Kapitel 4
Nach dem Frühstück erteilten Alwin und ich Johan eine Lektion in Sachen Freiluftmorgentoilette. Wovon er wenig angetan war. Zähneputzen musste an diesen Tagen nämlich reichen, denn auf Rasieren verzichteten wir Jungs. Schließlich machte so ein Dreitagebart doch auch sexy, hatte ich zumindest mal gehört. Jo anscheinend nicht und er war in diesem Punkt offensichtlich anderer Meinung. Eine große Wahl hatte er dennoch nicht, so ganz ohne Spiegel. Derart gehandicapt fiel auch sein morgendliches Styling weitestgehend flach.
Okay, meine glatten, eher feinen Haare wehrten sich eh standhaft, sich in so etwas wie eine Frisur zu verwandeln, also kein Drama. Für Johan war es allerdings ein heikleres Thema.
Er meckerte und fluchte in einer Tour vor sich hin, während er mit dem Kamm und widerspenstigen Strähnen kämpfte. Ich hingegen fand seinen Strubbellook ziemlich niedlich … ähm witzig.
Eigentlich hätte er sich das Ganze eh sparen können, schließlich stand noch etwas anderes auf unserer Liste: die Neulingstaufe im gefürchteten Eissee.
Ich gebe zu, es war nicht wirklich nett von uns, ihm zu verschweigen, dass es in dem Gartenhäuschen, indem wir die Toilette benutzen konnten, auch eine Dusche gab. Aber hey, etwas Spaß musste sein. Und es wurde wirklich witzig, denn Johan ließ es sich nicht nehmen, die Diva zu geben.
Nachdem er mit einem Zeh die Temperatur getestet hatte, weigerte er sich hartnäckig auch den Rest seines Luxusbodys mit dem verdammt kalten Wasser in Verbindung zu bringen.
Was wir ihm natürlich nicht durchgehen lassen konnten. Ehrensache!
„Na komm, du Schisser!“, rief ich ihm zu und schickte ihm eine Handvoll Wasser entgegen. Resolut schüttelte Jo den Kopf und sprang ein Stück zurück.
„Das ist arschkalt.“
Ach was? Wäre mir selbst nie aufgefallen, dabei stand ich schon bis zu den Knien im See.
„Warmduscher“, grölte nun auch Alwin neben mir. Grinsend wechselten wir einen Blick. Es war gemein, dass ausgerechnet wir uns gegen Jo verschworen, denn neben mir verstand sich Jo mit Alwin am besten. Daher gebührte uns allerdings auch die Ehre Johan zu taufen und so stürzten wir gemeinsam aus dem Wasser auf Jo zu, der schnell das Weite suchte. Aber nicht schnell genug für uns.
„Ich kill euch, ich schwör's“, brüllte er und wehrte sich mit Händen und Füßen, als wir ihn lachend zum See schleppten, um ihn schließlich mitsamt seinem T-Shirt ins kühle Nass zu befördern. Prustend kam er wieder hoch und wischte sich die klatschnassen Strähnen aus den Augen. „Ihr Arschlöcher“, zischte er.
„Hast du mich jetzt nicht mehr lieb?“, flötete ich und brachte Alwin damit noch mehr zum Lachen. Er hielt sich inzwischen bereits den Bauch und seine helle sommersprossige Haut war gerötet.
Jos Anblick à la begossener Pudel war aber auch zum Schreien.
„Ich zeig dir gleich, wie lieb ich dich hab!“, knurrte Jo und kam auf mich zu.
„Oh, alles leere Versprechungen“, provozierte ich ihn noch mehr und nun war ich derjenige, der flüchtete. Nach wenigen Metern holte er mich ein. Ich geb es zu, ich gab nicht Vollgas. Und so schlangen sich seine Arme von hinten um meine Mitte. Nass und kalt waren sie auf meiner, von der Sonne wieder etwas erwärmten, Haut.
Sogleich kroch eine Gänsehaut über meine Unterarme. Fahrig und glitschig glitten seine Finger über meinen Bauch. Ich spürte seinen warmen Atem im Nacken, während er versuchte, mich erneut ins Wasser zu ziehen.
Wir rangelten, er verbissen, ich lachend und schließlich fielen wir gemeinsam in den See. Nah beieinander tauchten wir wieder auf und sahen uns an. Er schien immer noch sauer, sein Gesichtsausdruck war ernst, doch dann stahl sich ein Lächeln um seine Lippen und er schlug mir sacht eine Welle entgegen. Ich tat es ihm grinsend gleich und bald entstand eine herrliche Wasserschlacht, die wohl auch Jo die Kälte vergessen ließ.
Die Mädchen blieben währenddessen, über unsere Kindereien kopfschüttelnd, am Ufer stehen. Außer Sandra. Als sich nun auch die anderen Jungs zu uns gesellten, holte sie grinsend ihre Spiegelreflex hervor und begann zu fotografieren. Das tut sie oft. Manchmal schien die Kamera mit ihrem Gesicht und den Händen verwachsen. Ihr verdanke ich auch die mit Fotos tapezierte Wand hinter meinem Bett.
Wie lange wir herumalberten, konnte ich nicht sagen. Ich genoss es zu sehr, genauso wie die warme Sonne, als Jo und ich uns später auf unsere Badetücher fallen ließen.
„Das war fies“, murrte er.
„Dir wäre aber 'n riesen Spaß entgangen“, hielt ich dagegen und er grummelte noch etwas in seinen nicht vorhandenen Bart. Eingestehen wollte er es nicht, dabei war klar, dass ich recht hatte. Das sollte er langsam eigentlich gelernt haben und nicht immer so überrascht tun.
Entspannt lagen wir da, nicht weit voneinander entfernt, ich mit geschlossenen Augen und doch spürte ich plötzlich, dass er mich ansah.Verwundert blinzelte ich in seine Richtung. Er hatte sich mit den Ellbogen leicht abgestützt, legte sich nun aber wieder zurück. Aus seinem Blick wurde ich nicht schlau und doch jagte er mir ein aufregendes Kribbeln durch den Körper.
Reiß dich zusammen, du bist zwanzig und keine fünfzehn mehr und jetzt hier 'ne Latte zu kriegen wäre übelst peinlich, rief ich mich selbst zur Ordnung, schaffte es aber trotzdem nicht mehr, mich wirklich zu entspannen.
Sicherheitshalber drehte ich mich auch auf den Bauch. Ich traute meinem Körper, was dies betraf, nicht länger über den Weg. Elender Verräter.
Vielleicht war Jo vorhin dieser unabsichtliche, okay vielleicht doch absichtliche, Streichler als wir uns kabbelten doch aufgefallen und er hatte mich deswegen so gemustert?
Vielleicht litt ich aber auch nur unter Verfolgungswahn und er hatte gar nicht mich angesehen, sondern die Mädchen hinter uns. Verdammt, aber da war irgendwas zwischen uns oder empfand nur ich es so und er bekam, wie er ja schon sagte, auch hiervon nichts mit?
Manchmal wünschte ich mir auch solche Scheuklappen. Nur leider hatte ich sie nicht. Frustriert schloss ich die Augen, zuckte dann aber erschrocken zusammen, als mich etwas an der Schulter berührte. Es war Elias, der sich zu uns setzte. Eigentlich quetsche er sich direkt zwischen uns, aber besonders zimperlich war mein Kumpel noch nie gewesen.
„Na ihr zwei Hübschen, was macht ihr?“, erkundigte er sich grinsend und blinzelte gegen die Sonne.
„Schlafen?“, schlug ich vor. Nach was sah das hier denn bitte sonst aus? Okay, so genau wollte ich das vielleicht gar nicht wissen.
„Ach, das ist doch langweilig. Los ihr Schlaffis, lasst uns kicken“, quengelte er und sah uns abwechselnd an.
„Nee, keine Lust“, wehrte Jo ab und gähnte. Kurz huschte Enttäuschung über das Gesicht meines Kumpels, bevor er dann mich erwartungsvoll ansah.
„Ich hab 'ne Wasserschlacht hinter mir und mein Gegner war 'ne ziemlich harte Nuss. Bin total alle“, gab ich zurück.
„Mann, ihr seid doch wirklich zu nix zu gebrauchen“, stöhnte Elias und setzte sich in den Schneidersitz.
„Uhi, was ganz Neues für dich, ne?“, meinte ich liebenswürdig. „Ich bin doch nur deshalb auf der Welt, um dich immer wieder zu enttäuschen. Das weißt du doch! Und ich will ja schließlich nicht meinen schlechten Ruf riskieren."
„Haha“, grummelte Elias.
„Außerdem würden wir dich eh wieder platt machen“, nuschelte Jo. „Bist du so scharf auf eine erneute Niederlage?“
Ich lachte auf und Elias verzog das Gesicht.
„Ich dachte da auch eher an 'nen Partnertausch. Du und ich und Bjorn und Rony.“
„Ey, willst du ihn mir ausspannen?“, beschwerte ich mich.
„Hast ja kein Exklusivrecht, oder?“, konterte Elias.
Kurz schluckte ich, seine Worte als Scherz gemeint, trafen mich unerwartet heftig. Bevor mir eine Antwort einfiel, schaltete sich zum Glück Jo ein:
„Hey Jungs, Auszeit! Und sorry Elias, aber ich bin eh treu. Keine Chance. Außerdem will ich gewinnen.“
Zufrieden grinste ich Elias an und ignorierte das erneut komische Kribbeln in meinem Magen. Bevor dieser noch etwas erwidern konnte, brüllte Rony auch schon:
„Essen.“ Manchmal besaß der Junge wirklich so etwas wie Timing.
Schwerfällig rappelten wir uns daher auf, Elias grummelte noch irgendetwas und trotteten zu den anderen.
Frische Luft regte wohl wirklich den Appetit an und so machten wir uns alle hungrig, und obwohl das Frühstück noch nicht allzu lange zurücklag, über die Dosenravioli her und spülten sie mit reichlich Limo hinunter. Sterneküche war das zwar nicht, aber zumindest machte es satt.
„Wie wär's gleich mit einem Verdauungsschläfchen?“, gähnte Alwin und rieb sich den flachen Bauch.
„Eher einen Verdauungsspaziergang“, stupste Sandra ihren Freund an. Der war über ihren Vorschlag wenig begeistert und verzog unwillig das Gesicht. „Das waren unsere letzten Dosen“, erklärte sie Achselzuckend und strich sich einige verirrte Haarsträhnen ihres Bobs aus dem Gesicht.
„Och nö“, stöhnte auch Elias und kratzte mit seinem Löffel die letzten Reste Tomatensoße von seinem Teller.
„Ich dachte, ihr habt so riesen Vorräte angekarrt?“, wunderte ich mich.
„Hatten“, korrigierte mich Larissa. „Aber wir haben nicht damit gerechnet, dass gewisse Leute sich schon für den Winterschlaf rüsten.“ Dabei sah sie Rony und Elias strafend an. „Irgendwer hat heute Nacht jedenfalls unsere Vorräte geplündert.“
„Das war bestimmt der Bär, vor dem mich mein Opa gewarnt hat“, nickte Rony bierernst und ohne eine Spur rot zu werden.
„Ich hab da gegen drei was knurren hören“, überlegte Jo laut.
Alarmiert zuckte ich zusammen. Hatte er etwa doch etwas mitbekommen?
„Das war mein Magen“, murmelte Elias da schuldbewusst.
„Ach, das war's“, grinste Jo und ich atmete erleichtert auf. Glück gehabt. Herz du darfst jetzt gerne wieder Normaltempo einschalten, der Turbo wird nicht mehr gebraucht. Uff, Fehlalarm.
„Also geht’s gleich ins Dorf zum Nachschub holen und zwar alle!“, entschied Meike als Alwin etwas einwenden wollte.
Nach einigem hin und her – so leicht gaben sich Alwin und Rony nicht geschlagen –, machten wir uns schließlich gemeinsamen zu einem Spaziergang auf.
Die einzige andere Nahrungsquelle außer dem Kiosk, dessen Angebot sich auf Brötchen, Ravioli und Knabberzeugs beschränkte, war ein kleines Dorf, gut zwanzig Minuten Fußmarsch entfernt und seinem beheimateten Supermarkt.
Der Weg dorthin führte uns an einer Landstraße entlang, die in regelmäßigen Abständen von Bäumen gesäumt wurde. Auf der anderen Seite des schmalen gepflasterten Gehwegs auf dem wir unseren Verdauungsspaziergang vollführten erstreckten sich Felder und Kuhweiden. Und je nachdem wie der Wind stand, versüßte uns die eine oder andere Duftwolke der kürzlich gedüngten Felder den Marsch. Was da genau diese besondere Wellnessbehandlung bekommen hatte, erschloss sich mir nicht. Eventuell wollte das grüne Zeug später, wenn es denn mal groß war, Mais werden. Im Moment erinnerte es mich allerdings eher an Basilikum.
Voran liefen Rony und Elias – wahrscheinlich getrieben vom Überlebenswillen und der Angst vor dem Hungertod –, dahinter Händchenhaltend Alwin und Sandra, gefolgt von den anderen beiden Mädchen. Jo und ich bildeten das Schlusslicht.
Mir war's recht, das Schläfchen hätte ich nämlich ebenfalls vorgezogen. Gerade nach der Nacht.
Meike war da bei Weitem munterer und kicherte und flüsterte in einer Tour mit ihrer Freundin, wobei sie komischerweise immer langsamer wurden. Schließlich blieb sie sogar mit Larissa hinter uns zurück. Ich hörte sie wieder kichern, störte mich aber nicht an ihnen.
„Bereust du's immer noch mitgekommen zu sein?“, wollte ich von Jo wissen, der gegen die Sonne die Augen zusammenkniff.
„Nee, aber ich freu mich trotzdem auf mein weiches Bett“, grinste er.
„Verrats nicht weiter, aber ich auch“, murmelte ich und brachte ihn zum Lachen, das plötzlich abrupt stoppte, als Meike sich von hinten an ihn schlich und ihm eine Handvoll Grassamen über den Kopf warf, um dann schnell das Weite zu suchen. Zu recht. Insgeheim rechnete ich nämlich mit einem Wutausbruch seinerseits, immerhin brachte dieser Angriff seine so mühevoll gerettete Frisur in Gefahr. Doch ich täuschte mich.
Nach der ersten Schrecksekunde schüttelte er lediglich den Kopf und nahm die Verfolgung auf. Lachend floh sie und quietschte schließlich auf, als er sie einholte und kitzelte. Die Taktik hatte die sich doch bestimmt von mir angeguckt. Elende Nachmacherin.
Mit sehr gemischten Gefühlen beobachtete ich das Geplänkel. Okay, ich war eifersüchtig, obwohl ich es nicht sein sollte. Ich war es und noch dazu unfair. Neutral betrachtet wären die beiden nämlich wirklich ein hübsches Paar. Beide blond und gut aussehend, aber ich war nicht neutral.
Sie sollte die Finger von Jo lassen, und von mir aus stolpern und kopfüber in den nächsten Graben fallen. Natürlich tat sie weder das eine noch das andere, vielmehr rückte die Jo noch mehr auf die Pelle und hakte sich bei ihm unter. Sie sagte etwas, das ihn erneut zum Lachen brachte.
Mir kam fast das Mittagessen hoch!
„Scheint ihm ja jetzt doch Spaß zu machen, hm?“, fragte mich plötzlich Larissa, als habe sie meine Gedanken gelesen und schlenderte neben mir den Feldweg entlang. „Ich hab schon befürchtet, er fühlt sich unwohl.“
„Nee, hatte vielleicht leichte Startschwierigkeiten, mehr aber nicht“, gab ich zurück.
„Na dann ist ja gut“, seufzte sie und folgte ebenfalls Jo und Meike mit dem Blick, die nun etwas weiter vorn nebeneinander herliefen und sich unterhielten. „Hübsches Paar, oder?“
„Hm“, murmelte ich. Nein, ganz schrecklich und bitte auch kein Paar. Aber wer fragte mich da schon? Okay, Larissa, aber eine ehrliche Antwort hätte sie bestimmt reichlich komisch gefunden.
Ich ließ meinen Blick schweifen, weg von dem ach so hübschen Paar, hin zu den Weiden. Eine Kuh starrte mich an. Eine große weiße Kuh mit schwarzen Flecken. Ich starrte zurück. Alles, was uns trennte, war einer dieser dünnen Elektrozäune. Mein Magen rumorte leicht. Ich mochte Kühe, so war das nicht. Vorzugsweise wenn sie auf Schokoladenverpackungen abgedruckt waren oder portionsweise gebraten auf meinem Teller. In natura jedoch waren sie ... so groß und dieses Starren irgendwie unheimlich. Ab und zu hörte man ja auch im Radio die Warmmeldung: Achtung, Kühe auf der Fahrbahn. Wie sicher konnten diese Zäune also sein?
Sie starrte immer noch, mit ihren riesigen braunen Kulleraugen. Gruselig.
Zu dem Rumoren in meinem Magen gesellte sich nun eine feine Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Ich riss meinen Blick los und sah wieder geradeaus. Dort erwartete mich ein ebenso gruseliges Bild – Meike, die Johan in die Seite zwickte.
„Sag's ihm nicht, aber sie ist total verknallt in ihn“, weihte sie mich verschwörerisch ein. Ach tatsächlich? Da wär ich alleine nie drauf gekommen.
„Meinst du, sie hat 'ne Chance?“, erkundigte sie sich neugierig. Ein Mal zu oft spielte der Wind mit Larissas schulterlangem Haar. Kurzerhand raffte sie die wilde Lockenpracht zu einem lockeren Dutt am Hinterkopf zusammen.
„Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“ Ich versuchte meine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen und war erstaunt, dass es mir sogar gelang. Ich hatte immer gewusst, dass die Tidemann mich nur nicht gemocht hatte. Ich hatte Talent.
„Immerhin ist er dein bester Freund“, meinte Larissa treffend.
„Trotzdem weiß ich nicht, auf was für Mädchen er so steht. Aber ich glaub, er findet sie nett“, fügte ich hinzu, damit es nicht ganz so lahm klang, bereute es aber gleich. Mann, ich tat es ja schon wieder! Warum sagte ich so was? Das würde sie doch sicher brühwarm Meike erzählen, worauf die sich noch größere Hoffnungen machen würde.
„Na ich hoffe, mehr als nur nett“, schnaubte Larissa. Die meine Antwort anscheinend nicht ganz so motivierend fand, wie ich befürchtet hatte.
Tja, und ich hoffe nicht.
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2012
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