Anmerkung: Ich bin gesundheitlich gerade leider ausgeknockt. Updates kommen sobald es mir möglich ist!
Kapitel 1
„Ich hab dir gleich gesagt, so spät bekommt man nur noch Müll“, maulte Lunis und besah sich lustlos die maue Auswahl auf den Ständern des Kostümverleihs.
„Ach komm, gibt doch noch genug“, widersprach Bodo und hielt sich ein Cowboykostüm an.
„Du weißt aber schon, dass wir auf eine Halloweenparty gehen und nicht zum Fasching?“, erkundigte sich Lunis skeptisch.
„Jetzt sei mal etwas kreativ. Daraus, zum Beispiel, könnte man doch was machen. Ein bisschen Kunstblut und voilà ist es ein Zombiecowboy“, grinste Bodo, sichtlich begeistert von seiner Idee. Seine heute zur Abwechslung einmal braunen Augen blitzten.
Bodo besaß nämlich die nervige Angewohnheit, so oft, wie andere Leute ihre Unterhosen wechselten, dies mit seine farbigen Kontaktlinsen zu tun, von denen er eine schier unerschöpfliche Auswahl sein eigen nannte.
Manchmal musste Lunis sogar überlegen, wie noch mal Bodos natürliche Augenfarbe aussah. Es war ein recht schönes dunkles grün, nur leider bekam Lunis dieses eben nur selten zu Gesicht.
„Würde dir bestimmt toll stehen.“
„Mir?“, stieß Lunis entsetzt aus.
„Na ja.“ Bodo zuckte mit den Schultern und hielt ihm das Kostüm hin, doch Lunis schüttelte vehement den Kopf.
„Nein, da plündre ich lieber eine Apotheke, wickle mich mit Mullbinden ein und geh als Mumie.“
„Musst du wissen“, erwiderte Bodo und hängte die Kombination wieder zurück. „Ich geh mal da drüben gucken.“ Zielstrebig steuerte sein Freund den hinteren Teil des Ladens an, um den Lunis bis jetzt erfolgreich einen Bogen gemacht hatte.
Schon als Kind war ihm dieser Bereich nicht geheuer gewesen. Das Licht dort war trüber, die Kleiderstangen ließen nur enge Gänge frei und dort gab es auch die Ganzkörperkostüme. Einige davon standen sogar auf Podesten und wurden je nach Thema farblich angestrahlt.
Irgendwie erinnerte Lunis das Ganze an eine Geisterbahn, in die er sich schon als Kind nicht hineingetraut hatte. Und manches änderte sich eben nie.
Zumal er Bodo bei so etwas nicht traute. Sein Kumpel war bisweilen ein richtiger Spaßvogel und Lunis das Opfer seines zweifelhaften Humors. Bodo fand es total witzig ihn zu Tode zu erschrecken und hier hätte er ausreichend Gelegenheit dazu. Indem er zum Beispiel plötzlich durch eine Kostümreihe brach. Gerne auch mit Horrormaske. Ihm wurde alleine bei dem Gedanken ganz anders.
Ja, gut, Lunis gab es zu; er war ein Angsthase, liebte aber paradoxerweise Halloween und freute sich daher auf die bevorstehende Party am Abend.
Helge, ein Kommilitone schmiss sie, wie auch die letzten drei Jahre zuvor. Weshalb sich Lunis selbst verfluchte erst heute hergekommen zu sein. Diese Einladung war schließlich nicht vom Himmel gefallen.
Doch irgendwie war die Zeit verflogen. Andere Verpflichtungen stets wichtiger gewesen: Uni, Nebenjob und die eine oder andere Zockerrunde mit Bodo. Da konnte man schon mal was vergessen.
Heute bekam er dafür die Quittung. Lunis hatte keinen Schimmer, als was er gehen sollte. Jetzt aufzugeben, kam allerdings nicht infrage.
Denn Bodo überhaupt davon zu überzeugen mitzukommen hatte einiges an Überredungskunst gebraucht. Sein Kumpel fühlte sich nämlich mit einem Mal zu alt für Halloween.
Für Lunis etwas, das sich genauso widersprach, wie an diesem Tag zuhause vor dem Fernseher zu hocken und sich drittklassige Horrorfilme anzugucken, wie Bodos eigentlicher Plan gewesen war.
Nein, sie würden dort heute Abend auflaufen, miese Auswahl hin oder her.
Nachdenklich durchforstete er eine Kleiderstange nach der nächsten. Zombie Doc oder Superheld? Nein. Geist oder Pfarrer? Noch mal nein.
Mann, war das schwer. Dabei sollte das Kostüm zumindest ein bisschen was hermachen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Jesse ebenfalls kam.
Jesse – sein absoluter Traummann. Zumindest was die Optik betraf, denn näher kennengelernt hatten sie sich noch nicht. Gut eins neunzig groß, braune glatte Haare, die stets sein markantes Gesicht fransig umspielten und diese gletscherblauen Augen, die beinahe schon unecht wirkten. Fast wie Eisbonbons.
Beim ersten Mal, als Lunis nahe genug bei Jesse gestanden hatte, um diese Farbe zu erkennen, hatte er gedacht, auch Jesse sei ein Fan von farbigen Kontaktlinsen. Doch das war nicht der Fall – sie war ein Geschenk von Mutternatur und Lunis hätte ihr alleine dafür ein Opfer darbringen wollen.
Alleine beim bloßen Gedanken an Jesse, begann Lunis zu sabbern und verabschiedete sich ins Reich der schmutzigen Tagträume. Was jetzt ein schlechter Zeitpunkt war, er hatte schließlich noch eine Aufgabe zu erfüllen.
Insgeheim war Jesse auch der Hauptgrund, warum Lunis sich diese Party auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Allerdings hatte er auch keine große Lust, wie der letzte Loser aufzutauchen. Etwas Kreatives sollte es schon sein.
Als ob das etwas änderte, dachte er über sich selbst den Kopf schüttelnd.
Seit nunmehr einem halben Jahr schmachtete er Jesse auf dem Campus hinterher, versank regelmäßig in besagten Tagträumen, wenn sie gemeinsam eine Vorlesung besuchten und er Jesse, statt Professor Turman seine Aufmerksamkeit schenkte. Was einfach zwangsläufig passierte, denn der Mann war ein verdammter Magnet.
Doch mehr war es bis jetzt nicht. Würde es wohl auch nie sein, denn Lunis würde sich im Leben nicht trauen Jesse anzusprechen und etwas an ihrem Bekanntschaftsgrad zu ändern. Dass der umgekehrte Fall geschah, war ebenfalls ausgeschlossen. Jesse wusste ja nicht einmal, dass Lunis existierte!
„Ich hab's!“ Mit diesem triumphierendem Ausruf holte Bodo ihn in die Realität zurück und präsentierte stolz ein Gorillakostüm. Stöhnend verdrehte Lunis die Augen.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“
Aber natürlich war es das. Gruselig genug sah das Ding zumindest aus. Und wie er Bodo kannte, würde der vielleicht tatsächlich noch das Kunstblut zücken. Lunis schüttelte es jetzt schon.
Das Glöckchen am Eingang klingelte als neue Kunden eintraten, Lunis schenkte diesen keine Beachtung, die galt im Moment eher einem Dracula-Outfit. Aber nein, das war zu angelutscht.
Ein recht schmerzhafter Stoß in seine Rippen ließ ihn empört aufblicken.
„Sach ma-“
„Is' dass da nicht, na du weißt schon?“, murmelte Bodo verschwörerisch und wies mit einem Kopfnicken nach rechts. Verwundert folgte Lunis dem Wink und erstarrte.
Jesse, keine drei Meter von ihm entfernt.
Lunis wurde heiß, kribbelig und furchtbar nervös. Er würde also tatsächlich auch zur Party kommen. Warum sollte er sich sonst hierher verirren? Allerdings bestand auch noch die Möglichkeit, dass er zu einer anderen Veranstaltung wollte.
Nein, bestimmt war er wegen Helges Party hier. Immerhin hatte Lunis gesehen wie Helge am selben Tag als er ihn einlud auch mit Jesse sprach. Außerdem war alleine die Vorstellung Jesse einen ganzen Abend lang im Schutze eines Kostüms anzuschmachten einfach viel zu verlockend.
Beinahe hätte Lunis an seinem Daumennagel geknabbert, aber nein, das hatte er sich abgewöhnt und seine Nägel gerade wieder eine akzeptable Länge erreicht.
Was besah Jesse sich denn da? Lunis kniff die Augen leicht zusammen. War das der Horror-Henker?
Doch bevor es zu auffällig wurde, blickte Lunis wieder auf seine eigene Kostümauswahl. Bloß nicht starren, bloß nicht starren, sondern cool bleiben.
Wobei, ein kleiner, klitzekleiner Blick konnte nicht schaden, oder? Nur ganz kurz.
Lunis schielte zu Jesse und hätte beinahe geseufzt. Scheiße, sah der in dem schwarzen Wollmantel gut aus. Nur verdeckte das Kleidungsstück eine andere, herrliche Körperstelle – Jesses Hintern. Was andererseits vielleicht gar nicht so schlecht war, sonst hätte sich Lunis eventuell gar nicht mehr von seinem Anblick loseisen können. Was er nun tat, widerwillig, aber er tat es.
Kostüm finden lautete die Devise, nicht sabbern.
Nur starrte Bodo weiterhin zu Jesse und seinem Begleiter hinüber. Aaron, wenn Lunis sich nicht irrte. Beinahe so groß wie Jesse, allerdings schlaksiger, mit blonder Tolle und einer Nerd Brille auf der sommersprossigen Nase.
Der grüßte Lunis auch manchmal, warum hatte sich ihm bislang noch nicht erschlossen.
Nun stieß Lunis Bodo in die Rippen. „Starr nicht so da hin“, zischte er und tat so als interessiere ihn das Skelettkostüm brennend. Bevor er sich allerdings da hineinzwängte, würde er sich lieber die Kugel geben. Man sollte besser seine Vorteile betonen, nicht mit dem Neonschild auf seine Defizite hinweisen.
Und dieser Strampler würde sicherlich vortrefflich seine Storchenbeine und Hühnerbrust zur Geltung bringen.
„Mach ich doch gar nicht“, verteidigte sich Bodo, dabei klang er jedoch ein bisschen kleinlaut.
„Machst du wohl!“
Just in diesem Moment entdeckte Aaron sie und hob grüßend die Hand. Ertappt zuckten sowohl Lunis wie auch Bodo zusammen und winkten synchron zurück. Innerlich stöhnte Lunis auf. Ging es peinlicher?
„Sag mal, wer issen das?“, wollte Bodo flüsternd wissen.
„Aaron.“
„Und woher kennste den?“
„Ich kenn den gar nicht.“
„Und warum grüßt der dich dann?“
„Keine Ahnung.“ Überfragt zuckte Lunis die Schultern. Schließlich hatte er sich dies selbst schon das eine oder andere Mal gefragt. Vielleicht gehörte Aaron zu den Typen, die einfach jeden grüßten, mit denen sie auch nur entfernt etwas zu tun hatten. Wie zum Beispiel mit zweihundert anderen in einem Hörsaal zu hocken.
„Hm, seltsam“, kommentierte Bodo und schob sich eine seiner schulterlangen Dreadlocks hinter ein Ohr. Diese Strähne war jedoch etwas kürzer und sprang sofort wieder dahinter hervor.
So hätte Lunis Aarons Verhalten zwar nicht tituliert aber eigentlich … war es schon etwas seltsam.
Noch einmal schielte Lunis in die Richtung der beiden Männer. Dieses Mal beäugte er allerdings Aaron etwas genauer und senkte ertappt den Blick, denn auch der schaute zu ihm herüber.
Lunis spürte förmlich, wie ihm das Blut in die Ohren schoss. Raus hier, und zwar hurtig, ehe es noch peinlicher wurde. Zumindest Jesse schien ihn nämlich bis jetzt noch nicht bemerkt zu haben.
Ich bin Luft für ihn, wie immer.
„Du nimmst also das da?“ Lunis wies auf das Gorillakostüm. „Gut, dann nehm' ich ...“, oberflächlich überflog er die Reihe und Preisschilder und griff zu, „das hier. Los, lass uns abhauen. Is' eh schon spät.“
Zu Hause würde er sich seinen Fang genauer besehen, solange es seine Größe war, würde es schon gehen. Auf den ersten Blick sah das Ding zumindest nicht hauteng aus, das war im Moment alles, was er wissen musste.
Penibel darauf bedacht, weder Aaron noch Jesse abermals anzusehen, bugsierte er den verdatterten Bodo zur Kasse. Schließlich mussten sie sich tatsächlich beeilen, wie ein Blick auf die Uhr zeigte.
Vor allem, wenn er aus diesem was-auch-immer noch etwas Anständiges machen wollte. Er selbst war immerhin kreativ begabt, das hatte ihm zumindest immer wieder seine Mutter beteuert, wenn er ihr eine schiefe Vase aus dem Töpferunterricht in der Schule mit nach Hause gebracht hatte. Und etwas Anständiges würde er wahrscheinlich eh nicht finden.
Mist nur, dass er so nicht mehr mitbekam, für welches Kostüm sich Jesse entschied.
Drei Stunden, einen angeklebten Schnurr - plus Kinnbart, sowie einem Dreispitz mit angenähter brauner Langhaarperücke, einem braunen Gehrock mit farblich dazupassender Hose, Stiefeln und allerlei Tüchern und Gürteln später, lümmelte sich Lunis auf Helges Sofa und bedauerte, Bodo zu diesem Schwachsinn überredet zu haben.
Wahrscheinlich hatte dieser recht und für manche Sachen, die früher stets so toll gewesen waren, waren die Zeiten einfach vorbei. Man selbst zu alt, oder die Erinnerungen schlichtweg verklärt.
Zu diesen Dingen gehörten für ihn ab heute definitiv Helges Halloweenpartys.
Die meisten Gäste hatten einfach ihre Karnevalskostüme ausgemottet. Ihm war vorhin sogar eine Elfe in einem barbierosa gehüllten Taftstück begegnet. Von ihrem Körper sah er eindeutig zu viel, von Kleidung zu wenig.
Was ihm einmal mehr zeigte, dass man manche Dinge gar nicht wissen wollte. Die Anatomie dieser Frau war eins davon, ebenso wie der Anblick ihres pinken Tangas.
Gott, von diesem ganzen rosa-pink bekam er Augenflirren. Der hätte ein bisschen Kunstblut hier und da sicherlich nicht geschadet.
Bei ihm selbst war es zu guter Letzt, wie Lunis es bereits befürchtet hatte, ebenfalls nichts super Originelles oder Tolles geworden, sondern Massenware aus Fernost. Eine Mischung aus Jack Sparrow, Kapitän Hook und einem Mitglied der Kelly Familie zu ihren Glanzzeiten. Ständig hatte er diese blöden Zotteln seiner Perrücke im Mund. Aber zum Glück war es nicht original Jack, sonst wäre es wirklich gruslig geworden und er hätte wie Bodo ausgesehen.
Im Nachhinein bedauerte Lunis es, den Haaren nicht genau wie dem angenährten Papagei – der ihm dann doch zu viel des Guten gewesen war – mit der Schere zu Leibe gerückt zu sein. Andererseits hatte er zumindest versucht, sein Piratenkostüm anderweitig aufzupimpen und es halloweentauglich zu machen.
Jetzt fragte er sich allerdings, warum er sich über eine Stunde vor den Spiegel gestellt hatte, um sich eine fies blutende Wunde auf die Wange zu schminken – die ihm mit Verlaub gesagt, recht gut gelungen war – wenn sich kein anderer die Mühe machte?
Ebenso einfalls- und lieblos wie die Kostüme, war auch die Deko. Bis auf einen in der typischen Manier verzierten Kürbis vor der Haustür, bestand diese lediglich aus schwarzen und orangefarbenen Luftballons. Auch das Buffet war nicht sonderlich originell. Schüsseln mit Chips in Gespensterform oder Weingummifledermaus, sowie weiße Mäuse standen auf einem Tapeziertisch.
Das Hauptaugenmerk hatte Helge eindeutig auf die Getränke gelegt. Der Tisch wurde von zwei riesigen Bowle-Schalen beherrscht. In der einen schwappte eine rote Flüssigkeit, mit der Überschrift Teufelstrunk, in der anderen eine giftgrüne, die als Hexenelixier betitelt war.
Trotz des wenig vertrauen erweckenden Namens war Lunis Erstere ungefährlicher erschienen und so hatte er sich an dieser bedient.
Missmutig nippte er nun an seinem orangenen Pappbecher und verzog das Gesicht. Das Gebräu schmeckte scheußlich und er wollte gar nicht wissen, was Helges hochgepriesene Spezialmischung beinhaltete. Eins wusste er allerdings, das Zeug hatte es in sich. Alleine die Dämpfe, die es verströmte, konnten einen ausknocken. Und bereits nach den wenigen Schlücken spürte Lunis seine Wirkung. Vielleicht sollte er sich gleich lieber ein paar Chips holen. Auf beinahe nüchternem Magen kam das Zeug sicherlich nicht gut.
Während er also auf Helges Wohnzimmersofa hockte, fehlte von Bodo noch immer jede Spur.
Sie hatten sich hier treffen wollen – vor gut einer halben Stunde. Zwar neigte Bodo in der Regel eh zur Unpünktlichkeit, doch in dem Fall vermutete Lunis schlicht, dass er sich drückte.
Sein siebter Sinn, garantiert.
Im letzten Moment war Bodo sicherlich so schlau gewesen, sich doch noch umzuentscheiden und diesem Trauerspiel fernzubleiben. Was er wohl besser auch gemacht hätte. Zu Hause würden ihn bestimmt ein paar Entschuldigungsanrufe auf dem Handy erwarten, welches er dummerweise dort vergessen hatte. So war er leider auch der Möglichkeit beraubt, Bodo auf der Stelle zur Schnecke zu machen. Wozu er gerade enorme Lust verspürte.
Ungehalten verrenkte er sich, um sich an einer Stelle seines Rückens zu jucken. Dieses elende Kostüm kratzte wie blöd! Womit hatte er das bitte verdient? Zu allem Überfluss kannte, oder vielleicht erkannte er hier auch so gut wie niemanden. Er saß also hier herum wie bestellt und nicht abgeholt. Sehr schön – wirklich, sehr, sehr schön!
Der einzige Grund hierzubleiben, war der, dass Jesse vielleicht noch auftauchte. Wobei er sich insgeheim fragte, was ihm das bringen sollte. Er würde ihn ja eh nur wieder anstarren und das könnte er genauso gut auch morgen in der Vorlesung tun. Ohne ständigem Juckreiz und der Gefahr, an seinen Haaren zu ersticken.
Eventuell kam Jesse ja auch gar nicht allein, und dann? Dann würde ein weiteres meiner Luftschlösser einstürzen, beantwortete er sich selbst die Frage. Es war vielleicht besser, wie es war und Jesse blieb sein Traummann, sein solo Traummann.
Deprimiert nahm Lunis einen erneuten Schluck aus seinem Becher – diesmal einen großen. Und da seine Kehle sich gerade eh in ein Flammenmeer verwandelt hatte, nahm er gleich noch einen. Was dazu führte, dass er Nachschub brauchte. Vielleicht probierte er jetzt einmal das Hexenelixier.
Plötzlich kribbelte Lunis Nacken, die feinen Härchen stellten sich auf. Vielleicht kam es von diesem dämlichen Kostüm, vielleicht aber auch …
Er ließ seinen Blick einmal schnell durch den Raum huschen, bis er an einem Zauberer mit Rauschebart hängenblieb, der sich in seiner Nähe herumdrückte und ihn seinerseits ansah.
Ja, diese Maskeraden hatten klar ihre Nachteile, neben problematischen Klogängen auch den, dass man manchmal keinen Schimmer hatte, wer sein Gegenüber eigentlich war. So wie jetzt.
Wer war das wohl? Dieser blöde Bart und die Kapuze verdeckten praktisch sein ganzes Gesicht.
Wer auch immer es war; er starrte ihn weiterhin ungeniert an.
Lunis wurde es unbehaglich zumute, schnell schaute er zur Seite. Hoffte, dass der Kerl den Wink verstand und bloß nicht näher kam.
Um sein Desinteresse noch deutlicher zu machen, entschied er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen und sich Nachschub zu holen.
Auf seinem Weg zum Buffet, der ihn weg von Gandalf führte, entdeckte er ein bekanntes Gesicht – Miguel, der tatsächlich den Zombiecowboy gab und nach seiner Miene zu schließen, genauso begeistert von der Party war, wie Lunis selbst.
Er kannte Miguel nur flüchtig aus der Uni, sie trafen sich manchmal in der Mensa, auf den Gängen, besuchten jedoch keine Vorlesungen zusammen. Dass er ihn dennoch kannte, war dem Zufall zu verdanken. Als Lunis sich einmal von seinen Bücher losgeeist und ausgegangen war, hatte er Miguel in seinem Lieblingsclub getroffen. In einem innigen Zungenkampf mit einem halbnackten Mann verwickelt.
An jenem Abend, vor etwa einem halben Jahr, waren sie ins Gespräch gekommen, oberflächlich und hatten dabei schnell gemerkt, dass sie sich auch nicht mehr zu sagen hatten. Diese eine Gemeinsamkeit – ihre Sexualität – war auch ihre einzige.
Wie auch in der Uni, grüßte Miguel ihn knapp, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf die Tür. Offensichtlich wartete auch er noch auf jemanden. Hoffentlich hat er mehr Glück, dachte Lunis grimmig, er selbst hatte die Hoffnung bereits aufgegeben.
Lunis hatte sich gerade nachgefüllt, schaute bereits aus Gewohnheit zur Tür und blinzelte. Mit einer ungeduldigen Geste schob er sich eine Strähne aus dem Gesicht, die seine Sicht störte, aber tatsächlich, im Durchbruch zum Flur ins Wohnzimmer stand ein Gorilla und blickte sich suchend um.
Na endlich!
Zum Glück hatte Bodo darauf verzichtet, die riesigen Fangzähne des Biestes noch einen letzten Anstrich in Rot zu verpassen. Der Gesichtsausdruck der Maske war auch so schon gruselig genug. Nein, er würde dieser Art von Kostümen nie etwas abgewinnen können und das wusste sein Kumpel. Wahrscheinlich war dies Bodos Strafe an ihn, weil Lunis ihn genötigt hatte herzukommen.
Während Lunis sich nun einen Weg durch die Leute auf seinen Kumpel zubahnte, warf er schnell einen Blick auf seine Armbanduhr. Gar nicht so leicht, bei einem Hemd mit diesen blöden Flatterärmeln.
Seitdem er das letzte Mal nachgeschaut hatte, war tatsächlich eine weitere halbe Stunde vergangen. Wunder geschahen also doch.
Dabei entdeckte er aus den Augenwinkeln Gandalf, der ebenfalls auf den Durchbruch zusteuerte, nun aber abrupt abbremste. Ja, ja so ist brav. Bleib mir bloß vom Hals, dachte Lunis, dem die Vorstellung, dass der Kerl ihn tatsächlich anquatschen könnte, gar nicht gefiel.
„Da bist du ja endlich!“, begrüßte Lunis seinen Freund mit deutlichem Vorwurf in der Stimme. Einen Moment starrte dieser ihn nur an, ohne ein Wort, ohne jegliche Reaktion, sodass Lunis ungeduldig die Stirn runzelte.
„Ja, ich bin etwas spät“, kam es gedämpft doch mit unüberhörbarer Überraschung zurück.
„Etwas spät?“, echote Lunis empört. „Klar, 'ne Stunde ist ja auch nix. Aber egal, er ist auch noch nicht da.“ Auf Streit hatte er jetzt keine Lust, er würde großzügig darüber hinwegsehen. Immerhin war Bodo aufgetaucht.
„Er?“, wollte dieser nun wissen und Lunis Blick, der zuvor abermals zur Tür gewandert war, schnellte zu Bodo zurück.
„Na Jesse“, erwiderte Lunis und schüttete den Kopf. „Sag mal Bodo, bekommt dir die Luft unter dem Ding nicht?“ Besorgt musterte er das Kostüm. Normalerweise war sein Kumpel nicht der schnellste, aber so eine Schnecke eigentlich auch wieder nicht.
„Doch ähm ich war nur grad … Sorry, war gedanklich woanders.“
„Ganz offensichtlich“, schnaubte Lunis. „Komm mit, von dahinten kann man den Eingang besser im Auge behalten. Mehr is' hier eh nicht los. Ich geb's nicht gerne zu, aber du hattest recht.“ Ohne sich umzublicken, und mit der Gewissheit, dass Bodo ihm folgen würde, durchquerte Lunis den Raum.
„Mit was?“
„Dass sich die Party nicht lohnt. Wir hätten uns das Theater mit den Kostümen sparen und uns vor den Fernseher knallen können.“
Daraufhin erhielt Lunis keine Erwiderung, was ihn kurz verwunderte. Eigentlich nutzte Bodo doch sonst auch jede Gelegenheit, um auf einem solchen Eingeständnis herumzureiten.
Auf ihrem Weg kamen sie am Buffet vorbei, was Lunis ablenkte und zu einer anderen Frage brachte: „Sag mal, kannst du mit dem Ding eigentlich was trinken oder essen?“
Der Gorilla stoppte ebenfalls und besah sich das Angebot. „Trinken geht wohl mit einem Strohhalm.“
„Ähm ...“ Suchend blickte Lunis sich um und entdeckte plötzlich einen weiteren Tisch hinten neben dem Fenster. Er war so in eine dunkle Ecke gestellt worden, dass er ihm bis dato tatsächlich nicht aufgefallen war. Auf diesem befanden sich neben den gesuchten Strohhalmen auch die nicht alkoholischen Getränke.
„Welche Bowle magst du?“, erkundigte sich Lunis und musterte die Pranken seines Freundes. Das würde er lieber selbst übernehmen. Allzu viel sollte Bodo allerdings eh nicht trinken, denn aufs Klo gehen würde sich bestimmt etwas schwierig gestalten. Also schnappte er sich einen Becher und sah seinen Freund erwartungsvoll an. Der zögerte jedoch – etwas, was er so gar nicht von Bodo kannte. „Habens beide in sich“, berichtete Lunis daher und rechnete schon damit, dass sein Kumpel ihn anweisen würde, die Brühe zu mischen, doch stattdessen überraschte Bodo ihn.
„Ich nehme dahinten lieber 'ne Cola.“
Baff starrte Lunis ihn an, zuckte dann aber mit den Schultern. Wenn der Herr plötzlich auf Chorknabe machen wollte – bitte. Gemeinsam gingen sie in den hinteren Teil des Raumes, wo er Bodo das Gewünschte einschenkte und ihm vorsichtig den Becher reichte. So ganz sicher, ob das gutgehen würde, war Lunis zwar nicht, aber auf einen Versuch kam es an. In dem Anzug musste es bereits jetzt heiß wie in einem Backofen sein.
„Danke“, überraschte Bodo ihn aufs Neue und Lunis lachte auf.
„Oh heute so höflich? Bitteschön“, grinste er und stieß leicht mit Bodo an. „Ist das dein schlechtes Gewissen, weil du mich hier so lange hast warten lassen?“
„Nein, muss wohl entweder am Vollmond oder dem Luftmangel liegen“, gab Bodo zurück und nuckelte umständlich an seinem Getränk. Das war schon eher sein bester Kumpel.
„Hab dich gewarnt“, erinnerte ihn Lunis und trank ebenfalls einen Schluck. Bodo murmelte etwas in seinen nun tatsächlich vorhandenen Affenbart, was Lunis jedoch nicht verstand.
„Hä?“, machte er daher und sah seinen Kumpel fragend an, der winkte jedoch ab. Na, wie er meint, dachte Lunis und konzentrierte sich wieder auf die Tür. „Du musst in dem Ding ein bisschen lauter sprechen und du klingst auch irgendwie eigenartig“, wunderte er sich und stutzte einen Moment über diese Erkenntnis. Schnell warf er Bodo einen Seitenblick zu.
„Ähm … macht wohl das Kostüm“, kam es gedämpft zurück.
„Aso“, murmelte Lunis bereits von einer erneuten Welle Besucher abgelenkt, die in das Wohnzimmer strömten. Wieder kein Jesse.
Enttäuscht lehnte er sich an die Wand und sah Bodo traurig an. „Er kommt nicht.“ Erneut hob er seinem Becher, doch plötzlich legte sich eine Pranke auf seinen Arm und stoppte ihn.
„Meinst du nicht, dass du genug hast?“, nuschelte Bodo und Lunis runzelte empört die Stirn.
„Das sagt der Richtige. Nur weil du heute ausnahmsweise mal auf Abstinenzler machst, musst du nicht plötzlich bei mir das Kindermädchen spielen“, plusterte Lunis sich auf und nahm trotzig einen besonders tiefen Schluck.
Immer diese Diskussion! Leider eine altbekannte, denn blöderweise vertrug Lunis nicht allzu viel. Eigentlich gar nichts. Was Bodo nicht müde wurde ihn in solchen Situationen ins Gedächtnis zu rufen. Mit dem Erfolg, dass Bodo ihn zwar davon abhielt im angeheiterten Zustand Blödsinn anzustellen, nicht aber vielleicht etwas zu tief ins Glas zu schauen.
„Ich mein ja nur …“, begann Bodo, spielte mit seinem Strohhalm und noch ehe Lunis genervt antworten konnte, fragte Bodo plötzlich: „Warum wartest du eigentlich auf den?“
„Auf Jesse?“ Ungläubig starrte Lunis Bodo an und überlegte kurz, ob er nicht vielleicht doch schon zu viel intus hatte. Irgendwie war Bodo heute seltsam, noch seltsamer als sonst. Was etwas heißen sollte. Immerhin kannten sie sich seit dem Kindergarten und im Laufe der Zeit war eine beachtliche Liste an Seltsamkeiten zusammengekommen.
„Hast du mir in den letzten Wochen überhaupt mal zugehört?“ Theoretisch konnte es nämlich durchaus sein, dass Bodo einfach auf Durchzug geschaltet hatte – immerhin kannte der ihn ebenso gut wie umgekehrt. Und auf seine Schwärmereien hatte Bodo noch nie gestanden. „Wahrscheinlich nicht“, murmelte er daher, setzte kopfschüttelnd den Becher an die Lippe, um erstaunt festzustellen, dass dieser bereits wieder leer war.
„Findest du ihn denn wirklich so … toll?“, wollte Bodo wissen.
„Ob ich ihn toll finde? Gott, ich hab meinen verdammten Goldfisch nach ihm benannt!“, murrte Lunis und zuckte erschrocken zusammen, als sein Kumpel plötzlich zu husten begann. Fest schlug er ihm auf den Rücken, war sich aber nicht sicher, ob dies wegen der Fellpolsterung überhaupt etwas brachte.
„Geht schon, geht schon“, keuchte Bodo und stützte sich etwas nach vorn auf die Knie.
„Willst du vielleicht mal den Kopf absetzen? Das muss da drin wie in 'ner Sauna sein“, schlug Lunis nun doch leicht besorgt vor, doch sein Freund schüttelte vehement mit diesem.
„Geht schon“, wiederholte er abermals und räusperte sich.
„Okay, musst du ja wissen. Ich geh mir noch mal was zu trinken holen.“ Entschlossen stieß er sich von der Wand ab und verlor leicht das Gleichgewicht. Der Boden wankte plötzlich so eigenartig. Hui... Sofort umfassten Bodos Hände seinen Oberarm.
„Vielleicht sollten wir stattdessen mal raus an die Luft, hm? Wird dir bestimmt gut tun“, meinte Bodo, ließ seinen Arm nicht los und führte ihn zur Terrassentür. Baff über dieses Verhalten, leistete Lunis keinerlei Widerstand. Vielleicht hatte Bodo damit sogar recht, auch wenn er sich über seinen Kumpel doch wunderte. Seit wann war der denn so fürsorglich?
Vollmond, ganz klar.
Aus den Augenwinkeln entdeckte er abermal Gandalf, der ihn schon wieder beobachtete. Was glotzt du denn so?, hätte er am liebsten gebrüllt, doch da bugsierte Bodo ihn auch schon durch die Schiebetür hinaus auf die Terrasse.
Auch hier standen einige Kürbislaternen herum und erhellten flackernd die Nacht. Vereinzelt standen Leute in Grüppchen zusammen, unterhielten sich oder rauchten eine Zigarette.
„Der is' seltsam.“ Lallte er etwa schon? Und wenn schon. Der Abend war eh blöd.
„Wer ist seltsam?“
„Der Gandalf.“
„Hö?“
„Der glotzt mich die ganze Zeit so komisch an. Vielleicht ist er eifersüchtig auf meine Haare.“
Bodo lachte auf, es klang zwar gedämpft, doch voll und warm und irgendwie … seltsam.
„Bestimmt ist er das. Deine Haare sind viel schöner“, neckte Bodo und lotste ihn weiter, weg von den Anderen und einen kleinen gepflasterten Weg entlang, der gerade einmal so breit war, dass sie nebeneinander hergehen konnten. Er führte in das Dunkel des Gartens und wurde nur von milchigen Gartenleuchten gesäumt.
Bodos Einfälle waren in der Regel nicht wirklich brauchbar, dieser war es ausnahmsweise. Erst hier draußen fiel Lunis auf, wie schlecht die Luft im Wohnzimmer gewesen war, zudem war ihm ein wenig übel. Er hätte vielleicht nicht beide Bowlesorten durcheinandertrinken sollen. Teufel und Hexe vertrugen sich offenbar nicht sonderlich. Aber hinterher war man bekanntlich immer schlauer.
Er torkelte leicht zur Seite und befand, dass es sowieso viel mehr Spaß machte, auf dem knisternden Laub herumzuspazieren, also schlug er eine andere Richtung ein und verließ den Weg.
Lunis war noch nicht oft hier gewesen, aber da hinten musste es doch ...
„Ey“, rief ihm Bodo hinterher und schloss zu ihm auf. „Was soll'n das?“
„Dahinten gibt’s 'nen Teich. Ich will nur kurz Jesses Verwandte begrüßen“, erklärte Lunis und bekam ein verwirrtes „Hä?“ als Antwort. „Na die Goldfische!“ Mann, hatte der heute eine lange Leitung. Das war ja bereits Rekord.
Zum Goldfischteich mussten sie nun eine seichte Böschung hinunter. Das knisternde Laub war mit einem Mal gar nicht mehr so knisternd und toll, sondern verdammt rutschig.
„Du willst zum Teich?“ Bodo klang weniger begeistert.
„Japp.“
„Ich finde das-“
Plötzlich rutschte Lunis aus, griff aus einem Reflex heraus in das zottelige Affenfell, womit er auch Bodo ins Trudeln brachte, der schließlich das Gleichgewicht verlor und umfiel wie ein Baumstamm.
Mit einem dumpfen Geräusch landeten sie auf dem kalten Rasen. Wobei er wohl weicher landete als Bodo, denn Lunis fand sich auf einmal auf diesem wieder.
Ein leises Ächzen entwich seinem Kumpel, doch er blieb regungslos liegen. Stöhnend hob Lunis den Kopf, als just in diesem Moment der Vollmond durch die Wolken lugte und die Finsternis vertrieb. Erneut entwich Lunis ein Geräusch, dieses Mal ein Keuchen, gleichzeitig überrascht und entsetzt.
Blaue Augen blickten zu ihm auf, nicht grün, wie es richtig gewesen wäre. Wie Bodo sie hatte.
~tbc~
Kapitel 3
Die Maske war bei dem Sturz ein Stück verrutscht und gab nun besser seine Augen frei.
Mit der falschen Farbe...
Lunis Herz schien vor Schreck eine Millisekunde zu erstarren. Sein alkoholumnebeltes Hirn brauchte einen Moment, um diese Ungereimtheit zu verstehen, wieder in Gang zu kommen, zu kombinieren, doch dann versetzte Lunis dem Gorilla einen Schlag gegen den Arm.
„Du Arsch“, brüllte Lunis, die Augen weiteten sich vor Schreck. „Du sollst doch diese Scheiße mit den Kontaktlinsen lassen. Und dann auch noch Blau?! So ein Blau! Du bist so ... so ... och Mensch!“ Wütend rappelte Lunis sich auf, rückte seinen Hut zurecht, der ihm vom Kopf zu rutschen drohte, spuckte einige Haare aus und stapfte den kleinen Abhang wieder hinauf.
„Wo willst du denn jetzt hin?“, rief ihm Bodo hinterher, doch Lunis drehte sich nicht einmal zu ihm herum.
„Ich fahr nach Hause“, brüllte er und lief um das Haus herum.
„Warte!“ Mit schnellen Schritten holte ihn sein Kumpel ein. Beeindruckend, wie schnell der wieder auf die Beine gekommen war. „Du kannst so doch nicht-“
„Scheiße.“ Ungeduldig klopfte Lunis seine Taschen ab, bis ihm einfiel, dass er ja sein Handy vergessen hatte. „Rufst du mir ein Taxi?“
„Taxi? Oh ähm ... klar“, stammelte Bodo und fischte aus einer eingebauten Tasche sein Telefon. Umständlich tippte er eine Nummer ein und bestellte wie gewünscht Lunis' Taxi. Mit gerunzelter Stirn beobachtete dieser ihn dabei.
„Sach mal, hast du 'n neues Handy?“, fragte er, nachdem Bodo aufgelegt hatte und musterte mit gerunzelter Stirn das Telefon. Schick.
„Ähm ... ja ... ganz neu. Das Taxi müsste in zehn Minuten da sein“, berichtete er und Lunis nickte, bevor er sich, vor dem Haus angekommen, an die Häuserwand lehnte und seufzend die Augen schloss. Irgendwie drehte sich alles und darüber nachzugrübeln, warum sein sonst so entscheidungsfauler Freund sich so etwas wie ein Handy ohne seinen Rat gekauft hatte, war viel zu anstrengend.
Einzig dieser frische, angenehme Duft verhinderte, dass er sich einen Busch suchen musste, um diesem seinen Mageninhalt anzuvertrauen.
Lunis konzentrierte sich darauf, nur darauf und dass er nicht umkippte.
Woher kam der überhaupt?
Ganz langsam wandte er den Kopf in Bodos Richtung. Unmöglich, oder? Er schnüffelte – klare Sache.
„Sag mal, hast du bei dem Handy auch gleich 'n neues Deo dazubekommen?“
„Was? Oh ähm nein, das wollte ich nur mal ausprobieren. War im Angebot. Wieso?“ Jetzt klang der Gorilla unsicher.
„Och nur so, riecht ganz gut.“ Mehr als das, aber das würde Lunis für sich behalten.
„Hab vielleicht ein bisschen viel genommen. Aber ich musste das Kostüm damit einnebeln, der Geruch von dem Ding wäre sonst nicht auszuhalten gewesen“, plapperte Bodo weiter.
„Aso“, murmelte Lunis, der gar nicht mehr richtig zuhörte. Sein Kopf schwirrte zu sehr und seine Lider wurden immer schwerer.
Bett, er wollte in sein Bett.
Ob es tatsächlich nur zehn Minuten waren, bis der bestellte Wagen in der Auffahrt hielt, konnte Lunis später nicht sagen, sein Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Ebenso wie Gesprächsthemen und so verbrachten sie die weitere Zeit schweigend.
Einige Male hatte Lunis den Eindruck, Bodo wolle noch etwas sagen, aber er konnte sich irren und es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Aufrecht stehen zu bleiben, war gerade wichtiger.
Daher war er recht froh, als das eierschalenfarbene Auto endlich um die Ecke bog und er sich in die weichen Polster der Rückbank fallenlassen konnte. Er musste ins Bett und zwar schnell. Mann, war er plötzlich müde.
Gähnend nannte er dem Fahrer seine Adresse, ehe er noch einmal zu Bodo aufsah. „Und diese Kontaktlinsen kommen in den Müll!“, befahl er streng, woraufhin ihn sein Kumpel merkwürdig ansah.
Einen Moment hatte Lunis erneut das Gefühl Bodo wolle etwas sagen, doch dann schlug der nur die Wagentür zu und nickte.
Das Taxi fuhr an und Bodo war vergessen, denn Lunis konzentrierte sich auf sich selbst und seinen Magen. Bloß nicht kotzen!
***
Ein Piepen, weit weg. Doch zu seinem Leidwesen schien es immer näher zu kommen, immer schriller zu werden. Vertrieb somit den wohltuenden Schlaf und holte ihn in die grelle Realität zurück.
Schmerz.
Gepeinigt zuckte Lunis zusammen, als er seinen Kopf vom Kissen hob, die Augen zu öffnen, wagte er erst gar nicht.
Blind schlug er daher nach dem Wecker, erwischte ihn – Ruhe, herrliche Ruhe - und drehte sich auf die andere Seite, nur damit das Plärren wenige Minuten später erneut ertönte.
Stöhnend setzte er sich auf – langsam, nur keine allzu hastigen Bewegungen -, schaltete den Wecker endgültig aus und fuhr sich durch die Haare.
Mann, so viel hatte er gestern doch gar nicht getrunken, oder doch? Über dem ganzen Abend hing ein leichter Nebel, der sich irgendwann so verdichtete, dass er sich an die Geschehnisse gar nicht mehr erinnern konnte. Wie er nach Hause gekommen war zum Beispiel.
Doch zumindest bei einem war er sich ziemlich sicher; er hatte nichts Peinliches getan. Schließlich war Bodo bei ihm gewesen, der seines Wissens nach, überhaupt nichts getrunken hatte. Was ihn im Nachhinein doch überraschte. Eigentlich war sein Kumpel nämlich der Schluckspecht von ihnen beiden. Dass er selbst überhaupt so viel getrunken hatte, lag einzig an dieser todlangweiligen Party. Daran konnte er sich immerhin noch erinnern, ebenso wie an seinen Vorsatz, Helges Partys ab jetzt zu meiden. Und den würde er einhalten, ganz bestimmt, schon alleine wegen diesem Teufelsgemisch, das Helge Bowle schimpfte.
Gähnend stand Lunis auf und zuckte zusammen. Autsch! An seiner Schädeldecke arbeitete eine ganze Truppe Zwerge mit fiesen kleinen Presslufthämmern. Die Verlockung, sich einfach wieder in die Kissen zu verkriechen war enorm, aber Lunis riss sich zusammen. Wer feiern konnte, konnte auch in die Uni. Außerdem brauchte er unbedingt eine Kopfschmerztablette und musste aufs Klo.
Von diesen Bedürfnissen getrieben schlurfte er Richtung Bad, wo er auch sein Handy auf der Fensterbank fand.
Das Rätsel, wie dies dorthin kam, würde er später lösen. Im Moment war er dazu nicht in der Lage. Er schaffte er gerade so, die Tabletten aus dem Medizinschrank zu holen und zwei davon mit einem Schluck Leitungswasser hinunterzuspülen.
Sein Blick streifte den Spiegel, beinahe wäre er erschrocken zurückgewichen. Hätte er gestern bereits so ausgesehen, hätte er sich die Mühe mit der Kostümsuche sparen können.
Seine Haut war käsig und fahl, seine braunen Augen lagen tief in den Höhlen und seine Haare – Schande, seine Haare gingen gar nicht.
Sollte er sich heute wider besseres Wissen vor die Tür wagen, würde eine Mütze herhalten müssen. Seine braunen Zotteln waren unmöglich unter eineinhalb Stunden zu bändigen. Wofür ihm eindeutig die Kraft, Muse und Zeit fehlten. Ebenso wie zu der Rasur, die er auch dringend nötig gehabt hätte. Aber ein Dreitagebart machte sexy, oder?
Lunis starrte sein Spiegelbild an. „Junge, dich kann heute gar nix mehr retten“, unterrichtete er das jämmerliche Etwas, das ihm entgegensah, ehe er sich selbst die Zunge rausstreckte und seine Blase erleichterte.
Als Nächstes brauchte er Kaffee um sich zumindest ein wenig menschlich zu fühlen. Also schnappte er sich sein Mobiltelefon, um es nicht erneut zu vergessen und ging weiter in die kleine Kochnische seiner Zweizimmerwohnung. Routiniert schmiss er die Maschine an und setzte sich, während der Kaffee durchlief, an den weißen quadratischen Tisch. Stehen war zu kraftaufwendig, zu schwer, nicht machbar.
Stöhnend stützte er den Kopf in die Hände und fragte sich, wie er heute einen ganzen Vormittag in der Uni überstehen sollte. Ihn überforderte es ja schon fast, aufzustehen und sich einen Kaffee einzuschenken!
Der Kaffeeduft überredete ihn schlussendlich doch, das scheinbar unmögliche zu schaffen und sich zu erheben. Doch gleich nach der Mammutaufgabe, sich einen großen Becher mit dem schwarzen Bohnengebräu zu füllen, plumpste Lunis erschöpft zurück auf seinen Stuhl. Vorsichtig an dem heißen Gebräu nippend, griff er nach seinem Handy und schaute auf das Display.
Sechs Anrufe in Abwesenheit.
Wahrscheinlich Bodo, der ihn über seine Verspätung informieren wollte.
Mäßig neugierig wählte er daher seine Mailbox an und lauschte, der ersten Nachricht. Es war tatsächlich Bodo...
„Hey Lu, sorry Notfall. Meine Mom hat sich den Fuß verstaucht und ich muss jetzt mit den Kröten die Häuser abklappern. Schaff's nicht zur Party.“
Vor Schreck verschluckte sich Lunis an seinem Kaffee. Hustend starrte er sein Telefon an, als sei diesem plötzlich ein Kopf gewachsen. Ungläubig, fassungslos, entsetzt.
Das konnte nicht sein. Er hatte doch gestern den ganzen Abend mit Bodo verbracht! Wollte der ihn verarschen?! Das musste es sein. Genau, Bodo erlaubte sich mal wieder einen Scherz mit ihm. Ganz sicher.
Schnell überprüfte er die Zeit des Anrufs, der auf neun Uhr datiert war. Es musste ungefähr die Uhrzeit gewesen sein, als der Gorilla auf der Party aufgetaucht war und Lunis automatisch angenommen hatte, dies müsste Bodo sein. Wie groß war denn bitte auch die Wahrscheinlichkeit, dass gleich zwei gleichgroße Kerle so einer Geschmacksverirrung unterlagen?
Offenbar größer als gedacht.
Oh Gott, was hatte er dem Kerl alles erzählt? Ihm wurde schlecht und diesmal lag es nicht an seinem Kater. Seine Gedanken überschlugen sich.
Die viel größere Frage war jedoch – wer war das gewesen und warum hatte dieser Arsch das Missverständnis nicht sofort aufgeklärt?!
***
Bei jeder Person, die ihn heute auf dem Campus ansah oder von der er nur glaubt, dass sie es tat – und das waren eine Menge – überlegte Lunis, ob es sich vielleicht um den Gorilla von letzter Nacht handelte.
Sah der Typ dahinten ihn nicht komisch an oder lachte der am Getränkeautomat vielleicht über ihn? Hatte diese Peinlichkeit eventuell schon die Runde gemacht? Oder noch schlimmer, was wäre, wenn man es Jesse bereits erzählt hatte?
Gerade diese Vorstellung trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Wie sollte er ihm dann bloß je wieder unter die Augen treten?
Ach komm, dachte Lunis dann mit Galgenhumor, wenigstens weiß er dann, dass du überhaupt existierst. Ist doch schon mal ein Fortschritt. Ja, und zwar direkt in seine persönliche Hölle!
Warum konnte das nicht alles ein Albtraum sein und er erwachen? Da wäre es ihm ja beinahe lieber, er hätte nur so etwas peinliches getan, wie Holger auf der letzten Party und hätte einen Strip hingelegt, den niemand sehen wollte.
Moment, vielleicht hatte er das ja auch. Immerhin war nicht Bodo als Wachhund an seiner Seite gewesen, sondern ein Wildfremder mit einem perfiden Sinn für Humor. Woher sollte er wissen, was er alles gemacht hatte? Er erinnerte sich schließlich nur noch bruchstückhaft.
Genauer gesagt hatte er es inzwischen zumindest so weit geschafft den Abend bis zu dem Zeitpunkt zu rekonstruieren, als er Bodo entdeckte, ihm von seiner unsterbliche Liebe zu Jesse berichtete und er seinen zweiten Becher von dieser widerlichen Bowle leerte. Aber was war danach passiert?
Scheiße, sein Kopf platzte gleich!
Da Lunis genau gewusst hatte, was für ein Horror dieser Tag werden würde, hatte er ernsthaft in Erwägung gezogen, die Uni heute zu schwänzen. Sich dann aber dagegen entschieden.
Aufschieben würde sein Problem nicht lösen, irgendwann musste er sich diesem Spießrutenlauf eh stellen, sowie eine Antwort auf seine Frage finden.
Nur wie sollte er das machen? Wie zum Kuckuck sollte er bitte herausfinden, wer der Kerl gewesen war? Vielleicht ging der auch gar nicht hier auf die Uni.
Und was sollte er machen, wenn er ihn doch fand? So unwahrscheinlich dies auch sein mochte.
Ihn anflehen bitte, bitte die Klappe zu halten und den ganzen Müll, den er gelabberte hatte, auf den Alkohol schieben?
„Ey Alter.“ Eine große Hand landete auf seiner Schulter, erschrocken wirbelte Lunis herum. Bodo stand vor ihm, dieses Mal war keine Verwechslung möglich. „Ey sorry Mann wegen gestern, das is' echt scheiße alles gelaufen“, meinte sein Kumpel und machte ein zerknirschtes Gesicht.
Wie hatte er das gestern nicht merken können? Wer immer das gewesen war, seine Ausdrucksform war eindeutig besser gewesen.
Die Bowle, eindeutig diese scheiß Teufelsbowle, entschied Lunis und er musste Bodo recht geben, gestern war wirklich alles scheiße gelaufen und ein Ende dieses Elends war nicht in Sicht.
Obwohl es dumm und unfair war, stieg plötzlich Wut auf Bodo in ihm auf. Wenn der sich nicht so ein blödes Kostüm ausgesucht hätte, wäre das alles gar nicht passiert. Sein Ärger war ihm wohl deutlich anzusehen, denn Bodo fuhr fort: „Du bist sauer, hm?“
Er stand kurz davor hochzugehen und Silvester einfach vorzuziehen, atmete dann jedoch einmal tief durch und zwang sich zur Ruhe. Es war eine Verkettung blöder Zufälle gewesen und Bodo konnte im Grunde nichts dafür. Helge verdiente für sein Gebräu schon eher eins auf die Zwölf.
Trotzdem schwankte Lunis zwischen dem Wunsch, Bodo zu erwürgen oder sich heulend in seine Arme zu werfen. Schlussendlich tat er nichts davon, sondern schüttelte lediglich den Kopf. Bereute es aber augenblicklich, als ihm ein stechender Schmerz durch den Schädel schoss.
„Nein“, brachte er heraus und unterdrückte ein gequältes Stöhnen. „Bin nicht sauer.“
„Boar, ich hab aber auch x-mal versucht, dich zu erreichen. Was war denn los?“, wollte Bodo wissen und ging neben ihm den Flur entlang.
„Hab mein Handy zuhause liegen lassen“, murmelte Lunis und gestand sich somit eine Teilschuld an diesem Desaster ein. Er könnte sich für seine Vergesslichkeit noch nachträglich in den Allerwertesten treten.
„Schussel“, neckte Bodo und stieß ihn leicht an. „War der Abend denn trotzdem gut?“ Auf diese Frage bekam Bodo nur einen Blick, der ihn stoppen ließ. „Okay, was ist passiert?“
Lunis zögerte kurz, packte Bodo dann aber beim Arm, bugsierte ihn etwas abseits des eigentlichen Getümmels und schilderte ihm knapp, was geschehen war. Als er endete, starrte sein Kumpel ihn zunächst sprachlos an und besaß dann die Frechheit zu lachen!
Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen über die Wangen rannen!
„Sorry, aber das ist ...“, keuchte Bodo und prustete erneut los. Wütend schulterte Lunis seine Tasche neu und stürmte davon. Dem erzählte er noch mal was. Anstatt ihm zu helfen, Mut zuzusprechen, lachte der Sack! Ging's noch?
„Ey Lu, ich hab's nicht so gemeint“, brüllte Bodo über die Menge hinweg, doch dieser reagierte gar nicht, beschleunigte stattdessen sogar noch seine Schritte. Er war jetzt sehr froh, dass sie unterschiedliche Vorlesungen besuchten und er zumindest in den nächsten Stunden Ruhe vor dem Blödmann hatte. Sonst würde er sich das mit dem erwürgen noch mal überlegen.
Derart aufgebracht, nahm er zum ersten Mal an diesem Tag seine Umgebung gar nicht richtig wahr, sondern strebte schnurstracks seinen Platz an, wo er sich erleichtert auf diesen fallen ließ. Sein Kopf pochte derweil noch schlimmer.
Seufzend beugte er sich zu seiner Tasche hinunter und durchwühlte deren unendliche Tiefen. Irgendwo musste er doch noch die rettenden Kopfschmerztabletten haben. Er war sich sicher, sie vorhin in weiser Voraussicht eingepackt zu haben.
„Ich schätze mal, die kannst du heute gut gebrauchen“, erklang es da neben ihm. Eine kleine Flasche Wasser zusammen mit einer Packung Aspirin schoben sich in sein Gesichtsfeld.
Lunis' Blick schnellte hoch.
Autsch!
Doch der Schmerz war vergessen, vertrieben vom Schock, als er registrierte, wer ihm da seinen rettenden Überlebensproviant auf den Tisch gelegt hatte.
Jesse!
Er stand mit einem unsicheren Lächeln, das ihn noch attraktiver machte, neben ihm und sah auf ihn herab. Die glänzenden Haare seines zu langen Ponys fielen ihm in die Augen und er stand so nahe, dass Lunis sein Duft in die Nase stieg.
Irgendein x-beliebiges Drogerie-Deo, doch zusammen mit seinem ureigenem Duft besonders, unverwechselbar. Frisch, männlich, verführerisch.
Automatisch atmete Lunis tiefer ein. Sog ihn ein, speicherte ihn ab.
Etwas rührte sich in seinen Erinnerungen, war jedoch zu flüchtig, als dass er das kurze Aufblitzen hätte greifen können. Es war auch nicht so wichtig, entschied er. Etwas anderes war wichtiger.
Jesses unmittelbare Nähe. Denn Lunis war ihm nie zuvor so nah gewesen. Lediglich wenige Zentimeter trennten ihn von dieser breiten Brust, die heute in einem blau-violett-karierten Hemd steckte.
„Was?“, brachte Lunis krächzend hervor, während seine Gedanken Karussell fuhren.
Warum sprach er ihn an? Woher wusste er davon? War er doch auf der Party gewesen? Später, nach seinem Filmriss eingetroffen? Und was hatte er, Lunis, getan, dass Jesse ihn plötzlich wahrnahm?
Ein fieser, fieser Verdacht beschlich ihn, den er sofort wieder rigoros verdrängte. Zu schrecklich, zu entsetzlich, zu grausam.
„Na ja, du warst gestern Abend ziemlich … hinüber. Ich hoffe, du bist gut nach Hause gekommen?“
„Ich … ähm … ich … du warst … auch auf der Party?“
„Hm.“ Jesse biss sich auf die Unterlippe, lenkte Lunis kurz mit dieser Geste ab.
Konzentrier dich!, befahl er sich dann jedoch, das hier ist wichtiger als schmutzige Fantasien. Das hier ist überlebenswichtig! Wichtiger noch als die Kopfschmerztabletten.
Lunis schluckte trocken. Der Verdacht setzte sich hartnäckig in seinen Gedanken fest. Wurde drängender, und obwohl Lunis es nicht wollte – die Angst vor der möglichen Antwort zu groß war – kam ihm die Frage doch schwach über die Lippen: „Warst du … etwa King Kong?“
Oh bitte, bitte...
Kapitel 4
Nein, oh bitte, bitte nein. So grausam konnte das Leben doch nicht sein. Natürlich konnte es das, und hier stand der Beweis. Es musste einfach so sein. Woher sollte Jesse sonst wissen, wie blau er gestern gewesen war?
Er hatte also dem Objekt seiner Begierde vorgeschwärmt, wie toll er ihn fand. Großartig, klasse gemacht Lunis, schalt er sich.
Gott, er hatte ihm von seinem Goldfisch erzählt!
Lunis wartete eine Antwort gar nicht ab. Ohne nachzudenken, sprang er auf, schnappte sich seine Tasche und stürzte zur Tür. Jesses Rufe ignorierte er ebenso wie Professor Turman, der gerade eintreten wollte, als Lunis ihn beinahe umrannte. Er murmelte nur etwas Entschuldigendes und rannte den Gang entlang.
Weg, nur weg und am besten nie wieder kommen.
Zu Hause angekommen, ließ er seine Tasche und Jacke bereits im Flur fallen, aufhängen kostete zu viel Kraft und plumpste in sein Bett.
Vielleicht würde es klappen. Vielleicht musste er jetzt einfach die Augen schließen, und wenn er sie wieder öffnete, war es wieder acht Uhr morgens und alles nur ein böser, böser Traum.
Er kniff die Augen zusammen, versuchte seine Atmung sowie sein wild pochendes Herz zu beruhigen, dann lugte er vorsichtig Richtung Wecker.
Zehn Uhr dreiundvierzig.
Mist, Mist, Mist!
Was sollte er jetzt bloß machen? Uni wechseln? Uni abbrechen oder sich zumindest ein neues Studienfach suchen?
Blödsinn, kindisch, nicht realisierbar, verlockend.
Lunis stöhnte auf und vergrub das Gesicht im Kissen, sprang dann jedoch auf, um unruhig einige Bahnen in seinem Schlafzimmer zu laufen.
Kleiderschrank, Fenster, Fenster, Tür, Tür, Kleiderschrank. Hin und her und raufte sich dabei die Haare. Zu einem Ergebnis kam er nicht.
Das Einzige, was ihm einfiel, war Jesse zu ignorieren, so zu tun als gäbe es ihn und somit diesen peinlichen Abend überhaupt nicht. Doch sonderlich gefallen tat Lunis auch dieser Lösungsansatz nicht. Zumal er wahrscheinlich ebenso wenig realisierbar war. Immerhin war Jesse ein Magnet, zumindest was Lunis Blicke betraf.
Das mit dem Ignorieren hatte er nämlich bereits versucht, hatte nicht geklappt, jedenfalls nicht länger als zehn Minuten und die waren schon schwer gewesen.
Also, was sollte oder besser konnte er tun? Ein Mann sein und zu dem Bockmist stehen, den er da von sich gegeben hatte? Never! Das war unmöglich.
Sein Handy klingelte. Lunis stoppte und blickte es alarmiert an, bis ihm einfiel, dass Jesse ja gar nicht seine Nummer hatte. Warum sollte der ihn auch anrufen? Aber bis vor einer Stunde war es ihm auch utopisch erschienen, dass Jesse ihn jemals ansprach.
Er schielte auf das Display. Eigentlich hatte er jetzt wenig Lust mit irgendjemandem zu sprechen, aber ...
Es war Bodo. Natürlich war es Bodo. Bodo, dem er mit seiner blöden Kostümwahl das Ganze erst zu verdanken hatte. Ja, er änderte seine Meinung – Bodo war schuld! Also konnte der sich jetzt auch gefälligst eine Lösung ausdenken.
„Hey Alter, hab gehört, du hast 'nen filmreifen Abgang hingelegt und ...“
Auch das noch. Gepeinigt schloss Lunis die Augen. Daran hatte er ja noch gar nicht gedacht.
„Jesse war der Gorilla“, unterbrach er Bodos Geplapper, der abrupt schwieg. Das Schweigen dehnte sich und brachte Lunis auf die Idee, Bodo fehlten die Worte. Beeindruckend, wäre der Grund nicht sein soziales Todesurteil und Dämlichkeit gewesen.
„Ups“, kam es schließlich und im ersten Moment dachte Lunis, sich verhört zu haben.
„Ups? Mehr fällt dir dazu nicht ein?“, brüllte er.
„Ähm ... Na ja, sieh's doch mal positiv, jetzt hast du zumindest mal mit ihm gesprochen.“
„Ach leck mich doch!“ Erbost drückte Lunis seinen Freund weg.
Was war das schon für ein Freund, der sich an seinem Leid ergötzte? Ein beschissener, einer mit dem er nie wieder ein Wort wechseln würde. Zumindest nicht in den nächsten vierundzwanzig Stunden, das schwor sich Lunis.
Um dies auch wirklich durchzuhalten, zudem ging ihm das nervige Gebimmel auf die Nerven, schaltete er das Handy aus, und beließ es bis zum nächsten Vormittag auch dabei.
Er wollte mit niemandem reden, sich einfach nur in seinem Elend und Selbstvorwürfen suhlen und die böse Welt sich da draußen ohne ihn drehen lassen. Selten war er so froh gewesen, alleine zu wohnen. Keine Eltern, keine Mitbewohner und vor allem kein Bodo. Denn eine Weile, während des Abis und kurz danach, hatten sie tatsächlich über diese Option nachgedacht. In der gleichen Stadt studieren und sich eine gemeinsame Wohnung suchen. Zum Glück waren sie noch rechtzeitig zu der Erkenntnis gekommen, dass ihrer Freundschaft ein gewisser Abstand gut tat, ja für deren Bestehen sogar überlebenswichtig war.
So hatte Lunis diese kleine Zwei-Zimmerwohnung ergattert und Bodo ein WG-Zimmer. Drei Frauen und ein Bodo.
Zuerst war es seinem Kumpel wie der Himmel erschienen, mittlerweile nannte er es die Hölle. Insgeheim liebte Bodo seine drei Mitbewohnerinnen dennoch, andernfalls würde er nach knapp einem Jahr nicht immer noch dort wohnen, so gut kannte Lunis Bodo.
Und genau dies war auch ein Grund mehr, warum sie besser nicht zusammen hausten – sie kannten sich einfach zu gut. Wie es war, war es momentan für sie beide gut. Denn sie besaßen beide Eigenarten, die den jeweils anderen auf die Palme brachten.
Wie beispielsweise Lunis Putzfimmel, wie Bodo es nannte, und dem Lunis an diesem Tag hemmungslos frönte. So wie er es stets tat, wenn seelischer Notstand herrschte.
Er putzte die Fenster, wienerte die Küche, saugte alle Zimmer, räumte sein Schlafzimmer auf und brachte Ordnung in die Küchenschränke. Mit dem Ergebnis, dass er abends zumindest hundemüde ins frisch bezogene Bett fiel und auf der Stelle einschlief.
Das Ergebnis seiner Handyfreienzeit am nächsten Tag waren; drei weitere Versuche von Bodo und ebenso viele von einem unbekannten Teilnehmer. Wahrscheinlich auch Bodo, der es auf diese Weise versuchte. Er reagierte auf keinen davon, rief nicht zurück oder hörte die Mailbox ab. Und dieses Mal blieb er wirklich zu Hause.
Vielleicht war sein Abgang bis übermorgen vergessen. Die Uni war schnelllebig. Vielleicht hatte inzwischen jemand anderes eine noch interessantere Peinlichkeit fabriziert.
Wahrscheinlich dachten eh alle, ihm sei wirklich nur schlecht geworden. Zumindest die, die ebenfalls auf der Halloweenparty gewesen waren und die köstliche Bowle verköstigt hatten. Allen anderen konnte er was von Magen-Darm erzählen.
Nur ob Jesse auch so vergesslich war, bezweifelte er. Wie sollte er sich bloß in Zukunft ihm gegenüber verhalten? Er wusste es noch immer nicht.
Warum war der eigentlich so freundlich gewesen? Das war es doch, jemandem Wasser und Aspirin anzubieten, oder? Warum ignorierte Jesse ihn nicht und warum zum Henker hatte der das Missverständnis nicht sofort auf der Party aufgeklärt?
Wut stieg in ihm auf. Wahrscheinlich hatte der sich scheckiggelacht. Wahrscheinlich lachten sich inzwischen alle über ihn kaputt! Vielleicht wollte Bodo ihm das mitteilen? Ihn vorwarnen?
Lunis seufzte schwer und starrte gedankenverloren in seine 5 Minutenterrine. Sie war inzwischen kalt, die Nudel pappig, die Soße ein Brei. Ungenießbar, aber leider das einzig Essbare im Haus. Das war ihm gestern beim Großreinemachen aufgefallen. Angewidert verzog er das Gesicht. Okay, Fastentag. Sein Magen war zwar abgehärtet, seine Geschmacksknospen hatten sich allerdings blöderweise bereits erholt.
Das Schlimmste an dem Ganzen war jedoch, dass er sich bei Jesse jetzt alles verbaut hatte. Seine Chancen waren nie sonderlich groß gewesen, er wusste ja noch nicht einmal, ob Jesse überhaupt auf Männer stand – bezweifelte es allerdings – doch jetzt waren sie unter Null gefallen. Was musste der bloß von ihm denken?
Hey, ich hab meinen Goldfisch nach dir benannt!
Stöhnend vergrub Lunis das Gesicht in den Händen und schielte durch die Finger hindurch zum Aquarium.
Goldfisch Jesse zog blubbernd seine Bahnen, passierte die Burgruine und das Spongebob Ananashaus und grüßte dabei Wels Harald, der aus selbigen hervorlugte.
Das mit der Namensgebung war eigentlich ein Scherz zwischen Bodo und ihm gewesen, nicht ernst gemeint, aber er war hängengeblieben.
Die Türklingel riss ihn aus seiner Betrachtung. Lunis blickte über die Schulter, starrte die Wohnungstür an. Erneut klingelte es.
Vielleicht der Postbote, der wieder ein Päckchen für seine Nachbarin hatte, die an akuter Teleshoppingbestelltitis litt. Oder Bodo, dem es zu bunt wurde, dass er ihn links liegen ließ. Das hatte sein Kumpel noch nie gut vertragen.
Noch einmal schellte es. Definitiv Bodo. So eine Ausdauer hatte der Postbote nicht.
Träge und weil ignorieren in dem Fall nichts brachte, stand er auf und schlurfte zur Tür. Im nächsten Moment hätte er sie am liebsten wieder zugeschlagen, denn nicht Bodo stand davor, sondern Jesse!
Woher zum Kuckuck wusste der, wo er wohnte?
Was wollte der überhaupt hier?
Und scheiße, warum trug er selbst seine Snoopyschlafanzughose?
Offenbar las Jesse seine Gedanken, denn er stellte blitzschnell einen Fuß in die Tür.
„Was … warum ...“, stammelte Lunis, ehe er sich auf die Lippen biss. Klappe halten, das hätte er schon vorgestern besser getan.
„Ich hab drei Mal versucht dich anzurufen, bist aber nicht rangegangen“, begann Jesse, „und in der Uni warst du ja heute auch nicht.“
Soviel zu den unbekannten Anrufen, nicht Bodo.
„Ähm … mir … mir ging ... ähm ... geht es nicht so gut“, nuschelte Lunis und vermied es Jesse anzusehen. Dennoch spürte er seinen forschenden Blick, seine Haut kribbelte und bestimmt leuchteten seine Ohren in einem hübschen Feuerwehrrot. Heiß genug dafür waren sie zumindest.
„Nach der Mixtur vorgestern auch kein Wunder“, kommentierte Jesse.
„Normalerweise trink ich auch nicht so viel und auch nicht durcheinander, aber ...“ Lunis brach ab. Warum rechtfertigte er sich hier eigentlich? Konnte Jesse doch egal sein, solange er ihm nicht im Suff um den Hals fiel. Und zumindest das war ihm ja erspart geblieben. Jedenfalls soweit Lunis sich erinnerte. Ach Mist, dieser blöde Nebel, warum lichtete der sich nicht endlich!
Lunis riss sich zusammen, versuchte seine paar Gehirnzellen auf Trapp zu bringen, um weitere Blamagen zu verhindern. Wenigstens ein Versuch war es wert.
Als er dabei nach einer Erwiderung suchte, am besten eine ohne Gestammel, fand er stattdessen tief in sich etwas anderes – seine Wut. Seine Wut auf Jesse, weil der ihm nicht sofort auf seinen Irrtum hingewiesen hatte.
„Du hättest mir das gleich sagen müssen!“, platzte es aus Lunis heraus.
„Du hast mich ja gar nicht zu Wort kommen lassen“, verteidigte sich Jesse.
Hatte er das nicht? Es stimmte schon, er hatte geredet, ihn überfallen und der Gorilla geschwiegen. Alleine da hätte er skeptisch werden müssen! Was er wohl auch geworden wäre, wenn er nicht bereits einen halben Becher dieses Teufelszeugs intus gehabt hätte. Scheiße!
„Aber später!“, beharrte Lunis dennoch. Die Wut war gerade sehr hilfreich im Kampf gegen die Scham, die ihn zu überwältigen drohte. Erst das mit dem Goldfisch, jetzt seine Snoopyhose. Was kam bitte als Nächstes? Babyfotos, er nackt auf dem Eisbärenfell?
„Du bist ja sofort abgehauen und ich hab versucht dich anzurufen, aber du bist ja nicht dran gegangen.“
Moment, von was sprach der da?
„Ich mein auf der Party.“
„Ach so, die Party.“ Kurzzeitig schien nun Jesse verwirrt aber auch peinlich berührt. Tja, vielleicht gab es zumindest ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit.
„Ja, die Party“, zischte Lunis. „Da hättest du mir gleich sagen müssen, dass du und nicht Bodo in dem Kostüm steckst und mich nicht wie einen Idioten weiterreden lassen.“
„Ich glaub, da muss ich auch noch was klarstellen“, murmelte Jesse und schluckte sichtbar. Jetzt wirkte er eindeutig als wäre er am liebsten ganz wo anders. Schön, ging es Lunis zumindest nicht alleine so. Ein nettes Mauseloch zum Verkriechen wäre jetzt was Feines gewesen.
„Ach ja und was?“, fragte er patzig. Wut, immer schön an die Wut klammern.
„Der Gorilla … das war … Aaron.“
Aaron?
Aaron!
Ein Steinbruch wollte Lunis vom Herzen kullern. Es war nicht Jesse gewesen, sondern nur Aaron.
Stopp, nur Aaron?
Mit einem Mal ging ihm auf, dass dies noch lange keine Entwarnung bedeutete. Aaron war immerhin Jesses bester Freund. Wäre die Lage eine andere und Bodo und ihm wäre so etwas passiert, hätten sie auch sofort Kriegsrat gehalten und sich alles brühwarm erzählt.
So bedeutete diese neue Erkenntnis nur eins: einen Mitwisser mehr. Ganz toll!
„Und woher wusstest du dann, dass ich mich abgeschossen hab?“, wollte Lunis wissen, weil er sich nicht traute, das wirklich Wichtige zu fragen: Weißt du von meinem Goldfisch und dass ich den versifften Boden anbete, auf dem du wandelst?
„Weil ich auch da war“, erklärte Jesse, sah ihm dabei aber nicht in die Augen. Was einerseits auch besser war, ein direkter Blick in dieses Blau und Lunis Hirn würde sich in den Urlaub verabschieden. Andererseits ...
„Der Zauberer? Vielleicht erinnerst du dich an den?“
Ja, richtig, da war ein Zauberer gewesen. Und der hatte ihn angestarrt. Warum in aller Welt sollte Jesse das tun?
Lunis runzelte die Stirn, hinter der es bereits wieder zu pochen begann. Jesse schien dies als Antwort zu sehen, dass er sich nicht erinnerte. Sei's drum.
„Kein Drama, waren ja wirklich 'ne menge Leute da“, wiegelte Jesse ab und zuckte mit den Schultern.
Was sollte er darauf sagen? Die Wahrheit würde jetzt eher wie eine Ausrede klingen, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Betreten schwiegen sie nun beide. In dem Versuch Jesse nicht anzustarren, ließ er den Blick durch das Treppenhaus schweifen und erst jetzt fiel Lunis auf, dass sich hinter dem Guckloch in der Tür seiner Nachbarin von gegenüber etwas bewegte. Offenbar waren sie gerade interessanter als eine ihrer Dokusoaps.
„Warum bist du eigentlich hier?“, brachte Lunis nach einem Räuspern heraus. Du könntest ihn auch reinbeten, aufgeräumt ist schließlich und der Kuh die Show vermiesen, erinnerte ihn ein Stimmchen in seinem Hinterkopf. Lunis verdrängte sie. Bis vorgestern hatte er davon geträumt, dass Jesse eines Tages vor seiner Tür stünde. Jetzt war es eher ein Albtraum und er viel zu befangen, um diese Katastrophe noch weiter auszubauen.
„Ich wollte sehen, wie es dir geht und das … klären.“
Hatte er sich etwa Sorgen um ihn gemacht?
Quatsch!, sagte die Vernunft.
Vielleicht doch, widersprach sein liebeskrankes Herz.
Lunis entschied endlich mal das Richtige zu tun und hörte auf die Vernunft, die nun schrie: Versuch weitere Peinlichkeiten zu vermeiden. Ich will nicht nach Sibirien auswandern.
„Mir geht’s schon besser und geklärt haben wir das ja jetzt. Ich war besoffen und gestern Morgen etwas von der Rolle. Nachwirkungen und so und es tut mir leid, wenn ich dich damit in Verlegenheit gebracht habe. Das wollte ich nicht.“ Wie vernünftig er klang, Lunis war darüber selbst überrascht. Dass das Verlangen die Tür zuzuknallen immer größer wurde, kaschierte er wirklich sehr gut.
Jesse blinzelte, suchte jetzt offensichtlich ebenfalls nach Worten wie er selbst wenige Minuten zuvor. Jesses Suche schien ebenso erfolgreich zu sein, denn er nickte lediglich.
„Gut, das ist … gut, dass wir das geklärt haben“, nickte er schließlich.
„Find' ich auch“, sagte Lunis und richtete sich etwas gerader auf.
„Ja … also ...“
„Mein Kopf bringt mich allerdings immer noch um, und ich will morgen wieder fit sein. Würd' mich deswegen jetzt gerne wieder hinhauen.“ Hoffentlich verstand Jesse den Wink mit dem Zaunpfahl, und obwohl es ihm sichtlich nicht schmeckte, tat er dies es tatsächlich.
„Okay, dann sehen wir uns ja morgen“, meinte Jesse nach einem kurzen Zögern und trat zurück.
Endlich!
„Genau.“ Nicht wenn ich es verhindern kann, dachte Lunis. Er würde jeden Umweg laufen, der nötig war. „Also bis dann.“
„Bis morgen“, nuschelte Jesse, ehe er sich umdrehte und die Treppe ansteuerte.
Endlich, endlich konnte Lunis seinem Bedürfnis freien Lauf lassen, er warf die Tür ins Schloss. Nur fühlte es sich jetzt nur halb so gut und erleichternd an, wie er es sich vorgestellt hatte. Und auch die Erleichterung, dass Jesse und er das Ganze geklärt hatten, blieb aus. Stattdessen fühlte er sich beinahe noch schlechter als zuvor.
Ja, er hatte alles versaut. Jede noch so kleine Chance bei Jesse zu landen, denn Lunis würde sich stets fragen, was dieser wusste und was nicht.
Außerdem musste der ihn nach diesem Auftritt doch für noch bescheuerter halten als ohnehin schon. Aber woher zum Teufel hatte der überhaupt seine Handynummer?
Die Vorfreude auf den morgigen Tag sank Richtung Erdkern und ebenso tief würde er sich jetzt auch gerne einbuddeln, denn ein Mauseloch war nicht einmal annähernd tief genug.
Wie sehr er durch den Wind war, zeigte alleine ja schon, dass er Jesse gerade nicht auf den Hintern gestarrt hatte. Das war ihm wirklich noch nie passiert.
Aber eigentlich konnte es doch jetzt nur noch aufwärts gehen, oder?
Ha, ha Lu, du oller Optimist, hörte er beinahe Bodo sagen. Weiter runter schaffst du doch immer. Locker!
Blöderweise hatte Lunis die böse Vorahnung, als könne der imaginärere Bodo damit Recht behalten. Vielleicht blieb er morgen doch besser zuhause...
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2012
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