feststellung, lediglich ein wenig Traurigkeit.
Leicht beschämt schüttelte ich wieder den Kopf und fixierte das Ende des Bettes, nur um ihnen nicht in die Augen sehen zu müssen.
Der Mann seufzte. „Schon gut!“
Ich hörte, wie das Mädchen mit den Vogelaugen näher kam, sah jedoch nicht auf.
„Hier, trink.“
Sie hielt mir die Tasse hin.
„Was ist das?“ Ich zwang mich aufzusehen und ihr mit zitternden Händen die Tasse abzunehmen, bemüht, sie nicht zu berühren.
„Holundertee. Achtung, er ist noch etwas heiß.“
Ich nahm die Tasse, starrte sie aber immer noch darüber hinweg an.
„Kein Sorge, er ist nicht vergiftet.“, scherzte sie, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen, die noch immer in einem klaren Gold mich fixierten.
„Was ist mit deinen Augen?“, fragte ich. Ich konnte meine Neugier nicht länger zurückhalten, die nun über die Angst hinwegsetzte. Wenn sie mir etwas hätten tun wollen, hätten sie es sicher längst getan. Immerhin war ich einige Tage lang ziemlich wehrlos, wenn nicht sogar dem Tode nahe gewesen.
„Was soll mit ihnen sein?“, fragte mich nun auch das Mädchen skeptisch.
Ich zuckte angesichts ihres Tonfalls zusammen. War es ein Fehler gewesen, meiner Neugier freien Lauf zu lassen? Offenbar hatte ich sie verärgert. Ängstlich drückte ich mich wieder an die Wand, bemüht mir den Tee nicht über den Körper zu schütten. Ihre Augen blitzten verärgert, dann verwirrt.
„Sie sind so….“ Ich suchte nach dem richtigen Wort. Meine Stimme war leise, denn ich fürchtete ihre Reaktion. „Besonders…..Faszinierend…“ Ich brach ab, da ich keine Worte dafür fand.
„Du kannst sie sehen?“, fragte das Mädchen. Nun schien sie merklich verwundert zu sein.
„Also bist du tatsächlich ein Arsanimali?!“, stellte Nathan fest und ich zuckte wieder zusammen. Mist, warum hatte ich meine Neugier nicht zurückgehalten. Mir hätte doch auffallen müssen, dass solche goldenen Vogelaugen nicht normal sein können und deswegen auch nicht von den Homini gesehen werden können.
„Was bist du?“, fragte mich Selina. Doch ich schüttelte nur ängstlich den Kopf und erinnerte mich an die Worte von Frau Ziemann. Niemand darf wissen, dass es noch Aquaeri gibt.
„Wovor hast du Angst, Lynn?“, fragte mich der Mann. Ich nahm einen Schluck von meinem Tee, um den Beiden nicht antworten zu müssen und verbrannte mir prompt die Zunge.
Mein Gesicht färbte sich rötlich, während ich Husten musste. Schnell nahm mir das Mädchen wieder die Tasse aus der Hand, ehe ich sie über die Bettdecke vergoss. Erst langsam beruhigte ich mich wieder und sah nun deutlich Besorgnis in den Augen der Beiden.
„Alles in Ordnung!“, versicherte ich Beiden.
„Ich kann darüber nicht reden.“, wimmelte ich sie schließlich ab, in der Hoffnung nicht unhöflich zu erscheinen.
„In Ordnung.“ Nathan schien eindeutig enttäuscht zu sein, dass sah ich ihm an. Doch er drängte mich nicht weiter zu reden, wofür ich ihm echt dankbar war. „Du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du bereit bist zu reden!“
Ich nickte und ließ mir von Selina wieder den Tee geben. Dieses Mal nippte ich wesentlich vorsichtiger an ihm und spürte, wie das Fieber, das offenbar wieder steigen wollen, zurückging. Das schien ein echter Wundertee zu sein. Vielleicht sollte ich mir einmal das Rezept dafür geben lassen.
„Eine Frage habe ich noch an dich, dann lasse ich dich erst einmal in Ruhe. Obwohl eigentlich zwei.“ Nathan drehte sich an der Tür noch einmal zu mir herum.
„Vermisst dich irgendwer?“ Ich überlegte kurz und schüttelte dann mit einem Kloß im Hals den Kopf. Wahrscheinlich war es besser, wenn ich erst einmal weg vom Waisenhaus blieb, selbst wenn ich gerne gewusst hätte, was mit Markus und Frau Ziehmann war.
„Nun noch zu deinem Fundort. Ich nehme an, du hast versucht zu fliehen und bist dann entweder ins Wasser gefallen oder hast die Flucht über das Wasser versucht, um deine Spuren zu verwischen.“ Das war eine Feststellung, keine Frage, dennoch nickte ich leicht.
„Du bist vor Palinas geflohen, oder? Der Wurfstern sieht ganz nach ihnen aus.“
Ich überlegte kurz, dann nickte ich und zögerte, stellte meine Frage jedoch. „Werdet ihr mich verraten?“
Sowohl Selina als auch Nathan schüttelten energisch den Kopf. „Nein, wir sind selber seit Jahren auf der Flucht. Sollte sich je ein Palinas hierher wagen, werden wir ihn umbringen. Wie gesagt, du bist hier in Sicherheit.“ Ich nickte wieder, dieses Mal mit einem sehr dankbaren Ausdruck im Gesicht.
„Danke!“ Meine Antwort war kaum zu vernehmen, doch der Mann lächelte freundlich und das Mädchen nahm mir ebenfalls lächelnd die Tasse aus der Hand, damit ich mich wieder hinlegen konnte. Ich hatte gar nicht wirklich mitbekommen, dass ich sie bereits geleert hatte. Ich spürte die Wärme in meinem Magen und dazu noch ein Gefühl, dass ich noch nicht ganz einordnen konnte. Es mochte sein, dass ich mich im Waisenhaus ganz wohl gefühlt hatte, doch zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ich wäre Zuhause. Zumindest schien ich jetzt eine Art Familie zu haben, die mich mit ihrem Leben beschützen würde, egal, was passiert war oder woher ich kam. Fast schon war ich mir sicher, dass ich ihnen blind vertrauen konnte, doch für mein Geheimnis, war ich noch nicht bereit. Weder für das meiner Herkunft, noch das meiner Gestalt.
Kapitel 5
Bereits einige Tage verbrachte ich nun schon bei meiner neuen Familie. Seit meinem Erwachen hatten sie mich nun schon nicht mehr gedrängt, irgendwelche Fragen zu beantworten und bis auf die Geheimnisse, die ich noch vor ihnen hatte, verstanden wir uns richtig gut. Meine Tage waren ziemlich ausgeglichen gewesen. Entweder hatte ich sie mit Teetrinken und seit zwei Tagen auch mit Essen im Bett verbracht, hatte gelesen oder mich mit meiner Gastfamilie unterhalten. Inzwischen wusste ich, dass Selina nicht die leibliche Tochter war, sondern Nathan eher so etwas wie ein Beschützer von Selina war, die, wie ich mitbekommen hatte, ebenfalls zu den Vogelwandlern gehörte. Ihre zweite Gestalt war die eines Wanderfalken. Faszinierend hatte ich vom Fenster aus beobachtete, wie sie sich in die Luft erhob, um auf die Jagd zu gehen und anschließend mit einer Haselmaus zurückgekehrt war. Heute war der erst Tag, an dem ich das Bett für mehr als einen Toilettengang verlassen durfte und ich freute mich richtig, endlich mich wieder bewegen zu können. Da Selina gerade auf der Jagd war und Nathan dabei war, etwas zu kochen, war ich im Zimmer allein. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und ignorierte das schon fast vertraute Ziehen an meiner Seite. Barfuß tapste ich zu der kleinen Schüssel mit Wasser, die noch in meinem Zimmer stand, damit sie die Tücher gegen mein Fieber immer wieder befeuchten konnten. Nachdenklich betrachtete ich mich auf der Wasseroberfläche. Meine Augen schienen noch blauer zu sein als sonst. Einem plötzlichen Impuls nachkommend, ließ ich meine Hand ins Wasser gleiten und der Funken in meinem Inneren frohlockte wie immer auf, wenn ich mit Wasser in Berührung kam. Ich spürte, wie Aquaeri wieder ausbrechen wollte, doch ich hielt sie zurück und ließ stattdessen instinktiv das Wasser meinen Arm emporgleiten. Die Nässe durchweichte das Nachthemd, das ich mir von Selina ausgeliehen hatte, um nicht komplett nackt im Bett zu liegen. Fasziniert ließ ich es weiterrinnen, gespannt, wohin es wollte. Erst als es meine verletzte Seite erreichte, hörte ich erschrocken auf und riss das Nachthemd hoch. Der Verband deckte nicht sämtliche Kratzer ab und so konnte ich sehen, wie das Wasser einen schwärzlichen Ton annahm und meine Kratzer wie durch ein Wunder verschwanden. Lediglich ein Kribbeln deutete auf den Heilprozess hin, ehe nach wenigen Sekunden der Spuk vorbei war und mich neue leicht hellere Haut anstarrte, wo Sekunden vorher nur ein schwerer Kratzer gewesen war. Aufgeregt atmete ich schneller und konzentrierte mich wieder enger auf den Funken in mir. Mir entwich ein leises Stöhnen, als das Wasser auf die schwere Wunde, die mir der Wurfstern zugefügt hatte, traf. Doch ich ließ das Wasser weiterdurch die Verbände dringen und wieder spürte ich das Kribbeln. Der Schmerz wurde kleiner, bis schließlich nur noch ein Pulsieren unter der Haut an die schwere Blutung erinnerte. Durch einen plötzlichen Kraftverlust, schwankte ich leicht und entzog dem Funken rasch meine Energie. Ich war mir sicher, dass die Wunde noch nicht komplett verheilt war, doch sie sah inzwischen so aus, als wäre sie bereits Wochen alt und der Schorf war durch neue Haut ersetzt worden. Vorsichtig hatte ich den Verband abgewickelt und starrte nun auf die geheilte Haut. Dass ich eine Affinität zu Wasser hatte, hatte ich ja bereits vermutete, doch dass ich mich damit auch komplett heilen konnte, war mir neu, selbst, wenn ich mir bereits in der Dusche im Waisenhaus einige Wunden hatte verschorfen können. Dennoch freute mich diese Erkenntnis. Ich wusste nur noch nicht, wie ich das den Beiden anderen erklären sollte. Ob es einen Begriff dafür gab? Ich betrachtete noch einmal die gezackte Narbe, die nun auf meiner Haut prangte, zog mir rasch ein rotes T-Shirt, Turnschuh, Socken und Jeans mit Gürtel an und verließ dann den Raum, als ein köstlicher Geruch nach Essen in meine Nase fuhr. Meine Seite stach noch ein wenig, doch ansonsten ging es mir wesentlich besser. Nur meine Lunge schmerzte noch etwas und offenbar hatte ich mir auch mindestens eine Rippe angebrochen, doch vielleicht würde ich sie heilen können, wenn ich wieder etwas mehr bei Kräften war. Nathan schaute auf, als in die Küche betrat.
„Meine Güte, Lynn. Sag doch was, dann hätte ich dir die Treppe heruntergeholfen!“
„Mir geht es gut, Nathan. Keine Angst.“ Ich lächelte freundlich. Nathan schien nicht überzeugt zu sein, sondern half mir gleich auf einen Stuhl.
„Kannst du mir ein Glas Wasser bringen?“, fragte ich ihn.
Der Mann nickte und eilte rasch in die Küche, um mir ein Glas mit Wasser zu holen. Lächelnd sah ich ihm zu. Es war einfach zu süß, wie viel Mühe er sich gab und wie er sich um mich sorgte.
Langsam ließ ich die Flüssigkeit durch meinen Hals rinnen und konzentrierte mich auf den Funken in meinem Inneren, um meinen Rachen ebenfalls mit dem Wasser zu heilen. Ein Kribbeln kündigte von meinem Erfolg. Erst dann öffnete ich wieder lächelnd die Augen und blickte in die besorgten, graugrünen Pupillen von Nathan. Ich überlegte, wie mein Verhalten auf ihn wirken musste.
„Mach dir keine Sorgen Es geht mir schon viel besser!“ Ich war erstaunt, wie fest meine Stimme klang, jetzt wo mein Rachen abgeschwollen war. Nur noch eine leichte Erschöpfung kündete von der Kraft, die mir meine Heilung gekostet hatte.
Erstaunt sah mich Nathan an. „Du hörst dich auch schon viel besser an. Und deine Stimme klingt wie die eines Engels.“
Ich wurde rot, bis mir einfiel, dass Frau Ziehmann etwas von Engelsblut erzählt hatte. Das Engelsblut von Gabriel, dem Beschützer meines Volkes.
>Hallo, meine Tochter. Ich bin wirklich froh, dass du den Engelsteil in dir endlich akzeptiert hast. Erst jetzt darf ich mir dir zeigen. Mein Name ist Gabriel. Ich bin einer der Erzengel und da du so etwas wie eine Tochter von mir bist, wache ich seit jeher über dein Leben. Ich bin ein Teil von dir und daher besitzt du ebenfalls die Engelsflügel, wenn du es willst. Was weißt du alles über deine Herkunft?<, ertönte plötzlich eine männliche, angenehme Stimme in meinem Kopf. Nachdem ich den anfänglichen Schreck überwunden hatte, wurde mir eines klar: Ich bin ein Engel. Wie als Bestätigung davon, spürte ich plötzlich einen Druck in meinen Schultern und wusste, dass sich einige Flügel herausbohren wollten. Ich warf einen Blick zu Nathan und überlegte, ob ich ihm vertrauen konnte und meine Flügel betrachten konnte.
>Du kannst ihm vertrauen. Aber ob du ihm jetzt schon deine Flügel zeigst, musst du entscheiden.<, antwortete mir Gabriel auf meinen Gedankengang. Mein Engelsvater konnte also meine Gedanken lesen. Kurz überlegte ich, ob mich das störte, entschied diese Frage jedoch auf später zu verschieben, ebenso, wie die Offenbarung meiner Gestalt. Noch war ich nicht bereit für Erklärungen.
>Wie du meinst.<, stellte Gabriel neutral fest.
>Laut meiner Heimleitung bin ich die Tochter von Königin Freia und König Börkil von den Lilienkriegern. Weißt du etwas mehr darüber?<, beschloss ich mich dem Erzengel anzuvertrauen. Keine Sekunde zögerte ich daran, dass er die Wahrheit sagte, egal, wie verrückt das klang.
>Sie hat Recht. Du bist die erstgeborene Tochter von König Borkil. Du hast, wie sie dir erzählt hat, den Anspruch auf dem Thron, wenn du willst. Ich bin mir sicher, dass deine Schwester Elisabeth das genauso sieht.<
Geschockt starrte ich die Wand vor mir an. >Ich habe eine Schwester?<
>Ja, wusstest du das nicht? Sie heißt mit vollem Namen Carrie Elisabeth Crown, lebt in Russland und ist die Schutzbefohlene meines Bruders Michael, denn sie trägt sein Blut in sich.< Er schien über diese Tatsache nicht so erfreut zu sein, doch ich hatte immer noch an der Tatsache zu nagen, dass ich tatsächlich eine Schwester hatte. Eine Tatsache, die zwar Frau Ziehmann bereits erwähnt hatte, doch ich bislang noch nicht wirklich realisiert hatte. Ein Schnipsen vor meiner Nase holte mich in die Wirklichkeit zurück.
„Lynn, alles in Ordnung? Du bist so blass.“ Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, immer noch tief in Gedanken versunken. Erst nach einem mehrfachen Blinzeln gelang es mir, die Gestalt vor mir genauer zu erkennen: Nathan. Auch Selina war inzwischen wieder heimgekehrt, war bei meinem Anblick jedoch im Türrahmen erstarrt. Wann war Selina wohl wiedergekommen? Ich hatte die Tür gar nicht gehört. Offenbar war ich tiefer in Gedanken gewesen, als gedacht.
„Es tut mir Leid. Ich war in Gedanken versunken.“, versuchte ich ihn zu beruhigen und übermittelte Gabriel gleichzeitig ein >Können wir später weiter reden. Ich brauche erst einmal Zeit zum Nachdenken.< Von dem Erzengel bekam ich Verständnis entgegengebracht, doch von Nathan eher weniger.
„Du warst fast fünf Minuten in einer Art Schockstarre. Das müssen ja ganz schon schwerwiegende Gedanken gewesen sein, dass sie dich derartig beschäftigen.“ Ich nickte nur, obwohl ich mir bewusst war, dass Nathan mehr erwartet hatte.
„Seit wann bist du eigentlich wieder da?“, fragte ich Selina nachdenklich. Auch sie schien von meiner Stimme fasziniert zu sein, obwohl sie nicht genau wusste, was sie davon halten sollte, dass ich plötzlich so gut reden konnte.
„Seit knapp drei Minuten. Du hast mich also nicht kommen hören!“ Ich schüttelte den Kopf.
„Es tut mir leid, Sel.“ Sie hatte mich darum gebeten gehabt, dass ich ihr einen Spitznamen gebe, da sie mich auch bei meinem Spitznamen nennen durften.
„Ach, schon gut!“, winkte sie meine Entschuldigung ab. Ich wusste, dass ich ziemlich undankbar war, dass ich ihnen nicht vertraute, immerhin beschützten sie mich und waren so etwas wie meine neue Familie.
„Ich bin ein anstrengender und undankbarer Zeitgenosse, oder?“ Ich kaute an meiner Unterlippe herum.
Nathan seufzte. „Na ja. Es wäre manchmal schon schön, wenn du uns wenigstens etwas vertrauen könntest.“ Ich nickte, holte tief Luft und beschloss schließlich die Wahrheit zu erzählen. Immerhin hatten sie mir in den letzten Tagen oft genug bewiesen, dass ich ihnen vertrauen konnte.
„Verzeiht mir bitte meine Zurückhaltung, aber mir wurde von klein auf zu verstehen gegeben, niemanden zu vertrauen. Dennoch seit ihr so etwas wie eine Familie für mich geworden. Daher will ich euch nun zumindest ein Teil meiner Geschichte anvertrauen. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Schon früh ist mir klar gewesen, dass ich anders war, als die Anderen. Doch erst, als ich baden war, ist meine zweite Gestalt erwacht. Die nächsten Jahre musste ich sie vor meinen Mitmenschen verbergen und konnte bis auf wenigen Personen niemandem vertrauen. Aber erst vor wenigen Tagen, einen Abend vor meinem achtzehnten Geburtstag hat mir die Heimleiterin, die Einzige, die von meinem Geheimnis wusste, erklärt, was ich wäre und dass das niemand erfahren dürfte. Doch ich vertraue euch voll und ganz. Ich bin ein Aquaeri, eine Wassernymphe.“ Ich hörte, wie Selina scharf die Luft einzog, doch mein Blick ruhte weiter auf Nathan.
„Wenige Stunden später hörte ich durch Zufall, wie ein paar Männer, vermutlich Palinas, die Direktorin in ihrem Büro bedrohten, konnte jedoch fliehen, als sie mich bemerkten. Leider habe ich meinen besten Freund Markus auf dieser Flucht verloren und wurde schließlich, ehe ich das rettende Wasser erreichen konnte, von dem Wurfstern getroffen.“ Ich spürte, wie eine Träne aus meinen Augenwinkeln kroch.
„Stundenlang schlug ich mich durch das Wasser, bis ich mich schließlich zurückverwandelte, da ich keine Kraft mehr hatte. Dabei habe ich so viel Wasser geschluckt, dass ich beinahe ertrunken wäre. Zum Glück habt ihr mich gerettet. Ich habe alles verloren, was ich je gehabt habe.“
Erst als mich Nathan in die Arme schloss, bemerkte ich, dass ich weinte.
„Also jagen dich die Palinas, weil du ein Aquaeri bist.“, fragte mich Selina, die sich inzwischen zu uns gesellt hatte. Ich nickte nur, noch nicht im Stande dazu, meine Herkunft ganz zu offenbaren.
„Da ist noch mehr, oder?“, fragte mich Nathan, der mich intensiv beobachtet hatte.
Ich nickte wieder. „Aber ich bin noch nicht soweit, es euch zu erzählen. Außerdem bin ich mir diesbezüglich noch nicht ganz sicher.“, bat ich sie leise.
Beide nickten verständnisvoll. „Ich kenne Aquaeri nur aus den alten Legenden. Soweit ich weiß, bist du die Einzige, die es noch gibt.“ Ich nickte.
„Das hat mir Frau Ziehmann, unsere Heimleitung auch gesagt. Aber ich bin ein Untier, oder? Ich meine, ich sollte vermutlich nicht existieren…“ Meine Stimme verlor sich, während neue Tränen aus meinen Augen drangen.
„Wieso denn nicht?!“, empörte sich Selina. „Nur weil du etwas Besonderes bist, heißt das noch lange nicht, dass du jemand Schlechtes bist.“
„Aber wegen mir ist Markus gestorben und vermutlich auch unsere Heimleiterin.“, klagte ich und endlich brachen die ganzen Schuldgefühle aus mir heraus. Es tat so gut, dass alles endlich jemanden anvertrauen zu können.
„Die Palinas sind einfach nur Monster. Jedes Wesen hat das Recht zu leben.“, knurrte Nathan verärgert. Ich erschrak. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt.
„Woher wusste deine Direktorin eigentlich von uns? Ich meine normalerweise wissen die Homini nichts von uns Arsanimali, oder?“ Sie warf einen besorgten Blick zu Nathan. Offenbar erschreckte sein Verhalten sie genauso wie mich.
„Sie war ebenfalls ein Arsanimali. Ein Vogelwandler wie du. Ein Käuzchen, um genau zu sein.“
„Und niemand hat etwas davon bemerkt?“, fragte Nathan. Ich schüttelte den Kopf.
„Nicht, dass ich wüsste.“ Nachdenklich schauten sich die Beiden an.
„Wisst ihr mehr über die Aquaeri?“, wollte ich neugierig wissen.
Nathan neigte leicht den Kopf. Ich deutet das als Ja.
„Wisst ihr, ob sie mithilfe von Wasser heilen können?“ Ich hatte beschlossen sämtliche Vorsicht beiseite zu räumen, denn ich wollte die Wahrheit wissen. Sofort fühlte ich den stechenden Blick des Mannes auf mir ruhen.
„Aquaeri bedeutet übersetzt so etwas wie: Jemand, der im Wasser atmen kann. Davon, dass sie mithilfe von Wasser heilen können, habe ich noch nie etwas gehört. Wieso fragst du?“ Seine Stimme klang schon beinahe gefährlich, doch ich hatte beschlossen, ihnen zu vertrauen. Ihn nicht aus den Augen lassend, zog ich das T-Shirt hoch und entblößte die gezackte Narbe an meiner Seite.
„Das ist heute Morgen bei einem Experiment von mir mit der Wasserschüssel herausgekommen!“ Selina schnappte nach Luft, während Nathan ehrfürchtig über die neue, rosige Haut strich. Ich zuckte zusammen.
„Es ist noch nicht ganz verheilt“, stellte ich entschuldigend klar, als der Mann vor mir erschrocken die Hand zurückzog.
„Das ist absolut unmöglich!“, hauchte er, immer noch fassungslos. „Die Einzigen, die das Wasser nach Lust und Laune formen können und mit ihnen heilen können, sind die Wasserbändiger. Aber die gab es seit Jahrhunderten nicht mehr. Sie sind genauso selten wie Aquaeri, wenn nicht sogar noch seltener. Eine Legende, die es seit mehreren hundert Jahren soweit ich weiß nicht mehr gegeben hat.“ Noch immer erstaunt, verstummte er.
Ich war also ein Aquaeri, ein Wasserbändiger, ein halber Engel und auch noch eine Königstochter. Dieser Tag hatte ganz schon viele Überraschungen für mich.
>Faszinierend.<, hörte ich Gabriels Stimme in meinem Kopf. >Du bist also das genaue Gegenteil von deiner Schwester. Sie ist eine Feuerbändigerin.<
>Heißt das, sie kann das Feuer je nach Laune formen?< Ein zustimmendes Gefühl machte sich in mir breit, bevor sich Gabriel erneut zurückzog. Offenbar wollte er seinem Bruder Michael von mir berichten.
„Zeigst du es mir?“, unterbrach Selina aufgeregt meine Gedanken. Sie hatte eine Schüssel mit Wasser geholt und hoffte nun wohl eine kleine Showeinlage von mir zu sehen. Mmh, wie ging das noch gleich heute Morgen? Ach ja. Ich konzentrierte mich auf den Funken in meinem Inneren und stellte mir vor, dass das Wasser aus der Schüssel aufsteigen und eine kleine Wolke bilden würde. Erst als ich ein „Verdammt, Lynn!“ hörte, riss ich die Augen auf und konnte sehen, wie es auf den Wohnzimmertisch regnete. Die kleine Wolke aus der Schüssel hatte sich schon beinahe wieder aufgelöst, doch ich war zu fasziniert von meinem Werk.
„Stellt sofort den Regen wieder ab, sonst werden die Möbel ganz nass!“, rief der Mann neben mir empört aus. Ich kicherte, konzentrierte mich dann jedoch wieder auf den Funken in mir. Jeden einzelnen Wassertropfen schien ich sehen zu können. Ich stellte mir vor, wie sich alle wieder zurückzogen und in die Schüssel fallen würden. Sofort war der Spuk vorbei und ich lehnte mich erschöpft zurück. Die kleine Zauberei hatte mir mehr Kraft gekostet, als ich geahnt hatte. Ungläubig wischte Nathan über den Tisch, der genauso trocken war, wie vor meiner Zauberei und sah erst die Wasserschale und dann mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich kicherte, während Selina in die Hände klatschte.
„Wahnsinn!“, stieß sie aufgeregt hervor. Ich nickte nur erschöpft, fühlte mich jedoch verdammt gut.
„Wie lange hast du schon diese Affinität mit dem Wasser?“, fragte mich Nathan neugierig.
„Mit zehn habe ich schon einmal ein Rohr explodieren lassen.“, erinnerte ich mich. „Aber bis heute Morgen habe ich nichts davon gewusst, dass ich das Wasser lenken und mit ihm heilen kann.“
Der Mann neben mir nickte. „Ja, ich glaube, das erste Zeichen ist generell mit zehn zu beobachten.
>Das stimmt!<, schaltete sich Gabriel wieder ein. Er schien seinen Bruder genug in Kenntnis gesetzt zu haben. Vielleicht war er aber auch von der Darstellung meiner neuen Kräfte wieder zurückgeholt worden. Ich nickte verstehend.
>Also hat es sich bei meiner Schwester auch das erste Mal mit zehn deutlich gezeigt?<, fragte ich ihn neugierig.
Er schien zu überlegen. >Zumindest wurde sie da zum ersten Mal von den Palinas besucht.<
Ich erschrak. War meine Schwester noch am Leben?
>Ja, sie lebt. Sogar inzwischen als bewusster Teil der Arsanimali-Welt. Raphael ruft. Kommst du einen Moment ohne mich zurecht, meine Kleine?< Wieder nickte ich.
>Geh ruhig, Gabriel. Ehe du Ärger bekommst!<
Der Erzengel lachte und zog sich mit einem >Hübsche Vorstellung übrigens. Aber weißt du, dass du echt verrückt bist?<, zurück. Ich grummelte innerlich, konnte mir ein Lächeln jedoch nicht verkneifen.
„An was denkst du, Lynn?“, fragte mich Selina neugierig, der mein Lächeln nicht verborgen geblieben war.
„Nur an ein paar verrückte Engel!“, antwortete ich gedankenverloren, ehe mich ein „Häh?“ in die Wirklichkeit zurückriss. Sofort schoss mir die Röte in die Wangen. Mist. Hatte ich das jetzt laut gesagt.
„Nicht so wichtig!“, wimmelte ich ab und wurde noch röter.
„Was hat das Mal auf deinem Schlüsselbein zu bedeuten. Soweit ich weiß, ist es das Zeichen des Erzengels Gabriel und seiner Gefolgschaft, König Borkil und den Lilienkriegern.“ Mein Lächeln verblasste. Was sollte ich jetzt darauf antworten.
„Kann ich euch das später erklären? Ich bin noch nicht soweit, euch alles anzuvertrauen….“, wich ich ungeschickt seiner Frage aus.
„Bist du sicher, dass du dich nicht besser fühlst, wenn du uns alles anvertraust? Immerhin haben wir dich auch bei deiner Offenbarung deiner zweiten Gestalt nicht abgewiesen.“ Dieses Mal gelang es Nathan nicht, seine Verletzlichkeit vor mir geheim zu halten.
Ich biss mir auf die Lippe, seufzte dann aber.
>Gabriel, kann ich den Beiden meine Engelsflügel zeigen?<, fragte ich den Erzengel gedanklich.
>Das musst du für dich entscheiden. Du findest sie in dir drin, direkt neben dem Funken für die Wasserbändigung.<, ließ er kurz verlauten und zog sich wieder vollständig zurück. Gedankenverloren nickte ich, suchte neben dem Funken in mir und spürte erneut das Kribbeln zwischen meinen Schultern.
>Bitte zeigt euch!<, flehte ich in Gedanken. Anhand des Keuchens meiner beiden Mitmenschen wusste ich, dass meine Schwingen wuchsen. Doch erst, als ich das Kribbeln nicht mehr spürte, schaute ich nach hinten und sah zwei wunderschöne Flügel knapp hinter meinen Schulterblättern herausragen. Weiße Federn bedeckten jeden Zentimeter. Als ich an mir heruntersah, konnte ich eine silberne Rüstung sehen. Ich war wie ein Friedensengel auf Rachezug. Feine, goldene Adern zogen sich wie ein Muster durch die weiße Pracht und machten die Flügel noch schöner. An den Spitzen verlief das Weiß in einem Hellblau und schließlich nahmen sie außen die Farbe meiner Augen an.
„Wow!“, hauchte Selina und ich konnte ihr im Stillen nur zustimmen. Ungläubig fuhren meine Fingern über die Federn und ein Kribbeln durchfuhr meinen ganzen Körper, doch es war keine Illusion. Alles war wahr.
„Ich trage einen Tropfen von Erzengel Gabriels Blut in mir. Deswegen habe ich sein Zeichen und bin obendrein ein halber Engel. Er hat sich vorhin bei mir gemeldet, als du die Anspielung auf den Engel gemacht hast, da ich ihn zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal akzeptiert habe. Auch dieses Geheimnis hatte mir Frau Ziehmann an dem Abend vor meinem achtzehnten Geburtstag anvertraut, aber ich wollte es nicht glauben-“, offenbarte ich beiden meine Gedanken. Sie sprudelten nur so aus mir heraus, während ich immer noch ungläubig die Flügel auf meiner Rückseite bestaunte.
„Also bist du tatsächlich ein Halbengel.“, stellte Nathan verwundert fest. „Halbengel sind eine Seltenheit. Genauso wie Aquaeri und Elementarbändiger. Du bist wirklich etwas ganz Besonderes.“ Ich spürte, wie ich rot wurde.
„Ich-“, begann ich, doch in diesem Moment begann eine gelbe Lampe zu leuchten und sowohl Selina, als auch Nathan sprangen hoch.
„Sie sind hier!“ Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was seine Worte bedeuteten, während die Beiden bereits sich fertig gepackte Rucksäcke aus einem Versteck unter der Treppe geschnappt hatten und darin so viel Essen stopften, wie sie kriegen konnten.
>Schnell, wandle dich! Ihr müsst da weg. Sie kommen!<, hörte ich Gabriels Stimme in meinem Kopf. Er klang gehetzt und unter Druck gesetzt, durfte mir jedoch nicht helfen, da er keine Zustimmung der anderen Erzengel dafür hatte. Doch ich war auch nicht wehrlos. Ich konzentrierte mich auf meine Flügel und beobachtete mit Bedauern, wie sie wieder in meinem Rücken verschwanden, zusammen mit der Rüstung, bis ich wieder in T-Shirt und Jeans dastand.
„Hier!“ Nathan warf mir eine unauffällige Regenjacke zu, die mir eindeutig zu groß war. „Ziehe die Kapuze auf, damit sie dein Gesicht nicht sehen können. Deine Sachen haben wir bereits!“
Ich nickte, zog mir die Jacke über und folgte Nathan. Auf dem Weg kamen wir an der Küche vorbei und ich zog rasch ein Japanisches Messer aus dem dafür vorgesehenen Holzständer. Auch zwei andere scharfe Messer ließ ich einfach zu beiden Seiten in meinen Gürtel gleiten. Erst dann sah ich, wie Nathan hektisch winkte und sich an einem Kerzenhalter an der Wand zu schaffen machte. Im nächsten Moment schwang eine Falltür im Boden auf, der von außen komplett ganz ausgesehen hatte.
„Was zum-“, setzte ich an, doch der Mann bedeutete mir nur ruhig zu bleiben und lauschte kurz, ehe er mich hektisch durchwinkte. Eine kleine Treppe führte uns einige Meter unter die Erde.
„Was ist mit Selina?“, formte ich mit den Lippen, kaum waren wir unten angekommen. In diesem Moment schwang sich ein Schatten hinter mir die Treppen herunter und ich stolperte erschrocken zurück. Goldene Vogelaugen blitzten mich an. Offenbar hatte sie sich in einen Vogel gewandelt um ein kleines Bündel von oben zu holen. Im nächsten Moment erkannte ich meinen Rucksack. Dankbar sah ich sie an und beobachtete noch, wie Nathan an einer Spinnwebe zog, die aber offenbar als Leine für die Falltür gedacht war, die sich daraufhin mit einem leisen Knirschen schloss.
„Kommt!“, hauchte er uns zu und nachdem ich Selina meine Sachen abgenommen hatte, beeilte ich mich rasch ihm zu folgen, da er die einzige Lichtquelle, eine Fackel, die bereits in der Wand gehangen hatte, trug. Er musste sie entzündet haben, als wir auf Selina gewartet hatten. Unbewusst zählte ich die Schritte. Zweiundsiebzig den Gang herunter, fünfzehn nach Links, dann wieder eine Linkskurve und nochmal fünfzig, bis wir schließlich vor einem großen Felsen standen.
„Gib mir dein Messer!“, knurrte mir Nathan zu. Mit einem Blick zu ihm, gab ich es ihm sofort, nahm ihm die Fackel ab und sah mit Schrecken, wie er sich in die Handfläche schnitt und mit der blutbenetzten Messerspitze ein N in der Wand nachfuhr. Mit einem lauten Knirschen rollte der Felsen beiseite und wir betraten eine kleine Höhle, deren Eingang bereits auf einen großen Wald hindeutete.
„Hier!“ Nathan säuberte kurz das Japanische Messer an seiner Hose und gab mir es dann wieder, um sich einen Streifen von seinem langen T-Shirt abzureißen und die Wunde behelfsmäßig zu verbinden. Noch immer halb erschrocken darüber, was vorgefallen war und wie er sich soeben verhalten hatte, starrte ich ihn an.
„Wer bist du?“, fragte ich ungläubig.
Nathan seufzte, schien dann jedoch zu beschließen, mir die Wahrheit über sich zu erzählen. Immerhin hatte ich auch fast alle meine Geheimnisse preisgegeben. „Ich bin ein Mischwesen. Halb Vampir, halb Ignisaeri.“
„Ignisaeri?“, fragte ich verwundert.
„Ein Drachenwandler.“ Nathans Antwort war sehr knapp gehalten. Offenbar wollte er nicht viel darüber sagen.
„Ich fand Selina, als sie noch ein Küken war. Da ich nie eigene Kinder hatte, nur einen Zwillingsbruder, nahm ich sie bei mir auf. Ich habe mich seitdem ich sie kenne nicht mehr gewandelt, da ein Drache wesentlich auffälliger wäre, als ein Falke. Deswegen setzte bei mir eine verschnellerte Alterung des Äußeren ein. Eigentlich bin ich gerade einmal siebenunddreißig.“
Ich sah ihn verblüfft an.
„Alle Vogelwandler sollten Atro dienen, doch Selinas Familie hatte sich geweigert und so mussten sie den Preis dafür bezahlen. In letzter Sekunde haben sie es geschafft, ihre Tochter zu verstecken. Deswegen sind wir schon lange Zeit auf der Flucht. Und das es noch Ignisaeri auf der Welt gibt, grenzt auch an ein Wunder. Sie sind genauso selten geworden, wie die Elementarbändiger und die Aquaeri.“
>Er ist nicht der Einzige!< Gabriel zog sich nach seinem Kommentar jedoch gleich wieder zurück, ehe ich weitere Erklärungen verlangen konnte.
„Du bist nicht allein!“, rutschte es mir heraus. Nathan zog die Augenbraue hoch, doch bevor er nachfragen konnte, ließ sich Selina, die bereits draußen die Lage erkundigt hatte, neben uns nieder und verwandelte sich.
„Kommt ihr jetzt, oder was?“ Es schien ihr nicht zu gefallen, dass mir ihr Ziehvater alles über ihre Vergangenheit erzählt hatte.
„Ja. Ich-“ Ich wollte ihnen die Wahrheit über meine Herkunft verraten, wusste jedoch nicht, wie ich anfangen sollte.
Der Mann neben mir zog die Augenbraue hoch, doch ich räusperte mich nur.
„Wir sollten gehen!“ Ich sah ihm nicht in die Augen, während ich aufstand. Wieder war es mir nicht gelungen, mit der Wahrheit herauszurücken und mein schlechtes Gewissen plagte mich extrem.
„Eine Stunde von hier befindet sich eine Kleinstadt, von wo wir aus mit dem Zug fahren können. Bis dahin müssen wir laufen. Ich hoffe, du hast dich bereits genügend erholt, um diesen Marsch mitmachen zu können.“ Ich nickte nur gedankenverloren.
„Wohin fahren wir?“
„Basdorf. Das ist ein kleines Dorf in Brandenburg. Von da aus, müssen wir noch einige Stunden durch den Wald laufen, ehe wir an dem Hauptsitz von Fürst Jaiden kommen. Er kann uns zumindest für einige Tage Zuflucht gewähren und dir helfen herauszufinden, wer deine Eltern waren.“
„Ich weiß, wer meine Eltern waren. Jedenfalls glaube ich es.“, platzte es aus mir heraus. Wieder ließ Nathan seine Augenbraue nach oben steigen.
„Ich nehme an, du willst es uns noch nicht sagen?“ Die Enttäuschung in seiner Stimme war nicht zu überhören und mir stiegen unwillkürlich Tränen in die Augen, dennoch schüttelte ich leicht den Kopf.
„Nein, ich kann es noch nicht. Es tut mir Leid.“ Mein Gegenüber brummte nur und schritt in den Wald hinein. Ich musste beinahe rennen, um ihn wieder einzuholen.
„Warte, Nathan. Bitte.“ Er seufzte, verlangsamte jedoch seine Schritte. Anhand eines Luftzuges spürte ich, wie Selina an mir vorbeiflog und absichtlich mein Gesicht streifte, damit ich bemerkte, dass sie ebenfalls sauer auf mich war. Dieses Mal war es an mir einen tiefen Seufzer auszustoßen.
„Erzählst du mir bitte mehr über diesen Fürst Jaiden? Ich habe noch nie einen Fürsten getroffen und weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber zu verhalten habe.“ Unsicherheit schwang aus meiner Stimme und kurz glaubte ich einen Mundwinkel zucken zu sehen.
„Du hast keine Angst vor den Palinas, die dir sonst etwas tun könnten, fürchtest dich jedoch davor, einen Fürsten mit deinem Verhalten zu verletzten?“
„Ja!“, gab ich zu. Nathan schnaubte, ging darauf jedoch nicht weiter ein.
„In Ordnung. Fürst Jaiden ist ebenfalls ein Gestaltwandler, ein Wolf soweit ich weiß. Er ist bereits über zwanzig Jahre an der Macht, ist jedoch erst Anfang vierzig und war einer der stärksten Vertrauten von König Borkil und Königin Freia von den Lilienkriegern. Sie regierten vor nicht ganz zwanzig Jahren im Osten von Russland. Vielleicht hast du schon einmal von ihnen gehört.“
„Ja.“, sagte ich tonlos. Ob der Fürst von mir wusste? Nathan blickte bei meinem merkwürdigen Tonfall auf, doch ich konzentrierte mich nur weiter auf die Bäume vor mir.
„Ich frage mich, was aus dem König geworden ist…“, murmelte der Ignisaeri gedankenverloren neben mir.
„Ja, ich auch.“, stimmte ich ihm zu. Ob mein Vater wohl noch am Leben war? Prompt stolperte ich über die nächste Wurzel und konnte mich noch gerade so an der ausgestreckten Hand von Nathan festklammern.
„Alles in Ordnung, Lynn?“ Ich nickte nur, doch ein brennender Schmerz in meinem Knöchel strafte meine Lügen. Ich zog zischend die Luft ein, als ich einen weiteren Schritt wagte.
„So sieht das aber nicht aus! Selina!“ Sofort kam der Falke zurück. Sie schien verärgert zu sein, doch als sie sah, dass mich Nathan stützte, damit ich mich auf einen Baumstamm setzen konnte, sprach Besorgnis aus ihren Augen.
Kaum war sie verwandelt, ging die Fragerei los. „Was ist passiert? Was hast du, Lynn? Ist alles in Ordnung?“
„Ich bin gestolpert.“, murmelte ich. Schamesröte zog in mein Gesicht, während Nathan vorsichtig meine Hose hochkrempelte, um meinen Knöchel zu betrachten.
„Nur eine Luxation. Eine Überdehnung. Am besten kühlst du den Knöchel und schonst ihn so gut wie möglich.“
„Aber wir müssen doch weiter!“, protestierte ich schwach.
„Du hast Recht. Selina, ich weiß, wie gerne du fliegst, aber bleibe jetzt bitte bei uns. Ich werde Lynn tragen.“
Wieder protestierte ich. „Aber ich bin doch viel zu schwer!“
„Schon vergessen? Ich bin ein halber Vampir. Mir macht dein Gewicht nichts aus.“ Nur angehend beruhigt, ließ ich mich schließlich von ihm auf die Arme nehmen.
„Ich brauche einfach ein bisschen Wasser, dann kann ich mich selber heilen!“, startete ich noch einen Versuch.
„Spar dir lieber deine Kraft. Du brauchst sie noch früh genug und mir macht es wirklich nichts aus. Außerdem riechst du ziemlich gut in meiner Vampirnase.“
Ich spürte, wie ich rot wurde. War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
„Ein Glück, das zumindest ich ein Vegetarier bin.“, grummelte ich, leicht missgestimmt.
„Wie ist das eigentlich so, keine Wurst und kein Fleisch zu essen?“, fragte mich Selina neugierig. „Für mich als Raubvogel ist das gar nicht vorstellbar.“
„Na ja. Das Andere schmeckt mir nun einfach nicht und ich kenne es auch nicht anders. Außerdem tuen mir die Tiere leid, vor allem in der Massentierhaltung heutzutage.“
Selina nickte verständnisvoll.
„Ja, die Homini können ganz schon grausam sein. Ein Glück, dass sie nichts von unserer Existenz wissen, sonst hätten wir keine ruhige Minute mehr.“ Ich konnte ihr nur im Stillen zustimmen. Noch immer sah ich Hektor und Pascal klar vor mir, wie sie mich wegen meiner unnatürlichen Haarfarbe jagten.
„Erzähl uns doch einmal von deinem Leben im Waisenhaus, Lynn. Nun, wo wir wissen, was du bist, ergeben die Geschichten sicher mehr Sinn.“
Ich nickte und begann ergeben zu erzählen. Von meiner ersten Verwandlung in ein Aquaeri, meines Wassermalheurs, von Markus, den Verfolgungsjagten von Hektor und Pascal und schließlich von meiner Sehnsucht nach dem Waisenhaus. Erst, als Nathan stehen blieb, bemerkte ich, dass wir den Wald hinter uns gelassen hatten und nun am Rande einer Kleinstadt standen. Sofort umfingen mich Unmengen an Gerüchen, Lärm und Eindrücken. Der Gestank der vorbeirollenden Autokolonne ließ mich die Nase rümpfen und Nathan schien mit seiner besseren Nase als Drachenwandler und Vampir sogar noch mehr Probleme zu haben.
„Ich weiß genau, warum wir so abgelegen gewohnt haben. Wir halten es die Homini hier nur aus?“ Er half mir auf die Beine und stützte mich so gut es ging, als wir den Bahnhof suchten. Ich humpelte stark, doch auf seinen Armen wären wir wesentlich auffälliger gewesen. Endlich erreichten wir das Bahnhofsgebäude. Im Gegensatz zu dem Bahnhof in Eisenhüttenstadt war es vor Wind und Regen geschützt und ähnelte ziemlich dem Bahnhof in Berlin-Friedrichstraße, unserem ersten Etappenziel. Ich war noch nicht häufig mit der Bahn gefahren, doch Nathan schien genau zu wissen, wo er welche Fahrkarte kaufen musste. Da wir es zu meiner Verwunderung bereits Sonntag hatten, kauften wir uns ein schönes Wochenendticket und stiegen in einen roten Zug. Mit einem lauten Piepen, das mir noch lange in den Ohren nachhallte, schlossen sich die Türen und der Zug fuhr mit einem Poltern los.
Kapitel 6
Nach zweieinhalb Stunden, drei Mal umsteigen und glücklicherweise nur leichten Verspätungen stiegen wir endlich aus der blauen Heidekrautbahn aus. Ein schmales Schild kündigte den Ortsnamen an: Basdorf. Der Bahnhof war nur schlicht eingerichtet. Es gab zwei Sitzmöglichkeiten mit etwa vier Sitzen pro Seite, einen Fahrkartenautomat, zwei Fahrkartenentwerter und ein langer Weg, der an einer Schranke endete, um die Gegenbahn vorbeizulassen.
„Wie geht es deinem Fuß?“, fragte mich Nathan besorgt. Nachdem er nach zwei Stunden Ausruhen noch immer keine großen Fortschritte zeigte und sogar noch blau angeschwollen war, hatte er sich schließlich breitschlagen lassen, ihn mit meiner Gabe als Wasserbändiger heilen zu lassen.
„Schon viel besser. Ich kann sogar wieder alleine laufen. Vielleicht hättest du mich das schon viel früher machen lassen sollen!“, neckte ich ihn.
Der Halbvampir knurrte. Es war ein bedrohlicher Laut, doch was sollte er mir schon tun.
„He, ich bin nicht zum Anbeißen!“
„Nicht?“ Im nächsten Moment stürzte er sich auf mich, jedoch nur um mich durchzukitzeln. Kreischend rannte ich weg. Hinter mir konnte ich Selina lachen hören. Tolle Freundin. Während ich vor einem wildgewordenen Blutsauger wegrannte, lachte sie mich aus.
„He, Nathan. Man ärgert nicht kleine Mädchen. Und schon gar nicht die Tochter von König Borkil.“, ertönte eine lachende Männerstimme hinter mir. Abrupt drehte ich mich um.
„Mein Fürst. Ich wusste gar nicht, dass Ihr extra hergekommen seid, um uns abzuholen.“, hörte ich nun Nathan sagen, der den Neuankömmling ebenfalls bemerkt hatte und nun eine kleine Verbeugung andeutete. Ich starrte ihn an. Das war also Fürst Jaiden. Und er wusste ganz eindeutig, wer ich war.
„Guten Tag. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Leider hat sich Nathan erfolgreich geweigert, mich in den Gebräuchen von Ihnen einzuweisen, sodass ich hoffe, nicht respektlos zu erscheinen.“, stammelte ich und versuchte so höflich wie möglich zu sein.
Der Fürst lachte leise. Doch er lachte mich nicht aus, sondern nur über die Weigerung von Nathan.
„Ihr seht Eurer Mutter unglaublich ähnlich.“, stellte er nach einer kurzen Musterung fest. „Ihre Haare waren von einem dunklen Braun, fast schwarz. Sie hatte nahezu die gleiche Augenfarbe wie Ihr. Sie war genauso schmächtig wie Ihr. Und die Gesichtszüge habt Ihr von Eurem Vater.“ In meinen Augen schwammen Tränen.
„Er war ein unglaublich gütiger Mann. Genauso wie Eure Mutter. Sie waren das beste Königspaar, dass es jemals gegeben hatte.“
„Augenblick mal. Königspaar? Tochter?“, schaltete sich Selina ein, die sich endlich aus Ihrer Schockstarre hatte lösen können.
Ich seufzte. Nun war es wohl Zeit für die Wahrheit.
„Ich habe euch noch nicht alles von meiner Vergangenheit erzählt. Ich habe an dem Abend vor meiner Flucht auch von meiner Herkunft erfahren. Obwohl ich Frau Ziehmann am Anfang nicht glauben wollte, hat sie mich schließlich darüber aufgeklärt, wer meine Eltern sind. Mein Vater ist König Borkil, meine Mutter Königin Freia. Mein ganzer Name lautet Eveline Elara Meier.“
Wieder hörte ich, wie Selina scharf die Luft einzog.
„Es tut mir Leid, dass ich euch nicht schon früher aufgeklärt habe, aber ich hatte Angst, dass ihr mich nicht mehr leiden würdet, wenn ihr es erfahrt. Außerdem war ich mir selbst nicht so sicher, ob das, was Frau Ziehmann, die Zofe meiner Mutter mir erzählt hat, auch wirklich der Wahrheit entspricht. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen.“
Ich senkte den Kopf, nur um mich im nächsten Moment in einer stürmischen Umarmung wiederzufinden.
„Lynn, du bist für mich wie eine Schwester geworden. Glaubst du wirklich, dass wir jemanden verstoßen würden, nur weil er uns seine Herkunft verschwiegen hat? Ich bin mir sicher, dass es mein Vater genauso sieht.“ Ich lächelte zaghaft, als mich Selina anstrahlte.
„Danke, Sel. Das ist nett von dir.“
„Nun, Prinzessin Elara. Wo das geklärt ist, können wir ja endlich los.“ Er führte uns zu einem schwarzen Wagen mit getönten Scheiben, der bereits samt Chauffeur auf einem Parkplatz gegenüber einem gelben Gebäude mit Fachwerkhausmuster, das die Betitelung „Bibliothek“ führte, stand. Vielleicht würde ich während unseres Aufenthalts hier einmal die Bücherwelt darin erkunden. Schnell prägte ich mir die Öffnungszeiten ein, die auf einem Schild neben der Tür standen.
„Hoheit. Kommt Ihr?“ Ich verzog eine Grimasse in Selinas Richtung, die mich angrinste.
„Immer noch Lynn und nur Lynn, wenn ich bitten darf. Ich bin als ganz normales Mädchen groß geworden, da werde ich auch als normales Mädchen weiterleben!“, gab ich verärgert von mir.
„Ist ja gut, Lynn!“, versuchte mich Nathan zu beruhigen, doch auch er musste grinsen.
„Pff“, machte ich und ignorierte gekonnt die Hand des Fahrers, der mir ins Auto helfen wollte.
„Ach, komm schon Lynn. Wenn du uns schon deine Herkunft geheim hältst, dann musst du uns nun auch die Möglichkeit geben, darüber lachen zu können. Außerdem wissen wir gar nicht, wie wir uns jetzt dir gegenüber verhalten sollen.“
„Genau aus dem Grund habe ich nichts gesagt!“ Ich war immer noch verstimmt. „Tut einfach so, als hättet Ihr meine Herkunft nie herausbekommen!“
„Aber stell dir doch mal vor: Kleider soweit das Auge reicht, ein riesiges Bad und jeder Wunsch wird dir von den Augen abgelesen!“, schwärmte Selina.
„Sehe ich für dich aus wie jemand, der gerne Kleider trägt und sich den Hintern von irgendwelchen Leuten abwischen lässt. Nein, auf dieses Niveau begebe ich mich erst gar nicht. Da tuen mir meine Untergebenen viel zu sehr Leid. Und wenn ich ein Bad brauche, dann suche ich mir einfach irgendwo einen See. Gegen ein bisschen kaltes Wasser ist doch nichts einzuwenden!“
Fürst Jaiden gluckste. „Ganz die Eltern. Sie hatten auch nie etwas von den Standesunterschieden gehalten und wollten am liebsten alles selber machen.“
>Genauso wie deine Schwester. Sie ist inzwischen Alphatier eines Gestaltwandlerrudels und hat die Nachricht ihrer Herkunft ähnlich aufgenommen. Du bist genauso stur wie Elisabeth!<, hörte ich Gabriel in meinem Kopf lachen.
>Tatsächlich?<, fragte ich, musste aber grinsen. Wenn ich sie kennenlernen sollte, dann würde sich niemand mehr gegen uns stellen können. Denn so, wie Gabriels Beschreibung klang, würden wir uns sehr gut verstehen.
„Ich bin nicht die Einzige, die das so sieht.“, verteidigte ich mich. „Es liegt in der Familie. Sie werden niemanden in meiner Familie finden, der es anders handhaben würde.“
„Aber außer Euch gibt es doch niemanden mehr, oder?“ Der Fürst schien ziemlich erstaunt zu sein, als ich lächelte. Doch. Aber, dass würde ich den hier Anwesenden ganz bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Wisst Ihr etwas von Eurem Vater oder Eurer Schwester?“ Plötzlich schien er ziemlich aufgeregt zu sein, doch ich blickte einfach nur aus dem Fenster. Nein, von meinem Vater hatte ich nichts gehört, doch meine Schwester würde ich schützen, solange es ging. Sofern ich das richtig mitbekommen hatte, war sie jünger als ich und am liebsten würde ich sie aus allem heraushalten.
Gabriel, der kurz vorbeigeschaut hatte, schien diese Tatsache ziemlich zu verunsichern, denn er verschwand sofort wieder.
Ich runzelte irritiert die Stirn. Was hatte dieser Erzengel denn jetzt schon wieder.
„Du hast eine Schwester?“, fragte mich Selina. Ich nickte nur, da ich nicht noch mehr über sie verraten wollte.
„Weißt du, wo sie ist?“, wollte der Fürst wissen, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte darüber nicht reden.
„Nathan hat gemeint, wir könnten bei Ihnen für einige Tage Zuflucht suchen. Die Palinas hatten uns gefunden und wir mussten fliehen. Werden Sie uns diese Zuflucht gewähren? Ich brauche nicht viel, nur eine Decke und etwas Brot, dann bin ich glücklich. Aber für Selina und Nathan wäre eine Matratze gut. Immerhin haben sie sich sehr liebevoll um mich gekümmert. Ohne sie, wäre ich nicht hier…“, wechselte ich das Thema.
„Wollt Ihr mich beleidigen, Prinzessin? Für mich ist Gastfreundschaft besonders wichtig. Und selbst wenn Ihr nicht die wärt, die Ihr seid, würde ich Euch Zuflucht gewähren, wie jedem anderen auch, der Hilfe braucht. Aber ein bisschen mehr, als eine Decke und etwas Brot könnt Ihr schon noch von mir verlangen. Ich habe viel zu viele Zimmer, um sie nutzen zu können und Besuch hatte ich auch schon lange nicht mehr, also seid Ihr herzlich willkommen.“
Ich atmete erleichtert auf. Kurz hatte ich befürchtet, ihn beleidigt zu haben, doch mit dieser Antwort war ich mehr als zufrieden.
„Lynn. Wolltest du dich gerade tatsächlich für uns opfern?“, fragte Nathan ungläubig. Ich nickte entschlossen.
„Ihr habt so viel für mich getan….“, begann ich verlegen.
Selina schüttelte nur entrüstet den Kopf. „Du bist ja verrückt!“
Ich kicherte. „Das hat Gabriel auch behauptet. Aber es stimmt doch. Ohne euch wäre ich nicht mehr am Leben. Diese Schuld könnte ich niemals begleichen!“
„Gabriel?“ Fürst Jaiden sah mich neugierig an, doch ich winkte ab.
„Nicht so wichtig!“, murmelte ich.
Das Auto wackelte unter dem Waldweg, den wir nun entlangfuhren. Obwohl er gepflastert worden war, schienen die Wurzeln kein Erbarmen mit uns haben zu wollen.
Durch den Rückspiegel konnte ich sehen, wie mich der Fürst beobachtete und so starrte ich einfach aus der Fenster und sagte nichts weiter. Durch das Auto waren wir schneller als erwartet und schon tauchte eine große weiße Villa vor uns auf, die über und über mit Efeu und Ranken wilden, roten Weins überwuchsen war, die durch die weiße Farbe noch mehr leuchteten. Ich musste mich beherrschen meinen Mund zu verschließen, der sich automatisch bei dem Anblick der Villa geöffnet hatte. Ich schluckte schwer und versuchte meine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, ehe ich fragte: „Ihre Villa ist nicht gerade unauffällig zwischen den ganzen Bäumen. Wie kommt es, dass die Homini sie noch nicht gefunden haben? Oder Atro?“
Der Fürst warf mir über die Schulter ein Lächeln zu. „Die Villa ist nur für Arsanimali sichtbar, die mir wohlgesonnen sind und denen ich die offizielle Erlaubnis einer Audienz gewähre. Das ganze Grundstück ist von einem Schutzzauber umgeben, den mir einst ein befreundeter Magier gewährleistet hat.“
Ich nickte und betrachtete weiter staunend die Villa. Drinnen waren überall Fackeln aufgehängt, doch das angenehme warme Licht kam von den Kronleuchtern an der Decke, die mithilfe von Kerzen zum Leuchten gebracht wurden.
„Wie eine Reise in eine andere Zeit!“, murmelte ich und musste über meine eigene Feststellung schmunzeln. Unsere Schritte hallten laut in der großen Eingangshalle wieder, die mit rotem Samt und Parkett ausgelegt war. An den Wänden reihten sich Gemälde. Von einem Schloss und verschiedenen großen Persönlichkeiten, unter anderem meinen Eltern. Ich betrachtete das Gemälde, in dem eine wunderschöne Frau mit dunklen, fast schwarzen Haaren und ein Mann mit leicht gewellten, braunen Haaren auf mich herabblickten. Fürst Jaiden hatte Recht, sie waren mir wie aus dem Gesicht geschnitten. An der Hand hielt der Mann ein kleines, etwa dreijähriges Mädchen mit schwarzen Haaren und meeresblauen Augen. Die Königin selber hatte ein kleines Kind im Arm mit braunen Haaren und braunen Augen, die im Licht golden funkelten. Ich hatte keinerlei Zweifel, wer die beiden Kinder auf dem Bild waren. Interessiert betrachtete ich meine Schwester näher. Auch sie war sehr zart gebaut, doch in ihren Augen loderte selbst als kleines Kind bereits ein Feuer der Begeisterung, jedoch auch eine gewisse Ernsthaftigkeit. Ihre Augen hatten eine ähnliche Farbe wie die unseres Vaters, der jedoch noch dunklere, fast schwarze Augen besaß. Neben einem Überwurf mit einem weißen Lilienblütenblatt darauf, trug er ein Schwert an seiner Seite.
„Ja, das war die Königfamilie der Lilienkrieger, vor etwa fünfzehn Jahren.“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Fürst Jaiden hinter mich getreten war. Erst als er sanft eine Träne von meiner Wange wischte, spürte ich, dass ich weinte. Ich vermisste sie, obwohl ich sie nie richtig kennengelernt hatte.
„Kommt, Ihr habt doch sicher Hunger!“, ließ der Fürst verlauten und drehte sich wieder zu den anderen Beiden um, die ebenfalls mit Staunen die Halle betrachteten. Ich nickte und wandte mich schweren Herzens von dem Bild ab. Es nützte niemanden, wenn ich anhand des Anblicks meiner verlorenen Familie zerbrach. Wir folgten Fürst Jaiden den langen Gang herunter. Zwischendurch warf ich immer wieder einen Blick auf die Gemälde zu beiden Seiten des Ganges und erstarrte plötzlich. Ein drahtiger Junge mit smaragdfarbenen Augen, der schätzungsweise zwei Köpfe größer war als ich, schaute auf mich herunter. Mir entfuhr ein ungläubiges Keuchen: „Markus!“
Der Fürst drehte sich um. „Ist irgendetwas, Prinzessin?“
Ich schaute immer wieder zwischen ihm und dem Gemälde hin und her und blickte in dieselben smaragdenen Augen.
„Das Gemälde…“, stammelte ich.
Er warf mir einen neugierigen Blick und wandte sich dann verträumt dem Bild zu.
„Das ist mein Sohn Markus. Er ist achtzehn und derzeit in einem Waisenhaus untergebracht, um den Tod meiner Frau, seiner Mutter zu verarbeiten.“
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Das konnte nicht sein. Niemals! Mein bester Freund war ein Fürstensohn und ich hatte ihm den Tod gebracht. Ich sackte schluchzend in mich zusammen.
Sofort waren Nathan, Selina und der Fürst an meiner Seite.
„Was ist denn, Lynn?“
Ich schluchzte noch einmal, fühlte mich aber verantwortlich, es ihm zu sagen.
„Markus war mit mir in einem Waisenhaus untergebracht. Wir sind zusammen geflohen. Er-“ Ich holte noch einmal tief Luft. „-starb, um mir die Flucht zu ermöglichen. Ich habe selbst gesehen, wie ein Schwert der Palinas ihn durchfuhr und er zusammensackte. Es tut mir Leid.“
Kapitel 7
Lange Zeit herrschte Stille, während der Fürst betrübt in die Luft starrte und ich noch immer von den Schluchzern durchgeschüttelt wurde. Inzwischen hatte ich sogar noch einen Schluckauf bekommen, doch ich konnte nicht aufhören zu weinen.
„Dann ist er immerhin für einen guten Zweck gestorben!“, stellte der Fürst tonlos fest.
„Es tut mir so leid. Markus war mein bester Freund gewesen und es war für mich die schwerste Entscheidung gewesen, ihn einfach zurückzulassen. Ich weiß, es entschuldigt gar nichts, aber-“, schluchzte ich, brach dann aber ab, weil ich keinen Ton mehr herausbrachte. Nathan nahm mich den Arm und hielt mich fest, während der Fürst sich an der Wand festhielt, um nicht zusammenzubrechen.
„Das sind wirklich schlimme Nachrichten. Ich werde Euch von einem Diener die Zimmer zeigen und etwas Essen hochbringen lassen und werde mich selbst erst einmal zurückziehen.“ Wir nickten und der Fürst verschwand in einem Raum. Kurz glaubte ich ihn Schluchzen zu hören.
„Hast du ihn geliebt?“, fragte Selina leise und wischte mir die Tränen von dem Gesicht.
Ich nickte nur mit glasigen Augen und sie legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Komm!“ Sie zog mich sanft hoch und erst da bemerkte ich den Diener, der bereits auf uns wartete. Noch einmal starte ich betrübt auf das Gemälde, dann folgte ich den Anderen. Nur am Rande nahm ich die mit Ranken versehene Treppe und die unzähligen Gänge wahr, an denen wir entlangschritten. Immer noch flogen meine Gedanken nur um ein Thema: Markus war ein Fürstensohn. Ich habe ihn zwar nicht direkt umgebracht, aber er ist wegen mir gestorben. Ich bin ein Mörder.
„Hoheit?“ Ich schaute auf. Der Diener war vor einem großen Raum mit Doppeltüren stehengeblieben. Mit einem Blick zur Seite bemerkte ich mit Entsetzen, dass Selina und Nathan nicht mehr da waren. Wann hatten sie sich verabschiedet? Wo waren sie untergekommen? Ich hätte mir den Weg merken sollen, obwohl mein Orientierungssinn noch nie so gut funktioniert hatte.
„Das ist Euer Zimmer!“ Er stieß die Türen auf und offenbarte einen riesigen Raum mit einem riesigen Himmelbett, einem begehbaren Kleiderschrank und einem ebenso großen Badezimmer mit einer Badewanne, in der drei Leute bequem Platz hätten. Auch das himmelblau bezogene Bett hätte gut und gerne für vier Personen dienen können. Für meine Verhältnisse war das alles eindeutig zu groß. Vorsichtig schlich ich über das blankgeputzte Parkett, das mit wunderschönen Mosaikmustern verziert worden war, aus Angst etwas kaputtzumachen. Ich zwang mich wieder meinen Mund zu schließen und drehte mich um, um den Diener zu fragen, ob er auch etwas Kleineres für mich hatte, doch er war verschwunden. Offenbar hatte er sich diskret zurückgezogen, während ich dieses Zimmer betrachtet hatte. Ich schlich durch den Raum und zog die weißen Vorhänge zur Seite. Ich hatte einen wunderbaren Blick auf ein riesiges Feld an den wundersamsten Blüten, die mir alle in unterschiedlichen Farben entgegenleuchteten. Auch sie schienen nicht in das Bild des mitunter düsteren Waldes zu passen, den wir durchquert hatten.
„Wahnsinn!“, entfuhr es mir. Im nächsten Moment klapperte es hinter meinem Rücken und der Diener kam mit einem Servierwagen herein.
„Das Essen ist angerichtet, Eure Hoheit.“ Galant hob er den Deckel hoch und offenbarte ein wahres Festmahl, angefangen von Kroketten, über Bohnen bis hin zu einer Gans, bei der ich kurz das Gesicht verzog, als mir ihr Duft in die Nase fuhr.
„Ähm, konnte ich vielleicht ein anderes Zimmer bekommen?“, fragte ich den Diener, der mich ungeniert musterte.
„Was gefällt Euch an diesem nicht?“, erwiderte er und konnte sich einen Hauch von Verachtung nicht verkneifen. Sicher hätte er von seinem Herren dafür eine beachtliche Strafe bekommen, doch mir tat mein Diener nur Leid.
„Na ja. Es ist zu groß!“, murmelte ich leise und wich seinem Blick aus. Dennoch entgingen mir nicht die Augenbraue, die sich gehoben hatte und die Neugier in seinem Blick.
„Zu groß?“, Er schien seiner Verwunderung kaum Herr zu sein. Ich nickte schwach.
„Ich meine, in was für einem Zimmer sind Sie denn untergebracht. Ich kann so ein Zimmer nicht annehmen, so lange ich nicht weiß, dass jeder in diesem Haus ein anständiges und ebenso schönes Zimmer hat.“ Ich richtete mich ein wenig auf. Der Diener musterte mich noch einmal genau, doch seine Miene wurde sanfter.
„Macht Euch keine Sorgen, Hoheit. Unser Herr bezahlt uns gut und wir haben alles was wir zum Leben brauchen.“ Er hob die Hand, als ich wiedersprechen wollte.
„Ihr solltet Essen, ehe es kalt wird.“ Ich nickte, denn er entfernte sich bereits diskret und hätte meine Widerworte eh nicht geduldet. Dennoch reifte ein Plan in meinem Kopf zusammen, bei dem mir ein Lächeln auf die Lippen trat. Schließlich widmete ich mich den Kroketten und den Butterbohnen, da mein Magen bereits ungeduldig Töne von sich gab. Die Gans ließ ich, wo sie war, warf ihr nur einmal einen schweren Blick zu. Dafür hatte ein Tier sterben müssen. Während ich auf den Diener wartete, damit er die Reste abholte, betrachtete ich den begehbaren Kleiderschrank ein wenig näher. Wie zu erwarten war, waren dort unzählige, prächtige Kleider untergebracht. Ich rümpfte die Nase und suchte nach einer Hose, die ich zu meinem großen Bedauern nicht fand. Also waren wir hier tatsächlich im Mittelalter angekommen. Mit einem Seufzen zog ich schließlich ein weißes, bodenlanges und dünnes Nachthemd heraus, das an den Ärmeln und am Saum eine Goldborte vorwies.
„Hoheit?“ Der Diener war wiedergekehrt. „Ihr habt gar nicht aufgegessen, hat es Euch nicht geschmeckt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nichts gegen die Kochkünste Euer Köchin. Sie kocht wunderbar. Aber ich esse kein Fleisch und keine Wurst.“ Wieder musterte mich der Diener verwundert.
„Haben Sie schon gegessen?“, fragte ich den Diener besorgt. „Die Gans müsste sogar noch warm sein. Bitte, esst!“
Wieder lächelte der ältere Mann und offenbarte eine große Zahnlücke. „Das kann ich nicht annehmen. Eine Gans gebürtet uns Dienern nicht. Nur den hohen Herrschaften ist es gestattet, außerhalb von Weihnachten so etwas Kostbares zu essen.“
Ich grummelte. „Dann macht eben heute eine Ausnahme. Bitte, bevor das Essen verkommt. Wenn jemand fragen sollte, dann sagen Sie, dass ich es angeordnet habe.“
Der Diener zögerte, nickte dann aber, als er sah, dass ich nicht eher Ruhe geben würde, ehe sie diese Gans verspeist hatten. Außerdem sah sie wirklich schmackhaft aus.
„Habt Ihr noch einen Wunsch? Ich sehe, Ihr wollt Euch gerade für die Nacht zurechtmachen. Ich sage sofort Meggie Bescheid, damit sie Euch beim Baden und Ankleiden hilft.“
Ich schüttelte energisch den Kopf. „Auf keinen Fall. Das mache ich alleine! Meggie wird von nun an, abends und morgens frei bekommen. Zumindest, was das Versorgen von mir angeht. Ich lasse mich nicht von anderen bedienen, nur weil ich zu faul sein sollte, mich selbst zu waschen. Wenn ich Hilfe beim Ankleiden brauche, lasse ich sie rufen!“ Der Diener runzelte missbilligend die Stirn, doch in meiner Stimme schwang so viel Autorität durch, dass er schließlich nur den Kopf einzog und klein beigab.
„Wie Ihr wünscht, Herrin.“ Ich schüttelte nur den Kopf.
„Könnte ich vielleicht noch Ihren Namen erfahren, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe und wie ich Sie ansprechen darf?“
Der Diener lächelte. „Luke, Hoheit. Und Ihr dürft mich duzen, wenn Ihr wollte.“
„Gut, Luke. Du darfst mich ebenfalls duzen. Ich bin Lynn.“
„Nein, Prinzessin Elara. Das gehört sich nicht!“ Der Diener schien merklich erschrocken zu sein und schaute sich kurz um, aus Angst, jemand hätte es mitbekommen. Ich seufzte wieder.
„Wäre es dir dann wenigstens möglich, mir einige Hosen zu beschaffen, in denen man sich gut bewegen kann?“ Hoffnungsvoll sah ich ihn an, doch wieder schüttelte er nur den Kopf.
„Eine Lady gehört nicht in Hosen, Hoheit.“ Erneut grummelte ich missbilligend.
„Wenn Ihr keine weiteren Wünsche habt, Hoheit, würde ich mich gerne zurückziehen!“ Ich nickte und er zog sich mit einem „Guten Nacht, Hoheit!“, diskret zurück. Ich wartete noch, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann machte ich mich ans Werk. Erst als ich zufrieden war, zog ich mir rasch das Nachthemd an, zu müde zum Duschen und weinte mich in den Schlaf, immer an Markus denkend.
Kapitel 8
Am nächsten Tag weckte mich ein Poltern an der Tür.
„Hoheit, seid Ihr wach?“ Eine Mädchenstimme meldete sich und vorsichtig wurden die schweren Türen geöffnet, während ich mir noch einmal über die Augen rieb. Sicher sahen meine Haare aus wie der reinste Krähenschwarm, doch es schien ihr nichts auszumachen. Jedenfalls nicht so sehr, wie die Tatsache, dass ich auf dem Boden lag.
„Hoheit, um Gottes Willen, ist alles in Ordnung.“ Ich nickte und musste aufgrund ihres Gesichtsausdruckes lachen. Das Mädchen war vielleicht fünfzehn und die Schürze, die sie sich umgebunden hatte, war ihr viel zu groß, weswegen sie noch jünger erschien.
„Guten Morgen. Sie müssen Meggie sein.“
Das Mädchen nickte, immer noch erschrocken von meinem Anblick.
„Warum liegt Ihr auf dem Boden, Hoheit?“
„Das Bett ist doch viel zu groß für eine Person. Und warum sollte ich es besser haben, als Ihr. Selbst wenn ich hier nur auf einer Decke liege, ist es deutlich weicher, als wie ich es bislang gewohnt bin. Daher machen Sie sich bitte keine Sorgen.“
Das Mädchen schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf und schaute immer wieder ängstlich zur Tür, die auch prompt aufging, nachdem ich den Klopfer hereingebeten hatte. Fürst Jaiden trat ein und stoppte abrupt, als er mich sah.
„Warum liegt Ihr auf dem Boden, Prinzessin?“
„Ich bin auch nur ein Arsanimali wie Ihre Diener, Fürst Jaiden. Warum sollte ich es besser haben als sie. Außerdem ist das Bett viel zu groß für mich. Ebenso wie das Zimmer. Ich dachte, ich hätte mich im Auto klar ausgedrückt, dass ich keine Bevorteilung möchte und mich auch schon mit einer Decke zufrieden geben würde. Daher sehe ich auch nicht ein, in diesem Bett zu liegen.“
Ich verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. Erst sah mich der Fürst verwundert an, dann lachte er aus vollem Halse los. Verunsichert starrten Meggie und ich den Mann an, der sich vor Lachen beinahe nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Freudentränen rannen ihm über die Wangen und erst als sich der Diener, der durch das Lachen des Fürsten angelockt worden war, räusperte, wurde er langsam wieder ruhiger.
„Ich merke schon, Eure Anwesenheit hier wird einiges verändern, Prinzessin. Nun gut, ich sehe jetzt einfach mal darüber hinweg, dass Ihr meine Gastfreundschaft missbilligt. Obwohl ich es hätte besser wissen müssen. Immerhin seid Ihr die Tochter meines Königs.“
„Hoheit, Herr. Das Frühstück ist angerichtet!“, schaltete sich Luke ein, der nur mit hochgezogener Augenbraue mein provisorisches Bett gemustert hatte.
„Danke, Luke. Nun denn, Prinzessin. Lasst Euch von Meggie beim Anziehen helfen. Ich erwarte Euch gleich im Esszimmer!“
Er drehte sich um und folgte dem Diener, der rasch die Tür hinter sich zuzog. Seufzend versuchte ich mich von meiner Decke zu befreien und grinste, als meine Gelenke erfreut knackten.
„Ihr hättet lieber im Bett schlafen sollen, Hoheit. Es steht uns nicht zu, ein ebenso gutes Leben wie Ihr zu haben.“ Ich schnaubte nur.
„Hören Sie, Meggie. Wie alt sind Sie? Fünfzehn, Sechzehn? Also eindeutig zu jung, um Arbeiten zu müssen. Ich werde dich von nun an duzen, da du jünger bist als ich und erwarte, dass du das ebenfalls tust. Ich bin Lynn!“
„Aber-“, begann Meggie, doch ich gebot ihr zu schweigen.
„Kein Aber. Das ist ein Befehl. Nur weil der Fürst glaubt hier Kinder arbeiten zu lassen, heißt das noch lange nicht, dass ich das billige. Wie gesagt: Ihr seid auch nur ganz normale Wesen wie ich. Ich bin nur, weil ich vielleicht ein besonderes Wesen bin oder aus einer Adelsfamilie komme, nicht gleich etwas Besseres. Ich bin in einem Waisenhaus großgeworden, wo ich froh sein konnte, wenn ich den Matsch, den sie uns da als Essen serviert haben, überhaupt vertragen habe, ohne Durchfall zu bekommen. Bis vor wenigen Tagen wusste ich nicht einmal, wer meine Eltern waren. Und nur, weil ich es jetzt weiß, heißt das noch lange nicht, dass ich ein anderer Mensch, ich meine Arsanimali, wäre. Ist das klar?“ In meiner Stimme schwang ein strenger Unterton mit und das Mädchen nickte nur eingeschüchtert, sah mich aber immer noch bewundernd und mit großen Augen an. Wieder seufzte ich.
„Okay, Meggie. Wollen wir den Fürsten nicht länger warten lassen.“ Dieses Mal verzichtete ich nicht auf eine kurze Dusche, ließ Meggie aber draußen warten. Das Wasser lockerte meine verspannten Muskeln und ich ließ es noch einmal bewusst um meine Verletzungen gleiten, um sicher zu gehen, dass mein ganzer Körper vollständig verheilt war, ehe ich dem Fürsten gegenübertrat. Erst dann holte ich tief Luft, trocknete mich ab und ließ mir von Meggie in einen blauen Traum von Kleid helfen. Die Farbe harmonierte wunderbar mit meinen blauen Augen und meinen schwarzen Haaren, die mir Meggie hochsteckte. Als schließlich noch ein silbernes Diadem dazukam und mich Meggie sanft vor einen Spiegel schob, traute ich meinen Augen nicht. Sanft schmiegte sich der Samt um meinen schlanken Körper, ließ mein Gesicht zwar ein wenig blasser erscheinen, doch dafür leuchteten die Augen noch mehr daraus hervor. Das Diadem verlieh mir das Aussehen einer mystischen, unsagbar schönen Prinzessin und ich war selbst erstaunt, wie hübsch ich sein konnte. Das Kleid war fast bodenlang, doch als mir Meggie Highheels vor die Füße stellte, schüttelte ich den Kopf.
„Das kannst du vergessen. Das Kleid, meinetwegen, aber nicht diese Schuhe. Ich gehe barfuß!“, stellte ich klar. Meggie war nicht glücklich, ließ mir jedoch das letzte Wort, wofür ich ihr ein Lächeln schenkte.
„Kommt, Ho-“ Ich räusperte mich. „Lynn.“, stellte Meggie zögernd richtig. „Der Herr wartet sicher schon auf uns.“ Ich nickte und wappnete mich, ehe ich ihr mit festen Schritten folgte.
Der Boden war kalt an meinen Füßen, doch noch immer war ich mehr als zufrieden mit meiner Entscheidung. Auf den Highheels wäre ich keine zwei Schritte vorwärts gekommen. Meggie warf mir zwischendurch immer wieder vorsichtige Blicke zu, wagte es aber nicht etwas zu sagen. Vor einer großen Tür verabschiedete sich das Mädchen, verbeugte sich kurz vor mir und bedeutete mir dann, durch die Tür zu gehen, während sie in den Tiefen der Flure verschwand, vermutlich um ihrer nächsten Aufgabe nachzukommen. Seufzend sah ich ihr nach, ehe ich mich straffte und durch die Tür schritt. Wie es zu erwarten war, wurde ich schon sehnsüchtig erwartet. Ich blickte in die erwartungsvollen Gesichter von Nathan, Selina und Fürst Jaiden.
„Schön, dass Ihr Euch zu uns gesellt, Prinzessin. Ihr seht auch viel besser aus, als heute Morgen.“ Der Fürst lächelte charmant.
„Das ist auch nicht schwer.“, grummelte ich. Ich hatte mich noch nie zur frühen Stunde hingezogen gefühlt. Ein schöner Tag begann frühestens um halb Elf und das wäre, wie ich mit einem Blick nach draußen feststellte, sicher erst in drei Stunden.
„Lynn!“, keuchte Nathan fassungslos, angesichts meiner Unhöflichkeit und beobachtete besorgt den Fürsten, der jedoch nur noch breiter lächelte.
„Ihr seid kein Morgenmensch, oder Prinzessin?“ Ich schüttelte nur den Kopf und ließ mich an seiner Rechten an der langen Tafel nieder.
„Morgen, Lynn. Hast du gut geschlafen?“, fragte mich Selina, die das Ganze nur mit einem Augenzwinkern zu mir kommentierte.
Ich sah den Fürsten an. „O ja. Die Decke war sehr angenehm weich. Aber es ist schade, dass das Bett so leer geblieben ist. Vielleicht solltet Ihr zu mir ins Zimmer ziehen. Ich weiß gar nicht, was ich mit so viel Freiraum anfangen soll.“ Der Fürst zog eine Augenbraue hoch und Nathan verschluckte sich an dem Wein, den er aus einem goldbestückten Kelch getrunken hatte. Selina klopfte ihm auf den Rücken, ließ den Fürsten aber nicht aus den Augen. Ich sah ihr an, dass sie von meinem Vorschlag begeistert war.
„Schlaft Ihr dann wieder im Bett, Prinzessin?“ Er sah mich ernst an, sein Blick nahezu flehend, als fürchte er mich noch unglücklicher zu machen. Diese Reaktion überraschte mich, doch ich lächelte nur zuckersüß.
„Vermutlich!“, ließ ich nach einem kurzen Moment des Überlegens verlauten. Der Fürst schnaubte, nickte jedoch.
„Ganz wie Ihr wünscht, Prinzessin. Aber untergrabt nicht meine Autorität. Immerhin seid Ihr hier nur Gast.“
„Das war nie meine Absicht gewesen, Fürst Jaiden!“, entgegnete ich scharf. „Allerdings kann ich zumindest in meiner Gegenwart die mir zugeteilten Diener nicht als minderwertig betrachten. Sollte dies für Sie ein Problem sein, werden wir uns einen anderen Unterschlupf suchen müssen.“
Nathan zog scharf die Luft ein, doch ich beachtete ihn nicht. Stattdessen focht ich mit dem Fürsten ein herausforderndes Blickduell aus, bei dem ich als Gewinner herausging und der Fürst schließlich beschämt und ergeben den Kopf senkte.
„Wie Ihr wünscht! Aber bitte, bleibt. Euer Vater hätte nie gewollt, dass ich seine Tochter bereits nach einem Tag wieder verjage. Außerdem bin ich es im gewissen Sinne auch schon von Euren Eltern gewohnt, dass sie immer Gerechtigkeit walten lassen wollten. Nur, da ich sie so lange nicht mehr gesehen habe, ist mir diese Art des Regierens fremd geworden. Verzeiht Ihr mir, Prinzessin?“ Er sah mich flehentlich an und sofort würde meine Miene weicher. Ich konnte niemand lange böse sein und ich wusste ja selbst nicht, was in mich gefahren war, dass ich mich plötzlich so autoritär, befehlend und aggressiv verhielt.
„Natürlich. Aber bitte nennt mich Lynn oder Elara, Fürst Jaiden.“ Ich lächelte ihn freundlich an. Zögernd erwiderte er das Lächeln und ergriff meine ausgestreckte Hand.
„In Ordnung, Elara. Nennt mich Jaiden und lasst das Sie weg, es ist hier nicht üblich.“ Er ergriff meine Hand und erwiderte mich kräftigen Händedruck.
In diesem Moment ging die Tür auf und vier Diener kamen mit Metallplatten herein, auf denen jeweils ein hoher Deckel thronte. Luke höchstpersönlich servierte mir meine Portion. Darunter kamen Rühreier und Bratkartoffeln zum Vorschein, sowie ein belegtes Brot mit Käse. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.
„Danke, Luke.“, sagte ich freundlich und lächelte glücklich. Er hatte daran gedacht, was ich gesagt hatte. Das fiel mir nach einem Blick auf den Nachbarteller auf, bei dem im Ei Speck und außerdem noch gebrannte Würsten bereitlagen.
„Esst Ihr kein Fleisch?“, fragte der Fürst neugierig.
Ich schüttelte den Kopf. „Es schmeckt mir nicht.“
Er nickte in Gedanken versunken und wir begannen auf das Zeichen des Fürsten an zu essen. Eine Weile herrschte Stille, während wir alle aßen. Erst nachdem ich den größten Teil meines Hungers gestillt hatte, kaute ich langsamer und schluckte, als mir ein Gedanken kam.
„Jaiden, darf ich dich etwas fragen?“ Ich sah ihn zögernd an. Der Fürst hob verwirrt den Kopf, irritiert durch meine Vorsicht. Dann nickte er langsam.
Ich holte noch einmal tief Luft. „Was weist du von meiner Schwester Elisabeth?“
„Sie war noch ein Baby, als Euer Vater mit Ihr verschwand, dennoch war sie besonders. Sie schien von innen heraus zu leuchten. Und sie war wunderschön. Ihr habt sie doch auf dem Bild gesehen?“ Ich nickte und er sprach weiter. „Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte. Inzwischen müsste sie bereits fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, wenn sie überhaupt noch lebt.“
Sie lebt. Diesen Gedanken sprach ich jedoch nicht aus und kommentierte seine Beschreibung nur mit einem Nicken. Ich fragte mich, was sie wohl war. Immerhin hatte mir Gabriel nur erzählt, dass sie das Blut Michaels in sich trug und eine Flammenbändigerin war, doch ich glaubte, dass das noch nicht alles war.
„Elara, ist alles in Ordnung?“, fragte der Fürst und sowohl Nathan, als auch Selina schauten auf, während ich blinzelte, um zurück in der Gegenwart anzukommen. Ich nickte langsam.
„Verzeihung, ich war in Gedanken versunken.“ Ich starrte auf meinen Rühreirest, schob den Teller jedoch dann von mir, als ich merkte, dass mir der Appetit vergangen war.
„Entschuldigt mich mal bitte. Ich brauche einen kurzen Moment für mich!“, murmelte ich und sah den Fürsten fragend an, ob ich vom Tisch aufstehen dürfte. Besorgt musterte er mich, gab mir jedoch seine Zustimmung und ich verließ rasch den Saal. Ich brauchte einen Ort, wo ich in Ruhe meine Gedanken fassen konnte und ungestört war. Da kam nur eine Möglichkeit in Frage. Ich hastet nach draußen und umrundete einmal das Haus, wo ich in der Mitte der Blumenpracht einen kleinen See entdeckt hatte. Ich blickte mich noch einmal aufmerksam um, dann streifte ich mir das Kleid von den Schultern, zog mir das Diadem aus dem Haar und sprang ins Wasser. Der See war tiefer als erwartet, doch für mich als Aquaeri kein Problem. Meine Kiemen hatten sich schon längst gebildet und filterten den Sauerstoff aus dem Wasser, während ich mich tiefer sinken ließ, bis ich schließlich im Schneidersitz sitzend auf dem Seegrund ankam. Die Algen kratzten leicht und ein paar Schlammbewohner unter mir krabbelten neugierig auf mir herum, sodass ich mir ein Kichern verkneifen musste. Hier fühlte ich mich Zuhause. Mit diesem Gedanken schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf mein Inneres.
Meine Schwester war am Leben und irgendwo in Russland. Sie war wie ich ein Engel und Elementarbändiger. Und was hatte Gabriel noch behauptet? Nathan war nicht der einzige Ignisaeri. Vielleicht hatte er ja Elisabeth gemeint. Das musste ich bei Zeiten unbedingt herausfinden. Als nächstes wanderten meine Gedanken zu Markus und ich gestand mir endlich ein, dass ich mich tatsächlich in ihn verliebt hatte und eigentlich mehr als Freundschaft zu ihm empfunden hatte. Nun war das jedoch zu spät. Selbst wenn der Fürst sagte, dass er wenigstens für einen guten Zweck gestorben war, fühlte ich mich schuldig. Immerhin hatte er versucht mich zu retten. Meine Augen wurden feucht, doch hier im Wasser war der Druck zu groß, als dass ich weinen konnte. Ich verdrängte meine Trauer um Markus und führte mir meine derzeitige Situation vor Augen. War mein Verhalten gegenüber den Dienern und Fürst Jaiden überhaupt richtig gewesen? Welche Erwartungen würden alle an mich haben, wenn ich wirklich in ein paar Jahren, wenn nicht sogar Monaten regieren sollte. Vermutlich wäre es nicht schlecht, wenn ich den Fürsten um einige Nachhilfestunden im Punkto Benehmen fragen würde, selbst wenn ich sie jetzt schon hassen würde. Aber vermutlich erwarteten alle von mir ein solches Verhalten. Ich seufzte und Luftblasen stiegen an die Wasseroberfläche. Sicher würden mich die Anderen bereits vermissen und wenn ich nicht in meiner zweiten Gestalt entdeckt werden wollte, sollte ich bald auftauchen. Mit einem letzten Seufzer stieß ich mich vom Boden ab und ließ mich mit meinen Füße paddelnd, die erneut Schwimmhäute aufwiesen, nach oben treiben. Wieder schaute ich mich kurz um, ehe ich das Wasser mithilfe meiner Gabe als Wasserbändiger von meiner Haut und meinen Haaren kondensieren ließ und mich in mein Kleid zurückwandte. Mit dem Entzug des Wassers waren sämtliche Anzeichen des Aquaeri verschwunden. Nur noch meine aufgelöste Hochsteckfrisur kündigte von meinem Wasserabenteuer. Damit ich nicht ganz zerzottelt wieder hereinstürmte, nahm ich mir noch die letzten Spangen aus den Haaren, sodass sie mir wild um das Gesicht fielen. Ich wollte gerade die Treppe zum Haus hochgehen, da hörte ich eine schrille Stimme hinter mir.
„Du da, Magd. Bring meine Koffer ins Haus und wenn’s geht ein bisschen plötzlich. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“
Langsam drehte ich mich um und sah mich einer hochgewachsenen Blondine gegenüber. Nein, eigentlich trug sie nur Hackenschuhe mit einem sehr gewägten Absatz, die sie um ein ganzes Stück nah oben reckte. Ihr Gesicht glich dem einer Puppe, denn sie war meiner Meinung nach eindeutig überschminkt. Sie trug ein babyrosanes Puppenkleid mit viel Tüll, das ihr überhaupt nicht stand. Aber wer fragte mich schon.
„Na los. Worauf wartest du?“
Ich hob die Augenbraue. „Bitte?“
Ich hatte kein Problem irgendjemanden mit seinem Koffer zu helfen, doch vorher wollte ich zumindest ansatzweise freundlich behandelt werden und dieses aufgetakelte Fräulein vor mir hatte es dringend nötig, etwas Respekt zu lernen.
„Spreche ich so undeutlich? DIE KOFFER!“ Sie regte sich immer mehr über mich auf, doch langsam machte es mir Spaß, sie zur Weißglut zur Treiben.
„Wie wäre es mit einem >Könntest du mir bitte helfen, die Koffer zu tragen?<“, fragte ich herausfordernd, aber keineswegs unhöflich. Ich hatte es nicht nötig mich auf ihr Niveau zu begeben.
Sie schnaubte nur abfällig. „Ich habe es nicht nötig, jemanden um etwas zu bitten. Und ich werde mich bei meinem Onkel über dich beschweren, du Missgeburt.“
„So so. Du bist also die Nichte von Jaiden. Hast du auch einen Namen oder soll ich dich einfach Blondie nennen!“ Ich hatte keinen Nerv mehr, mich mit ihr auseinanderzusetzen und vielleicht lernte sie ja daraus.
Sie schnappte nach Luft, als sie bemerkte, dass ich ihren Onkel beim Vornamen nannte und ihr einen Spitznamen gegeben hatte.
„Ich hätte dir übrigens mit den Koffern geholfen, wenn du ein wenig höflicher wärst, obwohl ich es nicht nötig hätte. Nun jedoch wirst du dich alleine mit deinen Koffern herumschlagen müssen, obwohl ich mir gut vorstellen kann, dass sie schwer sind. Ich hoffe, du behandelst nicht alle deine Mitmenschen so, sonst wundert es mich, wenn du überhaupt weißt, was Freundschaft bedeutet.“ Mit diesen Worten drängte ich mich an ihr vorbei und ließ sie mit offenem Mund zurück. Noch während ich die Tür schloss, entfuhren mir erst ein Kichern und dann ein Schnauben. So eine unhöfliche Person. Ich konnte hören, wie sie hinter der Tür keifte, doch ich drehte mich nicht noch einmal um, sondern ging zielstrebig auf die Tür zum Speisesaal zu. Zu meiner Verwunderung saßen die drei noch am Tisch und schienen merklich erleichtert zu sein, als sie mich sahen.
„Ist alles in Ordnung, Lynn?“
Ich nickte und lächelte dankbar.
„Ja, ich musste nur kurz nachdenken. Danke, dass ihr auf mich gewartet habt.“
Statt einer Antwort zwinkerte Selina mir nur zu und Nathan lächelte aufmunternd. Strahlend wandte ich mich dem Fürsten zu.
„Im Übrigen ist gerade eine reizende, junge Dame angekommen, die sich gerade ziemlich über mich aufregt, da ich ihr nicht sofort die Koffer hereingetragen habe. Ich hätte ihr ja geholfen, aber sie schien mir diese Aufgabe lieber selbst bewältigen zu müssen.“
Der Fürst konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ah, das muss meine Nichte Jaqueline sein. Ich fürchte James und ich haben sie eindeutig verzogen.“
„Ist James dein Bruder?“, konnte ich mir nicht verkneifen und erhielt ein Nicken als Antwort. Aber bevor jemand von uns ein weiteres Wort sagen konnte, flog die Tür auf und das rosa Prinzesschen stürmte wutschnaubend herein.
„Onkel, Euer Personal ist eine Zumutung!“, rief sie aus und würdigte uns keinen Blick. Der Fürst schmunzelte wieder und warf mir ein Augenzwinkern zu, das so viel wie >Was habe ich dir gesagt?<, bedeuten sollte.
„Jaqueline, schön Euch in meinem Zuhause begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise hierher.“
Sie schnaubte. „Angenehm? Die Kusche, die Ihr mir geschickt habt, ist nahezu an jeder Wurzel hängen geblieben. Warum habt Ihr mich nicht abgeholt?“ Sie zog einen Schmollmund.
O ja. Diesem Mädchen musste eindeutig einmal jemand zeigen, wo ihr Platz war. Ich räusperte mich und endlich wandte sich das Mädchen uns zu. Als sie mich an der Tafel mit ihrem Onkel sitzen sah, weiteten sich ihre Augen und kurz schlich sich ein Hauch von Röte in ihr überpudertes Gesicht, doch ihr Gesichtsausdruck blickte weiter arrogant.
„Es ist äußerst unhöflich, Gäste des Hauses nicht zu begrüßen. Wie es scheint, hattet Ihr ein äußerst wichtiges Anliegen bei Eurem Onkel gehabt, doch dennoch sollte der Respekt immer stimmen, wenn Ihr einmal selber seinen Platz einnehmen wollt. Sonst macht Ihr Euch mehr Feinde, als Euch lieb sind.“ Absichtlich benutzte ich die veraltete Ihr-Form, damit ihr das Verhalten von sich noch mehr auffiel und die Röte in ihrem Gesicht wurde immer dunkler, ob vor Wut oder Scham konnte ich nicht genau einordnen.
Der Fürst hüstelte, um ein Lachen zu verbergen und sofort sprangen die Augen seiner Nichte zu ihm zurück. Er lächelte freundlich.
„Darf ich Euch die Tochter von König Borkil und Königin Freia, Prinzessin Elara und meine langjährigen Freunde Nathan und Selina vorstellen?“, fragte er höflich und ich nickte ihr knapp zu.
„Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen.“, machte ich den Anfang, da Jaqueline mich immer noch mit offenem Mund anstarrte.
Erst ein missbilligendes Schnalzen mit der Zunge von Nathan brachte sie in die Wirklichkeit zurück und sie stammelte ein „Mir ebenfalls!“, ehe sie sich mit einem hastigen „Ich werde mich nun etwas zurückziehen. Meine Reise war nicht leicht.“
„Ruht Euch aus, Jaqueline. Und denkt einmal über Euer Verhalten nach.“ Mit diesen belehrenden Worten entließ ich sie. Kaum hatten sich die Türen geschlossen, gab es für mich kein Halten mehr. Ich prustete los. Jaiden und Nathan sahen mich an, als wäre ich ein Außerirdischer, da ich immer heftiger lachen musste, doch ich konnte nicht anders. Auch Selina schien dieser Entwicklung der Situation sehr angetan zu sein, denn sie lächelte leicht. Ich zwang mich dazu, mich zu beruhigen, obwohl noch immer Lachtränen in meinen Augen standen und wandte mich wieder dem Fürsten zu.
„Eindeutig verzogen!“
Nathan schnaubte belustigt. „Nun, ich glaube damit hat sich deine Frage im Wald geklärt, wie du dich zu verhalten hast. Benutze die Ihr-Form und lass dir nichts bieten, bleibe aber immer höflich. Ich denke, dass bekommst du hin.“
Ich nickte und schmunzelte wieder. O ja, dass würde ich hinkriegen. Obwohl ich zumindest die Ihr-Form gerne weggelassen hätte.
Die Tür öffnete sich wieder. Dieses Mal war es Meggie. Auch sie meine Friseur sah, keuchte sie erschrocken auf.
„Was habt Ihr mit Euer Frisur und dem Diadem gemacht, Ho-“ Ein scharfer Blick meinerseits. „Lynn.“, verbesserte sie schnell, ehe sie sich an den Fürsten wandte. Ach ja, dass Diadem. Ich musste es wohl in Gedanken versunken beim See liegen gelassen haben. Vielleicht sollte ich später Luke beauftragen, es zu holen, ehe es irgendjemand vermisste.
„Herr, Eure Nichte fragt an, wie es mit dem Ball des Michaelis in vier Tagen am 29.September zur Ehren des Erzengels Michael und der Erzengel generell aussieht und ob Ihr die Prinzessin vorstellen werdet?“ Der Fürst musterte mich lange, dann nickte er. Doch in mir hatte sich ein anderer Gedanke breit gemacht. Es sollte einen Ball geben und ich wusste noch nicht einmal, wie ich mich zu verhalten hatte.
„Jaiden, könntet Ihr mich bitte im höfischen Verhalten und dem Tanz unterrichten? Mein letzter Tanz liegt schon einige Jahre zurück, obwohl ich die Musik schon immer faszinierend fand.“, erbat ich.
„Natürlich, Elara. Ich bin mir sicher, Nathan wird mir dabei helfen und Selina hat auch noch Einiges zu lernen.“
Selina wollte protestieren, doch ihr Ziehvater legte ihr nur warnend eine Hand auf die Schulter und sie verstand. Auch sie war ohne das königliche Gehabe groß geworden und schien nicht viel davon zu halten. Ich warf ihr einen Blick zu, der so viel sagte wie: Du wirst mir immer sympathischer. Sie kicherte.
„Euer Unterricht beginnt in einer Stunde. Vielleicht nutzt Ihr sie, um Euch von Meggie die Haare richten zu lassen.“ Er zwinkerte mir zu. Ich spürte, wie ich rot wurde. Sie mussten ja wirklich schlimmer aussehen, als ich erwartet hatte. Nächstes Mal müsste ich mir etwas anderes überlegen, wenn ich nicht immer als Vogelscheuche herumlaufen wollte.
„Lynn, kommt Ihr?“ Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sich die anderen drei bereits erhoben hatten und Meggie schon auf mich wartete.
„Natürlich.“, seufzte ich und beeilte mich rasch, ihr zu folgen, wobei meine Füße keinen Laut auf dem Marmorboden machten.
„Geht Ihr etwa barfuß?“, Der Fürst schien nicht ganz zu wissen, ob er lieber verwundert oder verärgert sein sollte.
„In hochhackigen Schuhen bin ich eine Gefahr für jeden. Und da ich ohnehin zu Unfällen neige, erschien es mir die sicherste Art zu sein.“, gab ich errötend zu. Er seufzte, musterte mich dann jedoch mitleidig.
„Ich werde Euch andere Schuhe besorgen lassen. Es kann ja nicht sein, dass Ihr hier barfuß durch das Haus lauft, sonst verwechselt Euch noch jemand mit einer Magd.“ Ergeben nickte ich, da jede Diskussion sinnlos wäre. Dann folgte ich Meggie und ließ meine Frisur wieder von ihr richten.
Während sie erneut mit Haarspangen in meinen Strängen herumfuhrwerkte, fragte ich sie nach ihrer Familienherkunft. Ich wollte wissen, wie ein junges Mädchen wie sie zu einer Magd oder Kammerzofe werden konnte. Als sie nicht antwortete, schaute ich sie an. Sie schien nicht genau zu wissen, was sie sagen sollte, sondern kaute nur an ihrer Unterlippe herum.
„Wovor hast du Angst, Meggie? Ich bezweifle, dass die Türen Ohren haben und ich werde alles, was ich in diesen vier Wänden höre, niemals an Jemanden weitergeben, der dir schaden könnte.“
„Aber Eure Reaktion fürchte ich. Ihr würdet mich abstoßen und ich müsste wieder die unangenehmeren Arbeiten des Hauses übernehmen müssen.“ Sie verstummte und ich schnaubte.
„Hast du so wenig Vertrauen in mich, Meggie? Ich möchte doch nur wissen, wie ein so hübsches, junges Mädchen wie du so enden konnte. Ohne Konsequenzen, egal was du sagst. Wenn dir deine Geschichte unangenehm ist, würde ich es auch verstehen, wenn du sie mir nicht erzählst. Ich will keine unangenehmen Erinnerungen wecken. Ich versuche nur, dich zu verstehen.“
Sie nickte langsam und begann zu erzählen, während sie sich endlich meinen Haaren widmete. „Ich wurde vor circa fünfzehn Jahren als Megan Aoide geboren. Mein leiblicher Vater brachte mich in einer Familie in der Türkei unter, ehe ein Auftrag ihn fortrief. Jedenfalls haben mir das meine Adoptiveltern erzählt. Er kam nie zurück. Meine Adoptivfamilie war sehr arm und meine Ziehmutter schaffte es immer seltener, genügend Geld einzutreiben, damit sie die Schulden bezahlen konnte. Eines Tages kamen Männer. Sie schlugen meinen Adoptivvater nieder, vergewaltigten meine Ziehmutter und nahmen mich mit. Sie meinten, ich würde als Pfand dienen, damit sie die Schulden auftrieb. Sollte ich zu fliehen versuchen, würden sie mich umbringen. Drei Jahre ließen sie mich ihr Haus reinigen, sie bedienen und bedauerten immer wieder, dass ich noch so jung war. An meinem zwölften Geburtstag machten sie mir ein ganz besonderes Geschenk.“ Ihre Stimme wurde immer verbitterter.
„Ab diesem Zeitpunkt sollte ich ihnen jederzeit zur Verfügung stehen. Kurz vor meinem fünfzehnten Lebensjahr übertrieben sie es wieder einmal und glaubten mich getötet zu haben. Sie warfen mich einfach in den Wald, wo die Wildtiere meine Reste verspeisen sollten. Jedoch fand mich auf der Jagd einmal ein Soldat des Fürsten, der Mitleid mit mir hatte und mich mit hierher nahm. Ich hatte zwei Wochen, um mich zu erholen, dann sollte ich im Haushalt arbeiten. Erst nur die primitivsten Arbeiten wie Wäschen waschen oder das Parkett zu säubern, doch inzwischen habe ich mich soweit herangearbeitet, um als Kammerzofe arbeiten zu können. Solltet Ihr jetzt, wo Ihr meine Vergangenheit kennt, jedoch mich nicht mehr wollen, müsste ich zurück in die Waschstation.“
Sie schniefte und ich wartete ungeduldig, bis sie endlich fertig war mit meiner Frisur, um sie dann in den Arm zu nehmen.
„Scht. Es ist alles gut. Ich würde dich nie fortschicken.“, versuchte ich sie zu trösten und schwankte leicht mit ihr in meinem Arm hin und her. Erst als sie sich wieder angehend beruhigt hatte, sprang sie erschrocken auf. „Hoheit, Euer Kleid!“
Wie es zu erwarten war, zierten den blauen Stoff schwache Tränenspüren.
„Das macht doch nichts.“ Ich drehte ihr kurz den Rücken zu, drauf bedacht, dass man mich auch im Spiegel nicht sah und ließ das Wasser wieder kondensieren.
„Das trocknet wieder.“
Die Luft roch jetzt salziger, fast wie einem Solebad, doch es machte mir nichts aus.
„Was denkt Ihr jetzt von mir, Lynn?!“, murmelte Maggie beschämt.
„Das du eine sehr schwere Kindheit hinter dir hast und deine Arbeit hier eindeutig das kleinere Übel ist. Wie könnte ich dich jemals verstoßen, jetzt, nachdem ich weiß, wie schwer deine Vergangenheit war?! Ich habe einfach nur Mitleid mit dir und wünschte mir, ich könnte deine Herkunft ändern, obwohl es heißt, unsere Vergangenheit macht uns erst zu den Menschen, die wir sind. Dennoch war mein Leben im Waisenhaus, obwohl ich täglich gejagt wurde, wesentlich erträglicher als deins. Ich werde mich für dich einsetzen, sollte Jaiden es je wagen, dich für solche Dienste einzusetzen.“, antwortete ich ihr wahrheitsgemäß. Ich war wütend. Wütend auf die Leute, die der armen, kleinen Meggie das angetan hatten, wütend auf die Leute, die das überhaupt zuließen. Eine riesige Welle schwappte über den See und ich bemühte mich rasch um Fassung, ehe es jemand sehen konnte.
Ich drehte mich wieder zu Meggie um. In ihren Augen schwammen erneut Tränen. „Scht. Es wird alles gut. Dafür sorge ich.“ Sie nickte und drückte tapfer die Tränen weg.
„Kommt, der Herr wartet bereits auf Euch.“
„Fühlst du dich bereits wieder in der Lage in den Flur zu gehen, Meggie? Ansonsten kann ich auch noch einen Moment warten.“ Doch sie schüttelte energisch den Kopf.
„Ihr solltet nicht wegen mir noch mehr Verspätung haben.“ Ich schnaubte. Als würde es mir etwas ausmachen, wegen einem Mitmenschen, der dringend meinen Trost brauchte irgendwohin zu spät zu kommen, vor allem nicht zu so einem irrelevanten Thema wie einer Unterrichtsstunde. Da gingen meine Mitmenschen eindeutig vor. Und der Fürst konnte ruhig einmal warten.
Doch Meggie missachtete mein Missfallen und zog mich am Ärmel in Richtung Tür, nachdem sie sich noch einmal über die Augen gewischt und tief durchgeatmet hatte.
Wieder irrten wir einige Gänge entlang, ehe wir vor einer riesigen Doppeltür standen.
„Das ist der Ballsaal.“, erklärte Meggie. Sie hatte sich inzwischen wieder soweit im Griff und den Schmerz in ihrer Stimme hörte ich nur, weil ich sie weinen gesehen hatte.
„Dank dir, Meggie. Jetzt mache dir erst einmal eine warme Milch mit Honig und gönn dir eine Pause. Die hast du dir verdient. Sollte jemand fragen, sage, dass ich das angeordnet habe.“ Sie erschrak, nickte aber ergeben und verschwand, während ich die schweren Türen aufstieß. Der Ballsaal war wirklich ein Saal. Fast so groß wie ein Fußballfeld, erstreckte sich die Fläche blanken Parketts. Rotverzierte Säulen rankten in die Höhe und endeten schließlich in einer gewölbten Decke, von der riesige Kronleuchter herabhingen. Die roten Vorhänge an den Fenstern erfüllten den Raum mit einem warmen Ton und die kuppelartige Decke sorgte für einen hervorragenden Klang. An einer Seite des Saales war eine kleine Empore zu sehen, auf der drei Throne standen. Auf der anderen Seite waren ebenfalls einige Stühle, die vermutlich für die Musiker dienten. Dazwischen war ein riesiger Platz zum Tanzen. Vorsichtig machte ich einige Schritte in den Saal hinein und bemerkte erst da meine Freunde und den Fürsten, die mich aufmerksam beobachteten.
„Ihr habt recht lange gebraucht, Elara.“
Ich nickte entschuldigend. „Verzeiht. Ich hatte mich noch einmal hingelegt und die Zeit vergessen. Glücklicherweise hatte mich Meggie noch rechtzeitig geweckt. Sie ist eine hervorragende Kammerzofe. Ich könnte mir keine bessere wünschen.“ Es machte mir nichts aus, für die Dienerin zu lügen. Im Gegenteil. Das war das Einzige, was ich für sie tun konnte. Der Fürst lächelte, doch seinen Blick konnte ich nicht ganz deuten.
„Das freut mich. Sollte sie sich mal einen Fehler erlauben, sagt mir sofort Bescheid. Ich hatte schon einige Beschwerden über sie zu Ohren bekommen und kann mir nicht erlauben, Euch so eine Dienerin anzubieten.“
Ich erschrak. Wie konnte er es wagen?! Ich zwang mich ruhig zu bleiben, obwohl ich am liebsten gebrüllt hätte, was normalerweise nicht zu meinem Wesen passte.
„Wenn Ihr so viel Probleme mit Meggie habt, Fürst Jaiden, dann würde ich sie Euch gerne abkaufen. Ihr bekommt das Geld, sobald ich mein Erbe angetreten habe.“ Meine Stimme war eiskalt, aber ich blieb höflich. Dennoch konnte ich sehen, wie sich Selina über die Arme rieb, als würde sie die Kälte wirklich spüren können.
Der Fürst allerdings hob nur die Augenbraue. „Wenn Ihr Meggie haben wollte, dann nehmt sie Euch. Ihr braucht mich allerdings nicht dafür zu bezahlen. Sie ist sowieso wertlos für mich.“
>Sie ist nicht wertlos.<, wollte ich brüllen, ließ es dann aber bleiben, selbst wenn ich den ganzen Saal und vor allem den Fürsten samt Nichte am Liebsten in Eis verwandelt hatte.
„Habt Dank, Fürst Jaiden. Und nun lasst uns, uns den Grund zuwenden, weswegen ich eigentlich hier bin.“ Der Fürst nickte kokett, schien aber traurig zu sein, dass es überhaupt zu so einer Auseinandersetzung zwischen uns gekommen war, doch es kümmerte mich nicht. Solange er seine Untergebenen so behandelte, so lange würde ich ihm auch nur so entgegentreten, wie es die Höflichkeit gebot.
„Als erstes einmal, Ihr seid die Ranghöchste im Saal. Vor Euch werden die Anwesenden entweder einen Hofknicks oder eine Verbeugung machen. Das müsst Ihr nicht lernen. Es reicht lediglich, wenn Ihr begrüßend den Kopf neigt, so wie, als Ihr meiner Nichte begegnet seid. Was die Ansprache angeht, habe ich Euch bereits unterwiesen. Es wäre außerdem gut, wenn Ihr Euch die Namen merken würdet und die Anwesenden auch derartig ansprecht. Behandelt vor allem die Männer mit Respekt, sonst könntet Ihr Probleme bekommen. Versucht so höflich wie möglich zu bleiben und zeigt am besten keinerlei Schwächen und Gefühle. Selbst wenn es Euch schwer fällt, behandelt die Diener zumindest an diesem Abend, wie ich sie behandle. Euer Wort ist Gesetz und sie müssen gehorchen.“
Ich schnaubte, doch Fürst Jaiden ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Anfangs findet der Tanz nur mit Maske statt, die wir erst im Laufe des Abends fallen lassen werden. Ich werde Euch allen Anwesenden vorstellen, dann rufe ich zum richtigen Tanz auf. Wenn ein Mann darum bittet, mit Euch zu tanzen, lehnt auf keinen Fall ab. Ihr bekommt einen Fächer. Sollte einer der Anwesenden zu weit gehen, könnt Ihr Ihm mit dem Fächer auf die Hände schlagen, aber bleibt höflich.“
Ich war eindeutig im Mittelalter angekommen, bemerkte ich seufzend.
„Was das Kniggeverhalten am Tisch angeht, wird Euch Nathan unterweisen. Dieses wendet Ihr bitte auch an dem aufgebauten Buffet an.“ Ich nickte und versuchte mir all das zu merken, worin mich Fürst Jaiden unterwies.
Ich ließ mich von Nathan zum Tisch begleiten, meine Hand kokett auf seine gelegt und schritt langsam darauf zu, so wie es mit der Fürst vormachte. Selina versuchte es auf der anderen Seite von Nathan nachzuahmen. Es sah lustig aus und ich unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. Der Fürst bemerkte es trotzdem. „Versucht nicht die Zähne zu zeigen. Lächelt lieber, anstatt zu lachen. Der Adel reißt den Mund nicht so weit auf. Auch vulgäre Geräusche kommen nicht gut an. Unterdrückt sie, so gut es geht.“
Endlich waren wir am Tisch angelangt. Ich ließ mir von Nathan den Stuhl nach hinten rücken und setzte mich.
„Dies macht entweder der Begleiter oder ein Diener. Eine Dame darf dies auf keinen Fall!“, erklärte der Ignisaeri sanft und zeigte mir dann das vornehme Benehmen am Tisch. Es war schwierig, auf alles gleichzeitig zu achten. Sei es auch nur das richtige Halten der Gabel oder das Abspreizen des kleinen Fingers beim Trinken. Erschöpft sah ich Nathan an, der mir gerade erklärt, wie langsam ich das Gemüse zu essen hätte und immer nur kleine Bissen nehmen dürfe.
„Sollen wir eine Pause machen?“ Selina, die gerade mit einem Löffel herumprobierte, schaute bei Nathans Frage auf. Dankbar nickte ich. Ich hatte nicht zugeben wollen, wie anstrengend es war, doch eigentlich konnte ich bereits seit zehn Minuten keine weiteren Informationen mehr verarbeiten, da mir der Kopf so brummte.
„Ja, bitte.“ Nathans Miene wurde weich. Wie aufs Stichwort trat der Fürst ein, der uns allein gelassen hatte, da er noch einige politische Entscheidungen zu treffen hatte.
„Wir sollten uns in den Essensraum begeben. Meine Köchin hat heute etwas ganz besonderes auftischen lassen.“ Ich nickte und erhob mich dankbar, ohne auf Nathan zu achten, der bereits um den Tisch geeilt war, um mir den Stuhl zurückzuschieben.
„Wir müssen es ja nicht gleich übertreiben!“, winkte ich ab und schenkte Nathan ein Lächeln. Er brummte missbilligend, ließ mich jedoch alleine gehen. Ich schaute über die Schulter.
„Alles klar, Selina?“, fragte ich. Sie nickte nur stumm. Was hatte sie denn? Ich würde sie nachher unbedingt fragen müssen. So kannte ich das Mädchen gar nicht. Vielleicht konnte ich sie ebenfalls mit Meggie bekanntmachen, immerhin war sie jetzt wirklich MEINE Kammerzofe.
Während wir in das Esszimmer schritten, warf ich immer wieder einen besorgten Blick zu Selina, die jedoch stur geradeaus schaute. Ich seufzte und ließ meinen Blick über die Gemälde wandern. Wieder durchfuhr mich ein Stich, als ich das Bild von Markus sah, doch ich blinzelte tapfer die Tränen weg, die sich mir aus den Augenwinkeln schleichen wollten. Im Esszimmer wartete bereits Jaqueline auf uns. Noch immer trug sie ein knielanges, zartrosafarbenes Tüllkleid, das an ihren Oberschenkeln aufbauschte. Ihr Gesicht war noch stärker geschminkt, doch das konnte die Traurigkeit in ihren Augen nicht verbergen. Sie hatte das Gesicht zu einem arroganten Lächeln verzogen, doch in ihren Augen sah ich viel mehr. Scham, Einsamkeit und so etwas wie Nachdenklichkeit. Was war heute nur mit den Leuten los?
„Seid gegrüßt, Jaqueline. Ich hoffe, Ihr hattet einen angenehmen Vormittag.“, begann ich der Höflichkeit wegen. Sie nickte geistesabwesend und wieder musste ein Räuspern von Nathan sie zur Vernunft rufen.
„Natürlich Hoheit.“, stammelte sie und ich runzelte die Stirn. Sie schien seit unserer letzten Begegnung ein völlig neuer Mensch geworden zu sein.
„Ist alles in Ordnung? Fühlt Ihr Euch nicht gut? Ich bin sicher, Euer Onkel kann einen Arzt rufen, sollte dies der Fall sein….“ Meine Stimme wurde freundlicher und ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
Sie nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf und die Falten auf meiner Stirn wurden tiefer. Was sollte ich denn jetzt damit anfangen?
„Mir geht es gut. Ich hatte nur gerade der Gedanken zu viel. Verzeiht Hoheit, dass ich Euch nicht gleich gegrüßt habe.“ Ihre Stimme war schon wesentlich fester und sie blinzelte einige Male kräftig, um auch wirklich in der Realität wieder anzukommen. Ich nickte wohlwollend.
„Nun denn. Lasst uns lieber speisen, als weiter in Gedanken zu schwelgen. Immerhin hat die Köchin keine Mühen gescheut und uns wieder etwas Besonderes gezaubert. Was wird denn heute zu Tische getragen?“, fragte ich den Fürsten. Ich gewöhnte mich immer mehr an die mittelalterliche Sprechweise auf dieser Burg, obwohl ich nicht ganz wusste, ob ich es vielleicht doch übertrieb. Von Jaiden kam allerdings keine Kritik, sondern nur ein lobendes Lächeln.
„Greta hat als Vorspeise eine Rassolnik, eine typische salzig-saure Suppe, die bereits im Mittelalter mit Salzgurkensole als Grundlage gemacht wurde und als Hauptmahl Perepetschi mit Kohlfüllung und Blini mit Quarkfüllung. Wir dachten Ihr solltet mal die Geschmäcke Eures Herkunftslandes kennenlernen. Das Ihr Vegetarier seid, hat die Sache zwar etwas erschwert, doch auch in Russland gibt es Möglichkeiten Vegetarisch zu speisen.“
Mir blieb der Mund offen stehen. Sie hatten extra wegen mir russische Gerichte gemacht. Und dazu noch vegetarisch. Ich war neugierig, was ich gegessen hätte, wenn ich wirklich dort aufgewachsen wäre. Ob meine Schwester auch so etwas gegessen hatte? Kurz hörte ich Gabriel, der sich offenbar den Gedanken nicht verkneifen konnte. >Für deine Schwester gab es bislang keinerlei traditionelle Speisen, außer du siehst ein selbstgemachtes, gejagtes Rentier als traditionell an.<
Ich schüttelte den Kopf. „Ist irgendetwas, Elara?“, fragte Jaiden besorgt. Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Nein. Ich bin nur unglaublich gerührt, dass Ihr Euch wegen mir so viel Mühe macht. Die letzten Jahre gab es für mich meistens nur Salat und Brot, da es sich nicht gelohnt hat, im Waisenhaus vegetarisch zu kochen und das Fleisch meist das Nahrhafteste war. Ich glaube, ich war die Einzige dort, die es nicht leiden konnte.“
„Ihr seid in einem Waisenhaus aufgewachsen?“, fragte Jaqueline. Der einfältige Tonfall konnte ihre Neugier nicht verbergen.
„Ja. Die Zofe meiner Mutter hat mich dort hingebracht, damit ich vor Atro und den Palinas geschützt war. Bis zu meinem achtzehnten Geburtstag habe ich so jeden Tag dort verbracht. Dennoch hatte ich viel Freiraum und mit der Zeit auch viele kleine Geschwister und Freunde, die mit mir Fange spielen wollen. Ich denke, es war die richtige Entscheidung, mich genau dort aufwachsen zu lassen.“
Jaqueline musterte mich einige Minuten lang und seufzte dann. „Ich wünscht, ich wäre manchmal auch in so einer Gesellschaft aufgewachsen.“, seufzte sie sehnsüchtig.
Sowohl Jaiden als auch ich sahen sie erstaunt an.
Ich konnte mich jedoch schneller wieder fassen. „Wie seid Ihr denn aufgewachsen, Jaqueline? Ich dachte, Euch sei jeder Wunsch von der Nase abgelesen worden?“
Sie seufzte wieder. „Ja schon. Na ja. Nicht ganz. Mein größter Wunsch ist nie in Erfüllung gegangen.“ Sie schaute in die Leere.
„Bitte erzählt, was Euch so quält. Ich höre Euch gerne zu.“, kam ich auf sie zu. Sie atmete einmal tief ein, dann begann sie stockend zu erzählen.
„Ich wuchs schon als kleines Kind als eine ganz besondere Persönlichkeit auf, der zwar jeden Wunsch von der Nase abgelesen bekam, solange er mit Geld zu bezahlen war. Mein Vater hatte nie Zeit für mich und meine Mutter verschwand kurz nach meiner Geburt. Ich hatte einen eigenen Chauffeur, der mich immer bis zu jeder Haustür fuhr und mit dem ich mich mehr unterhalten habe, als mit meinem Vater. Richtige Freunde hatte ich nie, da ich so viel zu lernen hatte und die meisten meiner „Freunde“ nur an einer Shoppingtour und meinem Geld interessiert waren. Liebe oder wahre Freundschaft habe ich nie erfahren. Und so habe ich versucht, mich durch mein Äußeres zumindest von der Masse abzuheben und so Aufmerksamkeit zu bekommen. Das was Ihr erzählt habt, Prinzessin, hat mich zutiefst getroffen und mir ist klar geworden, dass es so nicht weitergehen kann. Wie es allerdings weitergehen soll, weiß ich nicht, da ich es nie anders gelernt habe.“, beschämt schaute sie auf ihren Teller. Mitfühlend legte ich meine Hand auf ihre.
„Es tut mir Leid, dass Ihr so eine schwere Vergangenheit hütet. Jedoch will ich Euch in Zukunft helfen, den richtigen Weg zu gehen, wenn Ihr mich lasst. Dadurch, dass Ihr Euch so schminkt, hebt Ihr Euch zwar von der Masse ab, entfernt Euch aber von Euren eigentlichen Zielvorstellungen. Vielleicht beginnt Ihr erst einmal damit, freundlich zu Euren Mitmenschen zu sein. Dann werden sie auch freundlich zu Euch sein. Am besten beginnt Ihr mit bitten und danken. Das ist zumindest schon einmal höflich.“, gab ich ihr den guten Rat.
Sie schluckte schwer. „D…D..Danke Prinzessin für Eure Worte.“, brachte sie schließlich hervor. Ich lächelte ihr zu.
„Ein guter Anfang. Und nun lasst uns speisen, damit Greta nicht umsonst ein so köstliches Mal gezaubert hat.“
Jaiden, der nachdenklich seine Nichte gemustert hatte, nickte und klatschte in die Hände, woraufhin einige Diener das Essen brachten. Als Jaqueline das Essen vor die Nase gestellt wurde, räusperte ich mich kurz und deutete leicht mit dem Kopf auf den Diener. Sie verstand, verzog das Gesicht, erfüllte jedoch meinen indirekten Befehl.
„Vielen Dank.“ Der Diener musterte sie erstaunt, verbeugte sich dann aber lächelnd.
„Aber sehr gerne doch. Ich wünsche Euch einen guten Appetit, Herrin.“
Verblüfft sah Jaqueline dem Diener nach und dann mich an. Ich zwinkerte ihr zu. „Was habe ich Euch gesagt?!“
Auf ihrem Gesicht bildete sich ein zartes Lächeln und ich glaubte sogar sehr schöne Gesichtszüge auszumachen, wenn sie sich diese nicht übermalen würde.
„Wisst Ihr, ich bin überhaupt kein Schminktyp. Wenn Ihr es tragen wollt, werde ich Euch nicht aufhalten. Aber wenn ich Euch einen guten Tipp geben darf, Jaqueline. Wahre Schönheit kommt von innen und Ihr könntet ruhig ein bisschen weniger Schminke verwenden. Ich bin mir sicher, Ihr habt auch so ein sehr schönes Gesicht.“, wagte ich mich weiter vor.
Jaqueline warf mir einen skeptischen Blick zu und ich widmete mich lieber meiner Rassolnik. Plötzlich durchflutete meinen Geist eine unglaubliche Wut. Doch es war nicht die meine.
>Was ist los, Gabriel?<, fragte ich erschrocken meinen Engelsvater, erhielt aber keine Antwort. Besorgt rührte ich mehr in meiner Gemüsesuppe, als das ich sie aß. Dabei war sie wirklich lecker.
„Schmeckt es Euch nicht, Elara?“, fragte Jaiden höflich. Ich lächelte ihn mühevoll an, doch das Lächeln erreichte nicht meine Augen, da mein Gedächtnis noch immer besorgt war.
„Doch es ist köstlich.“ Der Fürst schien nicht sehr überzeugt zu sein. Wäre ich an seiner Stelle auch nicht.
„Allerdings möchte ich auch noch etwas von dem Perepetschi und den Blini essen können. Und mein Magen ist so viel Essen noch nicht gewöhnt.“, redete ich mich heraus. Selinas verschluckte sich und warf mir einen Blick zu. Ihr schien klar zu sein, dass mir etwas anderes meinen Appetit verdorben hatte, doch sie sagte nichts. Auch Nathan warf mir einen nachdenklichen Blick zu, den ich aber geflissentlich ignorierte.
„Wenn Ihr meint.“ Der Fürst schien sich darüber nicht weiter auslassen zu wollen.
Endlich wurde der Hauptgang serviert. Gabriel hatte sich immer weiter zurückgezogen, doch ich glaubte seine Verärgerung und Sorge noch immer auf der Zunge zu schmecken. Was wohl los war? Ich schob den Gedanken beiseite und widmete mich dem Hauptgang. Die Eierkuchenähnlichen Blinis schmeckten mir mehr, als die herzhafte Perepetschi. Aber ich war schon immer eine Naschkatze gewesen. Noch einmal leckte ich mir über die Lippen und spülte den restlichen Geschmack mit Kwas herunter, der uns zu dem Mahl serviert worden war. Ebenfalls eine russische Tradition. Das süßsaure Getränk aus Roggenbrot, Honig, Kräutern und Früchten harmonierte gut mit dem Blini und förderte die Verdauung. Ich fühlte mich so voll wie schon lange nicht mehr, obwohl der Kwas gute Dienste leistete.
„Hat es Euch geschmecket?“, fragte der Fürst hoheitsvoll. Ich nickte dankbar.
„Ziemlich gut sogar. Noch einmal einen großen Dank an Eure Köchin Greta. Ein größeres Geschenk hättet Ihr mir gar nicht machen können.“ Jaiden lächelte leicht.
„Bevor wir mit dem Unterricht fortfahren, würde ich gerne mit Selina und Meggie eine Unterhaltung führen wollen. Allerdings in vertraulichen Umständen. Habt Ihr dafür einen geeigneten Raum, Jaiden?“, fragte ich höflich. Das Verhalten von Selina brannte mir noch immer unter den Nägeln und Meggie die Nachricht zu überbringen, dass sie von nun an MEINE Kammerzofe war, musste ich auch noch.
Der Fürst schien zu überlegen, nickte dann aber. „Ich habe einen kleinen Wintergarten, der auch den kalten Wind nicht allzu sehr durchlässt. Dort solltet Ihr ungestört sein. Darf ich erfahren, um welche Angelegenheit es sich handelt?“
Ich schüttelte den Kopf und sah ihn scharf an. „Der Platz scheint ziemlich geeignet zu sein. Allerdings ist das Gespräch wie bereits erwähnt sehr vertraulich und daher kann ich Euch hierauf keine Antwort geben. Ich hoffe, dies wird in Eurer Zeitplanung keine Verzögerung aufrufen.“
Jaiden schien im ersten Moment ziemlich enttäuscht, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Keinesfalls. Schickt einfach Luke zu mir, wenn Ihr fertig seid, damit wir mit dem Unterricht fortfahren könnt.“
„Natürlich.“, antwortete ich mit einem kühlen Lächeln, ehe ich mich an Jaqueline wendete.
„Was werdet Ihr in der Zwischenzeit unternehmen?“
„Ich muss mir noch dringend ein paar Besorgungen in der Stadt machen. Onkel, leiht Ihr mir Euren Wagen?“
Ich räuspere mich. „Bitte?!“, fügte sie mit einem Augenverdrehen dazu. Na ja. Immerhin kam es.
Jaiden warf mir einen überraschten Blick zu. Offenbar hatte ich damit mehr geschafft, als er in den vergangenen Jahren.
„Wenn Ihr mich so lieb bittet, kann ich als Euer Onkel doch nicht nein sagen. Aber fahrt nicht zu schnell. Ich will nicht schon wieder Post von der Polizei erhalten.“ Ich hob eine Augenbraue und Nathan ließ ein Schauben vernehmen, dass er aber gekonnt hinter seiner Serviette verbarg.
„Viele Dank, Onkel.“, rief Jaqueline liebenswürdig aus und stöckelte aus dem Raum. Kopfschüttelnd sah ich ihr hinterher.
„Nun denn, Elara. Dann zeige ich Euch einmal den Wintergarten. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet?“
Ich nickte und erhob mich, erstarrte aber bei einem Seitenblick von Selina.
„Einen Moment bitte, noch.“ Ich holte tief Luft, ehe ich ein lautes „MEGGIE!“, vernehmen ließ. Sofort stürmte meine Kammerzofe herein.
„Lynn, was kann ich für Euch tun, Hoheit?“, brachte sie eifrig hervor. Ich fand, dass sie noch immer unnatürlich blass aussah.
„Ich muss mit dir und Selina sprechen. Jaiden hat uns seinen Wintergarten zur Verfügung gestellt. Ich möchte, dass du mich dorthin begleitest. Es ist wichtig.“
Kurz sah ich so etwas wie Angst und Verletztheit in ihren Augen aufblitzen, doch im nächsten Moment wurde ihr Gesicht nur ausdruckslos.
„Wie Ihr wünscht, Hoheit.“ Sie machte eine tiefe Verbeugung und folgte mir, als ich seufzend mich von Jaiden in den Wintergarten führen ließ.
„Der Wintergarten, Elara. Hier solltet Ihr ungestört sein.“ Er warf uns noch einen letzten, neugierigen Blick zu und verschwand dann, die Glastür hinter sich schließend. Ich sah mich um. Auch hier war eine Blumenpracht zu bestaunen, die ich noch nie gesehen hatte. Zwischen blauen Kornblumen, Klatschmohn und Zierrosen stachen immer wieder weiße Lilien hervor.
„Die Lilien stehen für den Erzengel Gabriel und Euren Vater. Daher werden die Soldaten von König Borkil auch Lilienkrieger genannt. Sie tragen sein Zeichen auf der Brust.“, erklärte Meggie leise, die meinem Blick gefolgt war. Wir ließen uns auf einer gemütlichen Sitzgruppe von weißen, verschnörkelten Stühlen nieder und ich wand mich endlich an die Beiden, die ich zu mir zitiert hatte.
„Meggie, das ist Selina. Sie ist so etwas wie eine Schwester für mich geworden. Selina, das ist Meggie, die beste Kammerzofe, die man sich vorstellen kann.“ Nach dieser kurzen Vorstellung, seufzte ich tief, denn die Beiden musterten sich skeptisch.
„Ihr habt euch sicher gefragt, weswegen ihr hier seid. Meggie, ich muss dir etwas mitteilen.“ Sie begann zu zittern und blickte angstvoll zu mir. Ihr Blick flackerte.
„Der Fürst ist sehr unzufrieden mit dir.“ Sie zitterte stärker und warf sich vor meine Füße.
„Gnade, Hoheit. Bitte, Gnade. Ich verspreche auch mich bessern.“
„Jetzt lass mich doch erst einmal aussprechen!“, fuhr ich sie an. Sie zuckte zusammen.
„Daher habe ich dich ihm abgekauft. Du bist jetzt offiziell meine Kammerzofe und niemand wird dir jemals wieder etwas antun können. Ich werde dafür sorgen, dass du etwas Besseres zu essen und zwei Tage Urlaub im Monat bekommst. Wenn du noch weitere Wünsche haben solltest, sage einfach Bescheid. Ich sehe, was ich machen kann.“
Sie schnappte nach Luft und starrte mich ungläubig an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Hoheit, das könnt Ihr nicht machen!“, entrüstete sie sich schließlich, nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatte.
Ich schnaubte. „Ich heiße immer noch Lynn und ja, das kann ich machen. Wozu bin ich Prinzessin, um nicht etwas Gutes in der Welt zu verrichten. Außerdem habe ich mich um das Wohl meiner Untergebenen zu sorgen. Und da gehörst du eindeutig dazu, Meggie. Ich werde versuchen, dir auch noch eine Schulbildung zu ermöglichen, falls du das gerne willst. Immerhin bist du erst Sechzehn und damit in etwa in dem Alter meiner Schwester!“
Selina schnappte nach Luft. „Also lebt sie noch.“ Ich nickte.
„Und nun zu dir. Was ist denn dir bitte über den Weg gelaufen?! So still kenne ich dich gar nicht. Was liegt dir auf dem Herzen? Bitte rede mit mir!“
Sie seufzte und schien mit sich zu ringen. „Lynn. Du bist jetzt eine Prinzessin und bald Königin. Was willst du denn mit so Jemand wie mir. Seit wir hier sind, hast du kaum noch Zeit für mich, verschließt dich und quälst dich mit Dingen, die du sicher mit Jemand teilen solltest. Ich habe das Gefühl, ich erkenne dich gar nicht mehr wieder.“
Ich sah sie entschuldigend an. „Es tut mir Leid, falls ich dir das Gefühl gegeben habe, dass ich mich nicht mehr für dich interessieren würde. Auch für mich ist es gerade nicht sehr leicht. Um ehrlich zu sein, trauere ich. Um Markus, um mein früheres Leben und habe Angst vor der Zukunft. Aber ich darf es nicht zeigen. Nicht vor der Öffentlichkeit. Nur vor euch, meinen engsten Freunden. Wo wäre ich ohne dich und Nathan, Selina. Ihr gebt mir noch immer das Gefühl, ich selbst sein zu können, selbst bei all den Zwängen und Traditionen. Ich kann keinem mehr vertrauen, als dir, Nathan und Meggie. Weißt du, warum ich dieses Treffen zu dritt haben wollte? Ich hatte gehofft, dass du und Meggie ebenfalls zu Vertrauten, wenn nicht sogar Freunde werden könntet, sodass ich zumindest euch beide immer in meinem Rücken zu wissen habe. Ohne euch, bin ich nur noch ein trauriges Ableben meiner Selbst!“, gab ich offen zu.
Lange Zeit herrschte Stille, ehe sich Meggie schließlich wagte, das Wort zu erheben.
„Bedeuten wir Euch wirklich so viel?“ Ich nickte nur und lächelte sie traurig an. Aus ihren Augen flossen nun die Tränen, die sie angestaut hatte. Auch mein Auge blieb zu meiner Schande nicht trocken, als wir in eine riesige Gruppenumarmung fielen. Dabei musste ich doch stark sein. Egal wie viel ich von den Gefühlen der Anderen mitbekam. Irgendwie vermutete ich Gabriel hinter der Macht der Emotionen. Warum, konnte ich allerdings nicht sagen.
„Danke, Lynn. Für alles!“, gab Selina schließlich offenherzig bekannt. Ich lächelte. Endlich schien die Mauer zwischen uns einzustürzen und die Vertrautheit kam wieder zurück.
„Immer wieder gerne. Wozu sind Freunde denn da!“ Ich lachte leise und konnte sehen, wie Meggie erstaunt die Augen aufriss und Selina den Klang genoss. Offenbar hörte ich mich wirklich wie ein Engel an. Aber ich war ja auch einer. Zumindest ein halber.
„Wir sollten wieder zurück. Wir beide haben noch viel zu lernen!“, rief uns Selina schließlich ins Alltagsleben zurück. Ich seufzte, ergab mich aber wieder meinen Pflichten und erhob mich.
„Meggie. Ich möchte, dass du eine Liste fertig machst, mit den Arbeitsbedingungen, in denen du lebst und was du dir noch wünschst.“, gab ich den Befehl und zog Selina aus dem Raum, noch ehe meine Kammerzofe ein Wort des Widerspruchs einlegen konnte.
„Luke!“, rief ich, kaum hatten wir den Flur betreten. Wie ein Schatten tauchte der Diener aus einer Seitentür auf.
„Ja, Hoheit?“ Ich verdrehte nur die Augen.
„Bitte führe uns zu deinem Herrn. Wir würden gerne den Unterricht fortsetzen.“
„Natürlich, Herrin!“ Rasch eilte er davon, immer darauf bedacht, dass wir ihm folgen konnten.
Erst vor einer dunklen Holztür blieb er stehen und klopfte kräftig an.
„Ja, bitte?“, dröhnte es von drinnen.
„Herr, die Prinzessin und ihre Begleiterin sind da und würden gerne den Unterricht fortsetzen.“
„Sagen Sie Ihnen, Sie sollen eintreten. Allerdings brauche ich noch einen Moment.“
„Ja, Herr.“ Er drehte sich um, offenbar, um uns die Nachricht von Jaiden zu überbringen, doch ich zwinkerte ihm nur zu.
„Danke, Luke.“ und schob ihn sanft zur Seite, um in den Raum zu treten, Selina hinter mir herziehend. Luke warf mir noch einen erstaunten Blick zu, verbeugte sich dann aber und verschwand, während ich die Tür leise hinter mir zuzog.
„Bitte geduldet Euch noch einen Moment, Elara. Ich bin sofort für Euch da!“, murmelte Jaiden, der tief über seinen Unterlagen brütete und uns gar nicht richtig zu bemerken schien. Ich nickte und bugsierte Selina auf das rote Samtsofa, das rechts von der Tür stand. Vor dem Schreibtisch des Fürsten standen zwei bequeme, ebenfalls rote Sessel, die jedoch auch umgedreht werden konnten, sodass eine gemütliche Sitzgruppe entstand. Vor uns war ein kleiner, runder Tisch, auf dem in einer Schale Kekse lagen. Ich nahm mir einen und knabberte an ihm, während ich gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Selina sah ihre Hände an, die Finger kneten nervös aufeinander rum, doch ich würde sie nicht unterbrechen. Erst ein fast hastiges Pochen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken und ließ Jaiden erschrocken hochfahren, der komplett vergessen hatte, dass wir auch noch da waren. Er warf uns einen entschuldigenden Blick zu.
„Herein!“ Ein muskulöser Mann stürmte in den Raum. Ein schwarzes Leinenhemd wäre ihm um die Oberschenkel geschlottert, wurde jedoch an der Taille von einem Gürtel gehalten, an dem ein prachtvolles Schwert hing. Auch seine fest anliegende, aber elastische Hose war von einem tiefen Schwarz. Seine Augen waren wachsam auf Jaiden gerichtet und ich machte mich bereit, notfalls einzuspringen und Jaiden, so gut es ging, zu verteidigen.
„Was gibt es, Hannes?“ Erst die Tatsache, dass sich die Beiden zu kennen schienen und der Mann so etwas wie eine Wache sein musste, ließ meinen erhöhten Puls wieder sinken. Meine Anspannung löste sich etwas, doch noch immer war ich zu allem bereit.
„Ich bringe frohe Kunde, Herr. Soeben erreichte mich ein guter Freund aus Russland. König Atro ist tot.“
Selina schnappte nach Luft, doch ich konnte den Boten nur fassungslos anstarren. Jaiden schien es nicht besser zu gehen.
„Tod?... Seid Ihr Euch sicher?“
Die Wache nickte eifrig. „Ja Herr. Es gab eine Schlacht. Es hieß, ein Mädchen, halb Engel, halb Ignisaeri habe ihn zur Strecke gebracht.“
Nachdenklich nickte der Fürst, dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. „Das sind in der Tat gute Neuigkeiten. Ihr könnt gehen, Hannes. Sagt mir Bescheid, wenn Ihr mehr darüber wisst.“
Der Mann nickte und verschwand. Mein Herz schlug schneller. Wenn Atro jetzt Tod war, müsste ich dann nicht regieren? Aber ich war doch noch gar nicht so weit. Dann kam mir ein anderer Gedanke. Waren in der Schlacht viele umgekommen? Der Wächter hatte gesagt, Atro sei von einem Mädchen, halb Engel, halb Ignisaeri umgebracht worden. War dies etwa meine Schwester Elisabeth gewesen? Aber warum hatte sie gekämpft? Sie war doch viel zu jung dafür! Engelsblut hin oder her.
„-was meint Ihr, Elara?“ Erschrocken schaute ich auf. Mist, hatte der Fürst etwa mit mir geredet?
„Bitte verzeiht, Jaiden. Ich war kurz in Gedanken versunken. Was hattet Ihr gesagt?“
Der Fürst schmunzelte amüsiert. „Ich meinte: Jetzt wo Atro tot ist, sollten wir unbedingt Euren Unterricht intensivieren, damit Ihr möglichst bald den Thron ersteigt. Immerhin ist das Land nun ohne eine Führung. Außerdem sollten wir auf den Tod Atros anstoßen. Oder wie seht Ihr das?“
Ich runzelte missbilligend die Stirn. „Ich finde wir sollten nicht auf den Tod Atro anstoßen, sondern der ganzen Arsanimali gedenken, die in der Schlacht ihr Leben ließen, um diese Tatsache zu ermöglichen. Allerdings bin ich einem Gläschen Kwas nicht abgeneigt.“
„Was ist mit dir, Selina?“ Sie schenkte mir einen dankbaren Blick, dass ich sie auch in das Gespräch einbezog. Offenbar hatte sie gefürchtet noch mehr ausgeschlossen zu werden. Doch ich meinte jedes meiner Worte ernst, die ich vorhin gesagt hatte.
„Ich würde auch sehr gerne etwas trinken. Fürst Jaiden, darf ich Euch etwas fragen.“ Freundlich lächelte Jaiden sie an.
„Natürlich, Verehrteste.“
„Wenn Lynn den Thron ersteigen soll, muss sie dafür nach Russland?“
Zustimmend nickte der Fürst, doch für mich brach eine Welt zusammen. Das russische Essen zu essen und zu trinken, war das Eine. Aber gleich in Russland zu leben, war etwas, dass ich mir lieber noch einmal durch den Kopf gehen lassen wollte. Immerhin war es in Russland entsetzlich kalt. Vor allem jetzt Ende September. Und so viel Wasser wie hier hätte ich dort auch nicht, um meiner zweiten Natur ein bisschen Freiraum zu lassen.
„Kann ich nicht von hier aus regieren?“, versuchte ich Jaiden zu überreden, doch er schüttelte nur lächelnd den Kopf.
„Das wird schon, Elara. Macht Euch mal keine Sorgen.“ Er richtete sich auf. „Ich werde veranlassen dass uns Luke ein wenig Twas bringen lässt. In der Zeit können wir bereits mit dem Unterricht fortfahren. Nathan hat noch etwas zu erledigen, doch ich bin mir sicher, dass wir drei auch so klar kommen.“ Er zwinkerte uns zu. Selina und ich warfen uns einen Blick zu, von wegen: Wenn es sein muss. Dann folgten wir dem Fürsten zurück in den Ballsaal, wo uns eine weitere anstrengende Unterrichtsstunde erwartete.
Kapitel 9
„Lynn, Ihr seid wunderschön!“ Ich errötete und betrachtete mich im Spiegel. Heute war der große Ball zu Ehren von Erzengel Michael und den anderen Erzengeln und mein Herz schien vor Aufregung beinahe meine Brust sprengen zu wollen. Aus dem Spiegel blickte mich ein blasses Mädchen mit leuchtenden blauen Augen an, die von innen heraus leuchteten. Mein Körper war in einen dunkelblauen Traum ohne Träger gehüllt, der sanft um meine Beine floss und kurz über dem Boden endete. Ein Korsett ließ mich noch schmaler erscheinen, als ich war, doch mir gefiel die blasse Schönheit, die mir entgegenblickte. Meine Haare flossen in sanften Wellen über meine Schultern und ein keckes Lächeln schmückte meine Lippen. Allerdings ohne die Zähne zu zeigen oder gar meine Augen zu erreichen. In den letzten vier Tagen hatte ich viel gelernt, angefangen dabei meine Gefühle zu verstecken, bis hin zum ordentlichen Sitzen und auf meinen Wunsch hin auch das Kämpfen und reiten, wovon aber nur Nathan wusste. Jede Nacht hatte ich mich heimlich rausgeschlichen, um mit ihm zu üben. Anfangs war er nicht begeistert gewesen, doch ich ließ mich nicht von meinem Vorhaben abbringen und so hatten wir jede Nacht unterm Mondlicht Schwertkampf und Dolchkampf geübt. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl bei Sternenlicht kraftvoller zu sein und Nathan behauptete, das liege an der Mondenergie meines Engelsvaters, von dem ich seit Tagen nichts mehr gehört hatte. Die Nachricht von Atros Tod hatte sich schnell verbreitet, doch Einzelheiten darüber hatte ich immer noch nicht. Vielleicht wollte mich der Fürst aber auch daraus zuhalten. Er schien der Meinung zu sein, dass Politik nur etwas für Männer sei, was aber gegen das Regieren zu sprechen schien. Ich unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass ich in der Schule in einem Politik-Leistungskurs gewesen war und mich ziemlich für Politik interessierte. Außerdem hatte mir der Fürst erklärt, woher die ganzen Traditionen kamen. So hatten sie die Erfahrung gemacht, dass sie mithilfe von Briefen und Boten ihr Anderssein viel besser geheim halten konnten. Die Villa in der wir uns befanden, war der eigentliche Sitz des Fürsten, doch offiziell besaß er noch ein Apartment, um von da aus unauffällig seine Politik ausüben zu können. Auch im wahren Leben war er so eine Art Politiker und konnte so auch in der Menschenwelt einiges bewirken, doch von seiner zweiten Natur als Gestaltwandler wusste niemand. Die Gemeinschaft war generell sehr traditionell geprägt, was wohl durch meinen Urgroßvater vonstattengegangen worden sei. Doch weder meine Eltern noch ich waren sonderlich begeistert davon. Schon des Öfteren hatte ich die Kleider in meinem Schrank verflucht, doch noch immer weigerten sich Luke und Meggie mir eine Hose zu besorgen. Scheiß Tradition. Die Arsanimali waren zumeist mit Pferden oder Kutschen gekommen, da sie der Natur wesentlich besser taten und zuverlässiger waren. Diejenigen, die mit dem Auto angereist waren, mussten eine extra Steuer bezahlen, da sie einen extra Zauber gegen eine mögliche Ortung brauchten. Dennoch zogen es einige vor, vor allem diejenigen, die über Flugzeuge in Deutschland eingeflogen waren, um nicht allzu sehr in der Menschengesellschaft aufzufallen. Telefonate, falls welche geführt wurden und Briefe waren meist verschlüsselt und besaßen ein bestimmtes Siegel, das ich jedoch noch nicht gesehen hatte. Von sozialen Netzwerken hielt hier niemand etwas. Da ich aber auch schon in meinem früheren Leben keinerlei Kontakt damit hatte, war dies kein Problem. Schon eher die gegenseitig Ansprache. Die Freundschaft zwischen Selina, Meggie und mir hatte sich inzwischen verfestigt und wir wussten nun nahezu alles über einander. Meggie hatte ganz große Augen bekommen, als sie von meinen zweiten Gestalten erfahren hatte und so hatte ich ihr schließlich auch meine Engelsflügel offenbart. Seitdem schien sie von nichts anderes schwärmen zu wollen. Auch Jaqueline hatte einen positiven Schwung gemacht. Obwohl sie sich anfangs noch geweigert hatte, war das Bitte und Danke inzwischen in ihren normalen Sprachgebrauch eingeflossen und auch die Schminkschicht auf ihrem Gesicht etwas dünner geworden. Zu mehr hatte ich sie leider noch nicht überzeugen können und so stöckelte sie stets mit hohen Schuhen durch die langen Flure. Jaiden hatte sein Versprechen inzwischen eingelöst und mir auch ein paar absatzlose Schuhe besorgt, selbst wenn ich die Sandalen alles andere als praktisch empfand mit seinen feinen Riemchen. Aber es war besser als nichts. Farblich waren sie heute auf mein Kleid abgestimmt. In meiner Hand hielt ich noch eine silberne Maske mit blauen Ranken, die für den ersten Teil des Balls dienen sollte. Sie ging mir über die Nasenwurzel und verdeckte nur meine Augen, doch sie passte perfekt zu meinen schwarzen Haaren und dem blauen Kleid. Im ersten Moment war mir die Luft weggeblieben, als ich mich im Spiegel gesehen hatte. War das wirklich ich? Ich erkannte mich selbst nicht mehr. Über meine Haare hatte ich einen leichten Schleier von Wassertropfen gelegt, die zusätzlich im Licht blitzten. Auch an meinen Wasserkünsten hatte ich heimlich in den letzten Tagen gearbeitet. Vor allem unter der Dusche, wo man mich nicht sah. So konnte ich die Tropfen soweit kontrollieren, dass sie nicht im Haar verschwanden und mich dennoch problemlos auf meine Umgebung konzentrieren. Von Meggie hatte ich dafür bewundernde Blicke bekommen, doch ich hoffte, dass keine Fragen aufkommen würden.
„Seid Ihr so weit, Lynn?“, fragte mich Meggie. Innerlich verdrehte ich die Augen. Ich kam einfach nicht mit der Ihr-Form klar. Aber immerhin regte ich mich inzwischen nicht mehr ganz so stark darüber auf und konnte mich auch ansonsten ziemlich königlich benehmen, jedenfalls nach außen hin. Was dabei in meinem Kopf alles abspielte, war eine ganz andere Sache, aber da würde schon keiner reingucken. Jedenfalls hoffte ich das. Bei den Vampiren konnte man nie wissen. Ich kicherte und erinnerte mich an die Twilight-Bücher. Noch immer war ich mir nicht genau sicher, wie viel davon der Wirklichkeit entsprach, da ich noch keinem vollwertigen Vampir begegnet war. Nathan zählte da meiner Meinung nach nicht wirklich, da er größtenteils menschliche Nahrung zu sich nahm. Aber ich war mir auch nicht sicher, ob ich wirklich so großen Wert darauf legte. Um ehrlich zu sein, reichten mir manchmal die ganzen Gestaltwandler und andere Geschöpfe um mich herum schon zur Genüge. Ich hatte Nathan zwar noch nie in seiner Drachengestalt gesehen, doch ich konnte mir vorstellen, dass er eine ziemlich imposante Gestalt darstellte.
„Lynn?“ Ach ja, Meggie hatte mir eine Frage gestellt.
„Ja, bin ich!“, gab ich mit möglichst fester Stimme zurück und versuchte das Zittern in ihr zu verbergen. Keiner durfte meine Aufregung und Angst erkennen. Ich setzte noch ein freundliches Lächeln auf, das jedoch eher in einer Grimasse endete, bis mir Meggie in die Seite boxte.
„He, du gehst hier nicht auf deine eigene Hinrichtung. Das ist lediglich ein Ball.“ Ich war ihr so dankbar, dass sie zumindest für einen Moment die ganzen Förmlichkeiten außer Acht ließ, denn so konnte mein Lächeln eine Spur echter werden, ehe sich meine Schultern strafften und ich mit einem Nicken Meggie zu verstehen gab, das wir gehen könnten.
Kurz bevor wir die Tür erreicht hatten, hielt ich sie auf.
„Warte. Ich kann so doch noch nicht gehen!“ Sie sah mich fragend an, doch ich eilte rasch zurück zu der Schreibtischschublade und zog einen der Dolche hervor.
„Lynn!“, keuchte Meggie erschrocken und auch ein wenig anklagend. „Das ist ein Ball. Da sind keine Waffen erlaubt. Und schon gar nicht bei einer Lady.“
Ich eilte mit dem Dolch in der Hand auf sie zu. „Das ist mir egal. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl. Bitte hilf mir diesen Dolch an meinem Oberschenkel zu befestigen, dann gebe ich auch Ruhe!“
Sie schien sehr unglücklich mit meiner Entscheidung zu sein, befolgte jedoch meinen Befehl. Braves Mädchen. Erst mit dem leichten Gewicht vorne an meinem rechten Oberschenkel fühlte ich mich endgültig bereit zu gehen. Das Kleid verdeckte die Waffe und doch wusste ich, dass ich mich und meine Freunde notfalls verteidigen konnte. Und nicht nur mit meinem Element.
„Lass uns gehen!“, sagte ich entschlossen. Meine Kammerzofe warf noch einmal einen prüfenden Blick auf meinen Oberschenkel, rückte meine Maske richtig, die in der Aufregung leicht verrutscht war und gab mir einen ebenfalls dunkelblauen Fächer in die Hand, mit dem ich notfalls gierige Finger zur Ordnung rufen konnte.
Ich holte noch einmal tief Luft, dann ließ ich mich von Meggie bis zum Ballsaal bringen, entfaltete den Fächer und fächelte mir zur Beruhigung etwas Luft zu, ehe ich meiner Kammerdienerin dankend zunickte und den Saal betrat. Da uns die Masken vorerst anonymisieren sollten, bekam ich bei meinem Eintreten zwar einige bewundernde und neugierige Blicke geschenkt, doch ansonsten schien keiner etwas von meiner wahren Identität zu wissen. Das beruhigte mich etwas und mein Lächeln wurde noch eine Spur echter. Mein erster Gang war zu dem Thron, auf dem Jaiden bereits saß. Er selber war in weißen Pumphosen gewandet und trug darüber ein samtenes, ebenfalls dunkelblaues Hemd, wie abgestimmt mit meinem Kleid. Neben ihm stand ein wesentlich stärker verzierter und etwas größerer Thron. Das würde mein Platz werden. Auf der anderen Seite ein etwas kleinerer, kaum verzierter Thron, auf dem bereits Jaqueline Platz genommen hatte, heute in einem Blutrot. Ich atmete erleichtert auf. Endlich kein Pink mehr. Auch ihre Maske war ihn einem tiefen Blutrot und sie lächelte kokett. Als sie meinen Blick bemerkte, nickte sie mir zu. Ich nickte ihr ebenfalls zu und wandte mich dann an den Fürsten.
„Fürst Jaiden. Mir scheint, dass unsere Garderobe perfekt aufeinander abgestimmt sei. Gedenkt Ihr später noch mich zu einem Tanz aufzufordern?“
Jaidens Augen funkelten belustigt. Offenbar war ich doch etwas zu stürmisch vorgegangen. „Prinzessin Elara. Eure Schönheit hat mal wieder den ganzen Raum erhellt. Wie schafft Ihr es immer, so perfekt auszusehen. Ich sollte Meggie wirklich danken, das sie Euch so prächtig herbereitet hat. Markus hätte an Euch seine wahre Freude gehabt.“ Kurz huschte ein Schimmer Trauer in seinen Blick, der sich jedoch ebenso schnell wieder verflüchtigte. „Aber da es ihm nicht mehr möglich ist, werde ich vermutlich Euch zum Tanze geleiten. So eine Schönheit wie Ihr sollte nicht alleine in einer Ecke stehen.“
Ich lächelte kokett. So viele Komplimente hatte ich schon lange nicht mehr bekommen. Allerdings verhinderte der Gedanke an Markus, dass ich tatsächlich richtig lächeln konnte. Denn die Traurigkeit in Jaidens Augen war sicher auch in meinen zu beobachten.
„Es wäre mir eine Ehre.“, bedankte ich mich, nickte dem Fürsten noch einmal zu und machte Platz, damit der Nächste, ein Mann in Grün den Fürsten begrüßen konnte.
„Fürst Jaiden. Vielen Dank für die Einladung. Ich bin mir sicher, dass sich Erzengel Michael geehrt fühlen würde, dass Ihr wieder so einen prächtigen Ball ermöglicht habt.“
„Ich danke Euch, Ritter Thomas von der Rotenburg. Aber sagt, wie geht es mit den Weinbergen voran?“
Ich lächelte Jaqueline noch einmal zu und wendete mich dann gemächlichen Schritten dem Buffet zu. Die persönlichen Gespräche interessierten mich nicht wirklich und ich war mir auch ziemlich sicher, dass sie nicht für meine Ohren bestimmt waren.
Endlich waren sämtliche Gäste angekommen. Ritter, Adlige und Freunde des Fürsten tummelte sich in dem großen Saal, der mit einem Mal gar nicht mehr so groß erschien. Ich lächelte kokett, wenn mir jemand zunickte. Noch verbeugte sich niemand vor mir. Sie wussten ja nicht, dass ich die Ranghöchste hier im Saal war, selbst wenn ich noch nicht gekrönt war.
„Werte Edeldamen, Freifrauen, Ritter, Grafen und Freunde. Wir haben uns heute erneut zusammengefunden, um den Erzengel Michael und seine Brüder zu ehren. Erhebt Eure Kelche, dann wollen wir ein Prosit auf die Erzengel aussprechen.“ Alle erhoben die Kelche, die ihnen wenige Augenblicke vorher einer der Diener in die Hand gedrückt hatte. In meinem befand sich auf meinen Wunsch nur Wasser. Ich mochte zwar das Kwas, doch heute wollte ich komplett nüchtern sein. „Wir danken den Erzengeln, dass sie stets über uns gewacht haben und erhoffen auch in Zukunft ihren Schutz genießen zu können!“
>Den habt Ihr!<, hörte ich plötzlich Gabriels Stimme in meinem Kopf. Ich musste mir ein Kichern verkneifen, so erleichtert war ich, endlich wieder etwas von meinem Engelsvater zu hören.
Ich zwinkerte Nathan, der mit einer schwarzen Maske in der Nähe des Fürsten Stand zu und für einen Moment weiteten sich seine Augen verblüfft, als er begriff, was ich meinte. Selina mit einer türkisen Maske neben ihm kicherte leise. Auch Nathan musste nach dem anfänglichen Schreck schmunzeln, bemühte sich jedoch keine Zähne zu zeigen und nach außen hin ruhig zu bleiben. Der Fürst beobachtete einen Moment neugierig unsere stille Unterhaltung, ehe er fortfuhr.
„Auf den Erzengel Michael, den Erzengel Gabriel und alle anderen Erzengel, die uns stets unterstützt haben.“ Er hob den Kelch, wir anderen taten es ihm nach.
„Auf die Erzengel.“ Das Gemurmel erhob sich im ganzen Raum, ehe jeder dem Fürsten zuprostete und etwas von seinem Getränk nahm. Ich nippte an meinem Wasser, so wie ich es gelernt hatte.
„Nun denn, lasst uns nun das Tanzbein schwingen. Der Abend sei eröffnet!“ Mit diesen Worten stand er auf und schritt durch die Menge auf mich zu.
„Darf ich bitten, Hoheit?“, murmelte er leise und verbeugte sich vor mir. Ich errötet leicht, stellte meinen Kelch auf das Tablet eines nahestehenden Dieners und ergriff seine Hand. Die Menge machte uns Platz, als wir in die Mitte des Raums schritten und er den Musikern ein Zeichen gab. Sofort erscholl eine langsame Walzermelodie. Galant führte mich der Fürst über die Tanzfläche und ich lächelte. Endlich schienen sich auch die Anderen auf die Tanzfläche zu wagen und bald waren wir umgeben von unzähligen tanzenden Paaren.
„Wie bereits gesagt, Ihr seht heute wirklich prächtig aus. Aber sagt. Wie habt Ihr das mit den Tropfen in Eurem Haar gemacht?“
Ich lächelte kokett und antwortete. „Das nennt sich natürliche Schönheit, Jaiden. Aber ich muss das Kompliment zurückgeben. Auch Ihr gefallt mir heute außerordentlich gut.“
Der Fürst lächelte zurück, obwohl ich seine Frage nicht beantwortet hatte. Statt weiter zu fragen drehte er mich, bis ihm plötzlich jemand eine Hand auf die Schulter legte. Ein Mann mit einer schwarzen Maske.
„Ihr erlaubt, mein Freund?“ Ich strahlte Nathan förmlich an und war mehr als froh, endlich in seinen Armen zu liegen. Sie gaben mir noch immer etwas von Sicherheit, obwohl mir die von Markus wesentlich lieber gewesen wären. Der Fürst nickte ihm zu und übergab mich an meinen neuen Tanzpartner. Nun war ein schnellerer Walzer angestimmt worden und ich hatte das Gefühl förmlich durch den Raum zu schweben. Ich merkte, dass ich vor Glück immer mehr strahlte und auch Nathan schien dieses Symptom aufzufallen, denn seine Augen begannen zu leuchten.
„Ihr solltet aufhören, so zu strahlen, Lynn. Sonst erkennt jeder hier im Raum, dass Ihr ein Engel seid.“ Verlegen gab ich ihm Recht und versuchte rasch meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.
„Ihr strahlt immer noch!“, gab mir Nathan trocken zu verstehen. Ich ließ nur ein undamenhaftes Schnauben hören und trat ihm so fest ich konnte auf den Fuß. Er lachte nur unterdrückt, verkniff sich jedoch jeden weiteren Kommentar.
Die Wut darüber ließ endlich mein Leuchten verblassen und ich grinste erleichtert.
„Nicht sehr königlich, Lynn!“, neckte mich Nathan leise.
„Ach halt doch deine Klappe!“, brummte ich ihm ins Ohr und ließ mich dann von ihm drehen. Als sich endlich meine Welt wieder normalisiert hatte, konzentrierte ich mich auf meine Umgebung. Jaiden tanzte gerade mit seiner Nichte und Selina schaute sehnsüchtig zu uns herüber. Genauso wie einige Männer, bei denen ich mir jedoch sicher war, dass sie nur auf mein Dekolletee scharf waren.
„Vielleicht solltet Ihr Euren nächsten Tanz mit Eurer Ziehtochter wagen. Sie scheint mir ziemlich einsam zu sein und ich brauche dringend eine Erfrischung.“, wies ich ihn auf Selina hin. Den Angeboten der Männer wollte ich nicht nachkommen. Der Fürst hatte mir erklärt, dass drei Tänze für mich Pflicht waren, ehe ich mich diskret zurückziehen durfte und den Männer auch eine Ablehnung geben durfte. Aber nur diskret. Am liebsten wäre es ihm, ich würde jedes Angebot annehmen, doch ich hatte mich schon im Voraus dagegen geweigert, egal was die Etikette besagte. Den dritten Tanz würde ich nach dem Lüften der Masken haben und bis dahin wollte ich mir etwas Ruhe gönnen.
„Wie Ihr meint, Hoheit!“, gab Nathan distanziert zurück und drehte mich noch ein letztes Mal. Ich warf ihm ein dankbares Lächeln zu und knickste leicht, während Nathan mit einer Verbeugung endete und seine Hand meiner entzog, um Selina zum Tanz aufzufordern. Eilig verließ ich die Tanzfläche und begab mich zum Buffet. Der Diener, der meinen Kelch vorhin an sich genommen hatte, war in der Menschenmenge verschwunden. Doch in der Nähe des Essbuffets fand ich einige Sektgläser und eine eisgekühlte Flasche. Tradition hin oder her. Darauf schien der Fürst nicht verzichten zu wollen. Ich dagegen hatte mir geschworen, nur alkoholfreies zu trinken und so sah ich mich rasch um, ehe ich mithilfe meiner Gabe mein Glas mit Wasser füllte. Gerade war ich fertig geworden, als eine Stimme mich herumfahren ließ.
„Guten Abend, holde Maid. Ihr wart vorhin so schnell verschwunden, dabei hätte ich mich gerne noch mit einer Schönheit, wie Ihr es seid, unterhalten.“
Der Mann von vorhin in Dunkelgrün hatte sich mir genähert. Doch ich war mir sicher, dass er nichts von meinem kleinen Kunststück mitbekommen hatte. Vor allem, da mein Rücken die ganze Bändigung verborgen hatte. Dennoch lächelte ich höflich und hoffte, dass in meinem Lächeln nicht die Unsicherheit bei seinem Auftauchen herauskommen würde.
„Seid gegrüßt, werter Ritter. Was verschafft mir die Ehre, Eure Aufmerksamkeit zu wecken?“
„Ihr scheint schlagfertig zu sein, Schönheit. Ich frage mich wie Euer Antlitz unter der Maske aussieht. Vermutlich seid Ihr noch schöner als jetzt.“
„Ihr schmeichelt mir, werter Ritter. Auch Euer Gewand betont vortrefflich Eure Augen.“ Das stimmte. Je genauer ich ihn mir ansah, umso mehr sah ich, dass er ein wahrer Augenschmaus war. Doch mit Markus konnte er nicht mithalten. Markus. Warum musste ich gerade jetzt an ihn denken. Schnell konzentrierte ich mich wieder auf den muskulösen Mann mit den grünblauen Augen und dem schütteren, schwarzen Haaren vor mir. Er musste etwa Ende Zwanzig sein, doch genaueres konnte ich nicht sagen. Vor allem, so lange er seine waldgrüne Maske trug.
„Ich habe Euch noch nie gesehen, Schönheit. Eine Frau Eures Anmutes wäre mir sicher in Erinnerung geblieben.“ Die Frage nach meiner Herkunft stand im Raum. Doch noch war es nicht an der Zeit sie zu beantworten. Kokett lächelte ich, doch ich war innerlich vorsichtig geworden.
„Nun, werter Ritter. Ich muss zugeben, dass mir bislang eine Veranstaltung dieser Art unmöglich zu besuchen war. Daher erfreut es mich nun umso mehr in diesen Genuss zu kommen.“ Wieder lächelte ich freundlich. Der Ritter schien verwirrt, doch ehe er erneut eine Frage stellen konnte, kam Jaiden zu uns.
„Wie ich sehe, habt Ihr bereits meinen Ehrengast kennengelernt, Thomas.“ Er lächelte den Ritter an und wandte sich an mich. „Darf ich vorstellen: Dies ist Thomas von der Rotenburg. Ein guter Freund von mir.“
Ich nickte dem Ritter grüßend zu. Nun war er mir immerhin offiziell vorgestellt worden und als Ritter stand er eindeutig unter mir. Er machte eine Verbeugung.
„Es ist mir eine Ehre, -“ Er machte eine Pause, offenbar in der Hoffnung, nun auch meinen Namen zu erfahren, doch ich lächelte nur und bedeutet ihn sich wieder zu erheben. Verwirrt schaute er zwischen Jaiden und mir hin und her.
„Kommt Ihr?“, wandte sich Jaiden schließlich lächelt an mich, verbeugte sich kurz und zog mich mit sich zu den Thronen.
„Gleich ist der dritte Tanz vorbei und wir wollen unser wahres Gesicht zeigen.“ Ich errötete und hoffte, unter meiner Maske nicht allzu schlimm auszusehen. Lynn, jetzt reiß dich zusammen, ermahnte ich mich selbst in Gedanken.
„Jaiden?“, fragte ich den Gestaltwandler leise, als wir die Throne erreichten und hoffte niemand würde mich hören. „Was ist der Ritter Thomas von Rotenburg für ein Arsanimali.“ Die kalte Ausstrahlung, die er auf mich hatte, verursachte noch immer eine Gänsehaut auf meinem Rücken. Auch an meinen Gedanken hatte ich das kalte Kribbeln gespürt, die jedoch nicht weiter zu Schaden gekommen waren, soweit ich beurteilen konnte.
Nachdenklich sah mich der Fürst an. „Ein Vampir. Wieso fragt Ihr? Hat er Eure Gedanken gelesen?“
Was? „Er kann Gedanken lesen?“ Ich konnte den Schreck auf diese Aussage kaum aus meinem Gesicht verbannen. Ich holte tief Luft und warf einen Blick zu dem Ritter, der mich nachdenklich beobachtete. Er schien jedes Wort mitzubekommen, dass wir sprachen. Jaiden folgte meinem Blick. Zu meiner Verwunderung begann er leise zu schmunzeln. Fragend sah ich ihn an.
„Oder sagen wir, er hat es versucht. Aber anscheinend seid Ihr irgendwie dagegen immun oder geschützt, sonst würde Thomas nicht so über Euch grübeln.“, offenbarte er mir schließlich, den Ritter genau musternd. Verblüfft starrte ich ihn an. Woher wusste er das? Und warum waren meine Gedanken geschützt? Ob das mit Gabriels Blut zu tun hatte? Oder war es eine weitere Gabe von mir?
„Schaut mich nicht so an. Sonst denke ich noch etwas, dass Thomas mehr über Euch sagen könnte, bevor ich es offiziell machen kann.“ Ich nickte verstehend und bemühte mich rasch um Fassung. Ein kurzer Blick zu Nathan und Selina, die derzeit auf der Tanzfläche ein wahres Kunstwerk vollbrachten, half mir wieder ruhiger zu werden. Meine Miene wurde milder, während ich sie betrachtete. Was würde ich nur ohne sie machen?!
Endlich erklangen die letzten Klänge des Orchesters und Jaiden meldete sich erneut zu Wort.
„Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir uns in die Augen sehen wollen. Daher bitte ich Euch nun: Nehmt Eure Masken ab und zeigt Eurem Gegenüber, wer Ihr seid.“
Auf seine Worte hin, ergriff jeder nach seiner Maske und offenbarte sein ganzes Gesicht. Ich war froh, dass ich meine Maske ohne Probleme abbekam. Ein Blick in mein Sektglas zeigte mir, dass mein Gesicht unberührt von Spuren einer Maske dalag und ich atmete erleichtert aus. Erst da bemerkte ich die neugierigen Blicke der Anderen auf mir, da ich direkt neben Jaiden vor dem prachtvollen Thron stand.
„Bevor ich zu Speis und Trank rufen werde, möchte ich Euch noch den Ehrengast an meiner Seite vorstellen. Das ist –“
In diesem Moment wurde die Tür des Ballsaal mit Wucht aufgestoßen und einige Raubkatzen, angeführt von einem weißen Tiger sprangen herein. In einer geschmeidigen Bewegung zog ich von hinten den Dolch von meinem Oberschenkel und warf ich auf eine der rasch sich nähernden Großkatzen, die uns nicht gerade freundlich gegenüber gestimmt schienen. Ich traf den sibirischen Tiger nur am hinteren Lauf, da ich das Werfen des Dolches nicht gewöhnt war. Dies schien die anderen Großkatzen jedoch nicht aufzuhalten. Immer näher kamen sie und rasch kippte ich mein Glas und ließ mithilfe des Wassers, das ich rasch vermehrte eine zwanzig Zentimeter dicke und zwei Meter hohe Wand aus Wasser vor den Thronen entstehen. Nun waren die Großkatzen leicht verschwommen und ich machte rasch eine kaum wahrnehmbare Handbewegung, um das Wasser zu klaren. Die Großkatzen waren erschrocken vor dem Wasser stehen geblieben und sahen den Fürsten an, der sie wachsam beobachtete.
„Fer, mein junger Freund. Wandelt Euch und sagt mir bitte, was dieser ganze Aufmarsch Eures Rudels zu bedeuten hat. Wir ehren heute die Erzengel und ich bezweifle, dass Ihr gerade willkommen seid. Also bitte erklärt Euer Auftauchen oder wartet besser bis zu einem späteren Zeitpunkt.“
>Hört sie an. Es ist wichtig!<, schaltete sich Gabriel ein.
„Lasst sie sprechen, Jaiden.“, bat ich den Fürsten. Er warf mir einen fragenden Blick zu, nickte aber.
„Nun denn.“ Er nickte einem der Diener zu, der wenige Minuten später mit einem weißen Überwurf wiederkehrte, ehe er sich an den weißen Tiger wandte, der mir einen abschätzenden Blick zuwarf, sich dann aber verwandelte. Rasch sah ich weg, als ich bemerkte, das er nackt war und traute mich erst wieder hinzugucke, als ich mir sicher war, dass er den weißen Überwurf trug.
Moosgrüne Augen schauten den Fürsten traurig an. Er schien noch ein junger Erwachsener von vielleicht sechzehn, siebzehn Jahren zu sein. Seine weißen kurzen Haaren waren ungekämmt und von der Reise verwuschelt. Er machte einen ziemlich erschöpften Eindruck und schien schon bessere Tage nach seinem verdreckten Aussehen nach, gesehen zu haben. Die Traurigkeit in seinen Augen konnte ich nicht ganz deuten, doch sofort regte sich Mitleid in mir. Der junge Mann vor mir, schien jemanden sehr wichtiges verloren zu haben.
„Mein Fürst. Verzeiht mir bitte mein wüstes Eindringen. Ich fürchte, ich habe die Wachen nicht gerade in einem pfleglichen Zustand zurückgelassen, doch ich brauche dringend Eure Hilfe.“
Der Fürst warf ihm noch einen Blick zu, nickte dann aber und bedeutete ihm fortzufahren. Der Junge holte tief Luft.
„Meine Gefährtin ist schwer krank. Sie hat sich in dem Kampf mit Atro überanstrengt und konnte ihn nur im Aufbringen sämtlicher Kraft besiegen. Leider hat sie uns ihre Schwangerschaft verschwiegen und ist durch die Überanstrengung in eine Art Koma verfallen. Der Erzengel Michael hat uns auf die Suche nach ihrer Schwester geschickt. Sie soll die Einzige sein, die ihr noch helfen kann.“
„Eure Gefährtin hat Atro besiegt?“, fragte Jaiden verwundert. Auch ich starrte den Tiger mit großen Augen an, wie fast jeder in diesem Raum. Der Junge nickte stolz.
„Wer ist denn Eure Gefährtin?“ Der Tiger warf einen beunruhigten Blick in die Runde, ehe er beschloss die Hilfe seiner Gefährtin sei wichtiger, als die Gerüchte, die entstehen würden.
„Meine Gefährtin Carrie. Aber Ihr kennt sie vermutlich eher als Prinzessin Elisabeth, Tochter von König Borkil und Königin Freia.“
Meine Mauer zerbrach.
Kapitel 10
Wasser spritzte umher und traf den Tiger und seine Gefährten, die fauchend zurücksprangen, während mir ein verzweifeltes „Nein!“ entfuhr. Meine Schwester durfte nicht schwer verletzt sein und im Koma liegen. Meine Schwester durfte nicht in einem Krieg gewesen sein. Und warum in alles in der Welt war Elisabeth schon schwanger? Immerhin war sie doch zwei Jahre jünger als ich und somit maximal sechzehn.
„Sagt mir, dass das nicht wahr ist?!“, verlangte ich verbittert. Meine Stimme brach beinahe bei jedem Wort, doch ich drängte die Tränen zurück, die aus meinen Augen fließen wollten.
„Sagt mir, dass meine Schwester nicht im Sterben liegt?! Und vor allem sagt mir, dass sie nicht in einen Kampf ziehen musste?! Sie ist doch erst fünfzehn!“ Ich brach zusammen und konnte gerade noch so von Nathan aufgefangen werden, der rasch herbeigesprungen war. In der Halle herrschte Totenstille, ehe der Junge schließlich hervorstieß: „Eure SCHWESTER?!“
Ich wischte mir die Tränen weg, die nun doch über meine Wangen rannen. Meine Haare waren nass, denn der Zauber hatte sich gelöst, als ich zusammengebrochen war. Ich holte tief Luft.
„Ja, meine Schwester Carrie Elisabeth Crown.“
„Woher-?“ Er brach ab. „Ihr seid Elara. Die erstgeborene Tochter von König Borkil und Königin Freia.“, stellte er fassungslos fest. Im ganzen Saal kam es zu einem allgemeinen Luftschnappen. Ich nickte.
„Ja. Ihr habt soeben meine offizielle Vorstellung zerstört.“, witzelte ich, doch das Lächeln erreicht nicht meine Augen. „Mein voller Name lautet Eveline Elara Meier.“ In den Augen von Thomas glaubte ich kurz Verblüffung und Erkenntnis aufblitzen zu sehen, doch weder seine Reaktion noch die der anderen im Raum interessierte mich großartig. Ich wandte mich an den Fürsten.
„Verzeiht bitte, Jaiden, dass der Gefährte meiner Schwester mit seinem Rudel hier so hereingeplatzt ist. Da er aber eine wichtige Botschaft hatte und dringend meine Hilfe benötigt, würde ich Euch bitten, mich noch heute Abend gehen zu lassen. Ich muss dringend nach meiner Schwester sehen und ich bin mir sicher, dass die Erzengel dafür Verständnis haben werden. Ich danke Euch für alles, was Ihr hier für mich getan habt, doch nun rufen mich andere Pflichten. Ich hoffe bei allen hier im Raum auf Verständnis für meine Situation zu stoßen und bitte Euch inständig, mein Erscheinen erst einmal für Euch zu behalten bis sich die Situation entschärft hat.“ Zustimmendes Gemurmel wurde breit, obwohl ich in einigen Augen sah, dass sie gerne noch ihre Neugier gestillt hätten. Mein Blick glitt von Jaiden, der sich noch nicht ganz entschieden hatte zu meinen Freunden. „Nathan, Sel, begleitet ihr mich bitte? Ich werde zwar Meggie mitnehmen, würde mich an eurer Seite aber sicherer fühlen!" Selina erklärte sich sofort mit einem eifrigen Nicken bereit, während Nathan noch einmal einen nachdenklichen Blick zu dem Fürsten warf, ehe er langsam nickte.
„Nun, Elara. Ich scheine Euch ja nicht aufhalten zu können. Also werde ich Euch meinen Segen geben und hoffe, dass Euch das Glück hold sein wird.“ Der Fürst schien wirklich sehr unglücklich mit dieser Entscheidung zu sein, doch ich musste dringend meiner Schwester beistehen und konnte so keine Rücksicht darauf nehmen.
„Macht Euch keine Sorgen, Jaiden. Ich bin sicher, Erzengel Gabriel wird über mich wachen.“
>Worauf du dich verlassen kannst!<, bestätigte eine Stimme in meinem Kopf meine Aussage. Es schien ihm todernst zu sein.
„Das hoffe ich. Ich wünsche Euch viel Glück, Prinzessin und hoffe Euch irgendwann den Thron ersteigen zu sehen. Ich bin sicher, mein Sohn Markus hätte sich nichts anderes gewünscht.“
„Augenblick.“, schaltete sich eine junge Frau ein, die noch vor Sekunden ein Luchs gewesen war. Ihr schien ihre Nacktheit nichts auszumachen. „Wir sind vor zwei Tagen auf ein paar Palinas gestoßen, die einen schwer verletzten jungen Mann mit sich trugen. Wir konnten ihn nicht befreien, aber er sprach davon, dass wir seinen Vater benachrichtigen sollen, eine gewisse Ev um jeden Preis zu beschützen. Sein Name, Markus, war das letzte, was er uns sagen konnte, ehe er das Bewusstsein verlor und wir fliehen mussten, als die Trinas uns sahen.“
„Markus lebt?“, hauchte ich und spürte sowohl die Blicke des Alphatieres, als auch die der Luchsdame und seines Vaters auf mir. Die Träne die mir aus dem Augenwinkel rann, konnte ich nicht verbergen, genauso wenig, wie die Hoffnung, die in meinen Augen aufglomm.
„Allerdings nicht mehr lange. Atro ist zwar Tod, doch die Palinas scheinen noch immer von irgendwem angeführt zu werden und auch der Schatten hat überlebt. Ich nehme an der Fürstensohn befindet sich derzeit in einem Verließ, wo kann ich nicht sagen. Aber ich nehme es Euch immer noch übel, dass Ihr meinen Gefährten verwundet habt.“ Sie warf dem orangenen Tiger einen kurzen Blick zu, der sich über das verletzte Bein leckte und ich errötete vor Scham.
„Es tut mir wirklich sehr Leid, Euren Gefährten verletzt zu haben. Ihr schient mir nicht gerade Jaiden wohlgesonnen zu sein und so habe ich einfach gehandelt. Aber nun zurück zu Markus. Besteht die Möglichkeit ihn zu retten und danach meine Schwester aufzusuchen oder ist Elisabeths Zustand wirklich so kritisch?“
Nun schaltete sich das Alphatier wieder ein. „Meiner Gefährtin geht es mit jedem Tag schlechter und Michael sagte, Ihr seid die Einzige, die noch etwas tun kann. Wo sich der Fürstensohn jetzt befindet kann ich nicht sagen, aber es würde Wochen dauern, es herauszufinden und ihn zu befreien. Wenn er überhaupt noch am Leben ist. Diese Zeit hat Carrie nicht.“ Er wirkte betrübt. Ich schniefte. Dabei war mir völlig egal wie damenhaft oder königlich das Ganze war. Immerhin ging es hier um meine Schwester. Aber sollte ich Markus wirklich zurücklassen.
„Hoheit?“ Die Stimme eines Mannes aus der Menge riss mich aus meinen trübseligen Gedanken. Ich schaute auf und begegnete den grünblauen Augen von dem Ritter Thomas. „Ich sehe, warum Ihr bereits fortgehen müsst. Doch mit einem zerrissenen Herzen seid Ihr nur halb so stark. Deswegen verspreche ich Euch: Ich werde mich persönlich auf die Suche nach dem Jungfürsten Markus machen und ihn befreien, koste es, was es wolle.“ Aufrichtig sah er mich an und ein dankbares Lächeln schlich sich auf mein verweintes Gesicht.
„Habt Dank, Thomas von Rotenburg. Ihr habt Recht. Ich wäre nicht ganz bei der Sache, wenn ich mich die ganze Zeit um Markus sorgen müsste. Daher wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr Euren Vorschlag zu einem Versprechen macht und Markus wohlbehalten zu seinem Vater bringen könntet. So wäre es wesentlich leichter für mich, mich vollends auf meine Schwester zu konzentrieren.“
Der Vampir verbeugte sich. „Dann werde ich Euch das Versprechen geben, Hoheit.“
Ich wandte mich wieder an Jaiden. „Nun, lebt wohl. Ich hoffe, Euer Sohn kehrt wohlbehalten zu Euch zurück und ich bin mir sicher, Euch und ihn eines Tages wieder zu sehen. Doch jetzt werde ich gehen. Lebt wohl.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und rauschte aus dem Raum. Die Gestaltwandler sahen sich kurz verwundert an, verbeugten sich vor dem Fürsten und folgten mir dann. Sowohl die Luchsdame als auch das Alphatier hatten sich gewandelt und schienen mich nun nichtmehr aus den Augen lassen zu wollen. Kein Wunder. Immerhin war ich die einzige Chance für ihr Alphatier. Für meine kleine Schwester.
„Nathan. Könntest du mir ein paar schwarze Sachen, vor allem eine Hose besorgen. Noch einen Tag länger in einem Kleid und ich bringe jemanden um.“, raunte ich dem Halbvampir hinter mir zu. Die Gestaltwandler gaben ein Schnauben von sich, das vermutlich ein Lachen gewesen wäre.
>Genau wie die Schwester!<, schmunzelte Gabriel.
Jetzt brauchte ich nur noch meine Waffen. Apropos Waffen. Ich drehte mich um. Der Tiger mit dem verletzten Hinterlauf humpelte ein wenig hinter den anderen her, schien jedoch keinerlei Schwäche zeigen zu wollen. Mmmh. Ich hatte mich geheilt. Vielleicht konnte ich auch ihn heilen.
>Sehr gut, meine Tochter. Du scheinst eine der Gaben, die ich dir mit meinem Blut weitergeben habe, endlich entdeckt zu haben.<
>Ich kann auch andere heilen?<, fragte ich überrascht.
>Ja. Mithilfe deiner Wassergabe und als meine Tochter hast du auch die Kraft, Energien im Körper zu lenken und somit außerdem Vorstellungen und Gedanken zu beeinflussen. Außerdem kannst du die Wahrheit erkennen und andere dazu bringen, sie zu äußern. Das alles sind Engelskräfte, die ich dir vererbt habe. < Ich nickte geistesabwesend.
Noch einmal schaute ich auf die Türen zum Saal, die sich inzwischen geschlossen hatten, dann wieder auf den verletzten Gestaltwandler. Ich hatte beschlossen, die ganzen Höflichkeiten wegzulassen, nun da der Ball ja vorbei war.
„Es tut mir wirklich leid, dich verletzt zu haben, Tiger. Ich war nur ziemlich erschrocken gewesen. Allerdings kann ich laut Gabriel heilen und würde dir gerne so helfen, wenn du einverstanden bist.“ Unsicher sah ich ihn an. Der Tiger sah mir eine Zeitlang in die Augen, dann nickte er langsam. Die Luchsdame knurrte, doch sie rührte sich nicht, als ich langsam auf den Tiger zuging und mich auf die Knie sinken ließ.
>Wie kann ich heilen?<, übermittelte ich unsicher meine Frage an Gabriel.
>So wie du dein bzw. mein Element bedienst. Lege deine Hand auf die Wunde und rufe deine Engelsgestalt hervor. Dann ist es leichter. Das Wasser in dir wird die Wunde kühlen und der Rest kommt von ganz alleine. Es ist anfangs ein sonderbares Gefühl, aber ich bin mir sicher, du gewöhnst dich daran. Bedenke aber bitte, dass jede Heilung an deinen Kräften zerrt und du dich selbst nicht überanstrengen solltest!<, erklärte er mir geduldig. Unsicher schluckte ich, konzentrierte mich dann aber.
„Macht mal bitte ein bisschen Platz. Und vor allem erschreckt nicht und greift mich an!“, sagte ich laut und ließ dann meine Flügel wachsen. Den Wachen vor dem Ballsaal fielen beinahe die Augen aus, doch sie würden schweigen, da war ich mir sicher. Fasziniert starte das Alphatier auf meine Flügel, doch ich war mir sicher, dass sie nicht die Ersten waren, die er sah, denn Erkenntnis war in seinen Augen zu erkennen. Erkenntnis und Sehnsucht, nach der Person, die ebenfalls Engelsflügel besaß.
„Ich weiß nicht, wie es sich anfühlen wird, doch ich versuche mein Bestes, um dir zu helfen!“, informierte ich den Tiger und legte dann, wie von Gabriel angewiesen meine Hände auf die Wunde und konzentrierte mich auf das Element in mir. Das Element und einem Licht, dass knapp neben dem Tropfen tief in meinem Herzen zu erwachen schien. Engelskräfte, schoss es mir durch den Kopf und fasziniert beobachtete ich, die verschiedenen Lichtbahnen im Körper des Gestaltwandlers, die sich wie Arterien durch seinen ganzen Körper zogen. Vor allem um sein Herz herum strahlten sie am Stärksten. Auch die anderen inneren Organe schienen in ein einziges Licht getaucht. Doch den Ursprung dieser Energiebahnen gab die Wirbelsäule. Ich glaubte mich daran zu erinnern, dass ein normaler Mensch sieben Chakren in seiner Wirbelsäule hat, die miteinander verbunden die Energien des Körpers leiten. Vorsichtig zog ich ebenfalls ein dünnes Lichtfädchen aus diesem Lichtnetz und ließ es durch den Körper des Gestaltwandlers wandern. Der Tiger fröstelte unter mir, doch ich ließ mich nicht ablenken. Während ich die Energie durch seinen Körper leitete, ließ ich Wasser, das mir über die Hände floss die Wundränder beruhigen und die Wunde reinigen. Es kribbelte, als wären tausend Ameisen in meinen Händen zugegen. Meine Hand wurde warm. Die Energie, die ich noch immer klar vor Augen sehen konnte, durchflutete jetzt die Wunde und fasziniert konnte ich vor meinem inneren Auge sehen, wie sich die Sehnen wieder vereinten, der Muskel an Kraft zunahm und schließlich sich die verschiedenen Hautschichten Subcutis, Cutis und Epidermis schlossen, bis nicht mal mehr eine Narbe von der Verletzung zurückblieb. Mit einem Blinzeln verschwand meine Sicht auf seine Energie. Erschöpft ließ ich mich nach hinten zu Boden sinken, ließ meine Engelsflügel wieder verschwinden und sah den Tiger noch immer entschuldigend an, der jedoch nur dankbar, einmal über meine Hand leckte, bis ich ihn zwischen den Ohren kraulte und er schnurrte. Von dem Luchs kam ein eifersüchtiges Fauchen und rasch zog ich meine Hand wieder zurück.
>Gute Arbeit, meine Tochter!<, lobte mich Gabriel. Ich lächelte leicht.
Der Tiger stupste gegen meine Hand, offenbar in der Annahme, ich würde ihn weiter graulen.
>Danke!< Ich erstarrte, als ich die geistige Antwort von ihm vernahm.
„Gern geschehen!“, brachte ich stammelnd heraus und schluckte schwer, als sich gleichzeitig alle Blicke auf mich richteten.
>Gabriel, warum kann ich ihn verstehen?< Ich wusste nicht ganz, ob ich fasziniert, erfreut oder verängstigt sein sollte. Vielleicht lag auch eine Spur Neugier in meiner Stimme.
>Du hast ihn geheilt und somit ist ein Teil von dir in ihn geflossen. Nur ein ganz kleiner Teil, aber dadurch kannst du ihn bei Berührung verstehen. Außerdem ist deine Schwester Rudelangehörige und sogar Alphatier und du somit über gewisse Umwege auch.<
>Aber ich bin doch kein Gestaltwandler. Jedenfalls nicht in dem Sinne. Meine Schwester ist doch ein Ignisaeri, oder?<, protestierte ich schwach.
Gabriel ließ mir nur ein zustimmendes Gefühl zukommen und zog sich dann aus meinem Geist zurück, offenbar in der Annahme, ich würde einige Zeit für mich brauchen, um diese Neuigkeiten zu verarbeiten. Mit einem Schlag wurde mir bewusst, wie erschöpfend Heilen doch sein musste. Und dass war gerade einmal ein Kratzer gewesen. Wie sollte ich es dann schaffen, meine Schwester zu heilen. Gedankenverloren strich in dem Tiger, der sich noch immer in meiner Nähe befand über den Kopf, ohne jedoch ihn weiter wahrzunehmen. Die schien die Luchsdame genauso zu sehen, denn sie gab kein weiteres Fauchen von sich, sondern beobachtete nur jede meiner Bewegungen.
„Lynn?“ Ich schaute auf. Nathan und Selina waren zurückgekehrt. Beide hatten ein Bündel dunkler Kleidungsstücke, sowie ihre Rücksacke und für mich eine Umhängetasche dabei.
„Wir haben dir ein paar Sachen mitgebracht und für das Rudel einige tarngrüne Umhänge und Jogginghosen. Es wäre leichter mit Euch zu reden, wenn Ihr in Menschengestalt seid. Seid Ihr damit einverstanden, Alpha Fer?“
Der weiße Tiger nickte und wie auf einen geistigen Befehl hin, verwandelten sich alle in Menschen. Schnell zog ich meine Hand zurück und sah weg. Die Nacktheit war mir noch immer ziemlich unvertraut, da ich größtenteils unter Menschen aufgewachsen war. Nathan warf dem Rudel jeweils einen der tarngrünen Umhänge und die Jogginghosen zu und auch ich ließ mir von Selina die schwarze Uniform geben. Mit einem raschen Blick auf das Rudel drehte ich mich um, suchte mir die nächste Nische und zog mir rasch das schwarze Top und die schwarze, elastische Jeans an. Anschließend ließ ich mir von dem Vogelwandler noch meine Waffen geben. Meine nassen Haare konnte ich mit einem einzigen Gedanken trocknen lassen und band sie schließlich zu einem Pferdeschwarz zusammen, obwohl ich sie lieber offen trug. Aber im Kampf und im Wald war es einfacher. Mit einem erfreuten Lächeln schlüpfte ich in die Stiefel, die mir Selina ebenfalls mitgebracht hatte und versteckte jeweils ein Messer in ihnen. Die Dolche gaben dem Gürtel das nötige Gewicht und ich fühlte mich sofort besser. Mit sicheren Schritten ging ich auf die beiden Wachen zu, das Kleid ordentlich zusammengefaltet.
„Würdet Ihr das bitte dem Fürsten mit dem besten Dank von mir zukommen lassen, wenn der Ball vorbei ist?“
Ehrfürchtig nickten beide. Offenbar hatten sie noch immer das Bild von mir als heilenden Engel vor Augen.
„Dankeschön.“ Ich wandte mich ab.
„MEGGIE!“, rief ich. Sofort kam meine junge Kammerdienerin angerannt.
„Lynn. Was ist passiert?! Warum seid Ihr nicht auf dem Ball?“
Ich lächelte ihr liebevoll und beruhigend zu, ehe ich ihr mit sanftem Ton die Neuigkeiten erzählte. „Wir werden fortgehen. Meine Schwester benötigt dringend meine Hilfe und da ich bezweifle, dass Jaiden genügend Respekt inzwischen vor seiner Dienerschaft hat, würde ich dich bitten wollen, mich zu begleiten. Ich habe dir versprochen, dafür zu sorgen, dass du nie wieder zurückmusst und das Versprechen halte ich. Es sei denn, du willst lieber hier bleiben. Ich lasse dir die Wahl.“
Verängstigt starrte sie erst auf die Gestaltwandler, die ebenfalls von Nathan mit Waffen versorgt worden waren, dann auf mich. Ihre Atmung zitterte leicht, doch sie nickte langsam.
„Ihr habt mir Hoffnung gegeben. Ohne Euch ist diese Villa nicht mehr dieselbe. Bitte lasst mich mit Euch kommen.“
Ich nickte erfreut, zog dann jedoch streng die Augenbraue hoch.
„Unter einer Bedingung. Und die gilt für Euch alle!“
Fragende Blicke trafen auf mich, obwohl der Blick von Meggie eher flehend war. Ich war mir sicher, sie würde alles tun, solange ich sie hier herausholte.
„Ihr werdet mich duzen. Immerhin bin ich auch nur ein ganz normaler Arsanimali, ehe ich gekrönt wurde und danach auch und möchte nicht als höhergestellt behandelt werden. Ist das klar?“
Ich sah sie der Reihe nach scharf an. Auf dem Gesicht des Gestaltwandlers bildete sich ein Lächeln, während Meggie verunsichert wirkte.
„In Ordnung. Da Carrie auch nicht mit sich darüber reden ließ, habe ich kein Problem damit. Aber wie wollte Ihr dann von uns genannt werden, Hoheit?“
Der Junge mit den moosgrünen Augen und den weißen Haaren sah mich neugierig an.
So, so. Meine Schwester schien mir wirklich ähnlich zu sein. „Nennt mich einfach Lynn. Und lasst um Himmels Willen solche Anreden wie Hoheit, Prinzessin oder Ihr weg.“
Das Grinsen des Alphatieres wurde breiter. „In Ordnung. Ich bin Fer, Carries Gefährte oder Socius.“
Er deutete auf die ehemalige Luchsdame. „Das ist Lynca. Die Socia von-“ Sein Finger glitt weiter, auf den ehemaligen Tiger, den ich geheilt hatte. „Ruber.“
Mein Blick fiel weiter auf einen etwa zwanzigjährigen, weißblonden, jungen Mann, der sich laut meinen Erinnerungen in einen Löwen verwandeln konnte. „Alpha Leon vom Nördlichen Rudel in Russland und Socius meiner Cousine Fil.“
„Und schließlich Prit.“ Ein Schneeleopardenweibchen. „und Patti“ Ein Panther. „aus meinem Rudel.“ Ich nickte jeweils grüßend den Gestalten zu.
„Das sind meine Freunde Nathan, Selina und Meggie.“, stellte ich kurz vor und zeigte auf die jeweilige Person.
„Wann habt ihr das letzte Mal gegessen oder geschlafen. Ich würde gerne bald los, doch es bringt mir nichts, wenn einer von euch zwischendurch zusammenbricht.“ Meine Stimme klar strenger, als ich mich fühlte.
„Ein paar Stunden Schlaf konnte uns allen gut tun. Immerhin sind wir die letzten fünf Tage nahezu durchgerannt. Auch gegen etwas zu Essen oder ein Bad hätten wir nichts einzuwenden, allerdings drängt die Zeit und so wollen wir eher uns gleich auf den Weg machen und uns notfalls mit Schlafen abwechseln.“
Fer schien eindeutig den Ton anzugeben, obwohl er dabei Leons Autorität nicht untergrub, sondern mit einem stummen Blick immer um sein Einverständnis fragte.
„Gut. Dann lasst uns los. Meggie, könntest du uns vielleicht noch etwas zu Essen besorgen und dir ein paar praktische Kleider einpacken? Wir treffen uns am Haupteingang. In zwanzig Minuten geht es los.“
Während Meggie loshastete und sicher ein paar geheime Botengänge benutzte, führte ich meine Freunde und unsere Gäste zum Haupteingang und ließ sie zumindest für zehn Minuten etwas schlafen, nachdem ich ihnen versprochen hatte, aufzupassen.
Kaum hatte sich das Rudel hingelegt und die Augen geschlossen, begann mich Nathan leise mit Fragen zu bestürmen.
„Traust du ihnen?“ Fast schon ängstlich warf er einen Blick auf die Liegenden. Einige hatten ihre Umhänge abgestreift und sich lieber als Tier zusammengerollt, andere waren an eine Säule gelehnt eingeschlafen.
Ich betrachtete sie näher. Irgendwie weckte ihr friedlicher Anblick eine Art Mutterinstinkt in mir. Sie waren alle noch so jung. Vor allem das Alphamännchen, der Gefährte meiner Schwester.
„O ja. Ich denke zwar, dass ich mir noch ihr Vertrauen verdienen muss, immerhin habe ich einen von ihnen angegriffen, doch ich denke dass sie auf jeden Fall die Wahrheit sagen. Nein, ich weiß es. Sie haben schon so viel Schlimmes hinter sich. Tod, Krieg und vor allem Fer scheint die Angst um meine Schwester sehr mitzunehmen. Er scheint seit Tagen nicht mehr geschlafen zu haben. Also warum sollten sie uns auch anlügen?“
„Woher kanntest du den ganzen Namen von deiner Schwester?“ Ich sah, dass Fer ein Auge geöffnet hatte und mich mit seinem Blick durchbohrte. Auch ihn schien diese Sache nicht aus dem Kopf zu gehen.
„Gabriel hat mir von ihr erzählt.“ Mir blieb keine andere Wahl, als ihnen die Wahrheit zu sagen und ich hoffte, der Erzengel würde es verstehen.
„Dann bist du wohl genauso mit einem Erzengel verbunden, wie deine Schwester.“, stellte Fer leise fest. Er schien noch immer nicht schlafen zu können. Kein Wunder. Ich würde es auch nicht, nun wo ich von Carries Zustand wusste.
Ich nickte. „Deswegen sind wir auch beide Halbengel.“
Diese Aussage schien alle ziemlich nachdenklich zu stimmen, doch bevor jemand weiter Einwände erheben konnte, kam bereits Meggie zu uns und wir ließen rasch das Gespräch verstummen. Ein kleiner Rucksack lag um ihre schmächtigen Schultern und auf ihren Händen balancierte sie ein riesiges Tablett.
„Etwas Brot, Fleisch und Käse, ehe wir uns auf den Weg machen. Es ist nicht viel, müsste aber genügen.“, ließ sie mit einem unterwürfigen Blick auf mich vernehmen. Ich seufzte innerlich. Diese Geste würde ich ihr unbedingt noch austreiben müssen.
Kaum drang der Geruch nach Hühnerbeinen, Steak und frischen Brot an die Nasen der Gestaltwandler, schon ging ein ziemlicher Ruck durch die Reihen. Naja Essen konnte wohl niemand wiederstehen. Ich fragte mich, wie lange sie wohl nichts mehr gegessen hatten und nahm mir rasch eine Scheibe Brot und ein Stück Käse, ehe sich das Rudel auf das Essen stürzte.
„So wie ihr ausseht, hättet ihr keinen weiteren Tag ohne Essen überstanden. Aber was hättet ihr gemacht, wenn ich nicht hier gewesen wäre oder Jaiden wüsste, wo ich bin?“ Fer zuckte nur mit den Schultern. Darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Ich konnte ihn gut verstehen.
„Ich habe in meinem Rucksack bereits zwei Laib Brot und eine Gurke für die Reise deponiert und dir noch einen Umhang, wie die anderen einen Tragen mitgebracht.“ Sie gab mir einen tarngrünen Umhang, den ich mir rasch überwarf. Sie hatte Recht. Nun hatte ich zumindest von hinten, tatsächlich Ähnlichkeiten mit den Gestaltwandeln.
„Danke, Meggie.“ Ich schluckte den letzten Bissen herunter und sah dann den Gestaltwandlern zu, bis sie das Tablett bis auf wenige Krümel geleert hatten. Erst dann übergab ich es den Wachen, gab ein Zeichen zum Aufbruch und wir verließen die Villa.
Es tat gut, endlich wieder die frische Luft zu atmen und von den Zwängen der hohen Gesellschaften ausgeschlossen zu sein. Mir schien, als hätte ich Wochenlang drin gehockt, ohne mich Rühren zu dürfen, obwohl ich mich stets Nacht nach draußen zum Schwertkampf geschlichen und sogar ein weiteres Mal den Seegrund erkundet hatte.
Fer warf mir immer wieder neugierige Blicke zu, wagte es aber nicht, mich etwas zu fragen.
„Jetzt sag schon, was dir auf der Zunge liegt!“, bat ich ihn schließlich, als mir seine Blicke zu viel wurden. Der weiße Tiger seufzte.
„Was weißt du alles über Carrie?“ Dieser Gedanke schien ihn ziemlich zu beschäftigen.
„Ich habe gehört, sie leitet ein Rudel, kann das Feuer bändigen und trägt einen Tropfen von Michaels Blut in sich. Außerdem vermute ich, dass sie ein Ignisaeri ist.“, antwortete ich ihm wahrheitsgemäß. Nathans Kopf ruckte hoch, als ich die Drachenwandler erwähnte. Sein Blick glitt zwischen Fer und mir hin und her.
„Das stimmt.“ Er schien ziemlich verwirrt zu sein, wie viel ich alles von ihr wusste.
„Prinzessin Elisabeth ist eine Ignisaeri?“, fragte Nathan fassungslos.
>Genau wie ihr Vater!< Gabriel schien wieder da zu sein.
„Wie König Borkil auch.“, gab ich seine Nachricht weiter.
„Ich hatte keine Ahnung, dass es noch so viele von uns gibt.“, murmelte Nathan leise und schien im Anblick eine knorrigen Kiefer versunken zu sein, die urige Formen in den Himmel warf.
„Also bist du auch ein Ignisaeri?“, stellte Fer leise und neugierig fest.
Der Mann neben mir nickte. „Und ein Vampir. Eine ganz seltene Mischung.“
Fer schien ziemlich beeindruckt zu sein, verzog bei dem Wort Vampir jedoch das Gesicht. Ich fragte mich, welche schlechte Erfahrung er wohl mit Vampiren gehabt hatte.
„Carrie Ziehbruder Lak ist auch einer. Und ihr Stiefvater Herind war einer der mächtigsten von ihnen und war außerdem ein Traumwandler. Es hat sie ziemlich getroffen, als er gestorben ist.“
Meine Schwester war also von einer fremden Familie adoptiert worden. Ob sie schon früh so Kontakt zu den Arsanimali hatte? Immerhin waren ihr Bruder und ihr Vater Vampire? Wie alt dieser Lak wohl war? Ob er mich als Carrie richtige Schwester akzeptieren würde? Immerhin war er mit ihr großgeworden.
„Ich habe von Herind schon gehört. Ich wusste gar nicht, dass er Kinder hatte.“, grübelte Nathan.
„Und was seid ihr?“, fragte Fer neugierig und musterte erst Sel, dann Meggie und schließlich mich, wobei sein Blick etwas länger auf mir ruhte. Er schien sehr neugierig zu sein, die Schwester seiner Gefährtin kennenzulernen.
Selina begann zögernd. „Ich bin ein Gestaltwandler. Wie ihr. Allerdings fühle ich mich eher der Luft als der Erde zugezogen. Eigentlich verständlich für einen Wanderfalken.“ Sie lächelte verunsichert und verstummte.
Der weiße Tiger nickte und sein Blick glitt weiter zu Meggie.
„Ich…Ich…“, stotterte meine Kammerzofe. Fer nickte ihr aufmunternd zu, dass sie weiterreden sollte.
„Ich weiß nicht, was ich bin. Bislang hat sich noch nicht herausgestellt, was ich kann.“ Sie schien irgendeinen Punkt zu suchen, zu dem sie hinstarren konnte, nur um nicht uns angucken zu müssen. Ich strich ihr tröstend über den Rücken.
„Das finden wir schon noch heraus. Ich bin mir sicher, dass du kein normaler Homini bist. Und bei deiner Vergangenheit ist es kein Wunder, dass du noch keine Zeit hattest, dich damit zu befassen.“ Ihre Miene hellte sich bei meinen Worten etwas auf, doch noch immer schien sie sehr verunsichert zu sein. Allerdings wusste ich nicht, was ich darauf noch machen sollte.
„Sie hat Recht. Wir werden dich alle unterstützen.“, half mir Patti, der Panther und lächelte sie an. Irrte ich mich oder war da ein liebevoller Ausdruck in seinen Augen. Irritiert wandte ich mich Fer zu, der das Ganze ebenfalls mit hochgezogener Augenbraue verfolgt hatte. Als er meinen Blick bemerkte, zuckte er nur mit den Schultern. Er wusste offenbar auch nicht, was da lief, schien aber eine gewisse Ahnung zu haben. Noch einmal betrachtete ich den Panther. Wie alt er wohl war? Er schien sogar noch jünger als Fer an meiner Seite zu ein und ich fragte mich, warum er schon bei einer solchen Jagd mitmachte und nicht daheim bei seinen Eltern war. Er war meiner Meinung nach erst vierzehn oder knapp fünfzehn. Also noch ein halbes Kind. Genauso wie Meggie, wie mir mit einem Seufzen auffiel.
„Was ist mit dir, Lynn?“, wandte sich nun der Socius meiner Schwester an mich und seine Augen begannen vor Vorfreude zu sprühen. „Dass du ein Halbengel bist, da du Gabriels Blut in dir trägst, wissen wir ja schon. Aber ich bezweifle, dass es das Einzige ist.“
Ich nickte lächelnd. „Da hast du Recht.“ Ich überlegte kurz, wie viel ich ihm sagen durfte. Doch ich hatte beschlossen, ihm zu vertrauen und würde ihm dazu aber alles sagen müssen.
„Ich bin außerdem eine Wasserbändigerin und ein Aquaeri.“ Lediglich ein Aufblitzen in seinen Augen deutete auf die Verblüffung zu diesem Geständnis hin.
„Und eine vortreffliche Heilerin!“, tönte es von Ruber. Ich grinste verlegen.
„Das sind nur Gabriels Kräfte!“, verteidigte ich mich. „Ohne ihn, wäre ich gar nicht dazu im Stande.“ Immerhin wollte ich nicht undankbar erscheinen. Schon gar nicht dem Erzengel gegenüber.
„Vielleicht. Aber du weißt sie gut zu nutzen.“ Ich spürte, wie ich rot wurde.
„Wie kommen wir nach Russland? Ich nehme an, dass meine Schwester dort ist.“, wechselte ich rasch das Thema und ließ meine letzte Aussage wie eine Frage klingen.
Fer nickte ruhig, ging zu meinem Glück aber auf das Angebot ein.
„Wir sind auf der Hintour über Umwege gelaufen. Aber da wir alle Müde sind, hätten wir auch nichts gegen Vorschläge. Allerdings besitzen wir keinerlei Pässe. Ich bin das erste Mal außerhalb von Russland.“
Nathan schien kurz zu überlegen. „Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es von Berlin Hauptbahnhof die Möglichkeit mit einem Nachtzug nach Moskau zu kommen. Die ganze Zugfahrt würde allerdings einen ganzen Tag brauchen. Da dies ziemlich anstrengend werden könnte, schlage ich eher vor, wir machen einen kleinen Umweg über Trebbin. Dort hat ein Freund von mir in Schönhagen einen Flugplatz, der Charterflugzeuge vermietet. Ich glaube, neulich hat er sogar ein Kleinflugzeug erwerben können. Ich bin mir sicher, dass er es uns zu einem Freundschaftspreis ausleihen kann, sodass wir auch nach Russland fliegen können. Da er mich kennt, wird er bei euren fehlenden Pässen sicher ein Auge zudrücken.“
Begeistert sah ich ihn an. Ruber schien jedoch nicht ganz so erfreut zu sein. Fer, dem dies ebenfalls nicht verborgen geblieben war, stieß ihm in die Seite.
„He, jetzt schau nicht so. Du weißt genau, dass dich Carrie nicht absichtlich fallen gelassen hatte. Und immerhin bist du so auch nicht in Gefangenschaft geraten. Ich bin mir sicher, dass das Reisen in einem Flugzeug ein ganz anderes Erlebnis sein wird. Und ich habe mich ehrlich gesagt in den Armen meiner Socia sehr wohl gefühlt.“
„Dich hat sie ja auch nicht fallen gelassen. Außerdem glaube ich, bin ich eindeutig der Bodentyp.“
„Meine Schwester ist mit euch in den Armen geflogen?“, schaltete ich mich neugierig ein. Jedes Wort, das über sie fiel, saugte ich wissbegierig auf, wie ein Schwamm und versuchte mir ein genaueres Bild von ihr zu verschaffen. Mit jeder neuen Information wuchsen meine Sehnsüchte nach ihr.
„Ja, mithilfe ihrer Engelsflügel.“, gestand mir Fer, warf dem Tiger noch einen warnenden Blick zu und wandte sich schließlich an Nathan.
„Gerne nehmen wir dein Angebot an. Sicher wird es am angenehmsten für uns sein. Da du ebenfalls ein Gestaltwandler und noch dazu ein Vampir bist, weißt du ja wie anstrengend es sein kann, wenn zu viele Gerüche an einer Stelle auftreffen.
Der Mann nickte ernst und verzog das Gesicht, wie zur Erinnerung daran.
„Gut. Dann lasst uns erst einmal zum Basdorfer Bahnhof zurückkehren und von da aus weiter nach Berlin und Trebbin fahren.“
Einstimmiges Gemurmel wurde laut, dann beschleunigten wir automatisch unsere Schritte. Nun, da unser Ziel klar vor Augen lag, hielt uns nichts mehr auf. Immer wieder konnte ich Selina sehnsüchtig in den Himmel blicken sehen und auch den anderen Gestaltwandlern sah ich an, wie gerne sie sich verwandelt hätten, damit wir schneller waren. Doch wir nahmen alle Rücksicht auf Meggie, die inzwischen jeder als festen Teil der Gemeinschaft angesehen hatte. Ein kurzer Seitenblick zu ihr, sagte mir, wie gut ihr das tat. Auch, dass sich Patti ihrer annahm und sie mit einigen einfachen Neckereien immer wieder zu Lachen brachte, gab mir das Gefühl, richtig gehandelt zu haben. Anfangs hatte Fer das Ganze noch skeptisch gemustert, den Beiden dann jedoch ihren Spaß gelassen. Sie schienen gut zusammenzupassen.
„Erzähle mir mehr von meiner Schwester. Wie hast du sie kennengelernt?“, wandte ich mich neugierig an den weißen Tiger, nachdem ich die Beiden eine Weile beobachtet hatte.
„Sie ist mir wortwörtlich über den Weg gelaufen.“, dachte das Alphamännchen schmunzelnd zurück.
„Ich war gerade im Wald auf der Jagd, als ich Spuren von Palinas entdeckte, die auf eine Verfolgung hinwiesen. Schnell bin ich über einen Umweg zu der Stelle gerannt, an der ich sie vermutet hatte und konnte nicht bremsen, als eine kleine Gestalt von der Seite in mich hineinstolperte und wir einen Hügel heruntergekullert sind. Ich habe ihr den Mund zugehalten und abgewartet, dass die Palinas vorbeiliefen, ehe ich mich ihr zugewandt habe. Sie war ein ganz schöner Wildfang und ist am Anfang dauernd vor mir davongelaufen, bis ich und mein Ziehvater und Heilmagier Gan ihr klar machen konnten, dass wir keine Feinde waren. Sie ist schon etwas ganz Besonderes. Sogar gegen den Oblivisci, den wir gewirkt hatten, damit sie mich vergisst war sie immun. Wahrscheinlich liegt das am Engelsblut. Wir haben versucht ihr zu helfen, ihre Familie zu retten, doch ohne großen Erfolg. In diesem Moment kam ihre Gabe als Feuerbändigerin hervor und wir waren ganz schon geschockt, konnten jedoch schnell die Situation klären. Als dann eine in meinem Rudel Hilfe brauchte, war sie sofort da und hat bei der Geburt eines Luftbändigers geholfen. Als sie schließlich auch noch eine Erdbändigerin gerettet hat, ist sie schwer verletzt worden und ich habe beschlossen sie zu meiner Socia zu machen. Natürlich mit ihrem Einverständnis. Seitdem hatte ich keine ruhige Minute mehr.“ Er lachte leise. Ein wirklich angenehmer Klang und ich war mir hundertprozentig sicher, dass er ihr nicht böse war. Eher im Gegenteil. Doch dann schien ihm ein Gedanke zu kommen, denn in seine Augen trat ein schmerzhafter Ausdruck.
„Ich weiß nicht, wie ich ohne sie leben könnte.“, gab er schließlich zu. Ich legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und zog ihn so zu mir herum, dass ich ihn in den Armen wiegen konnte. In diesem Moment kam er mir unglaublich zerbrechlich vor. Zerbrochen an der Sorge um seine Gefährtin.
„Wir werden Carrie schon wieder heilen können. Sie stirbt uns ganz gewiss nicht davon, dafür sorge ich. Aber du musst stark sein. Für sie. Für das Kind. Es nützt beiden nichts, wenn du aus Sorge um sie zusammenbrichst. Also rate ich dir sobald wie möglich richtig zu essen und zu schlafen, sonst werde ich zu deinem persönlichen Racheengel, selbst wenn ich dir kein Feuer unter dem Hinter machen kann.“ Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich spürte, wie sowohl Leon als auch Nathan unsere Szene skeptisch betrachteten, doch keiner der Beiden wagte es ein Wort zu sagen.
„Gan würde dir die Hölle heißmachen, wenn er dich gerade sehen könnte.“, stimmte Ruber mir zu und betrachtete besorgt sein abgemagertes und übermüdetes Alphatier.
„Da hörst du es!“, zog ich den weißen Tiger weiter auf. „Und jetzt möchte ich keine trübsinnigen Gedanken mehr in deinen Augen sehen. Denk lieber an die schönen Momente mit ihr.“, befahl ich. Um eines milder fragte ich: „Hat sie dasselbe Temperament wie ihr Element?“
Ich konnte Ruber und Leon kichern hören.
Fer verzog das Gesicht, allerdings dieses Mal nicht auf Schmerz. „O ja. Sie kann manchmal echt die Teufelin persönlich sein. Sie lässt sich von niemanden etwas sagen und will unbedingt alles selber machen, selbst, wenn es ihr nicht gut tut.“
Ich lächelte. Eindeutig ein feuriges Temperament.
„Sie gibt stets alles, will aber nichts dafür zurückhaben.“
Ich wusste doch schon immer, dass unsere Familie sehr aufopferungsfreudig war. Und ich fand sie hatte Recht. Das Glück der Anderen ist das größte Gut, dass man haben konnte.
„Und sie ist eine hervorragende Schwertkämpferin. Dabei konnte sie ursprünglich nur mit dem Dolch kämpfen.“, ergänzte Ruber. Ich konnte ihm ansehen, dass er bereit gegen sie gekämpft hatte. Gekämpft und verloren. Oh, diese Tatsache schien ihn immer noch zu ärgern. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Tja, man sollte sich eben nicht mit unserer Familie anlegen.
„Woran denkst du schon wieder, Lynn?“, fragte Nathan, der mich beobachtet hatte. „Dieses Lächeln bedeutet nichts Gutes.“ Statt einer Antwort wurde mein Lächeln nur noch breiter. Gut, dass meine Gedanken ganz mir gehörten. Meine Mundwinkel zogen sich noch weiter hoch.
„Wenn du mir nicht sagst, woran du gerade denkst, dass lasse ich mich diesmal nicht unterbrechen, dir zu zeigen, wie sehr ich dich zum Anbeißen finde.“ Das Lachen, dass in meiner Kehle hochgestiegen war erstarrte und ich musste husten.
„Vergiss es!“, fauchte ich, kaum dass ich wieder sprechen konnte. „Sonst ist die Wolke in deinem Zimmer gar nichts gewesen im Gegensatz zu dem Gewitter, das dich dann verfolgt.“
Wie aufs Stichwort verdunkelte sich der Himmel. Nathan warf mir einen strafenden Blick zu, doch ich bedeutete ihm rasch, dass ich nichts dafür konnte. Ich warf einen kurzen Blick zu Meggie, die allerdings wutentbrannt auf den Vampir starrte.
„Darüber scherzt man nicht!“, donnerte sie und wie aufs Stichwort fuhr ein Blitz nur ein paar Meter neben Nathan in eine der Tannen.
„Vorsicht!“, rief ich und zog Selina und Nathan weg, als der Baum umzufallen drohte. Erschrocken schaute Meggie auf den Baum.
„Kommt. Wir müssen weiter, ehe das Gewitter schlimmer wird.“, rief ich gegen den Regen der nun einsetzte, passend zu den Tränen die sich in den Augen der zutiefst erschrockenen Meggie gesammelt hatten. Mit einem Mal hatte ich eine gewisse Vorahnung was Meggie war.
„Meggie, hör mir mal gut zu!“, rief ich und umklammerte sie, als der Regen stärker wurde. „Sieh mich an.“ Verängstigt blickten ihre Augen in meine. „Nathan wollte mich nur daran erinnern, wie kitzlig ich bin. In keiner Sekunde herrschte Gefahr für mich. Und dir ist niemand sauer wegen den Blitzen, also versuche dich zu beruhigen.“ Sie schniefte und versuchte krampfhaft die Fassung wieder zu bekommen. Noch immer regnete es. Aber je mehr Meggie sich beruhigte, umso mehr schien auch der Regen nachzulassen. Inzwischen war ich komplett vom Regen durchweicht, aber es kümmerte mich nicht. Noch immer starrte ich in Meggie aufgewirbelte, graue Augen und versuchte ihr Trost zu spenden. Als ich in die Energieebene wechselte, musste ich fasziniert feststellen, dass ihr Herz in Flammen zu stehen schien. Offenbar war es der Ursprung der Kraft in ihr. Vorsichtig, um sie nicht zu verletzen, entzog ich diesem Punkt etwas Energie, damit sie mir nicht in den Armen zusammenbrach. Es schien zu wirken, das Unwetter wurde weniger und auch Meggie schien sich immer mehr zu beruhigen.
„Danke!“, hauchte sie schließlich, als es nur noch nieselte.
Ich nickte nur und warf ihr noch einmal einen besorgten Blickte zu, doch sie schien wieder gefasster zu sein.
„Ich würde sagen, damit ist geklärt, was du kannst.“, durchbrach Ruber die angespannte Stille. Fer warf ihm einen Blick zu, der ihn sofort verstummen und den Kopf ergeben sinken ließ. Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie viel Macht der Alpha doch hatte, obwohl er nur ungern davon Gebrauch zu machen schien.
„Aber wie kann das sein? Mein Vater war ein ganz normaler Mensch.“
„Homini!“, verbesserte ich automatisch und sofort richteten sich alle Blicke auf mich. Verlegen zuckte ich mit den Schultern.
„Vielleicht wurdest du ja adoptiert. Und wer weiß, was dein richtiger Vater war.“, überlegte Selina nachdenklich. Meggie machte große Augen.
„Das kann nicht sein. Ich glaube euch nicht.“ Irgendetwas in mir sagte mir, dass es eine Lüge war. Doch ich würde nicht darauf herumreiten und noch mehr von Gabriels Kräften preisgeben, selbst wenn ich inzwischen ihr Ausmaß begriff.
„Wie dem auch sei. Wir sollten weiter!“, schaltete sich Nathan ein. Er schien mir von unserer Gemeinschaft der Vernünftigste zu sein. Aber vielleicht wollte er auch nur seine Ziehtochter in Schutz nehmen, ohne Meggie zu beleidigen.
„Nathan hat Recht. Wir haben noch einen langen Weg vor uns und mein Rudel und Carrie warten auf uns.“
Carrie. Da kam mir gleich ein anderer Gedanke. „Wie kommt es eigentlich, dass du nicht bei deiner Gefährtin bist?“
Fer machte ein missmutiges Gesicht. „Ich kann ihr gerade sowieso nicht helfen und wurde von den anderen förmlich dazu gedrängt selbst auf die Suche zu gehen, nachdem ich es mir schließlich mit allen mit meinem Verhalten verscherzt habe. Gan, meine Cousine und die beiden Elementarkinder sind bei ihr und passen auf sie auf. Hoffe ich jedenfalls.“ Er verstummte trübsinnig.
„Mmh. Ich denke, es war eine gute Idee.“, überlegte ich laut und versuchte dem weißen Tiger ein tröstendes Lächeln zu senden, das jedoch eher in einer Grimasse endete.
„Lynn, bist du mir sauer, dass ich so reagiert habe?“, fragte mich Meggie, nachdem wir einige Meter gelaufen waren zögernd. Sie schien ein ziemlich schlechtes Gewissen zu haben. Darauf deuteten auch ihre langsamen Schritte hin.
Ich drehte mich halb zu ihr um und endlich gelang es mir, mein tröstendes Lächelnd liebevoller wirken zu lassen. „Ach quatsch. Jeder hat mal einen gefühlsvollen Ausbruch. Die einen mehr, die anderen weniger.“ Ich schmunzelte, als mir die Bedeutung meiner Worte bewusst wurde.
„Und wer deine Eltern waren oder von wem du deine Kräfte hast, finden wir auch noch heraus.“
Sie nickte langsam, doch die Angst stand ihr immer noch ins Gesicht geschrieben. Noch einmal nahm ich sie in den Arm und versuchte sie zu trösten. Fer, der mich beobachtete, seufzte leise. Ich wusste nicht, ob es bezüglich unserer Verspätung der Reise war oder weil er seine Gefährtin vermisste.
„Das wird schon wieder. Wie du bereits angedeutet hast. Meine Schwester ist stark und wird sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Und sowohl Michael, als auch Gabriel werden nicht zulassen, dass Carrie stirbt, da bin ich mir sicher.“, antwortete ich ihm offen und versuchte ihn in den Trostmantel, den ich um Meggie zu spannen versuchte, einzubinden. Er schniefte nur kurz und straffte sich dann. Offenbar war ihm eingefallen, welche Position er innehatte.
„Lasst uns weitergehen!“, stellte ich für alle vernehmbar klar. Sie nickten, jeder in Gedanken versunken. Na das konnte ja noch eine lustige Reise werden.
Kapitel 11
Zum Glück verflüchtigte sich die trübe Stimmung genauso schnell, wie sie gekommen war. Am späten Nachmittag erreichten wir endlich wieder den Basdorfer Bahnhof. Ich erinnerte mich daran, dass ich unbedingt noch die Bibliothek hatte auskundschaften wollen. Doch nun hatte sie zu und die Zeit dafür hatten wir zu meinem großen Bedauern auch nicht mehr. Aber vielleicht würde ich hier irgendwann zurückkehren können und noch einen Blick hineinwerfen. Wir lösten zwei Gruppentickets und stiegen in die Heidekrautbahn, die mit einem fürchterlichen Quietschen einfuhr. Dieses Mal hatten wir einen weißen Zug erwischt und sowohl die Gestaltwandler, als auch der Vampir an meiner Seite verzogen das Gesicht, als das laute Quietschen ihr Ohr erreichte.
„Die Homini könnten wenigstens auf unsere Ohren achten!“, schimpfte Lynca.
„Hab Nachsicht mit ihnen. Wer sagt denn, dass es ihnen besser geht?“, rief Nathan sie zur Ordnung, der ein junges Mädchen beobachtet hatte, dass sich mit dem Nähern des Zuges ebenso diese zugehalten hatte.
Lynca grummelte, folgte aber ihrem Alphatier in das Innere des Zuges.
Meggie errötete, als sich Patti ihr gegenübersetzte und ihr ein Lächelnd schenkte. Nathan hüstelte leicht, offenbar um ein Lachen zu verbergen und tauschte kurz mit mir einen Blick, da auch ich mir mein Lächeln nur mit Mühe verkneifen konnte. Aber ich würde es ihr gönnen. Ich ließ meinen Blick durch die großen Fensterscheiben des Zuges wandern. Weite Wiesen und vereinzelte Straßen kreuzten meinen Blick und einmal glaubte ich sogar ein paar Rehe gesehen zu haben. Kurz vor Ende der Fahrt zeigte mir Fer sogar auch noch ein paar Kraniche, die sich offenbar bereits zu ihrem Rückflug versammelt hatten. Ungefähr zwanzig der grazilen Glückvögel standen in einer Art Moor und betrachteten desinteressiert den Zug, der an ihnen vorbeifuhr. Ein Hauch von Kloake erreichte meine Nase und ich verzog das Gesicht.
„Das ist die Kläranlage in Schönerlinde.“, erklärte mir Nathan. „Ich habe mich mal erkundigt, was es alles hier in der Nähe gibt. Leider sind wir jetzt nicht mehr dazu gekommen, auch nur etwas außerhalb der Villa zu machen.“ Er lächelte traurig. Ich zuckte nur mit den Schultern. Vermutlich musste ich ihm nicht erklären, dass ich auf einen Besuch in einer Kläranlage nicht so scharf war. Fer, der mir gegenübersaß, schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn er kicherte verhalten. Vielleicht war aber auch mein Gesichtsausdruck so ausdrucksstark gewesen. Ich warf ihm einen Blick zu, damit er verstummte, doch es schien ihn nicht groß zu kümmern.
Endlich erreichten wir Berlin-Karow. Während wir auf die S2 nach Blankenfelde warteten, fröstelte ich trotz Umhang. Dieser Bahnhof schien der Kälteste zu sein, den wir je besucht hatten. Dabei mussten wir nicht einmal drei Minuten warten. Zum Glück war die S-Bahn geheizt, sodass sich die Gänsehaut schnell wieder verflüchtigte. Wieder setzte sich Fer mir gegenüber. Dieses Mal allerdings, schien er ein Gespräch mit mir zu suchen.
„Erzähle mir mehr von dir. Ich weiß eigentlich nur, was du bist und dass du die Schwester meiner Socia bist. Ansonsten bis du ein riesiges Mysterium für mich.“ Er lachte leise.
In den fünf Stationen, bis wir erneut umsteigen mussten, erzählte ich ihm von meinem Leben im Waisenhaus. Dabei versuchte ich die Gedanken an Markus so gut wie möglich zu vermeiden, da ich mir sicher war, dass ich mir dann noch mehr Sorgen um ihn machen würde. In Berlin-Gesundbrunnen hatten wir eine Viertelstunde, um in den Regionalexpress nach Lutherstadt-Wittenberge zu steigen und so beschloss Nathan unseren Proviant noch ein bisschen aufzustocken und brachte uns neben einem weiteren Laib Brot auch jeweils ein Stück Bratapfelkuchen mit.
„Damit die Fahrt nicht so lange wird.“, bezeugte er. Er hatte uns auch gefragt, ob wir einen Kaffee haben wollten, doch wir hatten alle uns dagegen entschieden. Im Zug wollten wir uns noch einmal ausruhen und der Kaffee würde uns nur unnötig wachhalten. Jedenfalls behauptete das Lynca. Die Luchsdame schien sehr eigen zu sein, doch ich beschwerte mich nicht. Mit Fer kam ich immer besser klar und auch Ruber schien mich mit kleinen Scherzen die ganze Zeit bei Laune halten zu wollen. Er schien mitbekommen zu haben, dass Carrie und ich recht ähnlich darauf reagierten. Patti hatte sich etwas abseits von uns hingesetzt und führte gerade eine angeregte Diskussion mit Meggie, die sichtlich auflebte. Selina schien in Prit und Leon einen guten Gesprächspartner gefunden zu haben. Nur Lynca kuschelte sich lieber an ihren Gefährten und lauschte so den Gesprächen. Sie schien ziemlich schlecht geschlafen zu haben. Aber vielleicht schätzte ich sie auch falsch ein. Derzeit ließ nichts mehr auf einen arroganten Wesenszug hinzudeuten. Sie lächelte mir sogar zu, als sie meinen Blick bemerkte.
„Entschuldige bitte, dass ich vorhin etwas gereizter war, aber ich habe seit der Schlacht sehr wenig Schlaf bekommen und schlafe auch in letzter Zeit nicht sehr gut. Außerdem leide ich bereits seit Tagen unter Sodbrennen.“
Nachdenklich betrachtete ich sie und wechselte unbewusst in die Energieebene, während der Zug endlich abfuhr. Wie bei Ruber strahlten die Organe besonders. Doch nicht das Herz war die reinste Energie, sondern zwei kleine, bohnenartige Lichtquellen zwischen Mastdarm und Blase, die selber wieder aus vielen kleinen Farbwirbeln zu bestehen schienen. Abgesehen von den kleinen Farbwirbeln lag alles ziemlich im Dunkeln, doch ich hatte keinen Zweifel.
„Weiß Ruber davon?“, fragte ich Lynca leise und versuchte mich näher zu ihr hin zu neigen, damit ihr Gefährte, an den sie noch immer gelehnt war nichts davon mitbekam.
„Wovon?“, fragte Ruber skeptisch und richtete sich ein wenig auf.
Ich blickte Lynca an und deutete dann kaum wahrnehmbar mit dem Kopf auf ihren Bauch. Sie starrte mich mit großen Augen an.
„Natürlich….Aber woher…“, schien sie laut zu überlegen. Ich war mir nicht sicher, ob das natürlich auf ihre Erkenntnis zurückzuführen war oder sie mir damit eine Antwort auf meine Frage gegeben hatte.
„Wovon sprecht ihr beide?“, wollte Ruber jetzt unbedingt wissen. Er sah uns beide scharf an, doch ich blickte nur weiter zu Lynca. Kaum wahrnehmbar schüttelte sie den Kopf. Ich hob verstehend den Kopf und lehnte mich lächeln zurück.
„Schatz, ich glaube wir bekommen Nachwuchs.“, ließ sie an ihn geschmiegt vernehmen, so als würde sie es nicht wagen ihn anzuschauen. Ihr Tiger sah sie mit großen Augen an.
„Zwillinge!“, fügte ich hinzu. „Ihr seid Schätzungsweise in der in der zwölften Schwangerschaftswoche. Zumindest wenn man von einer menschlichen Schwangerschaft ausgeht. Das bedeutet, dass alle Verdauungsorgane schon entwickelt sind und das Kind beginnt aktiv zu werden. Es kann sein, dass du in den nächsten Wochen seine Bewegungen spürst.“, klärte ich sie auf. Jetzt schauten beide zu mir. Ich biss mir auf die Lippe. Hätte ich das jetzt nicht sagen sollen? Vielleicht wollten sich die Beiden überraschen lassen. Doch dann überzog Rubers Lippen ein Lächeln.
„Zwölfte Schwangerschaftswoche!“, hauchte er überglücklich und legte seiner Socia die Hand auf den Bauch. „Ich kann ihre Herzen schlagen spüren!“, rief er erfreut aus. Seine Augen leuchteten. Auch seine Gefährtin wollte unbedingt einmal den Herzschlag erfühlen. Dann blickte sie liebevoll zu ihrem Freund.
„Ich liebe dich!“ Sie küssten sich und ich schaute weg, als sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Natürlich freute ich mich für beide. Doch diese Geste hatte mich zu sehr daran erinnert, wie sehr ich Markus doch vermisste. Auch Fer hatte für die Beiden bei ihrem Kuss nur ein trauriges Lächeln übrig. Doch als er dann auch einmal den Rudelnachwuchs erfühlen durfte, schlich sich wieder ein Lächeln auf seine Lippen.
„Carrie hat ganze Arbeit geleistet.“, stellte er nachdenklich fest. Ich sah ihn fragend an. Sein Lächeln schien gedankenverloren zu werden, als würde er sich an die Situation zurückerinnern.
„Sie hat sowohl Ruber und Lynca als auch Leon und Fil zusammengebracht. Ich war nicht begeistert gewesen mein Rudel mit einem anderen zu vermischen und Fil ist doch erst zwölf. Viel zu jung für einen Gefährten. Jedenfalls dachte ich das damals. Doch Carrie hat mich vom Gegenteil überzeugen können, sodass die Beiden problemlos sich ihre Liebe gestehen konnten. Und Ruber und Lynca hatten sich ihre Gefühle nicht eingestehen wollen, bis meine Gefährtin sie mit der Nase darauf gestoßen hat. Sie meinte, sie müsste doch für Rudelnachwuchs sorgen. Ich frage mich, ob sie bereits zu diesem Zeitpunkt schwanger war.“, erklärte Fer leise und starrte aus dem Fenster. Bäume zogen an uns vorbei, doch mich interessierte es eher, noch mehr von den Taten meiner Schwester zu erfahren.
„Du hast gesagt, sie hätte einem Luftbändiger und einem Erdbändiger geholfen. Erzähle mir mehr von ihnen.“ Abwartend sah ich in an und ich wusste, dass man die Neugier in meinen Augen deutlich sehen konnte, doch ich machte mir nicht einmal die Mühe, sie zu verbergen.
„Elias wurde von einer Gestaltwandlerin in meinem Rudel geboren. Carrie hat dafür gesorgt, dass er nicht auskühlt. Er kann die Luft bändigen. Elena war von meiner Socia in einem Kampf mit einigen Palinas gerettet worden. Sie beherrscht das Element Erde. Beide haben durch die Schlacht und einige Kämpfe zuvor viel Kraft verloren und ihr Körper konnte das nur ausgleichen, indem er alterte. Daher sieht Elena jetzt aus wie sechzehn, dabei ist sie elf und Elias sieht aus wie zwölf, dabei ist er nicht einmal ein Jahr alt. Die Beiden haben in dem Kampf ihre kindliche Unschuld verloren und Elias muss ganz schön viel Wissen nachholen, um halbwegs auf dem Stand eines Zwölfjährigen zu kommen. Obwohl er offenbar wie Elena eine uralte Seele in sich trägt, die die Beiden stets mit Wissen versorgt. Daher fällt es ihnen leicht zu lernen. Doch für mich werden die Beiden dennoch immer zwei kleine Kinder bleiben.“ Ein liebevoller Ausdruck trat auf sein Gesicht, während ich noch seine Erzählung zu verarbeiten hatte. Ein fast Einjähriger, der wie ein zwölfjähriger Junge aussah? Und dass alles nur, weil unbedingt einige Leute in die Schlacht ziehen mussten.
„Warum habt ihr die Kinder nicht herausgehalten?“, fragte ich ungehalten. Nathan legte mir eine Hand auf den Oberschenkel, um mich zu beruhigen.
„Leider war uns das nicht möglich. Carrie wollte sie unbedingt beschützen, doch es ist alles nach hinten losgegangen. Sie hat sich in dieser Schlacht ja auch komplett übernommen. Nur dass sie in einen komaartigen Zustand gefallen ist, anstatt wie die beiden Elementarkinder zu altern.“ Fer schien mir meine Vorwürfe nicht übelzunehmen. Im Gegenteil. Es schien, als würde er sich das auch allzu oft gefragt haben. Kummer lag in seiner Stimme.
„Müsste Carrie nicht noch in die Schule gehen?“, fragte ich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.
Der Gestaltwandler mir gegenüber nickte verdrossen.
„Vermutlich. Allerdings will ich sie nicht wieder hergeben. Jetzt wo ich sie gefunden habe. Außerdem muss sie erst einmal wieder gesund werden, ehe wir weitersehen können.“
Ich nickte. „Vielleicht kann sie dann zusammen mit den beiden anderen Elementarkindern zur Schule gehen. In einem gleichaltrigen Umfeld müssten die Beiden viel leichter und schneller lernen. Oder sagen wir in einem Umfeld, das ihrem Aussehen gleicht. Oder wir stecken sie in eine Mitte dazwischen. Natürlich nur, wenn sie wollen.“
Fer nickte. „Gar keine so schlechte Idee. Allerdings sind sie dauerhaft in Gefahr, solange es die Palinas gibt.“ Da hatte er auch wieder Recht.
„Jetzt sollte sich Alpha Carrie jedenfalls erst einmal auf ihren Nachwuchs konzentrieren.“, schaltete sich Leon ein. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass unser Gespräch gar nicht mehr unter uns war, sondern auch die anderen uns inzwischen zuhörten.
„Die Fahrkarten bitte!“ Schnell zückte Nathan unsere Gruppentickets. Der Schaffner betrachtete uns noch einmal misstrauisch, vermutlich wegen der Umhänge und der nackten Oberkörper der Gestaltwandler. Aber er hatte so immerhin noch nicht das ganze Waffenarsenal gesehen, dass wir mit uns herumschleppten. Bei dem Gedanken an seinen Gesichtsausdruck schlich sich ein verborgenes Lächeln auf meine Lippen. Er betrachtete mich mit gerunzelter Stirn, murmelte etwas von wegen „Die Jugend von heute“ und schritt dann weiter den Gang entlang. Fer, dessen Hand unbewusst zu dem Dolch an seiner Seite gewandert war, entspannte sich merklich. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er gerade denken mochte. Schnell nahm ich den Faden wieder auf. „Wie ist es so in Russland? Gibt es da noch etwas anderes als Wald?“
Die nächsten zwanzig Minuten erzählten mir die Gestaltwandler mit leuchtenden Augen von der Flora und Fauna ihrer Heimat. Lächelnd beobachtete ich sie dabei. Sie schienen ein ziemliches Heimweh zu haben. Außerdem legten sie großen Wert darauf, dass ich ein positives Bild von ihrem Heimatland bekam.
In Trebbin lieh sich Nathan einen Bus. Ich wollte gar nicht wissen, ob er überhaupt einen Busführerschein hatte oder wie viel er dafür hatte bezahlen müssen. Ich fragte mich, woher er das ganze Geld nahm. Als Selina meine Blicke bemerkte, gab sie leise zu, dass sich Nathan das Geld von Jaiden geben lassen hatte, der um mein Wohl besorgt war. Ich warf noch einmal einen Blick zu dem Verleih zurück und begegnete dem Blick des Verkäufers, der angeregt in ein Telefongespräch vertieft war. Irgendwie erschien mir das komisch. Und auch das mulmige Gefühl in meinem Magen beruhigte mich nicht gerade.
„Nathan.“, begann ich leise und warf noch einen Blick nach hinten. Der Mann hatte inzwischen meinen zweifelnden Blick bemerkt und die Jalousien heruntergelassen, um ihm zu entkommen.
Der Ignisaeri, der sich inzwischen mit der Technik des Busfahrersessels vertraut machte, schaute angesichts meines zögernden Tonfalls auf. „Was ist los?“, wollte er beunruhigt wissen.
„Ich glaube, der Verkäufer hat uns verpfiffen. Die Palinas werden bald hier sein.“
Nathan fluchte und auch die anderen Gestaltwandler sahen beunruhigt aus.
„Ich hatte es mir denken müssen. Schon als uns der Schaffner so komisch angesehen hat. Na ja. Lässt sich nicht ändern. Wir sollten sofort los. Meinen Freund ruf ich unterwegs an. Bitte nehmt Platz und schallt euch an.“
Sofort gehorchten alle, ohne dass jemand sich beschwerte. In Meggies Augen konnte ich Angst sehen und ich gab Selina, die neben ihr saß ein Zeichen, sie zu trösten. Während der elf Minuten Fahrt schwiegen wir. Nathan telefonierte leise mit seinem Bekannten und kündigte ihm unser Kommen und Anliegen an, damit wir vor Ort nicht zu viel Zeit verlieren würden. Der Bekannte schien zwar nicht begeistert zu sein, sein Kleinflugzeug zu verborgen, willigte jedoch schließlich ein, da er Nathan noch einen Gefallen schuldete. Ich fragte mich, worin es wohl dabei gegangen war, doch ich hielt das Schweigen, bis wir aus dem Bus gestiegen waren. Wachsam schauten sich die Gestaltwandler um. Wie bereits von Nathan angekündigt, gab es hier vorrangig Charter-Flugzeuge und gerade wurde aus einer Garage ein Kleinflugzeug gerollt. Unsere Maschine. Ein Mann eilte auf uns zu. Ich erkannte ihn ebenfalls als Vampir. Ich sah, wie sich die Gestaltwandler versteiften und auch ich musste mich zu einem Lächeln zwingen, doch Nathan schien ihm soweit zu vertrauen.
„Seid gegrüßt, alter Freund. Wir haben uns lange nicht gesehen!“, kam der Vampir auf den Ignisaeri zu. Nathan nickte, ebenfalls lächelnd, doch ich sah in seinen Augen die Vorsicht walten. Offenbar vertraute er ihm doch nicht so stark, wie ich ursprünglich vermutet hatte.
„Das ist wahr, Chris Herbius. Das sind meine Freunde. Wie bereits angekündigt brauchen wir Euer Kleinflugzeug, da uns ein dringendes Anliegen ins Nachbarland ruft.“
Der Vampir nickte. „Ihr ließet bereits etwas Derartiges verlauten. Darf ich fragen, um welche Art von Anliegen es sich handelt.“
Nathan lächelte gequält. „Fragen dürft Ihr gerne, mein Freund. Allerdings ist es ein Anliegen privater Natur, dass nicht für alle Ohren bestimmt ist. Daher würde ich es vorziehen, Euch dieses nicht zu verraten. Wie viel würdet Ihr Verlangen?“
„Braucht Ihr einen Piloten?“ Nathan schien zu überlegen, schüttelte dann jedoch den Kopf. Offenbar konnte dieser Mann jedes Gefährt bedienen.
„Gib mir Zwanzigtausend Euro und wir sind quitt.“ Ich schluckte angesichts des hohen Preises und schaute noch einmal zu dem Fluggerät herüber. Er verfügte etwa über achtzehn Sitzplätze und war an beiden Flügeln vorne mit einem Propeller gesegnet.
„Das ist ein Turboprop.“, erklärte mir Nathan leise, während er tatsächlich ein Checkbuch herausholte und die gewünschte Summe darauf schrieb. Ich schluckte schwer und Selina musste mich erst mitzerren, ehe ich bemerkte, dass alle bereits in den Turboprop eingestiegen waren. Innen gab es lediglich zwei länge Sitzreihen mit acht Stühlen. Ich hatte mich also verschätzt. Oder nein doch nicht. Ich hatte die beiden Stühle im Cockpit nicht mitgerechnet, auf dass jetzt zielstrebig Nathan zuging.
„Bist du so etwas schon mal geflogen?“, fragte ich ihn.
Er nickte. „Ja, aber das ist Jahre her.“ Wie beruhigend. Ich schnaubte.
„Leon, könntest du mein Copilot sein? Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn Selina neben mir sitzt und du scheinst mir der Älteste in der Runde zu sein?“
Der Löwe schluckte einmal schwer, nickte dann aber.
„Wenn du mir sagst, was ich machen soll.“
„Okay. Das ist eigentlich ganz einfach: Das ganz rechte Hebelpaar nennt sich `Condition´. Da wir erst einmal bis zur Bahn rollen müssen, stellen wir ihn auf `Low Idle´“, erklärte Nathan und stellte es gleich ein. „Außerdem stelle ich hier schon einmal `Autofeather´ ein. Das sorgt dafür, dass die Propeller bei einem defekten Triebwerk in die Segelstellung gefahren werden.“
Wir fuhren langsam auf die Bahn und über seine Schulter hinweg konnte ich sehen, wie Nathan das rechte Hebelpaar auf `High Idle´ stellte und das mittlere Hebelpaar nach vorne drückte.
Danach lehnte ich mich zurück. Nathan schien genau zu wissen, was er da tat. Ich blendete die Gespräche aus dem Cockpit aus und starrte aus dem Fenster. Was ich sah, ließ mich allerdings aufschrecken. Mehrere schwarze Autos fuhren auf den Flugplatz. Die Palinas aus einem Auto springen zu sehen, war ein ungewohntes Bild für mich. Doch ich musste meine Verwunderung jetzt erst einmal zu Seite schieben und mich konzentrieren, versuchte ich mich zu besinnen.
„Mist!“, fluchte Ruber, der offenbar unsere Verfolger nun ebenfalls bemerkt hatte.
„Nathan, kannst du durch Nebel fliegen?“, fragte ich unseren Piloten. Er warf mir einen Blick über die Schulter zu, während Leon noch verwirrt schien. „Nebel, aber da draußen-“
Ich beachtete ihn nicht weiter, sondern sah Nathan an, der schließlich nickte, wenn auch etwas unwillig. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich die Pfützen, die noch von dem Gewitterguss vor einigen Stunden übrig waren kondensieren zu lassen. Es klappte besser als erwartet. Im nächsten Moment war der ganze Flugplatz in eine dichte Suppe getaucht. Nicht einmal die Hand war noch vor Augen zu erkennen. Ich konnte Schüsse hören, doch das Flugzeug hielt und zu meiner großen Erleichterung hoben wir endlich ab.
Kapitel 12
Wald soweit das Auge reicht. Nach dem doch recht holprigen Start waren wir vor einer Stunde sicher auf einem Flugplatz gelandet und nun wieder zu Fuß unterwegs. Laub und Nadeln knirschten unter meinen Stiefeln, doch noch schneite es nicht. Dennoch durchfuhr mich ein leichtes Frösteln, als ich die dunklen Ausmaße des Waldes erahnte und ich schlang den Umhang fester um mich. Ich konnte Selinas Blick auf mir fühlen, doch kein Wort der Beschwerde verließ meine Lippen. Nathan war noch immer Totenbleich. Den Ignisaeri schien die ganze Sache ziemlich mitzunehmen. Doch an den besorgten Blicken der anderen erkannte ich, dass dort noch mehr war. Erst als Nathan stolperte und ich nach ihm griff, wurde mir bewusst, was falsch an dieser Situation war, denn meine Hand schmückte eine dickflüssige, dunkle Flüssigkeit, die ich im nächsten Moment mit Schrecken als Blut identifizierte.
„Nathan, du bist verletzt!“, entfuhr es mir erschrocken. Der Halbvampir wich meinem Blick aus.
„Nicht so schlimm, Lynn.“ Ich blieb abrupt stehen und riss ihm beinahe das Hemd vom Laib, um die Wunde genauer zu betrachten.
„Nicht so schlimm, ja?“, empörte ich mich und starrte wie gebannt auf die stark blutende Schusswunde an seiner Seite. Er würde von Glück reden können, wenn keine Organe verletzt waren.
„Anhalten!“, befahl ich und zwang ihn zu Boden. Er warf mir einen beschämten Blick zu, wehrte sich ansonsten jedoch nicht. Offenbar war er schon zu schwach. Doch es war besser so. Ansonsten wäre ich gegen seine Kräfte sicher nicht angekommen. Die anderen stoppten ebenfalls, behielten aber die Umgebung im Auge und bildeten in einem weiten Umkreis einen Schutzwall um mich, während ich die Verwandlung einleitete. Fast schon vertraut war das Gefühl der Flügel und mit dem nächsten Atemzug wechselte ich in die Energieebene. Bei dem Halbvampir lag die stärkste Energie in seinem Magen und seinem Herzen. Immerhin bezog er sie sich teilweise aus dem Blut anderer. Sein Körper schien generell etwas anders aufgebaut zu sein, als beispielsweise der von Lynca. Da er aber nicht vollends Vampir war, ähnelte er dem eines Homini noch immer stark. Durch seine andere Gestalt als Ignisaeri, waren auch die Stellen, wo seine Flügel herausstechen sollten und eine kleine Stelle nahe dem Herzen, durch die er Feuer speien konnte erleuchtet. Kurz war ich fasziniert von den Energiespiralen, dann konzentrierte ich mich auf die Wunde. Nathan hatte schon viel Blut verloren und konnte sich nur durch die innere Stärke seines Drachen und die Vampirgene aufrechterhalten. Doch ich wusste, er würde bald etwas Blut brauchen.
„Kannst du auch Tierblut zu dir nehmen?“, fragte ich Nathan, während ich die Heilung einleitete, dieses Mal die Energie aus seinem Magen nehmend.
Er nickte schwach. „Ja“, hauchte er und biss die Zähne zusammen, als ich einen Knochensplitter aus seiner Seite spülte und an seine wahre Stelle brachte. Offenbar war auch sein Brustkorb etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, denn der Knochensplitter entstammte eindeutig einer Rippe.
Ich musste den anderen kein Zeichen geben, denn schon löste sich Leon, der seinen Fahrer besorgt gemustert hatte aus der Gruppe und begab sich auf die Jagd. Ich war ihm mehr als dankbar, dass er mitgedacht hatte, denn derzeit konnte ich keine Hand von der Wunde lösen, geschweige denn mich auf etwas anderes konzentrieren. Ich spürte, wie die Kraft aus mir wich. Immerhin hatte ich heute noch nichts gegessen und die Reise und mein kleiner Zauber vorhin mit dem Nebel zerrten schwer an meinen Kräften. Das wir bereits mehr als eine Stunde gewandert waren, hatte meinen Zustand auch nicht gebessert. Doch ich würde den anderen ganz bestimmt nicht sagen, wie beschissen es mir ging. Immerhin waren sie auch schon einige Tage unterwegs und hatten sich nicht ein einziges Mal beschwert oder um eine Pause gebeten.
>Halte durch, meine Tochter. Ich helfe dir!<, hörte ich plötzlich Gabriels Stimme in meinem Kopf. Zu schwach zum Protestieren, nahm ich die unglaubliche Energie wahr, die er in mich fließen ließ, damit ich die Heilung aufrechterhalten konnte.
>Danke!<, hauchte ich gedanklich, kaum war unser Werk vollzogen und ließ mich dann von der Dunkelheit umfangen, die bereits mein Bewusstsein beeinträchtigt hatte. Nur am Rande bekam ich noch mit, wie Fer mich auffing und sanft auf den Boden legte und sich mein Engelsvater und sein Erbe, die Engelsflügel zurückzogen, dann wurde alles um mich herum schwarz.
***
Es mochten Stunden vergangen sein, vielleicht waren es auch nur Minuten, als ich endlich wieder meine schweren Augenlider aufschlagen konnte und in die besorgten grauen Steine von Meggie starrte.
„Lynn, du bist endlich wieder wach.“, rief sie erfreut aus, als sie es realisiert hatte. Offenbar war sie schon eine Weile über mich gebeugt. Meine Lippen waren spröde und ich fühlte mich, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Ein Tropfen floss mein Gesicht herunter und nach einem kurzen Moment der Verwirrung erkannte ich, dass ich einen nassen Lappen auf der Stirn haben musste. Mein Kopf schien beinahe zu bersten und ich war in diesem Moment mehr als dankbar für dieses kühlende, feuchte Stück Stoff auf meinem Os Frontalis.
„Wie geht es Nathan?“, fragte ich schwach. Meine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.
„Die Wunde ist inzwischen vollständig verheilt. Er hatte das Pech, das vorne das Flugzeug nicht ganz so kugelsicher war, sodass ihn einer der Schüsse treffen konnte, ehe wir abgehoben sind. Wir können von Glück reden, dass er durch seine Arsanimali-Gene genügend Kraft hatte, um uns ohne einen weiteren Zwischenfall hierherzubringen. Auch du hast ganze Arbeit geleistet, Lynn. Aber um welchen Preis… Das Rudel ist bereits vor Stunden zurückgekehrt und hat Nathan mit frischem Rentierblut versorgt. Sein Gesichtsausdruck war einfach köstlich.“ Sie kicherte leise bei dem Gedanken daran. Dann trübte sich ihre Miene wieder.
„Aber Lynn. Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht. Du hättest das nicht machen sollen. Wir dachten schon, du wachst nicht mehr auf, denn dein Herz war so stockend und dein Atem so leise, dass wir dachten, du wärst bereits tot. Bitte mach uns nie wieder so viel Angst. Was soll ich denn ohne dich machen?“
Schwach richtete ich mich auf und schloss sie in meine Arme. Ihr junges Gesicht war von Tränen verschmiert worden. „So schnell werdet ihr mich nicht los. Und Hauptsache Nathan geht es wieder gut.“ Ich lächelte, doch es schien eher in einer gequälten Grimasse zu enden, denn der Ausdruck in Meggies Augen wurde noch besorgter.
„Lynn!“ Nathan kam angestürmt. Er schien sich persönlich versichern zu wollen, dass es mir wieder besser ging. Außerdem konnte ich einen schuldigen Ausdruck auf seinem Gesicht ausmachen, als würde er sich Vorwürfe machen, dass er sich von mir heilen gelassen hatte.
„Nathan, ein Glück. Es geht dir wieder besser!“ Ich versuchte das Zittern, das meinen Körper inzwischen vor Anstrengung durchfuhr, zu verbergen und lehnte mich langsam wieder zurück.
„Mir, ja klar!“, wehrte der Angesprochene ab. „Aber wie geht es dir?“
„Mir geht es ganz gut. Zum Glück hat mich Gabriel unterstützt, sonst hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft, dich zu retten. Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren.“
„Du mich? Wohl eher wir dich!“, entrüstetet sich Nathan. „Du warst einen ganzen Tag bewusstlos und wie Meggie bereits erwähnt hat, so leblos, als würdest du schon mit dem Tod kämpfen.“
„Nein, das würde Gabriel gar nicht zulassen. Und ich war nur so schwach, weil ich noch nichts gegessen habe.“
Der Ignisaeri runzelte nachdenklich die Stirn. „Dann sollten wir das dringend ändern.“ Er wandte sich um. „Selina, könntest du uns bitte etwas Brot und Käse bringen? Lynn benötigt dringend etwas zu essen.“
Das Mädchen sprang auf und rannte fast, um das Gewünschte und etwas Wasser zu holen. Im nächsten Moment war sie bereits bei mir.
„Lynn, wie schön dich endlich wach zu sehen.“, referierte sie aufgeregt und reichte mir die Speisen. Hungrig riss ich Bissen für Bissen von dem Brotlaib ab und stopfte sie mir zusammen mit dem Käse in den Mund. Da ich so hungrig war, dass ich kaum kaute, musste ich mit dem Wasser ganz schon nachspülen, damit ich mich nicht an dem trockenen Brot verschluckte.
„Nur nicht so hastig!“, schimpfte Nathan, musste aber schmunzeln.
„Lynn, Prinzessin?“ Fer kam zu uns herüber. „Wie fühlst du dich?“
Immer dieselbe Frage. Innerlich seufzte ich schwer, behielt aber nach außen ein Lächeln auf den Lippen, das jedoch nicht meine Augen erreichte. „Wir müssen weiter, oder?“
Der weiße Tiger nickte bedrückt. Ich zwang mein Lächeln, sich zu vertiefen. Die Sorgenfalten in Meggies Gesicht vertieften sich ebenfalls, doch sie verkniff sich jeden weiteren Kommentar.
„Bitte helft mir hoch. Ich will die Gemeinschaft nicht aufhalten und wir sind durch mich schon verzögert. Ich schaffe das, aber meine Schwester vielleicht nicht. Carrie braucht uns jetzt. Fer hat Recht, wir sollten weiter.“
Die Umstehenden schienen nicht ganz meiner Meinung zu ein, halfen mir aber hoch.
„Danke!“, raunte ich und musste mich konzentrieren, nicht sofort wieder in mich zusammenzusacken. Meine Beine schienen wie ein Wackelpudding zu sein und meine Muskeln wollten sich einfach nicht anspannen, doch ich bewahrte meine lächelnde Maske, um den Anderen nicht noch mehr Sorgen zu bereiten.
„Geht das, Lynn?“, fragte mich Selina leise. Die Besorgnis in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören.
Ich nickte. „Können wir bei dem nächsten Fluss oder Tümpel eine kleine Pause machen, damit ich Kraft tanken kann?“ Mir war die Idee gekommen, dass dies als Aquaeri möglicherweise helfen könnte.
Die anderen schienen nur wenig verwundert zu sein. Offenbar war ihnen derselbe Gedanke gekommen.
„Natürlich, Lynn.“ Selinas Tonfall wurde sanfter.
Ich schleppte mich vorwärts, Nathan, der jeden meiner Schritte beobachtete an meiner Seite, sodass er mich notfalls auffangen konnte. Ich konnte immer wieder die Blicke des Rudels auf mir spüren, doch mir die Blöße geben, würde ich mir nicht. Ich biss die Zähne zusammen und konnte mich gerade noch so abfangen, als plötzlich eine Wurzel vor meinen Füßen auftauchte.
„Vorsicht!“, knurrte Nathan und sofort hatte ich wieder die Blicke des Rudels auf mir.
„Alles gut!“, wiederholte ich leicht gereizt und stolperte beinahe wieder, als ich meine Schritte zu beschleunigen versuchte.
>Sie machen sich doch nur Sorgen. Und sie sind nicht allein. Sei nicht so hart zu ihnen<, schaltete sich mein Engelsvater erstmals seit meinem Erwachen in meine Gedanken.
Ich ignorierte ihn, da ich immer noch wütend war. Doch ich konnte den Anderen nicht lange sauer sein. Ich stieß ein Seufzen aus, ehe ich mich schließlich an meinen Nebenmann wendete.
„Ich verstehe ja, dass du besorgt bist, Nathan. Doch mit deinen Fragen oder euren Blicken geht es mir keineswegs besser. Außerdem war es dir auch nicht gut gegangen und dir wirft niemand einen besorgten Blick zu. Wo ist da die Gerechtigkeit.“ Zum Schluss klang es fand trotzig, als mein Frust mit meinen letzten Worten aus mir heraus brach.
Selina kicherte und sofort lockerte sich die angespannte Stimmung, worüber ich mehr als froh war.
„Ich höre in der Nähe einen kleinen Bach.“, schaltete sich Fer ein und ich lauschte auf.
„Wasser!“, seufzte ich glücklich und konnte es sogar spüren, als ich mich näher drauf konzentrierte.
Wie von Zauberhand gezogen, strömte ich auf die sprudelnde Quelle zu und ließ mich zu Boden sinken. Meine Hände hatten bereits eine Schale gebildet, ehe meine Knie den Boden berührten. Das eiskalte Wasser floss prickelnd meinen Hals herunter und ich spürte förmlich, wie die Kraft zurück in meinen Körper kroch. Meine Muskeln hörten auf zu zittern und ich atmete erleichtert aus, als sich die Krämpfe in meinem Inneren zu lösen schienen. Die anderen waren inzwischen ebenfalls an der Quelle angekommen und stillten ihren Durst. Doch auch Meggie schien von dem Wasser mehr als angezogen zu werden, denn sie beobachtete teilweise fasziniert, teilweise sehnsüchtig den Verlauf des Wassers.
„Was ist los, Meggie?“, fragte ich das Mädchen. Meine Stimme klang schon wesentlich fester und innerlich stieß ich einen lauten Jubelschrei angesichts dieser Änderung aus, doch nach außen hin blieb ich ruhig.
„Ich habe noch nie so etwas Faszinierendes gesehen.“, meinte sie verträumt, konnte den Blick jedoch nicht von dem Verlauf ablenken. Ich ergriff ihre Hand und zog sie unter einen kleinen Miniwasserfall, der sich dank eines herausragenden Steins im Flussbett gebildet hatte. Sie zuckte kurz zusammen, als sie das eiskalte Nass berührte. Dann begann sie zu strahlen.
„Es ruft mich förmlich zu sich.“ Ihre gehauchten Worte schienen tief aus ihr zu kommen, ließ mich jedoch aufhorchen. Ich schaute erst sie an und dann ihre Hand. Fasziniert betrachtete ich die kleinen Schwimmhäute, die sich zwischen ihren Händen gebildet hatten.
„Du bist ebenfalls eine Nymphe.“, stellte ich leise fest und fuhr vorsichtig über die Haut zwischen ihren Fingern. Sie fühlte sich ein wenig Schleimig an, so wie bei einem Frosch. Ich fragte mich, ob sie sich bei mir ebenfalls so anfühlten.
„Kannst du unter Wasser atmen?“, fragte ich sie neugierig.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich habe mich noch nie vollständig gebadet. Das stand mir nicht zu und so viel Wasser hatten wir auch nicht gehabt.“ Noch immer starrte sie wie gebannt auf das Wasser und ihre Hand.
Ein Knacken hinter uns, ließ Meggie erstarren und mich herumfahren. Auch die Gestaltwandler waren merklich angespannt.
„Was ist los?“, raunte ich ihnen zu.
„Magie!“, fauchte Fer und huschte zu mir, wie um mich zu schützen. Ich zog einen meiner Dolche und schob den weißen Tiger sanft beiseite. Ich konnte mich selbst beschützen und Carrie würde mir den Kopf abreißen, wenn ich zuließe, dass ihren Gefährten etwas zustieß.
„Zeigt euch!“, befahl ich und bemühte mich, so viel Autorität und Entschlossenheit in meine Stimme zu legen, wie möglich. Anhand von Meggies Zusammenzucken wurde mir bewusst, dass es mir gelungen war, doch ich hatte jetzt wichtiges zu tun, als mich um ihre Reaktion zu kümmern.
Ein Mann trat zischen den Bäumen hervor. Er war zwischen vierzig und fünfzig und hatte kurze, dunkle Haare und wachsame graugrüne Augen.
„Eine Horde Gestaltwandler, ein Aquaeri und ein Halbgott. Was für ein ungewöhnliches Bild!“, murmelte er vor sich hin.
Ich trat weiter vor, obwohl mich Fer zurückzuhalten versuchte. „Sagt mir die Wahrheit.“ Ich konzentrierte mich auf meine Engelsgaben, ohne meine Flügel zu offenbaren.
„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier? Und wer hat Euch geschickt?“
Der Mann erstarrte, als er von meiner Macht erfasst wurde. Seine Pupillen wurden weiter, so als würde er unter Drogen stehen und er antwortete mir mit monotoner Stimme.
„Mein Name ist Master Oran. Ich bin der Magier der ostsibirischen Ebene und auf der Suche nach einem Erbeben der Macht vor anderthalb Tagen in Europa. Doch nun, da ich die Halbgöttin vor mir sehe, ist mir klar, wer das Erbeben der Macht verursacht hat und ich rate ihr, in Zukunft vorsichtiger damit umzugehen, ehe schlimmes wird folgen. Ich arbeite allein.“
Mir lief ein Schauer über den Rücken, als seine Worte zu mir durchdrangen. Ich spürte, wie die anderen unruhig wurden. Doch ich konnte meinen Blick nicht abwenden, ohne dass ich die Kontrolle über den Magier verlor.
„Dann sagt, Master Oran. Wen seht Ihr hier als Halbgöttin?“
Fast wie zu erwarten wanderte sein Finger zu Meggie, die noch immer an Wasser hinter mir kauerte.
„Die Muse Aoide, Tochter von Zeus und der Nymphe Mnemosyne, Muse des Gesangs und der Musik.“
Wieder lief mir ein Schauer über den Rücken.
„Woher wollt Ihr das wissen, Master Oran?“ Meine Stimme klang nun nicht mehr ganz so fest, wie noch vor wenigen Minuten. Sie klang sogar ziemlich verunsichert.
„Ich bin ein Sehender. Und ich bin in der Lage die Auren der einzelnen Wesen zu sehen und einzuschätzen. Außerdem kannte ich die Nymphe Mnemosyne, zumindest eine Zeitlang, bevor sie verschwand. Sie klagte mir über den Verlust ihrer Töchter und das Desinteresse des Zeus.“
Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen, denn alles passte so gut zusammen. Die Adoption, das Gewitter beim Gefühlsausbruch, die Schwimmhäute und die Faszination des Wassers. Außerdem hatte ich mitbekommen, dass die Gestaltwandler um mich herum bei der Offenbarung, dass es sich bei unserem Besucher um einen Sehenden handelt, scharf die Luft eingezogen hatten. Ich konnte nur vermuten, dass diese Sehenden eine hohe Wertschätzung der anderen genießen mussten. Dennoch zwang ich mich, meine Konzentration weiter bei unserem Besucher zu lassen.
„Was werdet Ihr jetzt tun, Master Oran? Werdet Ihr das Wissen an Dritte weitergeben?“
Er schüttelte in einer langsamen, monotonen Bewegung den Kopf.
„Nein. Ich werde zu meiner Ebene zurückkehren und meine Arbeit zu der symbiontischen Aktivität kälteresistenter Pilze weiterschreiben. Mein Stillschweigen ist das wenigste, was ich für Mnemosyne tun kann.“ Ich sah ihn überrascht an, angesichts seines Schuldeingeständnisses. Er schien für die Nymphe ja einiges übrig gehabt zu haben. Und dass er mir das gesagt hatte, obwohl es meine Fragestellung nicht verlangt hatte, erstaunte mich.
„Habt ihr noch Fragen?“, wandte ich mich an meine Nachbarn, ohne den Blick von dem Magier zu nehmen. Eine einstimmige Verneinung war von den Gestaltwandlern zu vernehmen, doch eine junge glockenähnliche Stimme hinter mir, schien sich der Allgemeinheit nicht beugen zu wollen.
„Wie war meine Mutter so? Warum hat sie mich fortgegeben?“
Ich schluckte, gab jedoch Meggies Frage weiter, da er offenbar in seinem Zustand nur auf mich antwortete.
„Mnemosyne war eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe. Wenn sie lachte, schien die Sonne zu strahlen und sie war ständig guter Laune. Sie hatte von Zeus neun Kinder ausgetragen und musste sie alle weggeben. Zeus meinte, es wäre zu dem Schutz der Musen, doch ihr tat es in der Seele weh. Ich sah, wie sie mit jedem verlorenen Kind mehr zerbrach. Sie bettelte Zeus an, ihre Kinder behalten zu dürfen, doch sie stieß bei ihm auf taube Ohren. Er hat ihr sehr wehgetan. Bei mir hätte sie es viel besser gehabt.“
Eine Träne rann aus seinen starren Augen, die immer noch auf mich gerichtet waren und zeigte Unmengen an Gefühlen, die ich mit der Erinnerung aus seinem Herzen gerissen hatte. Ich brauchte drei Ansätze, um zu schlucken. Hinter mir konnte ich Meggie schluchzen hören, doch sie war nicht in der Lage, weitere Fragen zu stellen. Und so dankte ich dem Magier schließlich und entließ ihn aus meinem Bann. Er blinzelte mehrmals, dann schien ihm bewusst zu werden, was er alles gesagt hatte. Er warf Meggie einen schuldbewussten und entschuldigenden Blick zu, nickte in unsere Richtung, wobei er mir einen beinah furchtsamen Blick zuwarf und verschwand dann wieder zwischen den Bäumen. Ich konnte den Gestaltwandlern förmlich die Anspannung ansehen, die von ihnen abfiel, als der Magier verschwand. Doch dann richteten sich ihre Blicke auf mich und ich glaubte so etwas wie Vorsicht, Erstaunen und Anerkennung aufblitzen zu sehen.
„Wie hast du das gemacht, Lynn?“, fragte Selina schließlich neugierig. Sie schien nicht zu bemerken, wie sich ihr Adoptivvater bei ihren Worten wieder etwas mehr versteifte. Ich zuckte mit den Schultern.
„Eine weitere von Gabriels Gaben. Ich wollte mal ausprobieren, wie es funktioniert.“, murmelte ich und sah beschämt zu Boden, ehe mich ein Schluchzen an das eigentliche Problem erinnerte. Rasch wandte ich mich um und kniete mich vor Meggie nieder.
„Meggie, ich…. Es tut mir Leid.“, stammelte ich und zog sie an mich um sie zu trösten. Bedauernd strich ich ihr über den Kopf und versuchte in diese kleine Geste so viel Trost zu legen, wie ich nur konnte.
„Oft habe ich mir vorgestellt, wer mein eigentlicher Vater wohl war, dass er mich in eine Adoptivfamilie gesteckt hat. Aber dass er…“ Sie schluchzte heftiger und ihre Worte waren nicht mehr zu verstehen.
„Ich bin mir sicher, dass er nur das Beste für dich gewollt hatte. Und er hat sicher nicht geahnt, dass du in ein solches Umfeld geraten würdest. Außerdem hatte Zeus soweit ich weiß viele Kinder und Frauen und hat es nicht immer geschafft, auf alle gleichzeitig zu achten.“
Mein Mitleid war aufrichtig und ich glaubte, dass man es auch meiner Stimme anhören konnte, doch niemand sagte etwas. So wiegte ich Meggie weiter in meinen Armen, bis plötzlich Patti vor mir stand und die bebende Gestalt sanft aus meinen Armen zog und an seine männliche Brust drückte. Sie klammerte sich fester an ihn, so als bräuchte sie einen Halt, den nur er ihr geben konnte und ich lächelte ihm mit einer Mischung aus Erschöpfung und Dankbarkeit zu.
Ich wandte mich wieder dem Wasser zu und schöpfte mir eine Kelle davon ins Gesicht, wie als könne es die tristen Gedanken vertreiben, die mich gerade plagten.
„Alles in Ordnung, Lynn?“, fragte Fer und kam zu mir herüber. Ihm schien aufgefallen zu sein, wie sehr mich die ganze Geschichte mitgenommen hatte.
Ich starrte nur in die wirbelnden Fluten und brauchte erst eine sanfte Berührung von Fer an einer Schulter, ehe ich langsam in die Wirklichkeit zurückkehrte.
„Es war falsch, dass Meggie so von ihrem leiblichen Vater erfahren musste.“, beklagte ich mich leise in die Stille, die nur von Meggies Schluchzen durchbrochen wurde.
„Dass er nie für sie da war, obwohl sie göttlichen Geblüts ist und dringend seine Hilfe benötigt hatte. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und ihre Kindheit verändern. So etwas sollte niemand durchmachen, egal ob Homini, Arsanimali oder Halbgott.“
Fer verstärkte tröstend den Druck auf meiner Schulter, doch er konnte mir auch nicht die Schuldgefühle nehmen, die mich durchfuhren, wenn ich an Meggie dachte.
>Du kannst ihr nicht das Leid nehmen.<, schaltete sich Gabriel ein.
>Wusstest du, dass sie ein Halbgott ist?<, fragte ich ihn. Der Erzengel schwieg. Ich schnaubte abfällig.
>Ich kenne nicht alle Götter und ihre Nachkommen persönlich!<, versuchte er sich zu verteidigen.
Ich seufzte. >Ist schon gut, Gabriel. Das sollte keinerlei Vorwurf sein. Die Tatsache, dass Meggie eine Halbgöttin sein soll und ihr dennoch so viel grausames angetan wurde, hat mich nur schockiert und überrascht.< Ich wusste selbst nicht, warum ich versuchte den Erzengel zu beruhigen. Vielleicht, weil ich die brodelnde Wut in meinem inneren spüren konnte, die von ihm ausging. Vielleicht auch nur, um mein Gewissen zu beruhigen. Ich schaute auf, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
„Können wir weiter?“ Meine Stimme klang schuldig, denn ich fürchtete die Reaktion der anderen und war mir nicht sicher, ob Meggie bereits bereit war, weiterzugehen.
Sie schniefte noch einmal, dann straften sich ihre zierlichen Schultern.
„Egal was die Zukunft bringt. Eines Tages wird mir Zeus für all das, Rechenschaft schuldig sein. Das schwöre ich. Und bis dahin bitte ich euch aufzupassen, dass ich kein allzu großes Gewitter heraufbeschwöre, sobald ich in Wut geraten sollte.“ Gerne gaben wir ihr unser Wort. Sie schien so entschlossen zu sein und einen Moment lang bewunderte ich sie von ganzem Herzen für ihre Standfestigkeit, dann lächelte ich ihr zu und half ihr aufzustehen.
„Gut, dann lasst uns weitergehen. Carrie braucht uns jetzt dringend. Was schätzt ihr, wie lange wir noch brauchen werden, um sie zu erreichen?“
Mein Blick ruhte weiter auf Meggie, die sich die letzten Tränenspuren aus dem Gesicht wischte, doch die Frage war eindeutig an den Gefährten meiner Schwester gerichtet.
„Wenn wir in diesem Tempo weiter voranschreiten vielleicht zehn bis zwölf Stunden.“
Ich nickte. „Gut, dann lasst uns, uns beeilen, ehe wir von der Dunkelheit überrascht werden. Außerdem glaube ich, dass wenn wir noch länger verharren, Leon uns die Hölle heiß macht.“
Mein Blick war auf den Löwenwandler gefallen, der unruhig hin und her schlich. Offenbar vermisste er sehnlichst seine Socia Fil. Ich war gespannt, wie die Cousine des Alphatieres sein würde. Aber noch mehr war ich auf meine Schwester gespannt. Sofern ich ihr helfen konnte.
>Das wirst du. Michael hatte nicht Unrecht. Du bist durch meine Gene die Einzige, die ihr wirklich helfen kann und durch eure Familienbande noch mehr. Vor allem in der Gesundungsphase wird sie dich sicher brauchen. Vor allem, da die Schwangerschaft viel schneller voranschreitet, als du es gewöhnt sein wirst. Immerhin trägt sie das Kind eines Gestaltwandlers und ist dazu noch selbst einer.<
Ich wusste, Gabriel versuchte mich zu beruhigen, doch noch immer plagten mich Zweifel. Ich wusste doch nicht einmal genau, was ich machen musste. Und so viel Erfahrung mit Schwangeren hatte ich auch nicht.
>Vertrau einfach auf deine Instinkte. Und ich dachte, du hast ein gutes Gefühl, was deine Schwester angeht.<
Ich zögerte, dann nickte ich.
Erst da wurde mir bewusst, dass mich alle anstarrten.
„Was?“, fragte ich verwirrt.
>Ich glaube, sie haben gefragt, ob irgendetwas ist, da du ihnen nicht gefolgt bist. Dein Nicken war nicht gerade eine Ablehnung zu ihrer Frage gewesen.<, half mir Gabriel hilfreich aus. Ich fragte mich, wie er es schaffte, sich gleichzeitig auf das Gespräch mit mir, seine und meine Umgebung zu achten. Aber vermutlich hatte er sich auch nicht nebenbei mit solchen komplizierten Gedankengängen herumzuplagen.
>Vermutlich<, lächelte Gabriel. Es ärgerte mich, dass es ihn zu amüsieren schien. Er musste ja nicht in meinen Gedanken rumschnüffeln.
>Aber nun solltest du wirklich das Missverständnis aus der Welt schaffen, ehe ihre Sorgen noch größer werden.<
Er hatte Recht. Fer hatte sich schon langsam auf mich zubewegt, um mich im Notfall auffangen zu können. Es war süß von ihm, dass er sich um mich genauso sorgte, wie um meine Schwester. Letzte Möglichkeit hin oder her.
„Alles in Ordnung, Fer. Ich hatte nur gerade eine….“ Ich suchte nach dem richtigen Wort.
„Meinungsverschiedenheit mit Gabriel.“
>Nicht sehr überzeugend!<, murmelte mein Engelsvater.
Ich schnaubte, verkniff mir aber jede weitere Beleidigung.
Auf Fers Gesicht huschte ein Lächeln. „Einen Erzengel in seinen Gedanken zu haben, kann manchmal schon ganz schon nervig sein. Jedenfalls hat mir das Carrie einmal gebeichtet.
Dieses Mal war es Gabriel, der schnaubte. Ich kicherte.
„In der Tat.“ Beleidigt zog sich mein Engelsvater zurück.
„Komm!“ Fer hielt mir seine Hand hin. Kurz durchzuckte mich ein Stich des schlechten Gewissens, dass ich den Erzengel so bloßgestellt hatte, immerhin sollte er mir später noch helfen. Doch dann ergriff ich neuen Mutes Fers Hand, die sich warm um die Meine schloss und ein Prickeln in mir auslöste. Kurz glaubte ich die Verbindung zwischen ihm und meiner Schwester zu spüren, doch die konnte niemals so stark sein. Oder? Immerhin lag Carrie im Koma. Wieder holten mich das schlechte Gewissen und die düsteren Gedanken ein, während ich hinter Fer hinterher stolperte, immer wieder besorgte Blicke von meinen Mitmenschen auf mir spürend. Was, wenn ich es wirklich nicht schaffen sollte meine Schwester zu retten. Ohne sie würde die Welt ganz schon aus den Fugen geraten, oder? Und dass, obwohl sie gerademal sechzehn Jahre alt war. Sechzehn. So viele Jahre hatte ich von ihrem Leben verpasst. Ob sie mich überhaupt noch in ihrem Leben haben wollte? Als was würde sie mich sehen. Als Freundin? Mutterersatz? Oder tatsächlich als die große Schwester, die ich in Wahrheit war? Mit einem Schlag wurde mir bewusst, wie wenig ich doch über sie wusste. Ob dieser Lak als ihr Stiefbruder mich überhaupt in ihrer Familie akzeptieren würde?
Erst ein Rucken an meiner Hand rief mich in die Wirklichkeit zurück. Ich blinzelte ein paar Mal, ehe ich den Wald wieder klar vor mir sehen konnte. Erst jetzt bemerkte ich, wie anders doch die Umgebung geworden war und ich nicht einmal mehr ansatzweise das Wasser des Flusses fühlen konnte. Wie lange waren wir wohl gewandert? Fragend sah ich Fer an, der stehen geblieben war und somit an meiner Hand gerissen hatte. Doch er bedeutete mir nur zu schweigen. Ich fixierte wie er die Umgebung, obwohl, abgesehen von seinem angespannten Körper nichts auf eine Gefahr hindeutete.
Plötzlich hob Leon den Kopf und lächelte. Im nächsten Moment sprang ein weißer Schatten aus dem Gebüsch und stürzte sich auf ihn. Noch während er auf ihn traf, verwandelt sich Leon und rollte mit dem weißen Schatten über den Boden. Ich wollte ihm schon mit meinen Messern zur Hilfe eile, da hielt mich Fer auf. Er lächelte. Das irritierte mich am meisten. Neugierig betrachtete ich den weißen Schatten näher, die sich ebenfalls als weißer Tiger herausgestellt hatte. Der weiße Tiger und der weiße Löwe kullerten über den Boden in einer Art Machtkampf. Jedes dieser Tiere versuchte die Position oben zu behalten und den anderen auf dem Boden festzunageln. Schließlich gelang es dem Löwen und es schien fast wie eine Dominanzszene zu sein, wäre das nicht die Zunge des Tigers, die einmal neckisch über das Gesicht des Löwen fuhr. Er ließ sich los und schüttelte sich, während sich der Tiger oder besser gesagt die Tigerdame, wie ich jetzt erkannte, geschmeidig zurück in eine stehende Person gleiten ließ.
Fer, neben mir, kicherte. „Fil, du bist unverbesserlich. Du weißt genau, dass weder ich noch ich, diese Geste gerne leiden können. Du untergräbst damit seine Autorität.“
Die Tigerdame schnaubte und verwandelte sich schließlich mit einem Blick zu mir. Ein kleines, zierliches Mädchen stand vor mir. Sie schien zwölf oder dreizehn Jahre alt zu sein, doch trug eindeutig schon Anführerblut in sich, was ich an ihrem in die Höhe gereckten Kopf erahnen konnte. Dann erinnerte ich mich an Fers Worte. Das war also Fil. Die Cousine Fers und Gefährtin Leons.
„Welche Autorität?“, fragte Fil frech. Nun sprach eindeutig das junge Mädchen aus ihr. Sowohl Fer als auch Leon knurrten. Doch Fil hatte offenbar schon wieder das Interesse an der Auseinandersetzung mit den beiden Alphatieren verloren und musterte mich jetzt genauer. Der Gefährte meiner Schwester knurrte noch einmal missbilligend, dann stellte er uns vor.
„Lynn, das ist meine Cousine Fil, von der ich dir bereits erzählt habe. Fil, dass ist die Schwester von Carrie, Eveline Elara Meyer.“
Kapitel 13
Mein Name schien Fil an etwas zu erinnern. „Fer, apropos Carrie. Es geht ihr schlechter. Sie atmet kaum noch und Gan ist schon am Ende seiner Kräfte und weiß sich auch nicht mehr zu helfen. Ihr müsst sofort kommen!“
Sowohl Fer als auch ich hatten uns bei ihren Worten verspannt. Angsterfüllt sah ich das zwölfjährige Mädchen an. Das konnte doch nicht sein. So kurz vor dem Ziel. Außerdem würde unsere Wanderung sicher noch stundenlang dauern. Was, wenn meine Schwester das nicht überleben würde. Ich hatte sie doch noch nicht einmal bewusst kennengelernt. Denn an sie an kleines Kind konnte ich mich definitiv nicht erinnern. Auch Fer schien ziemlich mit sich zu Ringen, behielt die Kontrolle über die Situation aber bei.
„In Ordnung, ab jetzt werden alle in ihrer zweiten Gestalt weiterreisen. Ich nehme Lynn auf meinen Rücken, Prit du nimmst Meggie auf deinen. Nathan, du als halber Vampir kannst sicher auch mit unserem Tempo mithalten und nimmst notfalls Selina auf die Schulter. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.“
Ich gab ihm im Stillen Recht und beobachtete dann fasziniert, wie jeder meiner Freunde die Verwandlung einleitete. Fer gab mir per Kopfbewegung zu verstehen, dass ich auf seinen Rücken klettern soll, doch erst mit Selinas Hilfe gelang es mit aufzusteigen, ehe sie sich in den eleganten Raubvogel verwandelte, der sie eigentlich war. Dann wurde unser Lauf gestartet. Und was für ein Lauf. Für die vielleicht noch zu absolvierenden vier Stunden Lauf brauchten wir gerade mal anderthalb. Der Wind pfiff an uns vorbei und manchmal befürchtete ich, dass wir gegen einen der Bäume stoßen würden, doch Fer hatte die Situation vollständig unter Kontrolle. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte mir die schemenhaften Gestalten meiner Seite. Sowohl Selina als auch Nathan konnten tatsächlich mit unserem Tempo mithalten. Ich lächelte ihnen zu, obwohl ich nicht wusste, ob sie es sahen und bereitete mich innerlich darauf vor, wie ich meiner Schwester helfen könnte.
Erst nach mehreren Blinzeln bemerkte ich, dass die Anderen abgebogen waren, während wir weiterhin geradeaus liefen, immer Fil hinterher. Nur Leon schien an unserer Seite geblieben zu sein. Offenbar wollte er nicht länger von seiner Gefährtin getrennt sein. Ich wollte Fer fragen, wohin die anderen gegangen waren, wusste jedoch nicht wie.
Endlich wurden wir langsamer und ich bemerkte, dass mein Magen sogar ziemlich erleichtert über diese Tatsache war. Erst jetzt konnte ich deutlich die Lichtung vor uns erkennen, auf der zwei Zelte aufgebaut waren und sich einige Personen versammelt hatten. Am Rand brannte ein kleines Lagerfeuer. Endlich blieb Fer stehen und ich glitt elegant wie von einem Pferd von ihm herunter und landete schließlich in der Hocke neben ihm, um mich dann langsam wieder aufzurichten. Fer hechelte schwer und mir wurde bewusst, dass es ihn fast seine gesamte Kraft gekostet hatte, mich nun auch noch in diesem Tempo hierher zu transportieren. Dankbar kraulte ich ihn hinter dem Ohr und trat dann entschlossenen Schrittes auf die Lichtung. Ein paar Köpfe treten sich neugierig zu mir um, vor allem, da mir die Gestaltwandler nicht folgten. Offenbar waren sie zu erschöpft dazu. Fragend sah ich kurz zu Fer und er deutet mit dem Kopf auf das Größere der beiden Zelte. Es war in einem tiefen Dunkelgrün gehalten und passte sich perfekt an den Wald an. Langsam ging ich auf das Zelt zu, die wachsamen Blicke sämtlicher Personen auf der Lichtung auf mich gerichtet, doch niemand sagte ein Wort. Ich schlug die Pläne um und hoffte, meine Augen würden sich rasch an die Dämmerungslichtverhältnisse gewöhnen. Erst dann sah ich das blasse Gesicht, das sie mir so vertraut schien und den zierlichen Leib unter einem Haufen von Decken, die jedoch nicht die kleine Wölbung ihres Bauches verdecken konnten. Doch noch ehe ich einen weiteren Schritt Richtung Krankenbett machen konnte, hörte ich ein tiefes Knurren hinter mir. Ruckartig fuhr ich herum und sah mich einer dünnen Gestalt mit dunklen, fast fettigen Haaren gegenüber. Kalte, graue Augen fixierten mich und beobachteten jeden meiner verunsicherten kleinen Schritte.
>Vampir!<, schoss es mir in den Kopf und ich musste schlucken. Schnell zog ich eines der Messer und stellte mich schützend vor Carries Bett. Eine Tatsache, die den Vampir zu verunsichern schien, denn er legte leicht den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn, ohne mich aus seinem stechenden Blick zu entlassen.
„Keinen Schritt weiter, Vampir!“, fauchte ich ihn an und versuchte meiner Stimme so viel Autorität wie möglich zu verleihen. Anhand des Zusammenzuckens meines Gegenübers würde mir bewusst, dass es gewirkt haben musste. Er knurrte. Wie auf das Kommando stürmten einige Männer in Uniform herein, auf deren Brust eine Lilienblüte abgebildet war, blieben aber angesichts der Szene, die sich ihnen bot, erstaunt stehen. Das Zeichen auf ihrer Brust riefen in mir Erinnerungen hoch, wie ich durch eine Art Schloss gerannt war und vor ein paar solchen Männern davon gerannt war, die offenbar Fange mit mir spielten. Einen Moment später lieferte mir die Erinnerung noch ihre Bezeichnung.
„Lilienkrieger.“ Erst anhand ihres Zusammenzuckens wurde mir bewusst, dass ich das Wort laut ausgesprochen hatte. Ich senkte das Messer und lächelte. Sie waren die untergebenen meiner Eltern gewesen und soweit ich wusste, würde sie meiner Linie auch immer treu sein. Ich lächelte sie kurz an und drehte mich dann wieder zu meiner Schwester um. Wieder ertönte ein Knurren in meinem Rücken.
„Lak, lass das!“ Eine weitere Person hatte sich in das Zelt gedrängt und schien angesichts des Aufgebots hier, nicht gerade erfreut zu sein. Aus dem Augenwinkel betrachtete ich ihn näher. Eine braune Mähne, ein voller, aber gestutzter Bart und dunkelblaue Augen, die wie Kristalle im Feuer glänzten. Ich spürte förmlich die Magie, die von ihm ausging. Doch das war es nicht, was mich erstarren ließ. Langsam drehte ich mich wieder um, während mir mein Herz wie wild in der Brust schlug. Doch ich beachtete es nicht, sondern fixierte einfach den Vampir, so wie er mich vorhin mit seinen kalten grauen Augen gemustert hatte.
„Du bist also Lak!“ Meine Stimme war angespannt, wie der Bogen einer Violine und mein Herz raste. Dass war als der Stiefbruder meiner Schwester und somit auch mein Bruder. Und ich hatte mich in unserer ersten Begegnung alles andere als höflich bewiesen. Und dann sollte er mich mögen?
„Ja?“ Der Vampir zog irritiert die Augenbraue hoch. Ich schien ihm nicht ganz geheuer zu sein.
Ich atmete noch einmal kräftig durch. „Dann freut es mich ehrlich, deine Bekanntschaft zu machen. Ich werde mich vorstellen, sobald es Carrie besser geht. Ich würde jetzt gerne mit ihr alleine sein.“
Ich wusste, dass meine Worte keineswegs das Verlangen nach Antworten, dass in seinen Augen loderte, befriedigen würden, doch ich hatte keine andere Wahl.
„Nein!“ Lak protestierte lautstark, wurde jedoch von einem der Lilienkrieger nach draußen gezogen, dessen Augen sich erst erstaunt geweitet hatten, ehe er mich strahlend anlächelte. Offenbar hatte er mich erkannt. Der Mann mit den braunen Haaren blieb als einziges zurück und kam vorsichtig mir näher, während ich mich neben meiner Schwester niederkniete.
„Seid Ihr die, von der Erzengel Michael geredet hatte? Könnt Ihr ihr helfen?“
Ich zögerte kurz. „Ich tue mein Bestes.“ Der Mann nickte wenig überzeugt, verließ dann jedoch das Zelt.
Ich legte Carrie die Hand auf die Stirn und rief sowohl meine Engels-als auch meine Wasserbändigerkräfte, so wie ich es auch bereits bei Nathan getan hatte. Wieder sah ich die einzelnen Energiebahnen vor mir. Doch sie schienen gedämmt, fast nur noch flackernd. Ihr Leben schien wirklich am seidenen Faden zu hängen. Was jetzt?
>Du musst versuchen als erstes das Kind am Leben zu erhalten, egal, was passiert. Nähre es mit deiner Energie.<
Ich war so froh, Gabriel an meiner Seite zu haben, denn mit ihm kam auch die Hoffnung zurück, dass ich es schaffen könnte. Sofort machte ich mich daran das helle Licht in ihrer Gebärmutter, dass ebenfalls zu flackern angefangen hatte, mit Energie zu füttern. Das Flackern hörte auf und einen Moment glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu spüren. Aber das war unmöglich, oder?
>Nun konzentriere dich auf die Energiebahnen von Elisabeth. Siehst du irgendwo einen Knoten, der da nicht hingehört.<
Ich konzentrierte mich näher, ohne die Energie in das Kind abreißen zu lassen. Ich konnte spüren, wie meine Engelsflügel zu wachsen begannen, doch mir war es egal. Da endlich, an einem Energiepunkt zwischen den Schultern konnte ich einen Knoten förmlich erfühlen.
>Ich hab ihn.<, vermittelte ich Gabriel.
>Gut. Versuche ihn zu lösen. Und egal, was passieren sollte. Du musst das Kind weiter mit Energie versorgen. Es ist alles meine Schuld, dass es überhaupt so gekommen ist, doch du wirst meinen Fehler wieder ausbessern. Da bin ich mir sicher.<
Ich konnte ihm bei seiner Selbsteinsicht nicht ganz folgen, tat jedoch, wie geheißen und bemühte mich den Knoten zu lösen. Ich konnte förmlich spüren, wie er sich unter meiner Berührung verkrampfte. Doch so leicht würde ich nicht aufgeben. Ich ließ mein Wasser an die betroffene Stelle fließen und bemühte mich, die einzelnen Bestandteile und Zwischenräume der Energiebahnen auszuspülen, um ihn leichter zu entwirren. Mit Schrecken stellte ich fest, dass, je mehr ich den Knoten löste, umso langsamer das Herz von Carrie schlug. Mir kullerten die Tränen über die Wangen, doch ich machte weiter, so wie es mir Gabriel angewiesen hatte. Ich war mir sicher, dass er und Michael meine Schwester nicht sterben lassen würden, oder? Endlich gelang es mir den Knoten zu lösen. Im nächsten Moment setzte Carries Herz aus.
Kapitel 14
Mit fahlem Gesicht sah ich auf das bleiche Gesicht meiner Schwester. Ich hatte sie umgebracht. Dabei liebte ich sie doch! Nur mit Mühe gelang es mir, den Energiestrom, den ich noch immer in das Kind lenkte, nicht abbrechen zu lassen. Was hatte ich getan?
>Das einzig Richtige!< Im nächsten Moment wurde alles in ein grelles Licht getaucht und ich musste die Augen schließen, aus Angst zu erblinden. Eine unglaubliche Welle an Kraft schien von den Energiebahnen unter mir auszugehen und ich versuchte meine Hände wegzureißen, doch es gelang mir nicht. Ebenso wenig, wie zu verhindern, dass mir die Kontrolle über den winzigen Laib in meiner Schwester wieder entrissen wurde.
„Nein!“, wollte ich schluchzen, doch die Luft schien viel zu dick zu sein, um überhaupt atmen geschweige denn sprechen zu können. Endlich wurde der Druck geringer und es gelang mir unter Mühen schließlich die Augen zu öffnen und in zwei wunderschöne, goldbraune Opale zu schauen, die mich dankbar und neugierig betrachteten.
„Carrie!“ Die Zeltpläne wurde aufgerissen und Fer stürzte herein. Er schien sehr aufgeregt zu sein. Erst da realisierte ich, dass die zwei Opale zu dem inzwischen wieder rosigen Gesicht meiner Schwester zu gehören schienen, die sanft meine Hand vorn ihrer Stirnnahm und sich aufrichtete, um ihrem Gefährten entgegenzusehen. Sie lebte, aber-
>Elisabeth war ein Kind, dass meiner Meinung nach nicht normalerweise entstehen hätte können. Dabei hatte ich noch nicht begriffen, wie wichtig sie für die Welt sein würde und wie viel sie meinem Bruder und meiner Tochter bedeuten würde. Durch dich kann sie endlich das Erbe ihres Vaters mit all den von ihm vererbten Gaben antreten, als reiner Halbengel.<
„Als reiner Halbengel?“, fragte ich verblüfft und offenbar auch laut, denn Carrie wandte sich wieder an mich, ihren Gefährten, der im Eingang erstarrt war, weiterhin aus den Augenwinkeln beobachtend.
„Ja, ich bin inzwischen ein reiner Halbengel mit weißen Flügeln. So, wie es das Schicksal für normale Engelskinder vorgesehen hatte.“
Verblüfft strich ich mir eine Strähne von meiner schweißüberströmten Stirn. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie viel Anstrengung mich das Ganze gekostet hatte.
„Der Energieknoten hatte einen Teil meiner Kräfte und Fähigkeiten zurückbehalten, den du jetzt jedoch gelöst hast. Michael hat es mir erzählt.“
Ich lächelte müde. „Manchmal ist es ein ganz schön komisches Gefühl einen Engel in sich zu haben, oder Schwesterherz?“
Sie erwiderte mein Lächeln und eine Welle von Liebe schien über mich zu schwappen. Wie ich schon vermutet hatte. Wir würden ein Herz und eine Seele werden.
Noch immer schwankend trat ich aus dem Zelt heraus. Ein Blick zu meiner Schwester und ihrem Gefährten hatte mir genügt, um mir zu zeigen, dass ich in diesem Moment überflüssig war. Sie hatten sich viel zu erzählen. So, wie ich das aus dem Beginn des Gesprächs herausgehört hatte, hatte Elisabeth Fer noch nicht einmal etwas von der Schwangerschaft erzählt gehabt, aus Angst, er würde sie nicht kämpfen lassen. Ich konnte über diese Entscheidung nur den Kopf schütteln, obwohl ich sie durchaus verstand. Und wenn ich so an meine Tage bei Fürst Jaiden dachte, wo man mir auch vorschreiben wollte, wie ich mich zu verhalten hatte, konnte ich mich sogar bei ähnlichen Gedanken ertappen. Ich seufzte und erregte damit die Aufmerksamkeit von Lak, der ruhelos vor dem Zelt auf und abwanderte.
„Was ist mit Carrie?“, fragte er ohne Umschweife und sah mich schon beinahe anklagend an.
„Sie und das Kind sind wohlauf. Sie ist sogar inzwischen wach. Fer ist bei ihr.“, erzählte ich ihm ohne Umschweife. Immerhin war er Elisabeths Ziehbruder und somit würde er auch so eine Art Bruder für mich werden.
„Was, sie ist wach?“ Lak blieb abrupt stehen und lenkte damit die Aufmerksamkeit der Anderen auf uns. Ich nickte nur müde. Fast hastig schien der Vampir in das Zelt stürmen zu wollen, als er diese Ankündigung realisierte, warf mir vorher aber noch einen raschen Blick zu.
„Ihr seht erschöpft aus. Vielleicht solltet Ihr Euch lieber hinsetzen.“ Wieder nickte ich schwach. Er schien nicht überzeugt zu sein. Noch einmal warf er einen sehnsüchtigen Blick zum Zelteingang, entschied sich dann aber, lieber dafür zu sorgen, dass ich sicher am Lagerfeuerplatz, am dem sich die Lilienkrieger versammelt hatten, sicher ankam. Ich musste schlimmer aussehen, als ich erwartet hatte. Aber anlässlich meiner zitternden Gliedmaßen war ich ihm sogar dankbar dafür. Beinahe sanft senkte mich Lak auf einem der Baumstämme ab, die um das Feuer herumlagen.
„Danke, Lak.“, murmelte ich. „Du solltest Elisabeth und Fer noch ein wenig Zeit für sich gönnen. Er hat die letzten Tage ziemlich gelitten.“ Die vertraute Anrede meiner Aussage schien ihn daran zu erinnern, dass er noch immer keine Ahnung hatte, wen er da eigentlich vor sich hatte und sofort wurde sein Blick wieder skeptisch.
„Ihr meintet, Ihr würdet Eure Identität preisgeben, sobald Carries Zustand sich verbessert haben sollte.“, begann er ein Gespräch mit mir. Die unausgesprochene Frage nach meiner Identität schwang in seinen Worten mit. Doch anders als im Ballsaal, war ich dieses Mal mehr als bereit, mich auf diese Frage erkenntlich zu zeigen.
„Meine Freunde nennen mich Lynn. Doch du wirst mich vermutlich unter dem Namen Elara kennen. Ich bin die Schwester deine Ziehschwester Carrie Elisabeth Crown und neben Arsanimali auch die Schutzbefohlene des Erzengels Gabriels. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Lak und danke dir dafür, dass du dich die letzten Jahre so gut um meine Schwester gekümmert hast.“ Die Augen des Vampirs waren mit jedem meiner Worte größer geworden, doch nicht nur seine Aufmerksamkeit hatte ich auf mich gezogen. Auch die Lilienkrieger hatten sich bei meinen Worten in Bewegung gesetzt und schienen in eine Art Verbeugung gefallen zu sein.
„Bitte nicht!“, erbat ich mit hochrotem Kopf, als ich die Situation um mich herum erfasste. „Bitte erhebt euch wieder. Ich bin noch lange nicht gekrönt und auch danach werde ich weiterhin ein ganz normaler Arsanimali sein und damit keineswegs anders als ihr. Also bitte lasst endlich alle das ganze Verbeugen und setzt euch wieder. Das kann ich ja gar nicht mit ansehen.“
Hinter mir ertönte ein Kichern und Lak und ich drehten uns um. Elisabeth war aus dem Zelt getreten. Hinter ihr ein verärgerter und besorgter Fer, der sie eindeutig versucht hatte, aufzuhalten. Nun, unser Geschlecht war aber nicht so leicht aufzuhalten. Ich schenkte meiner Schwester ein schiefes Grinsen, während Lak neben mir aufgesprungen war.
„Carrie!“ Er eilte zu seiner Ziehschwester. „Wie geht es dir?“ Sein Blick wandert einmal über ihren zierlichen, ausgemergelten Körper. Das Koma hatte ihr eindeutig zu viel abverlangt. Doch sie winkte nur ab.
„Mir geht es gut. Aber es ist schön zu beobachten, dass ich nicht die Einzige bin, die ein Problem mit euren übertriebenen Gesten hat.“
„Carrie, bitte. Das ist nicht witzig.“, murmelte der Mann mit den braunen Haaren, den ich bereits in Elisabeths Zelt gesehen hatte und der nun aus dem kleinen Zelt geeilt kam.
„Ach komm schon, Gan. Nur weil du nun nicht mehr an mir herumdoktern kannst, heißt es noch lange nicht, dass du schlechte Laune haben musst. Und wenn ich mir meine Schwester und meinen Gefährten so angucke, kannst du ihnen gerne etwas Stärkendes anbieten, wenn du dich dann besserfühlst.“ Sie zwinkerte mir zu. O ja. Sie hatte eindeutig Feuer im Blut. Doch dass schienen die Anderen bereits zu kennen. Ich schmunzelte und nickte Gan, der mir einen fragenden Blick zugeworfen hatte, zu. Gegen eine kleine Stärkung hatte ich definitiv nichts einzuwenden. Vor allem nicht nach der kräftezehrenden Heilung meiner Schwester. Der Mann schenkte Elisabeth noch einen erschöpften Blick und wandte sich dann an Fer.
„Willst du auch einen Apfel, Fer?“ Offenbar kannten sich die Beiden wirklich gut, denn sie schienen sich fast lautlos zu verständigen und die vertraute Ebene sowie das fehlende Alpha sprach eindeutig dafür. Der weiße Tiger sah noch einmal zwischen Gan und seiner Gefährtin hin und her, nickte aber schließlich. Gan grummelte noch irgendetwas vor sich her, verschwand dann aber wieder in seinem Zelt, während Elisabeth, Fer und Lak zu uns ans Feuer schlenderten und sich bei mir auf dem Baumstamm niederließen. Obwohl sie es nie zugeben würde, konnte ich meiner Schwester ansehen, wie froh sie über die Pause und das erneute Sitzen war. Fer warf ihr erneut einen beunruhigten Blick zu, doch sie ignorierte ihn einfach und wandte sich stattdessen an mich.
„Du bist also Elara. Im Zelt habe ich nicht so viel von dir mitbekommen und Michael hat mir nur das Wichtigste erzählt, ehe er mich zurückgeschickt hat.“
Ich nickte. „Und du Elisabeth.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nenn mich doch Carrie. An Elisabeth bin ich noch nicht so gewöhnt. Immerhin war das bislang nur mein Zweitname und laut einer früheren Freundin auch ziemlich veraltet.“
Ich musste lächeln. „Mir geht es nicht anders. Eigentlich heiße ich Eveline Elara Meier. Doch seit Beginn dieser Reise nennen mich eigentlich alle nur Lynn.“
„Okay, Lynn. Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Seit Michael erwähnt hat, von wem ich abstammen würde, habe ich mir immer wieder vorgestellt, wie du wohl sein könntest und ob ich je dich kennenlernen würde. Aber ich muss zugeben, ich bin froh, dass dieser Moment endlich da ist.“ Sie lächelte mich an und unwillkürlich musste ich zurücklächeln. „Nun erzähl doch mal: Wie hast du von der Welt der Arsanimali erfahren und wie ist es dir bislang ergangen?“
Die nächsten Stunden tauschten wir uns über unser bisheriges Leben aus, nur kurz unterbrochen von Gan, der mir zwei Äpfel in die Hand drückte und sich dann zu uns setzte. Lediglich unsere Gaben ließen wir aus, was aber den vielen Ohren verschuldet war. Doch wie ich es mir bereits gedacht hatte, verstanden wir uns prächtig. Die Äpfel hatten wirklich wahre Wunder gewirkt, sodass mich erst ein starker Druck auf meinen Augenliedern schließlich daran erinnerte, dass ich mich, ebenso wie meine Schwester, ausruhen sollte.
„Ähm, Carrie.“, unterbrach ich schließlich unsere Erzählungen. „Können wir bitte unser Gespräch morgen fortsetzen? Es ist schon ziemlich spät, ich habe eine weite Reise hinter mir und auch du solltest dich nicht überanstrengen.“
Meine Schwester sah sich verwundert um, als würde sie erst jetzt feststellen, dass es tatsächlich schon wieder hell wurde und sich die meisten der Lilienkrieger zurückgezogen hatten. Fer war mit dem Kopf auf Carries Schulter eingeschlafen und auch Gan hatte sich bereits vor Stunden hingelegt.
„Vermutlich hast du Recht.“
Sie warf dem Feuer noch einmal einen sehnsüchtigen Blick zu, ehe sie sich zu ihrem Gefährten herunterbeugte und ihn mit liebevollen Worten dazu brachte, mit ihr in das Zelt zu verschwinden, in dem sie die letzten Tage verbracht hatte.
Ich rieb mir noch einmal über die Augen, dann sah ich mich nach einer besonders gemütlichen Stelle Boden um. Obwohl ich das Gespräch mit meiner Schwester sehr genossen hatte, war ich nun doch recht froh alleine zu sein. Niemand der mir vorschrieb, was ich zu tun und zu lassen hatte. Ich musste kein Wort mehr im Mund abwägen oder jemanden versuchen zu überreden, dass ich nichts Besseres als er war und dementsprechend eine Matratze oder ähnliches benötigen würde, wo die meisten nur an einen Baum gelehnt schliefen. Ich nahm mir ein Beispiel an ihnen und lehnte mit an eine Birke, die in etwas zwei Meter Höhe in zwei kräftige Stämme verlief und unten sicher einen Durchmesser von drei Metern hatte. Dann ließ ich endlich meine schweren Lieder fallen und versank in einen unruhigen Schlaf.
Kapitel 15
„Ist SIE das?“ Der Klang einer Kinderstimme riss mich aus meinem unruhigen Schlaf. Ich hatte von Markus geträumt. Er fehlte mir. Mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte.
„Pscht, Elias nicht so laut. Sonst weckst du SIE noch auf.“
„Schon passiert.“, murmelte ich und öffnete die Augen, nur um dem klarsten Lindgrün und einem strahlenden Hellgrau, das fast in weiß übergehen wollte, entgegenzublicken.
Elementarbändiger, schoss es mir durch den Kopf. Das mussten die beiden Kinder sein, von denen Fer geredet hatte.
„Na dann.“, meinte der Junge mit den hellgrauen Augen, als wäre es das Selbstverständlichste ein fremdes Mädchen aus dem Schlaf zu reißen. „Du bist also Carries Schwester?“
„Elias, nun sei nicht so unhöflich.“ Das Mädchen mit den lindgrünen Augen war eindeutig erschrocken über das Verhalten des Jungen, doch mir entlockte es nur ein Lächeln. Immerhin durfte man nicht vergessen, dass er eigentlich erst ein Jahr alt war.
„Ja, dass bin ich. Und du bist Elias, der kleine Luftbändiger, oder?“, stellte ich die Gegenfrage, wobei beide Kinder erschrocken nach Luft schnappten.
„Woher-?“
„Keine Angst, Fer hat mir von euch beiden erzählt, auf unserer Reise hierher. Ich habe außerdem ebenfalls eine besondere Verbindung zu einem Element. Nur das es bei mir das Wasser ist.“, versuchte ich sie zu beruhigen.
Ein Knacken im Unterholz riss mich aus meinen Gedanken.
„Lynn, geht es dir gut?“ Nathan war aufgetaucht. Auf seiner Schulter hatte sich Selina niedergelassen und beobachtete alles wachsam als ihren goldenen Falkenaugen. „Du bist gestern nicht noch zu uns gekommen und wir haben uns Sorgen gemacht…“
Da ich mir sicher war, dass seine Besorgnis noch eine Weile so weitergehen würde, unterbrach ich ihn rasch. „Keine Sorge. Mir geht es gut, Nathan.“
Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen schoss der Kopf von Elena hoch und ich konnte sowohl in ihrem Gesicht, als auch in dem von Nathan Unglauben lesen.
„Onkel Nathan, was machst du denn hier?
„Elena, Kind. Bist du das?“
Das Mädchen nickte immer noch fassungslos.
„Elena ist deine Nichte?“, kam plötzlich die Frage von links. Carrie und Fer hatten sich zu uns gesellt und beobachteten jetzt genauso fasziniert wie ich, das Geschehen. Nathan hatte die Arme hochgerissen, woraufhin Selina empört von seiner Schulter flatterte und Elena hatte sich hineingeworfen. Ich fragte mich, wie lange sich die Beiden jetzt nicht mehr gesehen haben musste. Erst der Schrei eines Falken riss mich aus meinen Gedanken. Er klang klagend und traurig. Dachte Selina etwa, dass sich Nathan jetzt nicht mehr für sie interessieren würde, jetzt wo er ein Familienmitglied getroffen hatte.
„Keine Angst, Selina. Ich bin mir sicher, den Platz als Nathans Tochter kann dir niemand wegnehmen.“, murmelte ich gen Himmel, doch ich war mir sicher, dass sie es gehört hatte.
Nathan jedenfalls hatte meine Worte vernommen. „Sie hat Recht, Selina. Du wirst immer meine Tochter bleiben.“ Der Falke schrie noch einmal, ließ sich dann jedoch auf dem Boden nieder und verwandelte sich. Ihr Blick sprach immer noch tiefste Traurigkeit, Unsicherheit und Angst aus.
„Komm her zu mir.“, rief der Vampir sie zu sich. „Selina darf ich vorstellen. Das ist meine Nichte Elena, Elena. Das ist meine Ziehtochter Selina.“
„Freut mich.“, murmelte die Erdbändigerin. Ihr war das schlechte Gewissen deutlich anzusehen. Sie hatte definitiv nicht geplant gehabt, die Beiden auseinanderzubringen und war entsetzt, was sie schon wieder angerichtet hatte.
>Mach dir mal nicht so viele Gedanken, Elena. Ich bin mir sicher, dass du die Vertrautheit zwischen Nathan und Selina nicht zerstört hast.<, hörte ich plötzlich die Stimme meiner Schwester in meinem Kopf. Fragend sah ich sie an.
> Das ist die Elementarbändigerebene. Auf ihr können sich die Elementarbändiger untereinander verständigen.<
>Dann ist mein Kopf also doch frei zugänglich?<, fragte ich sie neugierig. >Auf dem Ball hatte ein Vampir versucht meine Gedanken zu lesen, konnte dies jedoch nicht. Woran liegt das?<
>Das, meine Tochter, liegt daran, dass ich mir bei dem normalen Gedankenlesen nie sicher bin, was derjenige damit macht. Jedoch habe ich vollstes Vertrauen in eure Elementarbändigerebene. <, schaltete sich Gabriel in meine Gedanken ein. Doch aus irgendeinem bestimmten Grund wusste ich, dass die anderen ihn nicht hören konnten. Also musste auch dies auf einer extra Gedankenebene erfolgen.
>Der Verstand ist viel feinsinniger gegliedert, als die meisten wissen. Doch nur die wenigsten kommen in den Genuss, dieses Wissen zu erlangen. Doch du, meine Tochter, wirst dein Leben lang die verschiedenen Ebenen kennenlernen und hoffentlich auch sinnvoll gebrauchen.<, erläuterte mir Gabriel meinen Gedankenansatz. Ich nickte nur.
„Wie geht es Alexander und Clear? Ich habe lang nichts mehr von euch gehört.“, riss mich Nathans Stimme aus meinen Gedanken.
„Sie sind tot.“ Elenas Stimme klang so tonlos und kalt, dass mir unwohl wurde. Was musste ein junges Mädchen von elf Jahren nur alles erleben, um so zu klingen.
„Einige Palinas haben sie getötet.“
„Das tut mir sehr Leid.“ Nathan wirkte sehr betrübt und unwillkürlich ergriff Selina seine linke Hand und Elena seine Rechte.
„Du siehst ihm so unglaublich ähnlich.“, klagte Elena.
Entschuldigend zuckte Nathan die Schultern. „Das Los eines Zwillings.“
„War Alexander auch ein Ignisaeri?“, platzte die Neugierde aus mir heraus.
Sofort richteten sich sämtliche Blicke auf mich. „Auch?“, fragten mich Elena und Carrie gleichzeitig. Verlegen zuckte ich mit den Schultern und wandte mich an meine Schwester.
„Na ja. Wie du, Nathan und König Borkil.“
In Elenas Gesicht breitete sich Überraschung aus. „Onkel Nathan ist ein Ignisaeri?“
„Und ein halber Vampir.“, murmelte der Angesprochene peinlich berührt, dafür, dass ich sein Geheimnis so offen preisgegeben hatte.
„Deswegen riechst du so komisch. Gleichzeitig vertraut und völlig rauchig.“, ertönte Laks Stimme, der nun auch zu uns gestoßen war, zusammen mit Gan, der wieder einmal ein paar Äpfel in der Hand hielt.
„Hier…“ Gan verteilte die Äpfel in die Runde.
„Ein Ignisaeri riecht rauchig?“, fragte Elisabeth neugierig. Lak zuckte nur mit den Schultern.
„Das weiß ich auch erst, seit ich dich kennengelernt habe. Vorher kannte ich nicht so viele Ignisaeri.“
„Und um auf deine Frage zurückzukommen, Elena. Ja, mein Bruder Alexander und ich teilten das gleiche Los. Immerhin war unser Vater ein Ignisaeri und unsere Mutter eine Vampirin.“
„Das heißt, dass auch ich so wunderschöne Flügel wie Carrie bekommen werde?“, fragte Elena aufgeregt. Lächelnd nickte der Halbvampir neben mir. „Wenn Alexander dir diese Gabe vererbt hat, dann ja.“
„Juhu.“, jubelte die Erdbändigerin und hüpfte um ihren Onkel herum, wobei sie Selina ausweichen musste, die alles mit Argusaugen begutachtete. Sie schien nicht genau zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. Vor allem jetzt, wo Elena endlich die Anzeichen ihres wahren Alters zeigte.
„Woher wusstest du, dass ich eine Ignisaeri bin?“, fragte mich Carrie und ich erinnerte mich, dass wir uns noch nicht über unsere zweiten Gestalten unterhalten hatten, da wir zu viele Zuhörer hatten. Nicht viel anders als jetzt, wie mir mit einem Seufzen auffiel.
„Von Gabriel. Er war so frei, mir einen Tipp diesbezüglich zu geben.“
„Gabriel scheint ja doch ganz in Ordnung zu sein.“, überlegte Carrie laut.
>Pass auf, was du sagst, Mädchen. Nur weil du die Schutzbefohlene meines Bruders bist, heißt es noch lange nicht, dass du dir alles herausnehmen darfst.<, hörte ich Gabriel in meinem Kopf knurren und unterdrückte nur mit Mühe ein Kichern.
„Er mag dich auch.“ Als Antwort hörte ich nur ein weiteres Knurren in meinem Kopf, doch auch auf Elisabeths Gesicht zeichnete sich nur ein verschmitztes Lächeln ab.
„Das bezweifle ich. Michael meint, ich soll aufhören, Gabriel zu ärgern, sonst zerschmettert er gleich das Schachbrett, an dem er und Gabriel gerade sitzen.“
„Kaum zu glauben, dass unsere Engelsväter Schach spielen und nebenbei uns noch Vorwürfe machen können, oder?“, murmelte ich und räusperte mich, als Gabriel in meinem Kopf wieder knurrte. Dieses Mal war er wütend auf mich.
„Prinzessin?“, fragte einer der Lilienkrieger. Sowohl Carrie, als auch ich, hoben den Kopf. Meine Schwester hatte einen gequälten Ausdruck aufgesetzt und ich war mir sicher, dass mein Gesicht nicht besser aussah.
Der Lilienkrieger seufzte. „Elisabeth. Die Männer wollten gerade auf die Jagd gehen und da wollte ich nachfragen, was Ihr zu essen haben wollt.“
Auch meine Schwester gab ein Seufzen von sich. „Ach Jemin. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich duzen sollst. Außerdem müsstest du doch eigentlich wissen, dass ich keine Sonderwünsche habe. Obwohl … Ich würde gerne mitkommen.“
Fer knurrte. „Ganz gestimmt nicht. Du bist gerade einen Tag wieder erwacht, bist schwanger und siehst so aus, als würde dir in jedem Moment das Fleisch von den Knochen fallen. So lasse ich dich ganz bestimmt nicht mit dem erstbesten Rentierbullen kämpfen.“ In seinen Augen konnte ich deutlich erkennen, dass er sich gerade an eine vergangene Situation erinnerte, wo anscheinend genau das vorgefallen war.
Carrie seufzte erneut. Sie schien innerlich mit Fer eine Diskussion auszutragen, offenbar über ein Band, dass nur zwischen Gefährten existierte. Schließlich schlich sich eine leichte Röte in ihr Gesicht. „Ihr findet schon etwas…“ Mit diesen Worten verabschiedete sie sich fast hastig und verließ den Platz, Fer, der ein schelmisches Grinsen auf dem Gesicht hatte, mit sich ziehend.
Der Lilienkrieger Jemin sah meiner Schwester noch einen Moment verdutzt nach, ehe er sich an mich wandte. „Und was habt Ihr für einen Wunsch?“
Ich verdrehte die Augen. „Auch ich würde gerne geduzt werden. Und wenn ihr vielleicht etwas Brot für mich hättet, wäre ich schon der glücklichste Arsanimali auf Erden. Ansonsten sammle ich mir einfach ein paar essbare Blätter oder Früchte im Wald. Aber vielen Dank für die Frage.“
Der Lilienkrieger starrte mich an und ich seufzte wieder. Nathan und Selina, die unsere kleine Szene beobachtete hatten, kicherten.
„Na, hat sie auch schon einen Aufstand gemacht, dass sie nicht besser liegen sollte, als ihr und das Bett verweigert hat?“, fragte Selina neckend. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu.
„Ich habe solange gewartet, bis alle geschlafen haben und wenn ich ehrlich bin, fand ich den Baum heute Nacht sehr bequem, sodass ich auch keinen Grund sehe, in den nächsten Tagen einen anderen Schlafplatz zu suchen. Daher ist diese Diskussion völlig unnötig. Stattdessen möchte ich euch fragen, ob ich euch vielleicht noch helfen kann. Vielleicht könnte ich ein paar Kräuter sammeln zum Würzen oder wenigstens ein bisschen Feuerholz zusammenschaffen.“
Mit immer noch weitaufgerissenen Augen schüttelte der Lilienkrieger nur den Kopf und wandte sich mit einem gemurmelten „Wie die Eltern“ ab. Ich war mir nicht sicher, ob diese Worte überhaupt für meine Ohren bestimmt waren, aber sie ließen mich schmunzeln.
„Du hast gesagt, Clair und Alexander wären von Palinas getötet worden. Aber ich verstehe nicht warum. Immerhin war unsere zweite Gestalt immer unser größtes Geheimnis, dass außer uns beiden niemand wusste. Als bei mir auch noch das Vampirgen hochgekommen ist und ich Clair in meinem Blutrausch beinahe getötet hätte, bin ich gegangen doch ich hatte gehofft, sie dadurch schützen zu können.“
Nathans Bestürzung ließ tiefe Wellen der Trauer über mich schwappen und ich rang nach Luft.
„Es lag nicht an ihnen.“ Elenas Geständnis war kaum zu vernehmen. Tränen liefen ihr über die Wangen und ihr schlechtes Gewissen war ihr deutlich anzusehen. „Sie sind meinetwegen gestorben.“
Verständnislos runzelte Nathan die Stirn, doch ich ahnte, weswegen Elena so etwas dachte. Immerhin fühlte auch ich mich immer noch verantwortlich für die Geschehnisse im Waisenhaus, selbst wenn ich inzwischen wusste, dass Markus am Tage meiner Flucht nicht getötet worden war. Ob ich allerdings eine Gefangenschaft mit schwerer Verletzung als bessere Alternative sah, konnte ich nicht gerade sagen.
„Du musst wissen. Ich gehöre einer Art von Arsanimali an, die es schon sehr lange nicht mehr gab. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt existieren sollte.“
„Elena!“, protestierte Nathan lautstark, als das Mädchen stärker weinte und Selbstkritik übte. Zu meiner Überraschung musterte Selina das Mädchen mitleidig. Offenbar hatte sie eingesehen, dass sie ihren Nathan mit jemand anderes teilen musste. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass Elena trotz ihres jungen Alters genauso wie sie selber aufgrund ihrer Gestalt die Eltern verloren hatte.
„ Ohne dich und Elias wär meine Schwester ziemlich aufgeschmissen gewesen.“, gab ich leise zu verstehen, doch Elena schnaubte nur.
„Wieso? Was genau bist du denn?“, fragte Nathan neugierig.
„Ein Elementarbändiger. Um genau zu sein, ein Erdbändiger.“ Die Augen des Ignisaeri weiteten sich verblüfft, doch ansonsten zeigte er keine weitere Reaktion. Offenbar nahm er dadurch, dass er mich als Wasserbändigerin bereits kennengelernt hatte, die Existenz der Elementarbändiger leichter hin.
„Und was ist daran schlecht?“, fragte nun auch Selina. Ich schenkte der Vogelwandlerin ein dankbares Lächeln.
„Was daran schlecht ist?“, fauchte Elena. Sie schien sich förmlich hineinzusteigern. „Schlecht ist, dass meinetwegen andere gestorben sind. Die Palinas wären nie gekommen, wenn ich nicht so wäre, wie ich bin. Schlecht ist, dass ich so, wie ich bin, nicht in der heutigen Gesellschaft akzeptiert werde. Alle haben Angst vor mir und meiden mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Schlecht ist, dass sich mein ganzes Leben dadurch verändert hat, dass sich meine Gabe gezeigt hat. Und schlecht ist, dass vor allem wegen mir nicht nur irgendwelche Leute gestorben sind, sondern meine Eltern.“
Ihr ganzer Körper zuckte unter den Schluchzern, die sie ausstieß.
„Elena.“, meine Stimme war ganz sanft, während ich sie in eine Umarmung zog. Anfangs wehrte sie sich noch, drückte sich dann aber fester gegen mich. „Elena. Ich verstehe, warum du das so siehst. Aber dann müssten ich, Carrie, Selina und sicher auch viele andere schlecht, wenn nicht sogar Bestien sein, da auch wir Freunde, Familie und Vertraute durch das verloren haben, was wir sind. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass du niemand Schlechtes bist. Du bist mit deiner Gabe eher jemand ganz Besonderes. Und was wäre denn gewesen, wenn du nicht die wärst, die du bist. Carrie hätte sich nie an ihren Gefährten gebunden, sie hätte ihren ersten Kampf mit einem Gurter nicht überlebt und wäre spätestens beim Endkampf ohne dich und Elias gestorben. Und Elias. Elias wäre vielleicht von meiner Schwester aufgenommen worden. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich nie besser um ihn hätte kümmern können oder so viel für ihn da gewesen wäre, wie du es warst. Du hast Carrie damit sehr beeindruckt und sie ist dir wirklich sehr dankbar für deine Hilfe. Und für dich. Sieh nicht nur die schlechten Dinge in der Welt, Elena. Ich kenne dich nicht wirklich, aber das Gefühl, dass mir bislang von dir vermittelt wurde, ist durchaus positiv. Also hör auf, dich von Schulgefühlen zerfressen zu lassen.“
Ich übergab das noch immer zitternde Mädchen an Nathan, während ich versuchte, meine eigenen Gefühle zu sortieren.
>Diesen Ratschlag solltest du dir auch zu Herzen nehmen, meine Tochter.< Gabriel hatte sich wieder in meine Gedanken geschlichen. Ich wollte schon protestieren, doch der Erzengel unterbrach mich, als wüsste er genau, was ich sagen wollte.
>Nein, bei dir war das keine andere Situation. Genauso wenig wie bei den Anderen. Obwohl ich weiß, dass sich Elisabeth ebenfalls lange Zeit die Schuld dafür zugeschoben hat, was passiert ist. Aber das ist es nicht. Nenn es meinetwegen Schicksal oder das Aufeinandertreffen unglücklicher Umstände. Aber es liegt keineswegs in eurem Ermessen es zu ändern. Und denk immer daran: Unsere Erfahrungen machen uns zu den Wesen, die wir sind. Egal ob Mensch, Engel oder Arsanimali.< Und mit diesen Ratschlägen zog sich Gabriel aus meinem Kopf zurück.
Erst da bemerkte ich den nachdenklichen Blick Nathans auf mir.
„Du fühlst dich immer noch schuldig, oder Lynn?“
Ich zuckte nur mit den Schultern und wandte den Blick ab. Doch ich wusste, dass meine innere Antwort ein eindeutiges ‚Ja‘ gewesen wäre.
„Manche Last trägt man ein Leben lang mit sich herum.“
Lak hatte ich komplett vergessen, doch nun richtete sich mein Blick auf ihn. Ich fragte mich, ob er diesbezüglich aus Erfahrung sprach und was er erlebt hatte.
„Welches Geheimnis trägst du mit dir herum, großer Bruder.“, murmelte ich in Gedanken versunken.
Sofort richteten sich die kalten, grauen Steine auf mich. Er musste mich gehört haben. Erst da wurde mir bewusst, wie ich ihn genannt hatte. Bruder. Großer Bruder. Aber war er das nicht? Immerhin war Carrie mit ihm aufgewachsen und selbst, wenn die Beiden nicht blutsverwandt waren, hatten sie eine ganz besondere Verbindung. Dessen war ich mir inzwischen bewusst. Doch plötzlich schien ein liebevoller, berührter Ausdruck über Laks Gesicht zu huschen, wobei die Kälte in seinen Augen beinahe verschwand und er wesentlich jünger wirkte. Er trat näher, sodass er knapp neben meinem Ohr stand.
„Nichts, worüber du dir Sorgen machen solltest, kleine Schwester.“ Überrascht klappte mir der Mund auf, als ich Laks Antwort vernahm. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er unsere Über-Eck-Familienbande ebenso leicht akzeptieren würde. Ein warmer Schauer der Freude lief über meinen Rücken. Offenbar wurde ich doch leichter in die Familie aufgenommen, als gedacht. Vielleicht aber auch nur, weil Lak gesehen hatte, wie viel mir Carrie bedeutete und wie gut ich mit ihr klarkam. Und sie bedeutete mir definitiv sehr viel. Obwohl wir uns nur einen Abend unterhalten hatten, schien es, als würde ich sie schon ewig kennen. Zwar bereute ich noch immer, was sie alles hatte durchmachen müssen, doch inzwischen akzeptierte ich ihre Geschichte und freute mich nur noch, sie endlich persönlich kennengelernt zu haben. Bei dem Gedanken daran, was Fer und sie gerade machten, stieg mir die leichte Röte ins Gesicht und ein Stich im Herzen erinnerte mich an Markus. Ob der Gestaltwandler bereits befreit worden war? Immerhin hatte mir der Vampir Thomas von der Rotenburg das Versprechen dafür gegeben. War er eigentlich damit gezwungen, dieses zu halten. Was, wenn bei der Befreiung etwas schief gehen würde. Ich brauchte Markus doch.
„He, nicht weinen, kleine Schwester.“
Ich hatte die kleinen Tropfen anfangs gar nicht wahrgenommen, die sich nun einen Weg über mein Gesicht bahnten und meine Wangen verklebten. Doch Laks sanfte Worte und seine vorsichtige Berührungen in meinem Gesicht, als er mir die Tränen abzuwischen versuchte, sorgten dafür, dass sich noch mehr der Salzwasserkristalle in meinen Augenwinkeln sammelten.
„Was ist denn los, Lynn?“
Nun war auch Selina auf mich auf mich aufmerksam geworden. Nathan, der inzwischen mit Elena und Elias ein paar Schritte ging, damit sie sich beruhigen konnte, schaute kurz besorgt zu mir, doch ich winkte ab.
„Alles gut. Ich musste nur an Markus denken.“ Bei dem Wort ‚Markus‘ versagte mir beinahe die Stimme, doch Selina schien mich dennoch zu verstehen.
„Wer ist Markus?“, fragte Lak neugierig, aber mit einem Hauch von Skepsis in der Stimme. Doch ich konnte nicht antworten, sondern schluchzte nur noch heftiger.
„Markus war ein guter Freund von Lynn. Er wurde schwer verwundet und gefangen genommen, als er ihr bei der Flucht vor den Palinas half. Bei dem Ball, an dem Lynns wahre Identität bekannt gegeben werden sollte, hat Ruber erzählt, ihn gesehen zu haben und der Vampir Thomas von der Rotenburg hat Lynn geschworen, ihn zu befreien.“, gab Selina flüsternd an Carries Stiefbruder weiter.
Der Ausdruck auf Laks Gesicht wurde noch liebevoller.
„Keine Angst, kleine Schwester. Es wird schon alles gut gehen. Und ich bin mir sicher, dass er dir nicht die Schuld gibt, für dass, was passiert ist.“
„Woher willst du dass wissen?!“ Meine Stimme klang weinerlich. Ich verstand selbst, warum ich ihn das fragte. Immerhin wollte ich stark sein.
„So etwas weiß man einfach als großer Bruder. Und ich kenne Thomas. Er würde nie ein Versprechen brechen. Also vertrau auf deinen großen Bruder.“ Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Ich konnte gar nicht anders, als zurückzulächeln. Endlich hatte ich eine Familie gefunden. Richtige Freunde und eine Familie, die immer hinter mir stehen würde.
Kapitel 16
Ein Donnern weckte mich. Ich war an Laks Schulter eingeschlafen, nachdem ich mich endlich wieder beruhigt hatte. Doch ich konnte noch nicht lange geschlafen haben, denn die Männer, die jagen wollte, waren noch nicht wieder zurück. Wieder das Donnern. Ein sonderbares Gefühl breitete sich in mir aus.
>Gabriel, ist Maggie in Gefahr?<, fragte ich meinen Engelsvater, doch der Erzengel gab keine Antwort. Viel mehr schien er mich sogar gar nicht hören zu können. Und endlich konnte ich das seltsame Prickeln auf meiner Haut zuordnen. Magie. Ich richtete mich rasch auf und bemerkte, dass auch Lak sich aufmerksam umsah. Selina und Nathan waren verschwunden, doch ich konnte mir denken, wo sie waren. Elias hatte sich ängstlich an Elenas Arm zusammengekauert, da seine Magie offenbar nichts ausrichten konnte. Ich konzentrierte mich auf meine Wassergabe. Nichts. Kein Regen, nicht einmal ein Tropfen. Furcht lief in mir hoch. Was nun? Ein weiteres Donnern riss mich aus meiner Starre.
„Pass auf die Kinder, Carrie und Fer auf.“, rief ich Lak zu und rannte in den Wald, dorthin, wo ich die Anderen vermutete. Das „Warte, Lynn“ von Lak, ignorierte ich geflissentlich. Worauf hätte ich denn warten sollen. So wie das Wetter aussah, brauchte Meggie dringend meine Hilfe. Schon von weitem konnte ich da Geschrei und Klirren von Schwertern hören. Zwischendurch durchdrang immer wieder ein Schmerzensschrei den Kampflärm. Ich rannte schneller, obwohl ich spürte, dass meine Seiten bereits stachen. Blind tastete ich nach den Waffen, die mir Nathan aus dem Schloss mitgebracht hatte. Meine Hände streiften nur kurz dem Pfeilschaft, ehe er mit einer blitzschnellen Bewegung seinen Platz auf der Sehne fand. Okay, ruhig durchatmen. Ich schoss den ersten Pfeil, während ich auf der Wiese auftraf. Der Pfeil fand mit faszinierender Leichtigkeit sein Ziel und der Mann, der von einem starkpulsierenden blauen Licht umgeben war, stöhnte auf und sackte in sich zusammen. Kurz glaubte ich die Verbindung zu Gabriel wieder zu spüren. Doch noch ehe ich mich seiner ganzen Wut ganz widmen konnte, brach sie bereits wieder ab. Erst da bemerkte ich, dass es sich bei unseren Angreifern keineswegs um Palinas handelte. Ich wich einer Energiekugel aus, die meinen Verdacht nur noch bestätigte. Bei unseren Angreifern handelte es sich tatsächlich um Magier. Erst da erinnerte ich mich an den Sehenden wieder. Offenbar hatten die Magier Angst vor Meggies Kraft, die diese wiederum einsetzte, weil sie Angst vor den Magiern hatte. Welche Ironie des Schicksals. Ich entdeckte meine Zofe in einem Kampf mit zwei Magiern. Die beiden versuchten Meggie mit Energiekugeln zu Fall zu bringen, die ihrerseits Blitze auf die Beiden abschoss, begleitet von einem gewaltigen Donnern. Sie hatte ihre Kräfte eindeutig nicht mehr im Griff. Dies machte sogar mir Angst. Allein, wie sie dastand. Wie eine Todesgöttin. Ich wünschte mir, Gabriel wäre hier, damit ich ihn fragen könnte, ob meine Flügel die Naturgewalten abhalten könnten. Ich war mir sicher, dass wenigstens meine Engelskräfte funktionieren würden, selbst wenn meine Wassermagie blockiert war. Vermutlich konnten sie das nicht. Aber sie waren ja nicht das einzige Erbe, dass mir Gabriel vermacht hatte. Ich erinnerte mich daran, wie ich Meggie damals Energie entzogen hatte, um sie bei ihrem ersten Ausbruch aufzuhalten. Ob ich diese Kraft auch aufteilen konnte? Ich ließ es auf den Versuch ankommen, da ich keine andere Wahl hatte. Mein „Hört sofort auf zu kämpfen!“, war im Kampflärm untergegangen und so versuchte ich mein Glück. Ich atmete tief durch und begab mich auf die Energieebene. Es war fast unmöglich, die drei Gestalten gleichzeitig zu sehen und noch schwieriger, ihnen Energie zu entziehen. Mir trieb es den Schweiß auf die Stirn, doch ich biss die Zähne zusammen und konzentrierte mich stärker. Immer mehr Energie entzog ich den Kämpfenden und leitete sie in den Boden ab, der daraufhin Risse bekam. Doch nach den anstrengendsten zehn Minuten in meinem Leben zeigte sich mein erster Erfolg, denn der Donner hörte auf und der erste Magier schwankte. Es benötigte weitere fünf Minuten, ehe endlich der Hagel aus Blitzen und Energiekugeln verblasste und schließlich erstarb. Nur mit Mühe hatte ich meine Flügel zurückhalten können, die sich beim Erscheinen meiner Engelskräfte durch meine Schultern bohren wollten.
„Ich habe gesagt. Es reicht!“, donnerte ich. Obwohl mir der Zauber unglaublich viel Kraft entzogen hatte, reichte meine Wut aus, um die Erschöpfung in meiner Stimme zu verbergen. Ich konnte sehen, wie die Energiekuppel, die jeglichen Kontakt nach außen abschloss zu vibrieren anfing, als würde sie gleich zusammenbrechen. Dies brachte mich auf eine Idee und ich leitete die ganze Energie aus dem Boden nach oben und ließ das Schild zerspringen. Endlich konnte ich wieder Gabriels Stimme hören.
>Verfluchte Magie. Wenn ich die in die Finger kriege, die das Zustande bekommen haben… Bist du in Ordnung meine Tochter?< Ich nickte nur, froh, endlich wieder Gabriel zu hören. In diesem Moment schoss einer der Magier eine Energiekugel ab, die aber anstatt mich zu treffen, auf eine mit Schuppen übersäte, navyblaue Brust auftraf. Ich hob den Blick und sah mich einem navyblauen Drachen mit graugrünen Augen entgegen, der besorgt auf mich niederschaute.
„Nathan“, keuchte ich entgeistert und gleichzeitig beeindruckt.
Er nickte mit zustimmend zu, dann richtete er einen Warnfeuerstoß auf den Magier, der bereits eine weitere Energiekugel auf mich werfen wollte. Fluchend wich der Mann zurück. Seine dunklen Augen richteten sich nun auf Nathan, doch mir reichte es endgültig.
„Was an „Es reicht!“ ist so schwer zu verstehen?!“ rief ich und griff ebenfalls nach seiner Energie. Die Augen des Mannes weiteten sich entsetzt. „Werdet Ihr jetzt endlich aufhören zu kämpfen und in Ruhe mit uns reden oder muss ich noch deutlicher werden!“
Panisch huschten die Augen des Mannes über mich und mir wurde klar, dass sich meine Engelsflügel entfaltete haben mussten. Er gab eine Art Hüsteln von sich, woraufhin alle Magier zu kämpfen aufhören und zu ihm sahen, doch seine Augen waren immer noch auf mich gerichtet.
„Ihr seid ein Engel!“, keuchte er, sobald er seine Stimme wieder gefunden hatte.
Nun richteten sich sämtliche Blicke auf mich und die letzten Energiekugeln in den Händen der Magier verschwanden, ebenso die geschwungenen Schwerter, mit denen sie die Lilienkrieger attackiert hatten, um an Meggie zu kommen. Erleichtert lehnten sich die Lilienkrieger zurück, die Angreifer nicht aus den Augen lassend, falls es zu einem erneuten Kampf geben sollte.
„Ja, ich trage das Blut eines Engels in mir.“, wich ich seiner Frage aus. Meine Stimme klang klar und ich bemerkte erleichtert, dass mir Gabriel Energie gegeben hatte, damit ich mich aufrecht halten konnte.
„Aber, dass ist hier gerade nicht relevant.“ Meine Augen fixierten streng den Mann vor mir und mir fiel auf, dass es der war, der bereits Bekanntschaft mit einem meiner Pfeile gemacht hatte. Offenbar hatte ich vorhin eine Glückgriff gehabt, als ich den Anführer erwischte. Kein Wunder, dass die Mauer geschwankt hatte. „Wichtig ist nur: Warum greift ihr Meggie an? Ja, sie ist die Tochter eines Gottes und sie hat sehr viel Macht, die sie auch noch lernen muss, zu kontrollieren. Aber sie hätte sie normalerweise so weit unter Kontrolle, das nicht passiert. Außer sie hat ein starke Gefühlswandlung wie in eurem Fall Panik um ihr Leben. Aber sie ist immer noch eine von uns und eine sehr gute Freundin, wenn ihr sie kennenlernen würdet. Also ist eure Panik völlig grundlos und euer Angriff erst recht. Seid froh, dass es nicht mehr als ein paar Verletzungen gab, sonst wären euch meine Rache und die meines Schützers sicher gewesen. Und ich weiß, dass ihr sie nicht raufbeschwören wollt.“
>Ähm, Gabriel. Könntest du bitte aufhören, mir die Worte in den Mund zu legen. Das irritiert mich total.< wandte ich mich an meinen Engelsvater, als mir bewusst wurde, was ich da überhaupt von mir gegeben hatte.
>Verzeihung, meine Tochter. Ich konnte gerade nicht anders.< Ich schüttelte nur den Kopf und war froh, endlich wieder die Gewalt über meine Zunge zu haben.
„Doch was passiert ist, ist passiert. Doch da ich von eurer Unschuld überzeugt bin, biete ich euch einen Deal an. Ihr akzeptiert Meggie und alle anderen wie sie sind und schließt euch uns an oder ihr verschwindet von hier und bemüht euch, mir nicht mehr unter die Augen zu treten, sonst sehe ich eurem Vergehen nicht mehr so leicht nach.“
„Wer seid Ihr, dass Ihr glaubt, uns so drohen zu können?“
Einer der Männer war vorgetreten und schien die Tatsache, dass ich Engelsflügel besaß, zu versuchen zu ignorieren.
„Wenn Ihr sowieso nur hier Unheil stiften wollt, sehe ich nicht ein, euch meine Identität preiszugeben. Wenn ihr bereit seid, mit uns eine friedliche Lösung einzugehen, können wir auch gerne uns miteinander bekanntmachen.“ Meine Worte erinnerten mich an einen der Fantasieromane, den ich damals in meiner Waisenhauszeit gelesen hatte. Doch er schien mir angebracht zu sein und mich sah auch keiner der Anwesenden komisch an. Innerlich atmete ich erleichtert aus. Glück gehabt.
Der Mann schien protestieren zu wollen, doch der Anführer hob einfach nur die Hand und gebot ihm zu schweigen.
„Ihr habt Recht, verzeiht Petulans, er ist noch recht Jung und weiß noch nicht, was sich gehört. Mein Name ist Vigor Ingens, ich bin ein Magier des Iudicium. Wir haben die Kräfte dieses Halbgottes gespürt und befürchteten einen neuen Feind nach Atro bekommen zu haben. Daher reisten wir zu der Quelle der ungebremsten Energie, um der Gefahr vorwegzunehmen. Ich muss zugeben, dass wir vielleicht ein wenig voreilig gehandelt haben.“
„Das habt Ihr definitiv.“ Fer war ebenfalls auf der Lichtung angekommen. „Das Iudicium ist lediglich dazu da, das Geheimnis der Arsanimali zu wahren und dafür zu sorgen, dass dieses eingehalten wird. Wenn wir über andere richten, dann nur im Falle einer Besprechung mit allen Mitgliedern des Iudicium. Dann wüsstet ihr auch, dass von unserem Gast keinerlei Gefahr ausgeht. Ich bin selbst mit ihr eine Zeit lang gereist und da sie die Socia eines meiner Rudelmitglieder ist, kann ich auch nicht gestatten, dass Ihr versucht, ihr etwas anzutun.“
Das Gesicht des Magiers hellte sich auf, als er Fer erblickte, obwohl ich mir gut vorstellen konnte, dass die Aussage des Gefährten meiner Schwester es nicht tat. Doch davon ließ der Magier nichts verlauten. Er senkte lediglich kurz beschämt den Kopf, schenkte Fer einen entschuldigenden Blick und räusperte sich, ehe er antwortete.
„Fer, mein junger Freund. Ich habe lange nichts mehr von euch gesehen oder gehört. Wo wart ihr gewesen? Das Iudicium hätte euch gebraucht.“
„Verzeiht, ich habe Ihn aufgehalten. Mir war nicht bewusst, dass er seine Pflichten meinetwegen so vernachlässigen würde.“, schaltete sich eine Stimme ein, die ich ganz bestimmt nicht hier hatte hören wollen. Verzweifelt blickte ich zu Fer, doch der starrte nur mit kalkweißem Gesicht meine Schwester an, als hätte er einen Geist gesehen. Er hatte also auch nichts davon gewusst, dass sie sich hergeschlichen haben musste. Hinter ihr konnte ich Elias und Elena sehen und ich spürte, wie Nathan zusammenzuckte, als er sie ebenfalls bemerkte.
„Ihr habt eine Socia gefunden, mein junger Freund?“, fragte der Magier Vigor erstaunt, als er den liebevollen Blick bemerkte, den sich die Beiden zuwarfen, sobald Fer seinen Schreck darüber verarbeitet hatte, dass seine Gefährtin ihn offenbar trotz Warnung gefolgt war. Aber irgendwie hätte ich mir das ja denken können.
„So ist es, Vigor.“ In Fers Stimme schwang Stolz mit und er ging zu seiner Socia, wie als würde er sie und das Kind vor allem beschützen wollen, was kam.
„Nun, dann ist es kein Wunder, dass wir so lange nichts mehr von euch gehört haben. Aber wie dem auch sei, wir sollten den Sachverhalt hier klären, ehe noch irgendjemand die Nerven verliert.“
Er warf Petulans einen warnenden Blick zu, der noch immer extrem angespannt dastand, seinen Blick zwischen mir und Meggie hin- und herschwankend, als wüsste er nicht genau, wen er als größere Gefahr einstufen sollte.
„Nun.“, zog ich die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf mich. „Wie Ihr mitbekommen haben solltet, geht von Meggie normalerweise keine Gefahr aus. Dennoch stimme ich Euch zu, dass sie dringend einen Lehrer benötigt, damit sie in einem Ernstfall ihre Kräfte weiterhin unter Kontrolle hat. Daher frage ich Euch zusätzlich, würdet Ihr Meggie in Ihren Kräften unterstützen? Mir ist bewusst, dass sich ihre Magie von Eurer unterscheidet. Dennoch denke ich, dass Ihr als mächtigster Magier unter den Anwesenden zumindest über das Wissen verfügt, wie ein Halbgott zu unterrichten ist.“
Alle starrten mich an, als wäre ich verrückt geworden, dabei fand ich meinen Vorschlag durchaus vernünftig. Alle, bis auf Carrie, die zufrieden lächelte. Ich wusste doch, dass wir uns prächtig verstehen würden.
„Da hat sie nicht ganz Unrecht.“ Eine weitere Peron hatte sich zu unserer nun nicht mehr so kleinen Runde gesellt. Weise, graue Augen und eine weiße dichte Haarpracht schauten unter einem langen Umhang hervor. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen wie sich auf Fers Gesicht ein Lächeln ausbreitete, während Carrie ihm eher einen skeptischen Blick zuwarf. Offenbar kannten die Beiden den Neuankömmling.
„Oh, seid willkommen, Zel. Auch Euch habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“ Vigor schien ziemlich großen Respekt vor dem Neuankömmling zu haben und es brannte mir fast schon unter den Fingernägeln zu fragen, wer er eigentlich war, dass er so eine Wirkung auslöste.
>Geduld, meine Tochter.<, mischte sich Gabriel amüsiert ein. Er schien meine innere Unruhe zu spüren.
„Die Umstände ließen es nicht zu.“, antwortete der Gandalf-ähnliche Zel knapp. Er ließ seine Augen über Fer und Carrie gleiten.
„Wie ich sehe, hast du sie komplett eingeweiht, Fer. Ich frage mich immer noch, warum der Oblivisci damals nicht bei ihr funktioniert hat, selbst, wenn sie deine Socia ist.“ Seine Stimme wurde immer leiser, als er in Gedanken zu versinken schien.
„Ich fürchte, dass liegt an meinen Genen.“, schaltete sich meine Schwester ein und zog eine Grimasse, wie von einer unangenehmen Erinnerung geplagt.
>Da hat Elisabeth Recht. Sowohl mein Bruder als auch ich, würden eine Gedankenlöschung bei euch niemals zulassen. Dafür seid ihr viel zu wichtig.< `
`Wichtig wofür?´, wollte ich Gabriel fragen, da zog er sich schon wieder zurück.
„Seid Ihr etwa auch ein Engel?“, fragte Vigor neugierig.
„Bevor wir die Fragen zu unserer Identität beantworten, will ich erst einmal die Situation geklärt wissen.“ Meine Stimme klang streng, sodass niemand ein Wiederwort wagte. Carrie warf mir einen dankbaren Blick zu, dass ich das Reden übernahm. Anscheinend schüchterte sie die Ankunft von Zel mehr ein, als ich anfangs angenommen hatte. Oder hatte sie sich überanstrengt? Ich warf ihr einen kurzen besorgten Blick zu, ehe ich mich wieder Vigor zuwandte.
„Nun denn. Werdet Ihr Meggie in Ruhe lassen oder ihr sogar den richtigen Umgang mit Magie lehren oder kehrt Ihr uns und diesem Wald den Rücken und kehrt nie wieder zurück?“
Die Magier schauten unsicher ihren Anführer an, der mich, Meggie und Carrie immer abwechselnd musterte, als wüsste er nicht, an wen er sich wenden sollte. Schließlich seufzte er.
„Wir bleiben. Zel, würdet Ihr diesem Halbgott den richtigen Umgang der Magie lehren? Ich weiß, dass Ihr viel Euer Macht verloren habt, doch Ihr besitzt das meiste Wissen von uns.“
Ich warf meiner Schwester einen Blick zu. Sie war blass geworden und schwankte leicht. Besorgt ließ ich etwas Wasser in Fers Gesicht klatschen und wies mit dem Kopf auf meine Schwester. Er verstand sofort.
„Da hier scheinbar die gröbsten Probleme geklärt sind, werden meine Gefährtin und ich uns nun zurückziehen. Für weitere Fragen steht euch sicher noch Lynn zur Verfügung.“ Er nickte mir noch einmal zu und verschwand ohne eine Antwort abzuwarten im Wald, seine schwangere Gefährtin abstützend und Elias und Elena, die Nathan noch einmal einen sehnsuchtsvollen Blick zuwerfend an seiner Seite. Zel starrte ihnen nach, ehe er sich schließlich mit einen Seufzen Vigor zuwandte, der ihn immer noch abwartend ansah.
„In Ordnung. Ich werde mich der Magie dieser Halbgöttin annehmen.“ Ein allgemeines Ausatmen in der Runde ließ die Anspannung sogleich weniger werden. Ich strich noch einmal über Nathans Schuppen, ehe ich mit festen Schritten auf die immer noch zitternde Meggie zuging und sie in meine Arme zog. Meine Flügel schlossen sich schützend um uns herum. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie nass wir beide doch waren und ich ließ rasch das Wasser aus unserer Kleidung als Pfütze in den Boden sinken. Meggie, die an meine Brust gelehnt war, schluchzte immer noch.
„Scht. Es ist alles gut. Wir passen auf dich auf Meggie. Das habe ich dir doch versprochen.“
Sie nickte, nahm ihr Gesicht jedoch nicht von meiner Brust.
>Ich störe dich ja nur ungern, meine Tochter, aber ich glaube, der Magier möchte mit dir sprechen.<
Ich seufzte, dann drückte ich Meggie, die sich immer noch an mich klammerte sanft von mir.
„Kannst du dich kurz weiter von Selina trösten lassen? Ich glaube, ich muss noch etwas klären.“, murmelte ich. Sie schluckte schwer, nickte dann aber und wischte sich noch einmal kurz tief luftholend über das Gesicht, ehe sie sich mit zielstrebigen Schritten Selina zuwandte, die gerade mit Nathan, der inzwischen wieder Menschengestalt angenommen hatte unterhielt. Ich hatte gar nichts von seiner Rückverwandlung mitbekommen. Offenbar war ich schwerer in Gedanken versunken gewesen, als ich geahnt hatte. Ich seufzte noch einmal, dankte Gabriel für die Flügel, die sich daraufhin zurückzogen und wandte mich einem Paar neugieriger, dunkler Augen und einem Paar stechender, grauen Augen zu. Offenbar wollten sowohl Vigor, als auch Zel etwas von mir.
„Nun, da wir beschlossen haben, Euch zu vertrauen und an Eurer Seite zu kämpfen, hätten wir ein paar Fragen an Euch.“, begann Vigor freundlich.
„Als erstes würde ich gerne wissen, wer das Mädchen ist, das Fer offenbar den Kopf verdreht hat. Es ist normalerweise nicht seine Art, seine Pflichten zu vernachlässigen. Und sie hat schon einmal unsere Stellung im Iudicium gefährdet.“, knurrte Zel.
„Dann seid Ihr also der Magier, der meiner Schwester versucht hat, die Erinnerungen an Fer zu nehmen, kurz nachdem sie geflohen ist?“ Obwohl der Mann alles andere als freundlich war, musste ich meine Neugierde einfach stillen. Zel warf mir einen finsteren Blick zu, nickte aber.
„Eure Schwester? Dann trägt sie ebenfalls Engelsblut in sich?“, kombinierte Vigor. Dieses Mal war es an mir zu nicken.
„Unter anderem.“ Meine Antwort war ausweichend, doch ich wusste nicht genau, wie sehr ich den beiden Herren mir gegenüber vertrauen konnte.
Zel runzelte die Stirn und beäugte misstrauisch die Wachen, die sich in meiner Nähe aufhielten.
„Ihr seid in Gesellschaft der Lilienkrieger unterwegs? Ursprünglich dachte ich, dass Fer sie überzeugt hatte für ihn zu kämpfen, doch sie scheinen um Euer Wohl viel mehr besorgt zu sein.“
„Sie folgen nur ihrer Bestimmung.“ Wieder eine ausweichende Antwort, doch sie schien den beiden Magiern mehr zu sagen, als ich bezweckt hatte.
„Dann müsstet Ihr königlichen Blutes sein.“ Ich seufzte. Dann war die Stunde der Wahrheit offenbar gekommen.
„Die Gefährtin von Fer ist meine Schwester Carrie Elisabeth und mein Name ist Eveline Elara. Wir sind die Töchter von König Borkil und Königin Freia.“
Kurz herrschte Stille auf der Wiese, als meine Worte zu jedem der Anwesenden durchdrangen. Dann fielen die Magier beinahe synchron auf die Knie.
„Verzeiht mir bitte. Wir hatten keine Ahnung, Hoheit.“
Ich schüttelte nur seufzend den Kopf. „Bitte erhebt Euch. Ich bin weder bislang gekrönt, noch an einem solchen Umgang interessiert. Hier bin ich einfach nur Lynn. Und wenn Ihr mein Geheimnis und das meiner Schwester für Euch behalten könntet, helft Ihr uns mehr, als mit formellen Gebräuchen.“
Vigor schüttelte den Kopf, erhob sich dann jedoch. „Wenn dies Euer Wunsch ist, Prinzessin.“
„Lynn.“, verbesserte ich seufzend. Immer das Gleiche.
>Tja, so ist es nun einmal, wenn man königlichen Geschlechts ist.<, neckte mich Gabriel, denen meine Gedanken köstlich zu amüsieren schien.
Ich rümpfte nur die Nase.
„Wie ist es Euch gelungen, uns unsere Macht zu entziehen?“, fragte Petulans. Auch er schien seine Neugier nicht zügeln zu können.
„Das ist, wie Carrie bereits gesagt hat, unserer Abstammung verschuldet.“ Genauer wollte ich mich zu diesem Punkt nicht äußern, obwohl ich sehen konnte, dass diese Aussage nur noch mehr Fragen in den Köpfen der Magier hatte entstehen lassen.
„Ist Gan auch hier?“, schaltete sich Zel wieder ein.
Ich nickte. „Er betreut Carrie auf einer anderen Lichtung. Ich bringe Euch nachher dahin.“
„Warum muss er sie betreuen?“
Ich seufzte. Noch so eine Frage, die ich nicht vollständig beantworten wollte.
„Sie hat sich bei dem letzten Kampf etwas überanstrengt. Der Kampf gegen Atro hat sie viel Kraft gekostet.“
„Sie hat Atro besiegt?“ Der junge Magier Petulans machte große Augen, doch ich nickte einfach nur, ohne eine genauere Erklärung zu liefern.
„Wie seid Ihr auf die Halbgöttin gestoßen?“ Nun schien wieder Zel eine Frage stellen zu wollen.
„Ich bin bei einem Bekannten auf Meggie gestoßen. Sie arbeitete dort als Hausmädchen und wurde mir als persönliche Zofe zugeteilt und ist anschließend mit mir hierher gereist, als Fer mich bat, zu meiner Schwester zu kommen.“ Eine recht einfache Erklärung, für die ganzen Ereignisse seitdem, doch ich hoffte, sie würde den Fragenden genügen. Zel warf mir jedenfalls noch einen langen Blick zu, ließ es jedoch darauf beruhen. Mein Blick schweifte kurz in die Runde und kurz flammte Panik in mir auf, als ich bemerkte, dass Meggie nicht bei Selina war. Doch dann entdeckte ich sie bei Patti und mein Puls beruhigte sich wieder, Zel schien meinem Blick gefolgt zu sein.
„Das ist ihr Gefährte?“ Er deutete mit dem Kopf auf den Panther. Ich nickte, obwohl es eher eine Feststellung, als eine Frage gewesen war.
„Wo sind die anderen von Fers Rudel.“ Traurig dachte ich an die Erzählungen den weißen Tigers und meiner Schwester.
„Nur wenige haben den Krieg überlebt.“ Auch hier hielt ich meine Antwort knapp, doch Zel schien mitzubekommen, wie sehr mich das zusetzte, obwohl ich nicht das ganze Rudel kennengelernt hatte. Auch er senkte betrübt den Kopf, was mich wunderte. Immerhin hatte er mir bislang nicht wirklich wie ein sympathischer Mensch gewirkt. Weder sympathisch noch einfühlsam. Aber vielleicht bedeutet ihm Fer wirklich etwas.
„Was werdet Ihr nun tun? Immerhin ist Atro tot.“
Wieder seufzte ich. „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Aber ich bezweifle, dass schon alles vorbei ist. Noch immer strömen Massen an Palinas durch die Länder und scheinen von irgendjemand befohlen zu werden. Auch denke ich, dass es erneut zu einem Kampf kommen wird, der viele Opfer fordert. Darum würde ich mich freuen, Euch an meiner Seite zu wissen, wenn die Zeit gekommen ist.“
„Wir werden mit Euch kämpfen, Hoheit.“ Das ausgerechnet Petulans dieses Versprechen abgegeben hatte, wunderte mich, doch es erfreute mich zugleich. Auch Vigor, Zel und die anderen nickten zustimmend. Von Zel glaube ich sogar noch ein geknurrtes „Ich werde Fer ganz bestimmt nicht alleine kämpfen lassen. Egal, wie sehr der Junge von sich überzeugt ist!“, zu hören, doch das rief lediglich ein Schmunzeln um meine Mundwinkel hervor.
„Und nun will ich Gan sehen, ehe ich mich meiner neuen Schülerin widme.“ Seufzend nickte ich den Magiern zum Abschied zu und ging, gefolgt von Zel in Richtung unserer kleinen Lichtung davon.
Kapitel 13
Der Geruch nach Rentier weckte mich und unwillkürlich rümpfte ich die Nase. Sobald wir die Schlaflichtung erreicht hatten, hatte ich Zel in die Obhut von Gan übergeben und war schließlich doch noch von der Erschöpfung eingeholt worden. Doch dem Geruch zu urteilen mussten die Lilienkrieger ihre Jagd doch noch beendet und das arme Tier über dem Feuer gebraten haben. Ich konnte immer noch nicht verstehen, wie man Fleisch essen konnte, doch da die Gestaltwandler alles Raubtiere waren, sollte es mich eigentlich nicht wundern. Müde rieb ich mir übers Gesicht, doch mein protestierender Magen verhinderte den Gedanken an weiteren Schlaf.
„Prinzessin, wollt Ihr auch etwas Fleisch?“, rief mir Jemin zu, als ich am Lagerfeuer vorbei in Richtung der Vorräte ging.
Ich schüttelte nur angewidert den Kopf und konzentrierte mich wieder auf meine Essenssuche. Hier irgendwo musste Gan die Äpfel versteckt haben, nur wo? In diesem müden Halbschlafzustand war es besser, mich nicht anzusprechen, sondern mich eher meinen Gedanken nachhängen zu lassen. Endlich hatte ich eines der roten Kleinods gefunden. Der Saft rann mir förmlich übers Kinn, so knackig war er. Ich griff mir noch einen Apfel als Vorrat und fand zu meiner großen Freude sogar ein angefangenes Brot, an dem ich mir noch ein Stück abriss, ehe ich mich wieder auf den Weg zum Lagerfeuer machte, wobei ich explizit darauf achtete, den Wind im Nacken zu spüren, um nnicht noch mehr Rentier riechen zu müssen. Unversehens fand ich mich neben Meggie wieder, die während meines Erschöpfungsschlafes offenbar ebenfalls hierhergekommen sein musste und nun verloren in die Flammen starrte.
Ich ließ ihr noch kurz ihre Gedanken, während ich mich meinem Brot und Apfel widmete, ehe ich schließlich beschloss sie doch noch anzusprechen. Sie sah so verletzt aus.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“ Wie ich erwartet hatte, zuckte sie bei meiner vorsichtigen Frage zusammen, ehe sie soweit in die Wirklichkeit zurückkehrte, um mich zu erkennen.
„Na ja“, gab sie nach einigen Herumdrucksen schließlich zu. „Es ist alles gerade ziemlich viel. Ich meine, erst die Sache mit dem Sehenden Master Oran, dann verlier ich vorhin erneut die Kontrolle über mich, ziehe die Aufmerksamkeit des Iudiciums auf mich und nun soll mich auch noch einer der stärksten Magier unserer Zeit unterrichten…..“
Sie verstummte, doch ich konnte deutlich den Gefühlsaufruhr erkennen, der weiterhin in ihr tobte, obwohl sie nicht weitersprach.
„Das wird schon wieder.“, versuchte ich die Fünfzehnjährige zu beruhigen und strich ihr sanft über den Rücken doch sie schüttelte abwehrend mit dem Kopf.
„Was, wenn ich Master Zel enttäusche? Oder es sogar zu Todesopfern dadurch kommt, dass ich meine Kräfte nicht unter Kontrolle habe?“ Die Vorstellung ließ sie erschauern. Ich unterbrach sie vehement, ehe sie weitere Gedanken in diese Richtung hegen konnte.
„ Ich habe vollstes Vertrauen in deine Kräfte und damit nichts passiert, nimmst du doch Unterricht und Patti scheint dich auch so zu mögen, wie du bist.“
Anstatt sie mit dieser Aussage zu beruhigen, brach die Halbgöttin in Tränen aus.
„Patti ist so perfekt. Ich weiß gar nicht, was er mit einem solchen Monster wie mir überhaupt will. Er sollte sich lieber eine bessere Socia aussuchen als mich. Ein, die seiner würdig ist. Ich bringe ihm nur Unglück.“
„Jetzt hör aber auf!“ , unterbrach uns eine tiefe Stimme abrupt. Als ich aufblickte, sah ich den Panther aus Fers Rudel vor mir. Er schenkte mir ein schwaches Lächeln, ehe er sich konsequent seiner Partnerin widmete.
„Lynn hat Recht. Ich mag dich, so wie du bist, Nympfchen und ich finde deine Funkenblitze überaus faszinierend und erregend. Dann bist du manchmal eben explosiv und laut, aber glaub mir, wenn ich wirklich brülle, dann fliegen auch alle Vögel auf, dabei kann ich keine so schöne Lasershow wie du bieten.“
Meggie war bei seinen Worten immer mehr dahingeschmolzen und ich beschloss, dass es besser wäre, sie nun in der Obhut ihres Gefährten zu lassen. Immerhin konnte er sie am besten von ihren Selbstvorwürfen ablenken.
Als ich aufstand, begegnete ich zwei Augenpaaren, eines in tiefem Dunkelblau und eines in mattem Grau, die mich, Meggie und Patti stets im Blick hatten. Kurzerhand schlenderte ich zu den beiden rüber, während ich meine beiden Apfelgriebsche gekonnt ins Feuer warf.
„Sieh sie dir an, Gan. So viel geballte Emotion in einer Person. Es heißt nicht ohne Grund, Gewitter seien unbändigende Wesen. Ich weiß gar nicht, wie es sich diese Prinzessin Elara vorstellt, wie ich sie unterrichten soll. Soll sie es doch versuchen!“ Er schnaubte abfällig.
Offenbar war ihm noch gar nicht aufgefallen, dass ich inzwischen in Hörweite war. Oder ihm war es egal. Gan jedoch hatte mich bemerkt, denn warf mir kurz einen entschuldigenden Blick zu, ehe er seinen Freund und Lehrmeister leise rügte.
„Zel, ich weiß, dass dein letzter Schüler…“ Er brach ab und schluckte, ehe er einen neuen Versuch startete. „Es ist nicht dein Fehler gewesen, dass mein Sohn…“ Wieder brach er ab, während sich sein Gesicht schmerzerfüllt zusammenzog. Ich hatte die beiden beinahe erreicht und konnte ihre Gesichtszüge nun genau studieren.
„Ich hatte seine Ungeduld, Langeweile und vor allem seinen Machthunger viel früher erkennen müssen. Die Bücher wegsperren müssen, in denen auch nur die Worte ‚Schwarze Magie‘ erwähnt werden, selbst wenn diese nur als Warnung drinstanden. Ich meine, erst durch meine Unfähigkeit ist Atro…“ Er brach ab und ich blieb stocksteif stehen.
Meine Schwester hatte mir zwar bereits von der Schlacht erzählt, doch dass Atro Gans Sohn und Zels Schüler gewesen war, war mir definitiv neu. Rasch ging ich nochmal die Eindrücke durch, die ich von den beiden gewonnen hatte, doch ich konnte keinerlei der Boshaftigkeit Atros in Gan ausmachen und selbst Zel schien sich stets Gesetzestreu verhalten zu haben, selbst, wenn ich ihm den versuchten Oblivisci an meiner Schwester definitiv übelnahm. Während meines inneren Monologs waren die Beiden in Schweigen versunken, doch nun ließ Zel sich mit einem Seufzer wieder vernehmen.
„Achtunddreißig Jahre habe ich Schüler in der Magie unterrichtet, doch nach Atro habe ich mir geschworen, nie wieder einen Schüler anzunehmen. Was, wenn ich wieder einen Fehler mache? Atro wir nichts sein, im Vergleich zu einer außer Kontrolle geratenen Halbgöttin. Sie könnte mit nur einer einzigen Handbewegung eine ganze Stadt töten. Und selbst, wenn der Iudicium mir einen weiteren Fauxpas verzeiht, könnte ich mir selbst das nie verzeihen. Aber wenn die Kleine nicht unterrichtet, wird es auf jeden Fall zu einer Katastrophe kommen.“
Unterstützend legte Gan eine Hand auf die Schulter von Zel. In diesem Moment erschien er mir nicht wie einer der mächtigsten Magier oder so ein Fiesling, wie meine Schwester ihn dargestellt hatte, sondern nur wie ein durch Kummer gebeugter alter Mann. Ich war mir sicher, dass er, sobald er mich bemerken würde, wieder die Maske des unnahbaren Magiers aufsetzen würde, doch in diesem Augenblick zeigte er seine verletzlichste Seite und ich beschloss, ihm nun doch etwas freundlicher entgegenzukommen, unabhängig von seinen vorherigen Worten, zumindest für diesen Moment.
„Meine Kraft schwindet, Gan. Das habe ich bereits bei dem Oblivisci an Fers Socia gesehen.“ Nun beschloss ich mich doch einzumischen, denn das der Oblivisci nicht gewirkt hatte lag schließlich nicht an Zel und daran sollte er auch nicht verzweifeln.
„Das mit dem Oblivisci lag nicht an deiner Zauberkraft, Zel.“ , mischte ich mich in ihr Gespräch ein. Wie ich erwartet hatte, strafften sich sofort Zels Schulter und ein abweisender Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Das hat etwas mit unserer Abstammung zu tun.“
Kaum merklich nickte Gan mir dankbar zu, während mich Zel mit zusammengekniffenen Augen musterte. „Eurer Abstammung?“, fragte er spöttisch.
Ich nickte und ließ mich nicht aus der Ruhe bringen. „Unsere Beschützer würden nie zulassen, dass unsere Erinnerungen gelöscht werden.“ Absichtlich mied ich das Wort Engel, denn ich hatte Gabriels Warnung noch klar vor Augen, selbst, wenn sich mein Engelsvater derzeit aus meinen Gedanken heraushielt. Was er wohl gerade zu tun hatte?
„Wer ist denn euer Beschützer, Prinzessin?“ Die Frage sollte spöttisch klingen, doch ich hörte die Neugier aus Zels Worten heraus.
Ich schüttelte entschuldigend den Kopf. „Leider darf ich das nicht jedem anvertrauen, tut mir Leid, Zel.“
Er schnaubte nur und wandte sich ab. Ich griff nach seinem Arm und spürte sofort, wie die Magie, die um ihn herumzuwirbeln schien, meinen Arm hochkletterte. Es fühlte sich an, wie kleine Blitze, die über meine Haut tanzten und die Haare auf meinen Armen hochstehen ließen. Ich konnte beinahe die Musik hören, die von der Magie dabei erzeugt wurde. Kurz war ich zu fasziniert davon, um etwas zu sagen, doch dann entsann ich mich des Gedankens, wegen dem ich den Magier aufgehalten hatte.
„Und Zel. Bitte nenn mich ‚Lynn‘ oder wenn es sein muss ‚Elara‘, aber hör mit diesem abfälligen ‚Prinzessin‘ auf. Ich nenne dich doch auch nicht die ganze Zeit nur ‚Magier‘ oder ‚Erinnerungsvernichter‘“ Bei meinem letzten Spitznamen schnaubte Zel entrüstet, doch ich konnte deutlich erkennen, dass sich Gan ein Lächeln verkneifen musste. Wenigstens einer, der mich verstand.
„Nun ‚Lynn‘“ Warum hörte sich Lynn bei ihm immer noch so abwertend an? War ich ihm mit den kreativen Spitznamen derartig auf den Schlips getreten oder war es einfach sei Charakter, so verbittert und griesgrämig zu sein?
„Man merkt, dass Ihr noch nicht lange in unserer Welt unterwegs seid, sondern unter Homini aufgewachsen. Ich nehme euch die ‚Du‘-Form und derartige Beleidigungen nicht übel, aber seid gewarnt, dass nicht jeder der Arsanimali so nachsichtig ist. Und Ihr solltet euch langsam daran gewöhnen, dass Ihr nicht länger die Homini seid, die unter dem Namen ‚Lynn‘ bekannt war, sondern nun Prinzessin und ein Arsanimali. Also verhaltet euch auch so.“
Mit diesen verbitterten Worten, die mir vor Entrüstung den Atem nahmen, wandte er sich ab und ging auf den Wald zu. Gan, der ebenfalls nach Luft schnappen musste, eilte im Rasch nach, um energisch auf ihn einzureden. Soviel dazu, dass ich ihm freundlicher entgegenkommen wollte. Das konnte er nun vergessen. Schnaubend wandte ich mich ab und ging in die entgegengesetzte Richtung. Ich kam nicht mehr als ein paar Schritte, dann wurde ich erneut von einem Magier aufgehalten. Dieses Mal war es Vigor. Der Anführer der Gruppe Iudicium, die uns dank Meggies Magie aufgespürt hatten, schien ziemlich mit sich zu ringen. Er warf mir einen um Verzeihung bittenden Blick aus seinen dunklen Augen zu.
„Verzeiht bitte Master Zel. Er ist seit dem Verrat seines Schülers und dem Tod seines Bruders Fides und seiner Nichte Pix nicht mehr derselbe. Er war zwar schon immer etwas mürrischer, aber so schlimm ist es erst seit zehn Jahren.“
Er hatte seinen Bruder und seine Nichte verloren, kein Wunder dass er so in sich gekehrt war. Ich öffnete den Mund, um nachzuhaken, da mich meine Neugier nicht in Ruhe lassen wollte, doch Vigor winkte ab.
„Mehr kann ich euch leider auch nicht dazu sagen, vielleicht fragt ihr Gan einmal. Er scheint die Familie Matig ziemlich gut zu kennen.“ Ich nickte enttäuscht. Ob meine Schwester vielleicht etwas mehr darüber wusste. Ich beschloss sie später diesbezüglich zu fragen.
„Von welchem Engel stammt ihr ab, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ Diesmal war es Vigor, der mich neugierig musterte. Kurz zögerte ich, doch wie bereit bei Zel schüttelte ich Bedauernd den Kopf.
„Wie ich Zel schon sagte, dass darf ich leider nicht jedem Verraten, erst wenn mein Beschützer es mir gestattet…“
Doch statt wie Zel verärgert zu reagieren, lächelte Vigor verständnisvoll.
„Ich nehme an, dass es sich bei dem Beschützer um den Engel handelt?“ Als ich nur hilflos mit den Schultern zuckte, lachte er. „Ist schon gut. Außerdem kann ich es mir denken, immerhin tragen die Lilienkrieger vermutlich nicht ohne Grund die Lilie des Gabriel mit sich herum.“
Verblüfft über seine gute Auffassungsgabe starrte ich ihn an, doch er zwinkerte mir nur zu. Wer wohl die Zusammenhänge wohl noch sah? Und warum durfte ich es nicht sagen, wenn die Lilienkrieger Gabriels Zeichen so offensichtlich herumtrugen. Aber musste man gleich von Borkils Verbundenheit zu Gabriel zu seinem Tröpfchen Blut schließen oder war das nur Zufall? Ich beschloss, dass es letzteres war, ehe ich noch verrückt wurde.
„Tut mir Leid. Mir wurde schon öfters gesagt, dass ich andere sprachlos mache. Bei manchen sind es meine Worte, bei anderen mein gutes Aussehen.“, neckte er mich und zwinkerte mir zu. Seine Neckereien halfen mir über seine vorherigen Schlussfolgerungen hinweg und ich knuffte ihn scherzhaft in die Seite. Er spielte mit und unwillkürlich überfiel mich Traurigkeit, da mich die Situation so sehr an Markus und mich im Waisenhaus erinnerte.
„Was ist los, Prinzessin Elara, was habt ihr?“ Als ich blinzelnd in die Wirklichkeit zurückkehrte merkte ich, dass jeglicher Schalk aus den Augen von Vigor verschwunden war, was ich schwer bedauerte.
„Verzeiht, Vigor. Ich habe mich nur eben an einen sehr guten Freund erinnert gefühlt, der mit mir ebenfalls solche Neckereien an den Tag zu legen pflegte.“
Verständnisvoll sah er mich an, ehe er mich in die Seite stupste.
„Ein sehr guter Freund, ja?“, neckte er mich wieder. Ich errötete. War das so offensichtlich? Offenbar schon, den Vigor konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
„Kaum zu glauben, dass du bereits dreiunddreißig bist.“, hörten wir da eine amüsierte Stimme hinter uns. Ein kurzer Blick nach hinten bestätigte mir meine Ahnung. Der Gefährte meiner Schwester hatte sich zu uns gesellt.
Auf meinen fragenden Blick hin antworte Fer entspannt. „Carrie schläft noch.“
Ich nickte verstehend, während mein Gesprächpartner sich dem weißen Tiger vollständig widmete.
„Ist eure Socia der Grund, weswegen du, Gan und Zel sich vom Iudicium abgewandt haben?“
Kurz huschte ein schuldbewusster Gesichtsausdruck über Fers Gesicht, als er nickte.
„Wir hielten sie ursprünglich für eine ganz normale Homini, bis sie Zels Oblivisci ohne Wirkung überstand. Da wir sie weiterhin für eine Homini hielten, Gan und ich aber nicht mehr ohne sie leben wollten, verließen wir die Iudicium, da wir uns unserer Meinung nach einem Strafvergehen mächtig gemacht hatten. Dabei ist sie alles andere als eine stinknormale Homini.“
Aus seinen Worten sprach der Stolz, sie zu seiner Gefährtin zu haben. Es erwärmte förmlich mein Herz zu hören, wie glücklich er über diese Tatsache war. Meine Schwester hatte definitiv jemanden verdient, der sie vergötterte, wie Fer es tat.
„Warum seid ihr dann nicht zum Iudicium zurückgekehrt? Und was ist eure Socia für ein Arsanimali?“, fragte Vigor neugierig.
„Die Umstände haben es nicht möglich gemacht.“, antwortete Fer ausweichend. Dass er die zweite Frage nicht beachtete, fiel offenbar nicht nur mir auf, denn Vigor hatte deutlich Mühe seine Neugier zu stillen.
„Geht es eurer Socia gut?“, beschloss er schließlich das Thema erstmal ruhen zu lassen. „Sie war bei unser letzten Begegnung so blass….“
„Wir sind trächtig.“, kam der weiße Tiger ohne Umstände auf den Punkt und überschlug sich beinahe vor Stolz. Es war keine Frage, dass er auch das Kind meiner Schwester vergöttern würde.
Vigor lächelte erfreut. „Herzlichen Glückwunsch, Fer. Das sind in der Tat sehr gut Neuigkeiten. Dann verstehe ich, weswegen ihr keine Zeit mehr für das Iudicium gefunden habt. Eine Familie hat eindeutig Vorrang.“
Fer schien bei Vigors Worten vor Glück sogar noch mehr anzuschwellen.
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2016
Alle Rechte vorbehalten