Düstere Nebelschwaden hingen am Himmel. Das ganze Land lag in Finsternis, keine Farben, nur Grau. Auch die Berge im Norden ließen sich nicht von der grauen Umgebung unterscheiden. Seit Jahren herrschte die Dunkelheit und das Böse im Land. Die einzige Ausnahme bildete Aírtarr, die größte und schönste Stadt in Sinkratorré. Noch. Die Dunkelheit hatte es schon teilweise in die Stadt geschafft. Was zum Glück noch gänzlich fehlte, war das Böse. Die Frau auf dem Balkon des Schlosses seufzte. Lange würde es nicht mehr dauert, bis auch Aírtarr den bösen Mächten unterlag und selbst sie als Königin ihr Volk nicht mehr schützen konnte. Erste Anzeichen waren schon vorhanden. Im Westen der Stadt, dort, wo die ärmere Bevölkerung in kleinen, verfallenen Baracken hauste, erzählten Berichterstatter von sich häufenden Überfällen, Prügeleien und anderen Untaten. So begann es meistens.
Die Frau wandte ihren Blick nach Osten. In diesem Stadtteil hatten sich schon vor Jahrtausenden die Magier und Heiler niedergelassen. Gemeinsam gelang es ihnen schon mehrmals, Aírtarr und damit ganz Sinkratorré zu retten und vor drohendem Unheil zu beschützen. Doch dieses Mal waren auch die Mächtigsten unter ihnen ratlos. Sinkratorré war wohl endgültig dem Tode geweiht, sollte sich demnächst nicht doch irgendeine Möglichkeit auf Rettung ergeben.
Wieder seufzte die Frau und kehrte der Dunkelheit den Rücken zu. Sie verließ den Balkon des Schlosses und zog sich in ihr Schlafgemach zurück. Die Bürde der Königskrone lastete schwer auf ihr. Siebzehn Jahre hatte sie es geschafft, ganz Sinkratorré zu regieren. Seit jenem Tag vor siebzehn Jahren, an dem ihr Vater dem Bösen unterlag und sie somit zur Königin machte. Seit jenem Tag gelang es dem Bösen auch, Schritt für Schritt Sinkratorré zu erobern. Streit und Zwietracht herrschte in den gefallenen Gebieten. Jene, die dies rechtzeitig erkannten, flüchteten nach Aírtarr, doch jetzt war selbst die große Königsstadt nicht mehr sicher. Die Untertanen selbst hatten kaum noch Hoffnung. Nur die Königin und ihre engsten Vertrauten wussten von einem uralten Schriftstück, das wohl die einzige Möglichkeit auf Rettung beschrieb. Die Prophezeiung. Doch ganz so einfach war es nicht. Die alte Sprache machte den Übersetzern zu Schaffen. Auch das bereits Übersetzte war schwer zu deuten.
Zum gefühlten hundertsten Mal überflog die Königin die Kopie des Übersetzten, doch immer noch konnte sie nicht sagen, was das Geschriebene zu bedeuten hatte.
"Mama, ich bin Siebzehn! Ich brauche keinen Aufpasser während ihr weg seid!"
Wütend funkelte Nadjeschda ihre Eltern an. Sie konnte es nicht fassen. Ihre Eltern hatten beschlossen, die Sommerferien in Russland zu verbringen. Bis jetzt war sie mit ihrer Familie immer gemeinsam auf Urlaub gefahren, doch dieses Mal konnte sie ihre Eltern überreden, zuhause bleiben zu dürfen. Sie hatte einfach keine Lust mehr, alle neun Wochen Ferien in anderen Ländern zu verbringen. Da Nadjeschdas Eltern beide Lehrer waren, war dieser Urlaub möglich. Früher hatte sie das immer toll gefunden und all ihre Klassenkameraden waren neidisch auf sie gewesen. Das hatte sich in den letzten Jahren aber geändert. Während ihrer Abwesenheit wurden die besten Partys gefeiert, ihre Freundinnen verliebten sich zum ersten Mal, Wochenendausflüge zu Badeseen fanden statt, und so weiter. Alles Dinge, die sie auch gerne erlebt hätte. Darum hatte sie ihre Eltern so lange genervt, bis sie einverstanden waren, sie nicht mitzunehmen. Auch dass ihre Familie dafür extra, um sie zu ärgern, nach Russland reisen wollte, konnte sie nicht von ihrem Entschluss abbringen. Immerhin stammte ihre Mutter aus Russland und Nadjeschda hätte gerne einmal ihre Wurzeln mütterlicherseits kennengelernt. Doch jetzt, wo sie ihren Erfolg genoss und sich schon vorstellte, was sie alles mit ihren Freundinnen unternehmen könnte, kam ihre Mutter auf die Idee, sie über die Ferien zu ihrer Oma zu schicken. Nicht, dass sie ihre Babuschka nicht mochte, aber es war wieder typisch Eltern.
"Du wirst zu ihr fahren, ob es dir passt oder nicht!, antwortete ihre Mutter stur.
"Mama, jetzt freue ich mich schon ewig darauf, dass ich mit meinen Freundinnen etwas unternehmen kann, und dann soll ich meine Ferien in diesem kleinen Kaff von Dorf verbringen? Die haben doch nicht einmal richtige Geschäfte. Wie im Mittelalter!", regte Nadjeschda sich auf.
Das war natürlich übertrieben, doch es stimmte, dass es dort nicht viel gab, was man unternehmen könnte.
"Jetzt übertreib nicht. Du wirst dort hinfahren, ob es dir passt oder nicht!"
***
Das nervtötende Klingeln des Weckers riss Nadjeschda aus dem Schlaf. Stöhnend schlug sie auf den Ausschaltknopf und das Geräusch verstummte. Heute war der letzte Schultag vor den Sommerferien. Gleich danach würden sie ihre Eltern zur Oma fahren. So als ob sie mögliche Fluchtpläne verhindern wollten. Immerhin hatte das einen Vorteil. Sie würde nicht mit dem Bus fahren müssen, bei dem zweimal umsteigen notwendig war, um ans Ziel zu kommen. Ausserdem war die Fahrtzeit mit dem Auto wesentlich kürzer, fuhr man doch mit dem Bus fast anderthalb Stunden mehr als mit dem Auto.
"Aufstehen, Nadjeschda! Sonst kommst du zu spät in die Schule!"
Ihre Mutter betrat das Zimmer und zog die Vorhänge auf. Schlagartig fiel helles Licht in das Zimmer. Draußen schien bereits die Sonne. Nadjeschda murmelte eine Antwort, dann verschwand ihre Mutter wieder nach unten. Langsam richtete sie sich von ihrem Bett auf und blickte sich im Zimmer um. Es befand sich direkt unter dem Dach und war das einzige in diesem Stockwerk. Vor ihrer Zimmertür gab es nur noch einen kleinen Vorraum, von dem dann die Treppe nach unten führte. Ihre Möbel waren alle aus stabilem Holz. Direkt links neben der Tür befand sich ihr hoher Schrank in dem sie die große Menge an Kleidung aufbewahrte. Gegenüber stand ihr Schreibtisch, auf den sie sehr stolz war. Immerhin sah er aus, als wenn er aus einem alten Film stammen würde. Wuchtig und aus edlem Holz. Daneben gab es noch ein großes Fenster, von dem man einen tollen Ausblick über die Kleinstadt hatte, in der sie wohnte. Ihr Bett fand neben einer der Dachschrägen Platz, im hintersten Eck ihres Zimmers. Es war aufgeräumt, wie immer kurz vor den Sommerferien. Keine Socken lagen herum, die Schulsachen waren bereits im Schrank verstaut.
Endlich konnte Nadjeschda sich überwinden, aufzustehen und hinunterzugehen. Im ersten Stock befand sich nur das Zimmer ihrer Eltern, das Bad und ein Arbeitszimmer. Im Erdgeschoss ging sie in die Küche, an der sich das Wohnzimmer anschloss, und nahm sich das Frühstück, das ihre Mutter schon vorbereitet hatte.
"Hast du alles eingepackt? Wir holen dich gleich von der Schule ab", fragte ihre Mutter.
"Jaa, das habt ihr mir doch schon zehnmal gesagt!", antwortete Nadjeschda genervt.
Schnell würgte sie die Reste ihres Essens hinunter und flüchtete aus der Küche, bevor sie weiter vollgeredet wurde. Die Reisesachen standen schon im Eingangsflur, und als sie für die Schule fertig war, packte sie diese und ging in Richtung Bus.
***
"Was!? Ich dachte, wir unternehmen in diesen Ferien endlich etwas gemeinsam?", rief Alissa entsetzt.
Nadjeschdas beste Freundin war mehr als überrascht, als sie ihr von den Plänen ihrer Eltern erzählte.
"Wie gesagt, es war nicht mein Plan", verteidigte sich Nadjeschda.
"Aber die können dich doch auch einmal allein lassen. Du bist siebzehn und nicht zehn", regte Alissa sich weiter auf.
Das war aber auch verständlich. Immerhin freuten wir uns schon lange auf die Ferien, damit wir endlich gemeinsam etwas unternehmen konnten. Schon wochenlang hatten wir uns Ausflüge überlegt, die wir machen, und Partys, die wir besuchen könnten. Und wieder meinte es das Schicksal namens Mama und Papa nicht gut mit uns.
"Dann versprich mir, dass wir nächstes Jahr gemeinsam Ferien machen. Da bist du achtzehn und deine Eltern sollten dich dann endlich allein zuhause lassen", schlug Alissa vor.
Nadjeschda war einverstanden und besiegelte das Versprechen mit Handschlag. Dann war erst einmal Ruhe angesagt, denn Herr Merters hielt seine alljährliche Zeugnisrede vor unserer Klasse.
"Na, dann hoffe ich, dass ihr schöne Ferien haben werdet und im Herbst wieder frisch und munter in die Schule kommt", beendete Herr Merters seine Rede.
Nadjeschda warf einen Blick auf Alissa, die ihre Augen verdrehte. Die Reden von ihrem Klassenlehrer waren auch schon seit Jahren die gleichen. Dass er auch noch so monoton redete, trug auch nicht gerade dazu bei, die Klasse aufmerksam zu halten. Zum Glück gab er endlich die Zeugnisse aus. Nadjeschda stellte sich hinter Alissa an und wartete, bis sie endlich an der Reihe war.
"Gratulation und schöne Ferien!", lautete der Standardspruch von Herrn Merters.
Dann war die Schule endlich zu Ende. Gemeinsam mit Alissa zwängte sie sich durch die Schülermassen, die nach draußen strebten.
"Puh, endlich geschafft. Schöne Ferien bei deiner Oma!", wünschte Alissa und umarmte ihre Freundin noch einmal, bevor sie verschwand.
Nadjeschda atmete tief durch und ging in Richtung Auto. Ihr Papa winkte ihr schon zu. Sie beschleunigte ihre Schritte und schmiss ihre Sachen in den schon offenen Kofferraum. Wow, die hatten es aber eilig mit ihrer Ablieferung zu Oma.
"Hallo, und, wie ist das Zeugnis?", fragte sie ihr Vater.
"Gut", brummte sie.
Das stimmte auch, denn nur Einser und Zweier waren wirklich mehr als in Ordnung. Begeistert waren ihre Eltern nicht gerade von ihrer Antwort, doch das war ihr egal. Schnell stöpselte sie sich die Kopfhörer ein, um nicht mehr ansprechbar zu sein, und lehnte sich zurück. Getrieben von der ruhigen Musik und dem gleichmäßig brummenden Motor fielen ihr die Augen zu, dann schlief sie ein.
***
Der Wagen rumpelte über die Unebenheiten der Einfahrt. Noch benommen vom Schlaf blinzelte Nadjeschda, um sich an das helle Licht zu gewöhnen. Sie waren da. Vor ihnen ragte das zweistöckige Haus ihrer Oma in die Höhe. Die Farbe war schon ganz verblasst, sodass man nicht sicher sagen konnte, welche es einmal gehabt hatte. Die Fenster des unteren Stockes waren alle mit einem Eisengitter versehen, im oberen Stock waren grüne Fensterläden angebracht worden, von denen bereits die Farbe abblätterte. Um das Haus herum war ein Garten angelegt, der sehr gut gepflegt aussah. Von der Einfahrt führte ein Weg aus Steinplatten bis zu der wuchtigen, dunkelbraunen Holztür. Diese öffnete sich nun. Heraus kam eine ältere Frau mit langen weißen Haaren. Sie trug ein bodenlanges Kleid mit Muster, die sich bei näherem Betrachen als gleichförmige Kreise herausstellten. Ihre braunen Augen lagen hinter einer Brille.
"Babuschka! Wir sind da!", rief Nadjeschda ihrer Oma zu.
Auf deren Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Bevor Nadjeschda auf sie zugehen konnte, wurde sie von ihren Eltern aufgehalten.
"Schatz, wir müssen zum Flughafen. Tschüss und viel Spaß!"
Ihre Mutter umarmte sie noch einmal, ihr Vater stellte ihren Koffer neben sie. Dann verabschiedete sich auch er. Beide stiegen ins Auto und fuhren die holprige Einfahrt zurück. Sie bogen um die Ecke und waren nicht mehr zu sehen.
Nadjschda drehte sich wieder zu ihrer Oma um.
"Komm rein, mein Mädchen!", forderte sie ihre Enkelin auf.
Sogleich packte Nadjeschda ihren Koffer und folgte ihr ins Innere des Hauses. Sie durchquerten die Eingangshalle, von der eine Treppe nach oben ging, und gelangten in ein großes Wohnzimmer. Obwohl es Sommer war, brannte im Kamin ein Feuer, das eine behagliche Atmosphäre schuf. Links davon befand sich leicht erhöht auf einem Podest ein Klavierflügel. Nadjeschda erinnerte sich, dass ihre Oma immer gut spielen konnte. Auch sie selbst hatte zu spielen begonnen, es aber dann wieder aufgegeben. An der Wand gegenüber des Klaviers stand ein schwarzes Sofa und ein Ohrensessel. Auf diesem nahm ihre Oma jetzt Platz. Nadjeschda folgte ihrem Beispiel und ließ sich auf dem Sofa nieder.
"Ich habe etwas für dich", fing ihre Oma an. "Es ist ein Familienerbstück und ich denke, es ist der richtige Augenblick, um es dir zu geben."
Nadjeschda staunte nicht schlecht, als ihr Babuschka ein Amulett in die Hand drückte. Es hatte ungefähr die Größe einer Münze und hing an einer goldenen Kette. In der Mitte befand sich ein roter Stein, der sich erstaunlicherweise warm anfühlte, als sie ihn berührte. Um den Stein herum war das Amulett mit goldenen Schnörkel verziert.
"Das ist wunderschön, danke!"
"Bewahre es gut auf, du wirst es brauchen."
Diese Worte verwirrten Nadjeschda. Wozu sollte sie ein Schmuckstück benötigen? Sie verdrängte ihren Rat wieder, als die alte Frau sie aufforderte: "Bring deine Sachen nach oben und komm dann in die Küche. Du hast sicher Hunger."
Schnell sprang Nadjeschda auf und trug ihren Koffer in das Zimmer, das sie immer bewohnte, wenn sie bei Babuschka übernachtete. Danach lief sie wieder hinunter in die Küche, um den leckeren Kuchen, den ihre Oma jedes Mal machte, zu verspeisen.
Eilig schloss Aaliyah die Tür ihres Schlafgemachs hinter sich. Dann hastete sie durch die verwinkelten Gänge des Schlosses in Richtung Bibliothek. Noch einmal würde sie gemeinsam mit ihren engsten Vertrauten versuchen, die Botschaft der Prophezeiung zu entschlüsseln. Die Zeit drängte, und bisher war es ihnen nicht gelungen, das Geschriebene zu verstehen. Sie seufzte leise. Man konnte ja nicht einmal sagen, ob die Prophezeiung überhaupt einen Rat beinhaltete, um das Unheil von Aírtarr abzuwenden und den Rest von Sinkratorré davon zu befreien. Möglicherweise wäre die Übersetzung sogar umsonst.
Aaliyah straffte die Schultern. So durfte sie nicht denken.
"Wir werden schon eine Lösung finden", beruhigte sie sich selbst.
Sie bog um die letzte Ecke und erreichte die imposante Eingangshalle des Schlosses. Die Decke reichte zwanzig Meter in die Höhe und war mit Gold geschmückt. An den Wänden hingen Bilder von allen Königinnen und Königen, die bisher regierten. Entlang des roten Teppichs, der vom Eingangstor bis zur geschwungenen Treppe reichte, standen mit Gold überzogene Statuen auf kleinen Podesten. Links und rechts von der mächtigen Treppe, die zum Festsaal und anderen öffentlichen Räumen führte, gab es Gänge, mit denen man tiefer in das Schloss hinein gelangte. Den rechten steuerte sie jetzt an. Auch hier hingen Bilder der Königsfamilie und Bilder mit der Landschaft von Sinkratorré. Je tiefer Aaliyah in den Gang hineinging, desto enger wurde er. Erst als er nur noch einen Meter breit war, führten die Wände wieder auseinander und machten Platz für die große Bibliothek des Schlosses.
Aaliyha eilte die letzten Schritte zum Eingang und schritt hinein. Auch hier betrug die Höhe des Raumes um die zwanzig Meter. Er war angefüllt mit parallel stehenden Bücherregalen, für die man bereits eine Leiter brauchte, um an die oberste Reihe zu kommen. Hier war die ganze Geschichte von Sinkratorré niedergeschrieben. Vieles waren Märchen, Lieder und Gedichte, aber es gab auch Reiseberichte, Tagebücher und Sachbücher zu verschiedensten Themen.
In der Mitte des Rahmen befand sich ein großer, runder Tisch, auf dem sich bereits einige Bücher stapelten. Darum herum saßen Aaliyahs engste Vertraute.
"Seid gegrüßt, Königin", begrüßte sie einer der Arbeitenden.
"Guten Morgen, Finjas!", antwortete sie dem Magier.
Er war noch jung, erst einundzwanzig Jahre, und trotzdem war er einer der besten Magier und somit einer der engsten Berater der Königin. Seine blauen Haare standen in alle Richtungen ab und gaben ihm ein verwegenes Aussehen. Auch seine pechschwarzen Augen stachen sehr hervor. Direkt neben ihm hatte Dijarran Platz genommen. Er lümmelte gelangweilt auf seinem Stuhl und machte den Eindruck, als ob ihn das alles nicht interessieren würde. Als einer der Krieger von Aírtarr war es kein Wunder, dass Bücher nicht sein Gebiet waren. Auch er hatte trotz seinen jungen Jahren schon eine bedeutsame Stellung unter den Kriegern. Ihm gegenüber saß Gherroun, der Bibliothekar. Seinem Alter entsprechend hatte er weiße Haare und einen langen Bart. Schon lange war er der weiseste Mann in Sinkratorré. Er sprach beinahe alle Sprachen des Landes und war auch den alten, bereits ausgestorbenen, noch mächtig. Deshalb leistete er auch die größte Arbeit bei der Entschlüsselung der Prophezeiung.
"Aaliyah, mir ist es endlich gelungen, die Prophezeiung fertig zu übersetzen. Allerdings kann ich nicht sagen, was die Bedeutung sein soll", informierte Gherroun seine Königin.
"Das ist doch schon ein großer Schritt", antwortete diese erleichtert. "Darf ich die Übersetzung sehen?"
Gherroun reichte ihr das Pergamentstück. Aaliyah beugte sich über das Geschriebene und las.
Fremdes schleicht ins Land,
lässt Dunkelheit, wo Licht war,
lässt Unheil, wo Heil war,
lässt Verderben, wo Glück war,
lässt Hass, wo Freundschaft war,
lässt Kälte, wo Wärme war,
zerstört.
Eine Blüte der Hoffnung
gedeiht in der Sonne
lange siebzehn Sommer.
Hoffnung bringt Hoffnung
wo Hoffnungslosigkeit herrscht.
Siebzehn kalte Winter für die Dunkelheit
werden genug sein für lange Zeit.
Die Hoffnung ist erwacht.
Langsam richtete sie sich wieder auf und blickte ratlos in die Runde. Auch in den Gesichtern ihrer Vertrauten zeichnete sich Ahnungslosigkeit ab.
"Ich kann damit leider nichts anfangen. Habt ihr irgendwelche Vermutungen, was die Prophezeiung bedeuten könnte?", fragte Aaliyah.
Die Männer schüttelten verdrießlich die Köpfe. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass es ihnen zu schaffen machte, nicht zu wissen, was eine Hilfe gegen die hoffnungslose Situation sein könnte. Finjas massierte sich die Schläfen, so als ob er angestrengt nach einer Lösung suchen würde. Auch Dijarran zeigte Regung und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Dann starrte er in die Luft. Aaliyah sank in sich zusammen. So viel hatte sie sich von der Prophezeiung erhofft und nun standen sie wieder mit fast leeren Händen da. Was half eine Übersetzung, wenn sie den Sinn nicht verstanden? Erst jetzt merkte sie, dass sie sich unterbewusst sicher gewesen war, dass die Übersetzung auch die Rettung vor dem Unheil bedeutete. Resignierend schloss Aaliyah die Augen und seufzte.
Schließlich erhob Gherroun das Wort: "Beginnen wir doch noch einmal von vorne. Die ersten Zeilen beschreiben das, was schon eingetroffen ist. Das Böse hat das Gute in ganz Sinkratorré ersetzt. Ein Teil der Prophezeiung hat sich also schon erfüllt." Er atmete tief durch.
"Allerdings ist der zweite Teil derjenige, den wir nicht verstehen. Eine 'Blüte der Hoffnung', was soll das sein? Eine Blume wird uns wohl kaum retten können. Und wie erwacht eine Hoffnung…"
Gherroun sprach immer leiser, bis er schließlich nur noch vor sich hin murmelte. Nicht einmal der weise Bibliothekar konnte das Geschriebene deuten.
Finjas warf einen flüchtigen Blick auf den alten Mann und meinte resignierend: "Wir werden wohl abwarten müssen. Vielleicht erfüllt sich der Rest auch von selbst."
Aaliyah nickte. Ja, vielleicht.
"Magst du noch ein Stück?"
Fragend hob Nadjeschdas Oma das Messer, um eventuell noch ein Stück vom Kuchen abschneiden zu können.
Nadjeschda schluckte hastig den letzten Bissen hinunter, schaffte es, sich dabei nicht zu verschlucken, und schob ihr Teller zum Kuchenblech.
"Ja, bitte!", antwortete sie mit vollem Mund.
Lächelnd schnitt ihre Oma ein Stück ab und gab es ihr. Sofort begann Nadjeschda zu essen. Der Apfelkuchen schmeckte ihr eben nur bei Babuschka so gut. Diese wusste das und backte immer einen, wenn ihre Enkelin auf Besuch kam. Da war es natürlich auch klar, dass Nadjeschda den Kuchen beinahe allein aufaß, so als ob sie schon mehrere Tage nichts gegessen hätte.
Schließlich passte kein weiterer Bissen mehr in ihren Magen, darum schob die das Teller von sich. Seufzend lehnte sie sich zurück und legte ihre Hände auf den vollen Bauch.
"Puh, ich bin pappsatt."
Ihre Oma stand auf und begann mit dem Abwasch. Auch Nadjeschda erhob sich und ging ins Wohnzimmer nebenan. Dort ließ sie sich auf das Sofa fallen und streckte ihre Beine aus. Dann schloss sie die Augen. Das Zimmer hatte eine angenehme Temperatur, im Kamin brannte immer noch ein Feuer. Begleitet von den Hintergrundgeräuschen, die ihre Oma beim Abwasch verursachte, hing Nadjeschda ihren Gedanken nach. Was wohl Alissa gerade machte? Wahrscheinlich war sie schon bei der ersten Party in diesen Ferien und tat Dinge, die sie eigentlich heuer gemeinsam machen wollten. Nadjeschda seufzte. Ihre Eltern hatten ihr wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die beiden saßen sicher noch im Flieger nach Russland.
Leise Klaviertöne rissen sie aus ihrer Versunkenheit zurück in die Wirklichkeit. Ihre Oma hatte sich in der Zwischenzeit ans Klavier gesetzt. Immer noch konnte sie wunderbar spielen und entlockte dem Instrument eine fantasievolle Melodie. Ein voller Klang, der den gesamten Raum ausfüllte. Bewundernd lauschte Nadjeschda und beobachtete ihre Babuschka, wie die Hände über die Tasten huschten, ohne auch nur eine kleine Unsicherheit erkennen zu lassen. Nach einer Weile neigte sich das Lied dem Ende zu und schließlich verhallten die letzten Töne.
"Du spielst wunderschön!", sagte Nadjeschda begeistert.
"Freut mich, dass es dir gefällt", ihre Oma lächelte.
"Wie heißt es?"
"Ich habe es selbst komponiert. Ich nenne es ´Sinkratorrés Hoffnung´."
Nachdem sie sich noch ein bisschen mit ihrer Oma unterhalten hatte, machte sie sich auf den Weg in ihr Zimmer. Sie durchquerte den kleinen Eingangsflur und folgte der Treppe hinauf. Seitlich auf den Wänden hingen große Bilder von altmodisch gekleideten Menschen. Auch in dem langen Gang im ersten Stock, der zu ihrem Zimmer führte, gab es alte Gemälde an der Wand. Hier wurden diese jedoch immer phantasievoller, je näher sie zu ihrem kleinen Raum kam. Schon oft war sie stehengeblieben, hatte die Bilder eingehend betrachtet und konnte sich selten sofort wieder abwenden. Vor allem ein Bild von einer Frau in einem langen, dunkelblauen Kleid übte eine besondere Anziehung auf sie aus. Auf dem Kopf trug sie eine kleine Krone, in der funkelnde Diamanten eingearbeitet waren. Die langen, blonden Haare umrahmten ihr zartes Gesicht und brachten ihre eisblauen Augen zur Geltung. Im Hintergrund war ein kleines Schlafgemach zu sehen.
Auch dieses Mal konnte Nadjeschda nicht an diesem Gemälde vorbeigehen, ohne es genauer zu betrachten. Erst nach ein paar Minuten riss sie sich los und setzte ihren Weg zu dem kleinen Zimmer fort. Sie öffnete die dunkelbraune Holztüre und trat ein. Es sah aus wie immer. In der Mitte stand ein großes Doppelbett, auf dem eine bunt gemusterte Decke lag. Rechts davon fand ein wuchtiger Kleiderschrank Platz. Weiters waren noch ein dunkelgrüner Ohrensessel und ein kleiner Beistelltisch im Raum.
Nadjeschda lächelte und schloss die Tür hinter sich. Sie warf sich mit Schwung auf das Bett und drehte sich auf den Rücken. Was sollte sie jetzt mit ihren Ferien anfangen? Zugegeben, es würden entspannende Wochen werden. Keine Museumsbesuche wie im letzten Jahr. Auch die langweiligen Ausstellungen musste sie sich heuer nicht ansehen. Wenn sie es sich recht überlegte, war ihr bei Babuschka noch nie langweilig geworden. Ihre Oma hatte sich immer etwas ausgedacht, um die Enkelin bei Laune zu halten.
Nadjeschda seufzte und drehte ihren Kopf nach rechts. Dabei fiel ihr Blick auf das Amulett, das sie vor dem Essen auf den Beistelltisch gelegt hatte. Was war wirklich an der Behauptung dran, dass sie es brauchen würde?
Sie griff danach und befühlte mit ihren Fingern den roten Stein. Seltsam, der Stein war heiß. Wie konnte er nur von selbst an Temperatur zunehmen? Nadjeschdas Blick schweifte zum Fenster, von dem die Lichtstrahlen in das Zimmer fielen. Allerdings reichten diese nicht bis zum Beistelltisch, wo das Amulett vorhin noch lag. Verwirrt betrachtete sie es genauer. Noch einmal führte sie ihre Hand zum Amulett, doch kaum hatte sie den Stein berührt, schreckte sie zurück.
"Au!", schrie sie laut und presste ihre Hand an sich.
Der Stein war unerträglich heiß geworden und hatte ihre Finger verbrannt. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie wich ein paar Schritte vom Amulett weg, das sie auf ihr Bett hatte fallen lassen. Hier ging es doch nicht mit rechten Dingen zu! Steine wurden nicht von selbst heiß. Tief durchatmend lehnte sie sich gegen den Türrahmen und starrte auf das Amulett.
"Oma soll mir das erklären", schoss es ihr in den Kopf. Schnell packte sie die Kette mit dem seltsamen Edelstein und hängte sie sich um den Hals. Allerdings hielt sie ihre Hände dieses Mal sorgfältig außer Reichweite der Hitze. Eilig lief sie aus ihrem Zimmer, doch an der Treppe angekommen musste sie sich plötzlich am Geländer festhalten. Stechende Kopfschmerzen erfassten sie. Keuchend umklammerte sie die Stange. Schwarze Punkte tanzten ihr quer über die Augen. Nadjeschda kniff die Augen fest zusammen, um diese wieder loszuwerden, doch Schwindel erfasste sie und zog sie schwer nach unten. Ihre Knie zitterten, wurden plötzlich schwach. Nach Luft ringend kämpfte sie gehen die Ohnmacht, doch schließlich verließ sie die Kraft.
Ein eklig fauler Geruch lag in der Luft und verpestete penetrant die Gegend. Kein noch so sanfter Windhauch brachte den Gestank in den dunklen Gassen zum Verschwinden. Kaum ein Sonnenstrahl drang durch die Nebelschwaden bis zum Boden durch. Aus der Schwärze gerissen durch den müffelnden Geruch öffnete Nadjeschda blinzelnd die Augen, nur um diese sogleich wieder zuzuschlagen. Sie befand sich eindeutig nicht im Stiegenhaus ihrer Oma. Vorsichtig wagte sie noch einen Blick in die Umgebung, die eindeutig nicht zu den ihr bekannten Orten zählte. Schaudernd rümpfte sie die Nase, als sie den aufdringlich faulen Gestank roch. Bäh, scheußlich!
Langsam rappelte sie sich auf und drehte sich verwirrt einmal um sich selbst. Wo war sie? Rings herum standen alte, morsche Baracken aus Holz, die man kaum als Haus bezeichnen konnte. Zerbrochene Fensterscheiben und verwüstete Dächer und Eingangsbereiche zeugten von Verlassenheit des Ortes. Überall lag staubige Erde, die nicht erkennen ließ, ob Nadjeschda auf einer Straße oder einem Feldweg stand. Geradeaus führte eine schmaler werdende Gasse weiter, rechts war der Weg mit Holzresten beinahe blockiert.
Zögernd beschloss Nadjeschda, dem Weg geradeaus zu folgen. Sie musste irgendwie herausfinden, was geschehen war, warum sie plötzlich in einer dunklen Gasse aufgewacht war. Nach den ersten zwei Schritten stoppte sie abrupt, als ihr etwas gegen die Brust schlug. Das Amulett! Das hatte sie beinahe vergessen. Hastig griff sie danach und berührte den roten Stein. Er war eiskalt. Hatte sie sich die Hitze nur eingebildet? Langsam glaubte sie an Wahnvorstellungen. Wahrscheinlich war alles nur ein böser Albtraum und morgen würde sie darüber lachen können.
Wieder stieg ihr der penetrante Geruch in die Nase. Nein, das würde sie sich niemals nur einbilden können. Doch wie war sie dann hierher gelangt? Seufzend setzte sie ihren Weg durch die Dunkelheit fort. Sie würde schon noch ihre Antworten finden.
***
Resigniert verließ Finjas die Bibliothek und schlenderte in Richtung Halle. Wieder waren sie auf keine passende Deutung des Übersetzten gekommen. Zwar war er derjenige von ihnen, der stets optimistisch veranlagt war und die anderen damit ansteckte, doch nun war sogar ihm seine positive Stimmung abhanden gekommen. Er stoppte bei den Bildern im Gang, auf denen die verschiedenen Könige und Königinnen der Reihe nach abgebildet waren, und betrachtete sie voller Sehnsucht. Damals war noch alles mehr oder weniger in Ordnung gewesen. Ein paar unangenehme Kleinigkeiten, aber nichts, das sie alle vernichtet hätte. Finjas Blick fiel auf das Bild ganz am Ende der Reihe, das Aaliyahs Vater in vornehmer Kleidung zeigte. Er seufzte. Zurzeit sah es nicht so aus, als würde die Tochter das Reich des Vaters lange weiter führen. Möglicherweise war in einigen Wochen, oder sogar schon Tagen, alles vorbei.
Finjas setzte seinen Weg fort. Es drängte ihn nach draußen, an die frische Luft. Kein Wunder, immerhin war er mit den anderen Beratern von Aaliyah noch länger in der Bibliothek, nachdem sich die Königin zurückgezogen hatte. Der Pfortenwächter ließ ihn mit einem ernsten Nicken passieren. Finjas wandte sich nach rechts, mit dem Vorhaben, in den Hofgarten zu gehen, doch plötzlich stockte er. Es fühlte sich falsch an, seine Beine drängten ihn nach links, Richtung Stadt. Verwundert blieb er stehen. Das drängende Gefühl verschwand nicht, stattdessen durchströmte ihn Erleichterung, sobald er einen Schritt nach links machte. Schulterzuckend schlug er dann diesen Weg ein, denn seine Magie hatte schon oft Gründe für solche Reaktionen. Wie damals, als er mitten in der Nacht plötzlich vor der Magierschule stand. Dort wurde seine Veranlagung entdeckt, die vorher nie aufgefallen war. Von da an wurde sie jedoch immer stärker.
Es war wie damals. Die Magie führte ihn zu einem unbekannten Ziel. Langsam wurde ihm mulmig zu Mute, als er immer näher zu den toten Teilen Aírtarrs kam. Menschen begegnete er schon eine Weile nicht mehr und die Häuser ähnelten immer stärker zerfallenen Baracken. Finjas hätte schon längst wieder umgedreht, wenn da nicht seine Magie wäre, die ihn noch stärker antrieb, je weiter er ging. Bis sie plötzlich völlig unerwartet aufhörte, ihn zu drängen. Verwirrt sah er sich um. Er befand sich fast am Rande der Stadt, dort, wo sich kein normaler Mensch mehr hintraute. Auch er normalerweise nicht.
Wie aus dem Nichts hörte er auf einmal das Geräusch von leisen, tappenden Schritten, das von der nächsten Ecke zu kommen schien.
***
Je weiter Nadjeschda durch die finsteren Gassen ging, desto unheimlicher wurde es. Ein kalter Lufthauch ließ sie frösteln. Um die nächste Ecke würde sie noch gehen, aber falls die Gassen dann nicht weniger unheimlich werden würden, würde sie umkehren und ihren Weg in die andere Richtung fortsetzen. Auch wenn sie nicht wusste, wonach sie suchen sollte, immerhin war dieser Ort ihr völlig fremd. Egal, hauptsache weg aus diesen dunklen, schmutzigen Gassen.
Sich umsehend bog Nadjeschda um die Ecke und prallte gegen etwas Unnachgiebiges. Sie stieß einen erstickten Schrei aus, als dieses Etwas seine Arme um sie schlang und sie auffing.
"Psst, ich tu dir schon nichts!", vernahm sie von der Person, die sie nun etwas von sich wegdrückte und ihr in die Augen sah. Immer noch erschreckt fielen Nadjeschda seine blauen, wuscheligen Haare auf. Pechschwarze Augen bohrten sich in die ihren. Sie musste dafür nach oben sehen, denn der Blauhaarige war mindestens einen Kopf größer als sie selbst. Sich schüttelnd beendete Nadjeschda das Scannen ihres Gegenübers.
"Wer bist du?"
"Mein Name ist Finjas, ich bin Magier, einer der Berater der Königin", stellte Finjas sich vor. "Viel wichtiger aber, wer bist du und was machst du hier in den verlorenen Teilen von Aírtarr? Das ist kein Ort für einen Aufenthalt, und schon gar nicht für ein junges Mädchen wie dich!"
Finjas betrachtete das Mädchen, das so unerwartet in ihn hineingerannt war. Jeder Mensch in Sinkratorré wusste die ausgestorbenen Orte des Landes zu vermeiden. Was trieb sie also in diesen Teil der Stadt? Ein Glück für sie, dass er sie gefunden hatte. In diesem Moment bemerkte Finjas, dass seine Magie aufgehört hatte, ihn anzutreiben. Sollte er wirklich schon am Ziel sein? War es Absicht, dass er auf dieses Mädchen traf, das jetzt verwirrt die Augenbrauen hochzog?
"Magier? So etwas gibt es doch gar nicht! Wo bin ich hier?", stieß Nadjeschda verwirrt aus. Magier, pff! War sie bei einem Verrückten gelandet? Andererseits war sie auch plötzlich nicht mehr im Haus ihrer Oma, also warum sollte er nicht Wahrheit sagen? Scheinbar war sie wirklich in einer anderen Welt gelandet. Wie das möglich war, entzog sich ihrer Vorstellungskraft.
Texte: Tascha
Bildmaterialien: Tascha
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2014
Alle Rechte vorbehalten