Anmerkung: Ich bin gesundheitlich gerade leider ausgeknockt. Updates kommen sobald es mir möglich ist!
Eine große Hand landete auf Lunis Schulter und ließ ihn vor Schreck zusammenfahren.
„Ey Alter, sorry wegen vorgestern. Kennst mich doch, war net bös gemeint.“ Entschuldigungsheischend sah Bodo ihn an. Diesen blöden Dackelblick hatte sein Kumpel wirklich drauf.
„Schon gut“, winkte Lunis ab. Ihm fehlte schlichtweg die Kraft, um Bodo weiterhin böse zu sein.
„Ein Glück.“ Erleichtert stieß Bodo die Luft aus. „Puh Ehekrise noch mal abgewendet. Apropos, du hast gestern was verpasst. Mann, mann, mann.“
Lunis verkniff sich einen Kommentar und sah Bodo stattdessen mit milder Neugierde an, ehe er sich schnell umschaute. Lage sondieren.
Tuschelte jemand und blickte ihn dabei an? Starrte der Kerl dahinten am Kaffeeautomaten zu ihm rüber? War der auch auf der Party gewesen oder litt er einfach an Verfolgungswahn? Wahrscheinlich war es Letzteres, aber das half auch nicht, um das Unbehagen abzuschütteln, das mit jedem Meter wuchs, dem er sich der Uni näherte.
„Dein Schnucki hatte Stress“, berichtete Bodo. Offenbar bekam Bodo von seinem inneren Kampf nichts mit. Was gut war, denn so standen die Chancen nicht schlecht, dass es auch niemandem sonst auffiel.
„Er ist nicht mein Schnucki“, knurrte Lunis – leider. Und er würde es auch nie sein – doppelt leider.
„Wie auch immer, jedenfalls hat der sich ziemlich mit diesem einen Spanier gezofft. Manuel oder wie der heißt. Der dich auch immer grüßt.“ Herzhaft biss Bodo in seinen rotbackigen Apfel. Wahrscheinlich sein Frühstück.
„Miguel und er ist Portugiese“, korrigierte Lunis ihn automatisch, ehe er verwundert fragte: „Was haben die denn miteinander zu tun?“
„Ich glaub, jetzt nichts mehr, darum ging's wohl auch.“
Verständnislos sah Lunis Bodo an, der schwer seufzte und die Augen verdrehte. Heute waren sie grün – giftgrün. Sie erinnerten Lunis an die Farbe der Bowle. Würde ihn diese Erinnerung jetzt auf ewig verfolgen?
„Na dein Schnucki hat ihn anscheinend in den Wind geschossen.“
Überfordert mit dieser Information, stoppte Lunis. Fluchend rannte jemand in ihn hinein, Lunis geriet ins Straucheln, fing sich aber schnell. Fassungslos starrte er Bodo an, die Beschimpfung des anderen Studenten ignorierte er.
„Die waren zusammen?“
„Soviel wie ich verstanden hab, wohl nicht zusammen, aber die hatten offenbar locker was miteinander, jetzt aber nicht mehr. Fand Manuel nicht so doll“, berichtete Bodo.
Verständlich, wie Lunis fand, er fände das auch nicht dolle, es wäre wohl eher der Weltuntergang, wenn Jesse mit ihm...
Sehr langsam sickerte die Bedeutung in sein überfordertes Hirn.
Jesse stand auf Männer!
Na und? Aber nicht auf dich, erinnerte er sich. Zumindest nicht mehr, nachdem wie du dich gestern wie ein Idiot verhalten hast. Genau dieser Gedanke war es nun auch, der ihn sich umwenden ließ, um seinen Weg fortzusetzen.
„Pech für ihn.“
„Und gut für dich“, grinste Bodo, der zu ihm aufschloss.
„Hä?“ Sein Herz geriet aus dem Rhythmus. War bei dem Streit etwa sein Name gefallen? Hatten sie sich vielleicht wegen ihm...
„Na, die Klatschtanten haben jetzt ein anderes Thema, als deinen Abgang“, zwinkerte Bodo.
Plop, Seifenblase zerplatzt.
„Hm ja, ich Glückspilz“, grummelte Lunis. „Sag mal, hast du Jesse meine Nummer und Adresse gegeben?“ Beinahe hätte er diese Frage vergessen, aber eigentlich kam nur Bodo infrage. Prompt wurde dieser nun rot.
„Na ja...“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.
„Ach vergiss es. Auch egal.“ Eigentlich war ihm im Moment alles egal.
Die letzten Tage waren zu anstrengend gewesen, sein Kopf fühlte sich vom vielen Grübeln an wie ein Schwamm, ein tropfender Schwamm, für nichts mehr aufnahmefähig. Perfekte Voraussetzungen für einen Unitag.
Als hätten Bodos Worte ihn herbeigerufen stand plötzlich Miguel vor Lunis.
Im ersten Moment starrten sie sich überrascht an, dann veränderte sich der Ausdruck im Gesicht des Portugiesen. Wurde ablehnend, fast kalt. Dieses Mal grüßte er ihn nicht, sondern bahnte sich wortlos seinen Weg durch die Menge der Studenten.
Einige Sekunden sah Lunis ihm hinterher. Gab der etwa wirklich ihm die Schuld? Das war doch Schwachsinn! Wenn er irgendetwas bei Jesse bewirkt haben sollte, dann doch wohl eher, dass er sich Miguel jetzt erst recht an den Hals warf.
Lunis unterdrückte ein Seufzen, schob entschlossen diesen Gedanken weit weg und konzentrierte sich auf seinen eigenen Weg.
„Scheint wohl immer noch angepisst zu sein, hm?“, murmelte Bodo. Zurecht und nur zu verständlich, wie Lunis fand. Er enthielt sich eines Kommentars und schlängelte sich weiter, darauf bedacht, niemanden ins Gesicht zu sehen. Seine Fantasie gaukelte ihm zu gerne etwas vor und in diesem Fall bestand die Gefahr, dass er abermals die Flucht ergriff. Dabei lautete nun die Devise: Bloß nicht auffallen. Ein erneutes panisches Abrauschen wäre da sicherlich nicht hilfreich.
Obwohl er seine Vogelstrauß-Methode ganz gut beherrschte, kam er nicht umher Jesse zu bemerken, ihn anzusehen, der nicht weit von ihm mit einem Kommilitonen zusammenstand. Auch er blickte ihn an, Sekunden verstrichen, bis ein zaghaftes Lächeln um Jesses Lippen erschien und er leicht die Hand hob. Perplex erwiderte Lunis den Gruß, bis er sich dessen bewusst wurde und schleunigst das Weite suchte.
War das grad wirklich passiert? Und das, nachdem er sich gestern, wie ein Idiot verhalten hatte! Normalerweise dürfte Jesse ihn doch nicht einmal mehr mit dem Arsch angucken. Aber er hatte ihn gegrüßt, zum ersten Mal überhaupt. Das hatte er doch wirklich oder war das wieder ein Wunschtraum?
„Ey, na bitte!“, freute sich Bodo indes. „Zumindest grüßt er dich jetzt. Das ist doch schon mal was.“
Nein, das war nichts, ganz und gar nichts. Und leider auch kein Wunschtraum, sondern Realität. Mit der Bodo sehr zufrieden zu sein schien. Lunis war es nicht. Zudem erschien ihm der Uniwechsel immer verlockender. Vor allem, wenn er an das Gespräch dachte, das ihm noch bevorstand – mit Aaron. Den entdeckte er, bei einem – wie er inständig hoffte – diskretem Blick, allerdings nirgendwo. Mist, Mist, Mist!
„Nach wem suchst du denn?“, wollte Bodo plötzlich wissen.
Soviel also zu diskret.
„Aaron.“
„Der Kerl mit der Brille?“
„Ja, hast du den heute schon gesehen?“
„Nee, aber was willst du denn jetzt von dem? Gleichstand ziehen und ihn über Jesse ausquetschen?“
Auf die Idee war Lunis noch gar nicht gekommen. Aber nein, das war zu peinlich, noch peinlicher als es eh schon war.
„Nein, ich hab mich nur gestern getäuscht“, murmelte Lunis, dem erst jetzt einfiel, dass er Bodo noch gar nicht auf den neusten Stand gebracht hatte. Suchend stellte er sich auf die Zehenspitzen, um einen etwas besseren Überblick zu haben. Knapp 1,75 Meter zu sein, war – wenn einen lauter Riesen umgaben – eben doch manchmal klein.
„Wie meinst du das?“, hakte Bodo nach und band sich seine schulterlangen Dreadlocks zu einem neuen Zopf am Hinterkopf zusammen.
„In dem Kostüm steckte gar nicht Jesse, sondern Aaron.“ In groben Zügen berichtete Lunis Bodo, was am gestrigen Tag passiert war, das mit der Snoopyhose ließ er allerdings weg. Nachdem er endete, sah ihn Bodo zunächst wieder nur stumm an.
„Und jetzt willst du rauskriegen, was Aaron Jesse gesteckt hat?“, mutmaßte Bodo. Lunis nickte.
„Na was allzu schlimmes kann es ja nicht gewesen sein, wenn er dich plötzlich mit Wasser und Kopfschmerztabletten versorgen will und vor deiner Tür steht. Zudem hat's bestimmt auch einige Mühe gemacht, erst meine Telefonnummer rauszubekommen, um dann deine zu erfahren.“
Lunis vergaß, sich den Hals auf der Suche nach Aaron zu verrenken. Bodo hatte recht, er gab es ungern zu, aber er hatte recht. Aber bedeutete das wirklich irgendwas? Und wenn ja, hatte er es gestern sicherlich mit seiner abweisenden Art erstickt. Vielleicht brachte ihn ja das Gespräch mit Aaron auf die eine oder andere Weise weiter.
*
Den ganzen Vor- und Nachmittag hielt Lunis Ausschau nach Aaron, entdeckte ihn jedoch nicht. Was seine Nervosität ins Unermessliche klettern ließ und bei seinen sowieso bereits angespannten Nerven nicht gerade hilfreich war.
Gedanklich ging er seinen Text immer wieder durch. Und vergaß oder verwarf schließlich wieder das Meiste, was ihn noch hibbeliger machte.
Aber er musste mit ihm reden – unbedingt! Musste einfach wissen, was Aaron Jesse alles erzählt hatte und warum dieser ihn plötzlich überhaupt wahrnahm und noch dazu freundlich zu ihm war.
Doch erst als es bereits Zeit für seine letzte Vorlesung war, erspähte Lunis ihn in der Menge. Tief atmete er noch einmal durch und bahnte sich entschlossen einen Weg. Ehe der Angsthase in ihm doch wieder Oberhand gewann und er die Flucht antrat.
„Wir müssen mal kurz reden“, murmelte Lunis und wagte es kaum sein Gegenüber anzusehen.
„Okay.“ Aaron wirkte zwar nicht erfreut, aber keineswegs verblüfft. Wahrscheinlich hatte Jesse ihn vorgewarnt. Natürlich hatte Jesse ihn vorgewarnt! Dies bestätigten ihm auch Aarons erste Worte, als sie in einer etwas ruhigeren Ecke stoppten. „Bevor du was sagst, ja ich hätte das sofort klarstellen müssen. Entschuldige, dass ich es nicht gemacht hab.“
Das nahm Lunis ein bisschen den Wind aus den Segeln und brachte ihn noch mehr durcheinander. Die eh wage zurechtgelegten Worte verabschiedeten sich ins Nirvana.
Einige Sekunden starrte Lunis ihn an. Nahm zum ersten Mal Aarons Augenfarbe wahr – blau, nicht so faszinierend wie Jesses, aber dennoch schön. Und den kleinen Leberfleck über seiner Oberlippe.
Kurz war er verwirrt, warum starrte er Aaron plötzlich so an? Vielleicht weil er trotz allem auf der Party nett gewesen war und ihn, soweit er sich erinnerte, daran gehindert hatte, noch mehr zu trinken? Zudem musste er es auch gewesen sein, der ihn in ein Taxi verfrachtet hatte.
Das musste es sein! Genau, ganz einfach. Nicht dieser irgendwie sexy Leberfleck und diese rosigen Lippen...
„Warum hast du's nicht getan?“, fragte Lunis nach einem Räuspern. Er sah weg, den Flur entlang, was sich sofort als Fehler erwies. Sein Herz geriet ins Stolpern, Jesse blickte zu ihnen herüber.
„Ich hab keine Ahnung“, lenkte Aaron seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Verlegen kratzte sich dieser am Hinterkopf. „Irgendwie hab ich wohl den Moment verpasst und später war's mir zu peinlich“, erklärte Aaron.
Logisch, einerseits, doch irgendetwas störte Lunis an dieser Erklärung, nur konnte er nicht sagen, was es war. Irgendetwas schien nicht zu passen, stimmte nicht.
Wieder schaute er schnell zu Jesse, diesmal folgte Aaron seinem Blick. Ertappt blickte Jesse in eine andere Richtung.
„Okay, ich bin ehrlich. Nachdem du seinen Namen erwähnt hast, war ich neugierig und dachte, ich nutz die Chance“, gestand Aaron.
„Hä?“
„Na ja, um Jesse zu helfen.“
„Helfen?“
„Ja, er mag dich schon länger, aber er hat sich nie getraut, was zu unternehmen.“
Ein Lachen stieg in Lunis auf, ein höchstwahrscheinlich irres Lachen. Unauffällig verhalten, hämmerte es in seinem Kopf.
„Klar“, stieß er daher nur spöttisch hervor. „Weil er ja so schüchtern und kontaktscheu ist.“
„Das ist er wirklich. Schüchtern mein ich“, behauptete Aaron, was Lunis ein Schnauben entlockte.
„Natürlich, sieht man an der Sache mit Miguel. Schüchterne Typen verhalten sich oft so.“ Sobald die Worte seinen Mund verließen bereute er sie. Verriet damit zu viel. Doch dann wurde ihm klar, das sein Seelenstrip ja bereits hinter ihm lag.
Aaron musterte ihn nun eingehend. Lunis fühlte sich unwohl unter diesem viel zu forschendem Blick und er konnte sich gerade noch so beherrschen, nicht an seinen Fingernägeln zu knibbeln.
„Das kann man nicht miteinander vergleichen.“ Stimmt, ich bin kein heißer Portugiese, dachte Lunis. „Dich mag er nämlich wirklich. Bei Miguel war ihm von Anfang an klar, dass daraus nicht mehr wird.“
Sprachlos starrte Lunis ihn an. Das konnte nicht sein. Das wäre...
Erneut räusperte er sich.
„Na auch egal“, murmelte Lunis. „Selbst wenn dürfte sein Interesse jetzt Schnee von gestern sein, nachdem er mich jetzt etwas besser kennt. Ich hab mich komplett zum Affen gemacht!“
„Im Grunde habe ich das ja wohl“, meinte Aaron, und blickte ihn dabei so todernst an, dass Lunis sich schwer ein Grinsen verkneifen konnte.
„Und es stimmt nicht, er würde dich immer noch gerne näher kennenlernen.“
Warum?, wollte Lunis fragen, verkniff sich die Frage jedoch. Eigentlich sollte er sich doch jetzt freuen, oder? Jesse war tatsächlich an ihm interessiert!
Warum war er es dann nicht? Warum fühlte sich hier und jetzt irgendetwas ganz falsch an?
„Dann hast du ihm wohl nicht alles erzählt was ich so von mir gegeben hab, hm?“, wollte Lunis wissen. Einen Moment wirkte Aaron verwirrt, zuckte dann aber mit den Schultern.
„Ich habe ihm nur gesagt, dass er sich einen Ruck geben soll, um dich anzusprechen“, erwiderte Aaron schließlich. „Aber du, ich muss jetzt weiter. Mach dir nicht so 'nen Kopf. Meine Lippen sind versiegelt. Alles cool und ist doch egal, wie ihr euch endlich kennengelernt habt.“ Aufmunternd schlug Aaron ihm auf die Schulter, ehe er sich mit einem Lächeln umdrehte und den Gang hinunterlief.
Keinen Kopf machen...
Alles cool...
Na der hatte gut reden!
Aber eine nette Rückansicht hatte er, wie Lunis anerkennend feststellen musste. Zudem klang er beinahe wie Bodo. Hatten die beiden vielleicht recht? War es wirklich egal, aus welchen Gründen er Jesse nun näher kam?
Sein Verstand sagte Ja, sein Gefühl brüllte Nein. Denn wie war das noch mit dem ersten Eindruck? Und der war zumindest komplett in die Hose gegangen. Wie sollte er das bitte je wieder ausbügeln?
Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe, ließ all diese neuen Informationen sacken.
Moment! Bedeutete das etwa, Jesse hatte tatsächlich wegen ihm mit Miguel Schluss gemacht?
„Das kann man nicht miteinander vergleichen“, hallten ihm Aarons Worte durch den Kopf.
Nicht vergleichen...
„Dich mag er nämlich wirklich. Bei Miguel war ihm von Anfang an klar, dass daraus nicht mehr wird.“
Nicht mehr wird...
Was zum Kuckuck sollte das denn heißen? Und sollte ihn das beruhigen?
Dass es mit Miguel nur heißer Sex und animalische Anziehung gewesen war?
Und mit ihm wollte Jesse was? Kuscheln?
Na Super!
Genau das, was man(n) sich wünschte...
„Ey, aber das ist doch der Hammer, wenn der Kerl jetzt tatsächlich an dir interessiert ist. Das war es doch, was du dir so gewünscht hast!“ Bodos Gesicht strahlte regelrecht. In ihm sah Lunis die Begeisterung, die er eigentlich selbst hätte verspüren müssen.
„Ja schon.“ Er merkte selbst, wie lahm seine Antwort klang. Dementsprechend überrascht sah Bodo ihn nun an. Einige Dreads hatten sich aus seinem Zopf gelöst, umrahmten sein Gesicht. Seine gepiercte rechte Augenbraue war skeptisch erhoben.
„Warum machst du dann ein Gesicht wie sieben Wochen Dauerregen?“
„Ich … ich weiß auch nicht. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich werd einfach dieses komische Gefühl nicht los, dass mir irgendwas entgeht.“
Bodo musterte ihn weiterhin, mit gerunzelter Stirn, während er mit seiner Gabel Muster in seinen Tiefkühlspinat malte.
„Ich könnte mir echt in den Arsch beißen, dass ich nicht auch auf dieser Party war!“, knurrte er schließlich. Obwohl es Blödsinn war, ärgerte Lunis die Besorgnis seines Kumpels. Etwas zu heftig spießte er eines seiner Fischstäbchen auf.
„Klar, der kleine Lunis kann eben nicht auf sich alleine aufpassen“, erwiderte er patzig.
„Willst du Streit?“
„Nein“, seufzte Lunis, ließ die Gabel fallen und rieb sich über die Stirn. „Sorry, diese ganze Sache geht mir an die Nieren.“
Bodo nickte verständnisvoll und schob sich einen Berg Kartoffelpüree in den Mund.
„Und du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe. Und ich weiß, dass du erst gar nichts getrunken hättest, wenn du gewusst hättest, dass ich nicht komme“, nuschelte er zwischen einem weiteren Happen und einem Schluck von seinem Apfelsaft.
Stimmt, dachte Lunis. Normalerweise hätte er keinen Alkohol angerührt, denn so ehrlich war er zu sich, um einzugestehen, dass er diesen nicht sonderlich gut vertrug. Eigentlich überhaupt nicht.
In diesem Punkt stimmte es also tatsächlich; Lunis konnte nicht auf sich selbst aufpassen. Zumindest nicht, wenn er etwas intus hatte. Aber das musste er sonst ja auch nicht, dafür hatte er schließlich Bodo.
Wenn man sie beide kennenlernte, was eigentlich zwangsläufig passierte, da sie ständig zusammen gluckten – nur aufs Klo gehen sie getrennt, pflegte Lunis Vater zu sagen, was nicht einmal stimmte – wunderten sich die meisten Leute. Was Lunis verstand, auf den ersten Blick, vielleicht auch auf den zweiten oder dritten, hatten sie nichts gemein.
Eventuell war genau das einer der Gründe, warum sie Freunde waren, warum Lunis schon damals als Knirps Bodos Freund hatte sein wollen. Denn schon damals hatte Bodo bereits seinen eigenen Stil gehabt.
Bei ihrer ersten Begegnung trug Bodo knatsch orangene Latzhosen und ein grasgrünes T-Shirt. Selbst ausgesucht, wie ihm Bodos Mutter einmal erzählte, da es von diesem Tag sogar ein Beweisfoto gab.
Aber es lag nicht alleine an Bodos Äußerem. Er ließ sich nie unterkriegen, hatte stets für sich und seine Anliegen gekämpft – später auch für Lunis. Niemand legte sich mit ihm an, was nicht an seiner Körperkraft, sondern vielmehr an seiner scharfen Zunge lag. Bodo war frech, vorlaut, selbstbewusst.
Kurzum all das, was Lunis nicht war.
Lunis war schüchtern, befürchtete stets das Falsche zu sagen oder zu tun. Im Mittelpunkt zu stehen war ihm ein Graus, ob der Grund positiv oder negativ war.
Zum Glück tat er dies auch selten, auch das hatte er Bodo zu verdanken. Wenn er mit diesem unterwegs war, verschwand er neben ihm. Damit es anders wäre, war Lunis schlichtweg zu mittelmäßig.
Er fiel nicht auf, war einer von vielen.
Warum sollte es dann stimmen und es ausgerechnet bei Jesse anders sein? Warum sollte gerade Jesse ihn interessant finden?
Da waren sie wieder, die blöden Fragen, die seit seinem gestrigen Gespräch mit Aaron unentwegt in seinem Kopf kreisten.
Und selbst wenn es stimmte, besaß Lunis den Mut es zu wagen, sich darauf einzulassen?
Rein optisch passte zumindest Miguel besser zu Jesse – der halbe Campus passte besser zu Jesse als ausgerechnet er!
Sein zögern schrieb Lunis auch diese Unsicherheit zu. Sie hielt die Freude in Schach, erstickte sie geradezu.
Er himmelte Jesse bereits so lange an. Träumte von ihm, aber wollte er tatsächlich, dass dieser Traum Wirklichkeit wurde?
Konnte er sich in Jesses Gegenwart jemals wohlfühlen, sich entspannen?
Bis jetzt jedenfalls nicht, dachte Lunis resigniert.
Da war sie, seine Chance und er ließ sie verstreichen, wie damals bei dem Angebot mit dem Austauschjahr in Norwegen. Noch heute biss er sich deswegen manchmal in den Hintern. Damals hatte er es sausen lassen, aus Angst.
Andererseits, bei dem Gorilla hatte er sich beispielsweise gut gefühlt. Auch wenn man da bedenken musste, dass er besoffen gewesen war und gedacht hatte, er habe Bodo vor sich.
Aber wenn er die Person dahinter unsympathisch gefunden hätte, wäre ihm das Ganze doch sicherlich aufgefallen, oder?
Automatisch dachte er an Aaron. An seine Augen, dieses Muttermahl. Und nicht zu vergessen seinen Knackarsch, wisperte ein Stimmchen in seinem Hinterkopf. Richtig, sein Hintern war auch nicht von schlechten Eltern.
Und auch Aaron hatte auf der Party, wie Bodo es sonst tat, auf ihn aufgepasst.
Das seltsame Gefühl, das ihn immer wieder befiel, wenn er an die Party dachte, verdrängte er. Das kam sicher nur von seinem weiterhin anhaltendem Filmriss.
Insgeheim hoffte Lunis, dass er sich irgendwann wieder ganz an den Abend erinnern konnte, befürchtete allerdings, diese Stunden wären auf ewig verloren. Was beängstigend war.
Ich trinke nie wieder so ein Zeug, wo ich nicht weiß, was drin ist, schwor er sich.
„Ich versteh es nur nicht“, nahm Lunis den Faden wieder auf. Ohne wirklich darauf zu achten, hob er sich eine Gabel Kartoffelpüree-Spinatgemisch in den Mund und verzog das Gesicht. Das Zeug hatte warm schon grenzwertig geschmeckt, jetzt war es eiskalt und ungenießbar. Angewidert schob er den Teller von sich.
„Ich versteh nicht, was er an mir finden sollte.“ Noch ehe Bodo etwas erwidern konnte, hob Lunis die Hand und bedeutete ihm die Klappe zu halten. Die Arie Egoaufbau kannte er zu genüge. „Komm mir nicht mit dem Schwachsinn, weil ich so ein toller Kerl bin. Laura Harmeier ist bestimmt auch 'ne klasse Frau, hast du sie je eines Blickes gewürdigt?“
„Laura wer?“, fragte Bodo auch prompt.
„Siehst du! Sie saß drei Jahre in Mathe hinter dir.“
„Ich kann mir Namen eben schlecht merken“, nuschelte Bodo. Lunis schnaubte.
„Wohl eher Frauen ohne mindestens einem C-Körbchen und engen Klamotten.“
„Also das stimmt ja wohl nicht!“, empörte sich Bodo. Als Antwort hob Lunis die Brauen. „Okay, okay, vielleicht hab ich einen gewissen Typ, aber das haben doch so gut wie alle.“
„Ach, und du meinst, Jesse ist da flexibel? Er mag also Sahneschnitten und Knäckebrot?“ Was er selbst bei diesem Vergleich war, stand für Lunis zweifelsohne fest – Knäckebrot. Altes Knäckebrot und zu allem Überfluss kein bisschen knackig.
Jeder Versuch seinen Körper in Form zu bringen und daran etwas zu ändern, sich ein paar Muskeln anzutrainieren, waren gescheitert.
Egal, wie viele Gewichte er stemmte oder andere Sportarten probierte. Es tat sich nichts.
Trotz seiner fast zwanzig Lenze war er immer noch schlacksig wie ein Schuljunge nach einem Wachstumsschub in der Pubertät. Und wie die Sache aussah, würde sich daran wohl auch nichts mehr ändern. Zwar war sein Bauch flach, was zumindest auch was war, aber Muskeln waren nicht in Sicht. Ebenso wie an Brust oder den Oberarmen. Von seinem Hintern ganz zu schweigen. Nein, er hatte definitiv keinen Knackarsch.
„Ich mag's nicht, wenn du dich so kleinmachst“, murrte Bodo und sah ihn böse an. Seine Augen hatten heute die Farbe von Veilchen. Von allen Kontaktlinsen in Bodos Sortiment waren diese ihm am liebsten. „Und du weißt ja gar nicht, was Jesse mag. Vielleicht liebt er Knäckebrot. Von zu viel Torte verdirbt man sich eh den Magen und fängt an zu göbeln.“
Obwohl ihm nicht danach war, musste Lunis nun doch grinsen.
„Und weißt du, Sahneschnitten sind zwar lecker, aber machen nicht unbedingt lange satt. Genauso wenig, wie man es lange mit Puderzucker bestäubten Windbeuteln aushält. Die sind zwar nett anzusehen, innen drin aber hohl“, palaverte Bodo weiter.
„Amen“, sagte Lunis und grinste breiter, doch Bodo blieb ernst.
„Ich mein das auch wirklich so und sprech' da aus Erfahrung. Vielleicht hast du recht und ich hätte damals mal lieber mit Luisa ausgehen sollen statt mit Franziska.“ Bodo verzog das Gesicht.
„Laura“, korrigierte Lunis ihn.
„Wie auch immer“, winkte Bodo ab und kratzte den Rest seines Kartoffelpürees mit der Gabel vom Teller. „Richtig schlimm wird's aber erst, wenn's scheiße aussieht und scheiße schmeckt, wie das Zeug hier zum Beispiel. Und das ist bei dir ja nicht der Fall.“
„Wie nett, ich seh' also nur Scheiße aus, ja?“, fragte Lunis zuckersüß. „Vorsicht Kumpel ich bin noch bewaffnet.“ Demonstrativ belud Lunis seine Gabel mit Püree.
„Nein, nur dass du mal wieder zum Friseur könntest“, lächelte Bodo in gleicher Manier. „Na ja und ein bissel mehr Schlaf täte wohl auch ganz gut. Schatz, du hast echt fiese Augenringe.“ Sobald er das sagte, sprang Bodo lachend auf und eilte mit seinem Tablett außer Reichweite.
„Und so was muss ich mir von 'ner Möchtegernmedusa anhören“, knurrte Lunis und folgte Bodo zur Tablettabgabe. Bei Bodo angekommen zwitscherte er dann jedoch: „Dann musst du mir unbedingt deinen Abdeckstift ausleihen.“
„Aber gerne doch! Musst doch nur was sagen, mit dir teil ich doch alles! Ich hätte dir sofort mein Schminktäschchen überlassen.“ Bodo legte einen Arm um Lunis und zog ihn an sich. Ein Typ, der gerade an ihnen vorbei ging, musterte sie irritiert.
Gleichzeitig brachen sie in Gelächter aus. Man tat das gut. Einfach mit Bodo rumalbern, diesen ganzen Mist vergessen. Wie befreiend.
Doch als Lunis sich umdrehte, verging das Gefühl ebenso schnell, wie es gekommen war. An einem der Tische nahe dem Eingang saß Jesse und beobachtete sie. Er trug heute einen dunkelblauen Hoodie und eine gleichfarbige Strickmütze, die nur seinen Pony freigab. Unwillkürlich kribbelte es in Lunis Magen.
Einen Moment wirkte es so, als wolle Jesse grüßen, doch da ließ sich plötzlich Miguel auf den leeren Stuhl neben Jesse nieder.
Lunis sah noch Jesses erstauntes Gesicht, ehe er selbst schnell wegschaute. Hatten die jetzt doch wieder was miteinander? Eine Faust schien seinen Magen zu quetschen. Ihm wurde leicht übel.
Kommt sicher von den fettigen Fischstäbchen, sagte er sich. Nein, er war bestimmt nicht eifersüchtig, das wäre lächerlich. Nur weil Aaron behauptete, Jesse würde ihn mögen, bedeutete das noch gar nichts. Der konnte ihm viel erzählen. Und auch, dass Jesse plötzlich nett zu ihm war, konnte viele Gründe haben. Mitleid zum Beispiel.
Jetzt wurde Lunis wirklich schlecht.
Und vielleicht hatte Jesse gerade auch gar nicht sie, sondern jemanden in der Schlange neben ihnen angesehen. Warum nahm er alles was Jesse gerade tat oder nicht tat so persönlich? Das war doch idiotisch.
Mach dich nicht verrückt, ermahnte Lunis sich. Und falls du ihn noch einmal triffst, verhalt dich normal und warte ab, was dann passiert.
Die Theorie klang zumindest gut, nur bezweifelte er insgeheim, dass sich diese auch wirklich in die Praxis umsetzen ließ.
Eventuell stellte sich hinterher sogar heraus, dass Jesse ein Windbeutel war. Mehr als ein paar gestammelte Worte hatte er mit diesem schließlich noch nie gewechselt. Unwillkürlich fragte sich Lunis, was dann Aaron war ...
*
„Ey Lunis.“
Beim Klang von Aarons Stimme hinter ihm blieb Lunis automatisch stehen und blickte sich um. Winkend kam Aaron auf ihn zu, wieder dieses verschmitzte Grinsen um die Lippen.
„Was gibt’s?“
„Was hast du am Wochenende vor?“
Verdattert blickt Lunis ihn an. „Lernen, wieso?“
„Aber es steht ja noch nix Wichtiges an, oder? Könntest auch 'ne Pause machen.“
Könnte er, aber warum?
„Theoretisch...“
„Gut.“ Aarons Grinsen wurde breiter. „Hättest du vielleicht bock, mit uns um die Häuser zu ziehen?“
Uns? Seine Frage schien ihm auf die Stirn gemeißelt zu sein, denn Aaron erklärte schnell: „Mit Jesse und mir. Dein Kumpel kann ja auch mitkommen. Dann lern ich den auch mal kennen und kann checken, ob er vielleicht mein verlorener Zwilling ist, wenn man mich schon mit ihm verwechselt.“
Selbst dieser kleine, nicht bös gemeinte Seitenhieb, konnte Lunis gerade nicht aus seiner Starre erwachen lassen in die Aarons vorherigen Worte ihn versetzt hatten.
Mit Jesse um die Häuser ziehen ...
„Also?“ Erwartungsvoll sah Aaron ihn an.
„Klingt klasse“, brachte Lunis hervor und stöhnte insgeheim auf.
„Cool, dann lass uns später noch mal telefonieren, dann klären wir, wann und wo wir uns treffen.“ Mit einem letzten Grinsen drehte Aaron sich um und steuerte das Universitätsgebäude an.
Lunis starrte ihm hinterher. In ihm kämpfte eine ganze Kolonne von Gefühlen. Er freute sich, keine Frage, er war verwirrt, wie es plötzlich zu so einem Angebot kam, er war aufgeregt und nervös, aber da war zu seiner Verwunderung auch noch etwas anderes.
Eine Verwirrung, weil sein Herz einen kleinen Satz bei Aarons Frage gemacht hatte, ob er Zeit habe, gekoppelt an einer leisen Enttäuschung über seine nächsten Worte, sich nicht mit ihm, sondern uns zu treffen. Aber das war doch Blödsinn. Warum sollte es ihn plötzlich enttäuschen, einen Abend mit Jesse zu verbringen? Das war der Himmel! Zumal es doch an ein Wunder grenzte, dass dieser überhaupt noch was mit ihm zu tun haben wollte. Mit ihm und nicht mit Miguel.
Vielleicht war es das. Vielleicht war es einfach nur, weil ihm die Geschehnisse auf Helges Party immer noch unangenehm waren. Was Aaron von ihm dachte, konnte Lunis schließlich egal sein, aber Jesse ...
Lunis schüttelte des Kopf, hoffte so diese Gefühle abzustreifen und gab sich einen Ruck. Bodo anrufen war jetzt wichtig. Denn wenn die beiden zu zweit erschienen, würde er das auch, kindisch hin oder her.
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2012
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