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Marias Stampfen reißt dich aus dem Schlaf. Wie immer klopfte sie nicht an, sondern spazierte einfach so in dein Gemach und wischte den Staub von deinen Erinnerungen. Jetzt erstrahlt dein Ruhm in neuem Glanze - Platinscheiben, Trophäen, Bandfotos, du und der Präsident, du und einige Playmates, du vor 13 Jahren.
Dein ganzer Wille ist gefragt, um die Hand in diese grauenhafte Morgenkälte zum Nachttisch auszustrecken und dir eine Zigarette anzuzünden. Mit dem Teernachschub fühlt sich die Zunge sandig an, aber nicht mehr wie ein ausgetrockneter Kaktus. Gibt es so etwas denn überhaupt? Ausgetrocknete Kakteen? Oh, eine Idee. Du schreist Maria an, dir einen Kaffee zu bringen und die Putzarbeit woanders fortzusetzen.
Du beugst dich auf die andere Seite, dort hätte eine Frau liegen können, allerdings warten hier nur Bleistift und Notizblock auf deine Berührung. „Ich bin ein Kaktus“, kritzelst du, begleitet von deinem unverwechselbaren Gesang. Irgendwie klingt das noch nicht rockig genug. „Die Liebe ist ein Kaktus“, das klingt doch besser. „Sie braucht nur etwas Licht.“ Ja, ja, das ist es. „Dein Lächeln ist das Licht.“ Nein, jetzt bist du doch nicht zufrieden. Irgendetwas fehlt hier noch, damit die Sache rund läuft.
Maria kommt hinein und stellt eine Tasse Kaffee mitsamt einer vollen Kanne hin. „Danke, Baby, jetzt verschwinde!“ zollst du deiner Haushälterin Respekt und genießt die warme Brühe in der Kehle.
Gerade eben, war da nicht eine Idee? „Dein Lächeln ist das Licht, Baby.“ Und weiter? Vielleicht wäre dies die passende Stelle für einen äußerst emotionalen Einschub? Ein mit letzter Kraft ausgestoßener Vokal bewirkt manchmal Wunder, wenn er geschickt eingesetzt wird. Du platzierst zwei Os hinter Baby und betrachtest dir die Zeilen aus etwas Distanz.
Die Verse kommen dir nicht richtig vor. Allgemein scheint hier etwas nicht zu stimmen. Vielleicht beobachtet dich jemand? Während das Porzellan an deinen rauen Lippen klebt, wendest du den Kopf in alle Richtungen und stellst fest, dass dich überall die gleiche Furcht erschlägt. Könnte dich die ganze Welt begaffen? Über sechs Milliarden Kunstvoyeure starren dich sehnsüchtig an und erwarten nichts Geringeres als November Rain?
Du rufst Maria zu dir. Einmal, zweimal, immer wieder und immer dröhnender, bis dir das Schreien einen nicht mehr enden wollenden Hustenanfall beschert. Das Quietschen ihrer Gummisohlen ertönt seinerseits auch lauter, bis der Kopf irritiert aus dem Türspalt schlüpft. „Die Vorhänge, bitte, schließe sie.“
„Aber es ist ein herrlicher Tag.“
„Ich will keinen herrlichen Tag, ich will Dunkelheit.“ Sie nickt demütig und zieht die Gardinen zusammen. „Kannst du dann noch das Licht anschalten? So kann ich ja nicht arbeiten.“
Ein Seufzer entkommt deinem Mund. Ohne den Blick auf das weite Meer, das sich vor deinem privaten Küstenabschnitt erstreckt, fühlst du dich wesentlich sicherer. Oft genug starrtest du es schließlich an. Manchmal zogen ganze Wochen an dir vorbei, in denen du lediglich im Bett lagst und nur den Wellenbewegungen und deinem unruhigen Schlaf folgtest. Wie quälte dich doch der Gedanke an seine Unvergänglichkeit, Tiefe und Schönheit, in der du orientierungslos treiben würdest, wenn du ihm nichts Ebenbürtiges entgegen zu setzen hättest. Denn erst dann könntest du einen Blick auf den im dicksten Nebel versteckten Leuchtturm erhaschen und wissen, wohin dein Weg führt.
All die hoch gepriesenen Wesenszüge der weiten See scheinen dich mittlerweile auszulachen und zu verstoßen, als ob dein Schicksal längst besiegelt wäre und nie mehr eine zeitlose Komposition aus deinem Inneren entspringen könnte. Vergänglichkeit, wohin du auch blickst. Die Kippenglut senkt sich unaufhaltsam Richtung Filter. Die unverwechselbar herbe Würze der Kaffeebohnen schwindet mit jedem Grad, den das Getränk abkühlt.
Selbst Maria konnte der Zeit nicht trotzen. Damals, als sie vor acht Jahren zu dir kam und ihre zarten wunderschönen Glieder in deiner dahin siechenden Welt tänzelten, ihr Temperament ganze Abstriche deiner Villa umkrempelte; ja damals war sie deine Muse. Sie riss dich aus der jahrelangen Kreativitätspause. Du wendetest sämtliche Kraft auf, um ihr deine Geringschätzung vorzutäuschen, damit die Rebellion immer anhielte, sie sich nie deinem Verfallsprozess anschlösse.
Letztlich hättest du dir die Anstrengung sparen können. Die Stelzen blähen sich unermesslich auf und sind nur noch zum Trampeln geeignet, die Vorzeigerevoluzzerin der Putzfrauengilde verheddert sich in Verwaltungstätigkeiten und ihre musische Wirkung reduziert sich auf „Liebe ist ein Kaktus“.
„Zum Teufel, ich seh hier kein November Rain!“ Selbst hierüber könntest du in erneute Depressionen stürzen. Anstatt die Wahrheit hinauszubrüllen und dieses morgendliche Armutszeugnis zu verbrennen, meckerst du grimmig in dich rein, zeichnest einen dicken Kringel um den Text und notierst in eckigen Klammern, dass eine fortführende Überarbeitung hilfreich wäre.
Du lehnst dich zurück und zündest einen neuen Nikotinbehälter an. Das Händedruckfoto mit dem Präsidenten verändert sich, das breite Grinsen auf dem Gesicht des Alten … ist es noch ein stolzes Siegerlächeln? Oder blickt hier nur ein Siegertyp höhnisch auf einen gescheiterten Rockstar herab? Je länger du verwundert drauf starrst, umso unerschütterlicher glaubst du dem Anzugträger. Er hat ja auch vollkommen Recht! In deinem jetzigen Zustand würdest du selbst den Balztanz um die Praktikantinnen gegen ihn verlieren. Gott bewahre.
Ach, fabelhafte Idee. Wird dringend Zeit sich wieder wie Gott zu fühlen. „Maria, hey Maria, bring mal das Telefon.“
Von wegen Kaktus! Liebe ist 1,68 m groß, hat graues schütteres Haar, sitzt im 18. Stock eines langweiligen Büros in L.A., sprüht sich Moschusessenz unter die Achseln und hört auf den Namen Jeff.
„Jeeeeeffff“, grunzt du überschwänglich in den Hörer.
Allerdings hättest du nun mit einer Reaktion gerechnet.
„Ich bin’s.“
Der viele Moschus bleibt wohl nicht ohne Nebenwirkung. Du notierst dir beiläufig „Moschus in my brain“ und streichst es sofort wieder durch, als dir nichts außer Bob Marley Rhythmen dazu einfallen.
„Jeff, bist du da? Du kennst mich doch noch?“
„Du bist der Sarg, in den wir 13 Millionen gesteckt haben. Wie könnte ich dich je vergessen?“
Könnte hinkommen. Allerdings bezweifelst du, dass ihm die neuesten Quartalsdaten zur Verfügung stehen. Vor zwei Monaten rief eine Journalistin an und erkundigte sich nach dem Stand der Dinge. Du versprachst Comebackkonzerte in New York, Miami und Seattle. Der erste Auftritt wäre vorgestern gewesen, oder so. „Und ich bin jeden Cent wert.“
„Das hab ich meiner Frau noch im Kreissaal beteuert.“
„Und, wurde es ein Junge oder ein Mädchen?“ Du notierst Wiedergeburt, Schmerzen, Blut, Durchschneiden, Hand halten, Mutter, Leben, Vereinigung, Ekstase. Du nimmst Mutter angewidert von der Liste. Gar nicht mal so übel. Du fügst Mutter wieder hinzu und Provokation gleich daneben, in eckigen Klammern sowie doppelt unterstrichen.
„Er wird im Sommer Kapitän des High School Football Teams. Also was willst du?“
Du drückst die Kippe im überfüllten Aschenbecher aus, zündest dabei einen Stummel an. Dichter Rauch zieht herauf, der Gestank gekokelter Zigarettenfilter beißt sich in der Nase fest und verpestet dein Schlafzimmer mit dem zierlichen Duft brennender Reifen. „Nun“, röchelst du und schüttest Evian über das Ungemach, ein letzter Schwall zischt auf und verdampft. „Also, ich könnte Nachschub gebrauchen.“
„Wie oft soll ich’s dir noch sagen, damit du deine Birne einschaltest? Nicht am Telefon. Nicht in meinem Büro.“ Das sagt Jeff jedes Mal, seine Lippen wuseln einige unverständliche Flüche zusammen, gefolgt von resigniertem Ausschnaufen und schließlich den erlösenden Worten: „Wie viel brauchst du?“ So auch heute.
„20 Gramm. Abschließend, verstehst du? Wenn ich mit dem Album fertig bin, setz ich mich vor keinen Handspiegel mehr, versprochen. Ich werde langsam runterkommen, Ehrenwort. Aber jetzt, 20 Gramm Koks für ein Jahrhundertalbum, abgemacht?“
„Ich hab dir die ersten Jahre noch ernsthaft vertraut. Aber seien wir doch realistisch. Du hast mir seitdem neun Songs gegeben. Warte, nein, neun Papierfetzen, auf denen Sachen stehen wie ’Du schmeckst nach wildem Honig im zähen Fluss’. Nicht nur, dass du keine Demos aufgenommen hast, deine Ideen sind unter aller Sau.“
Offensichtlich hat Jeff kein Gespür für Wortakrobatik. „Gut, ich kann auch Demos mit einer Band aufnehmen, wenn es euch so wichtig ist.“
„Eine Band? Die Band, ohne die alte Formation geht nichts. Weißt du überhaupt, wo die stecken?“
„Sie sind sicherlich nicht auf Techno umgestiegen“, konterst du cool und versuchst dich an die Namen deiner alten Weggefährten zu erinnern.
„Techno? Wovon sprichst du da? Techno ist tot. In welchem Jahr lebst du überhaupt?“
„Zweitausendse“, du wirst von vielen kreischenden Achten unterbrochen. 2008 also. Dann liegen deine Erfolge sogar 15 Jahre zurück, kein angenehmes Gefühl. Deine Zählung wäre präziser, wenn du die Medien genutzt hättest. Jedoch spielen diese sechs Milliarden Voyeure immerfort November Rain, rauf und runter. Sie wollen dich unter Druck setzen.
Verlorene Zeit. Eis. Schlaf. Fremde Welt. Rennen um der Bewegung willen. Ohnmacht. Erwartungen. Ungewollt. Wann habe ich mich verloren? Heute ist dein Glückstag. So kreativ warst du seit 13, gar 15 Jahren nicht mehr.
„Siehst du, wie nötig ich es habe? Ich weiß nicht einmal, welches Jahr grad ist. 20 Gramm könnten mein Gehirn etwas ankurbeln, wenn du verstehst.“
„Wofür? Sag mir wofür.“
„Für das große Geschäft natürlich. Etwa schon vergessen, wie wir die Hallen und eure Konten gefüllt haben?“
„Das war einmal“, faucht Jeff. „Jede Wette, dass du keine Tour durchhältst. Und selbst wenn, wer soll eine Tour mit dir durchhalten?“
„Komm schon. Ich bin nicht mehr der Alte.“
„Doch, leider bist du es noch, aber wir Anderen konnten uns keine Auszeit leisten. Ich meine, sei doch ehrlich, du weißt gar nichts mehr vom Musikgeschäft und der Krise. Filesharing, mein Guter, viel Vergnügen mit deinen Millionenverkäufen.“
„Okay, ja, du hast ja Recht.“ Du gehst die Liste deiner aktiven Kontakte durch. Jetzt, da sich Jeff stur stellt, musst du die Drogen woanders besorgen. Du denkst lange und angestrengt nach. Da wäre Maria. Da wäre der Kerl, der alle zwei Wochen mit Heckenschneiden und Rasenmähen beschäftigt ist. Du landest wieder bei Maria. „Mann, du kannst dir gar nicht vorstellen, unter welchem Druck ich stehe. Die Leute, sie zählen auf mich. Sie erwarten November Rain, verstehst du? Und das geht nun einmal nicht so leicht, erst recht nicht von heute auf morgen.“
Du siehst Jeff nahezu vor dir, wie er in seinem hunderte Meilen entfernten Büro sitzt, sich an die Schläfe fasst und der Körper entnervt einsackt. „Ich kann nicht mehr, verstehst du? Klar, du warst der Leuchtturm einer ganzen Generation. Nur, nach so langer Zeit erwartet niemand von dir November Rain, schlag dir den Irrsinn aus dem Kopf. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass jemand überhaupt noch irgendetwas von dir erwartet.“
Isolation. Menschliche Opfergaben. Ekstase. Vereinigung.
„Seit dem Chaos mit deiner Konzertankündigung, Mann, wir müssen einfach einen Schlussstrich ziehen.“
Brennende Reifen. Ungewolltes Blut. Zurückgewiesene menschliche Opfergaben. Verlust. Ausgetrocknete Kakteen. Isolation um der Stille willen. Orientierung. Hand halten. Wiedergeburt. Leuchtturm.
„Ich gebe dir morgen alles schriftlich, und deine 20 Gramm. Damit dürften wir quitt sein.“
Du legst auf ohne dich für Abschiedsfloskeln zu interessieren. 15 Jahre und kein Goodbye, als hätte diese Zeit nie existiert. Deine Lippen formen die letzten Gedankenfetzen, die du zu Papier brachtest. Eine weitere Zigarette schwebt in den Mund, beinahe ohne dein Zutun. Feuer springt an und du nuckelst frei jeglichen Willens am Glimmstängel. Beruhigend saugst du den Nebel in die Mundhöhle und führst ihn weiter durch die Luftröhre in die Lungen. Der Nebel darf kurz verharren und spielen, nichts drängt ihn fort.
Ein Hustenanfall zwingt ihn schließlich, sich neu zu formen. Er entgleitet dir. Doch was als kränklicher Krawall beginnt, geht Atemzug für Atemzug über in reine Laute. „Isolation. Menschliche Opfergaben.“ Zwischengeräusche sorgen für eine primitive Melodie, die dich in ihren Bann zieht und ganze Sätze auf deinen bruchstückhaften Gedanken aufbauen lässt. Stark und laut singst du deine Schöpfung, verlierst dich so sehr in diesen Tönen, dass du dich ernsthaft wunderst, wie du jemals die Unvergänglichkeit in November Rain sehen konntest.
Und wenn du die letzte Oktave der Arie anstimmst, springt dein Herz förmlich auf und verlangt nach Zugabe. Du folgst dem Wunsch, als ob du nie etwas Anderes gemacht hättest als dein Inneres hellauf zu erleuchten und posaunst die bittersüßen Verse hinaus in deinen Käfig. Ekstase.
Schweißperlen bedecken deine Stirn nach der vierten Wiederholung. Sie nähert sich dem Bett mit einem trockenen Lappen, der über das zermürbte Gesicht fährt. „Ist es das, wonach Sie so lange gesucht haben.“
„Nein.“ Du lachst ganz entspannt und greifst zaghaft Marias Hand. „Oh nein. Es wird kein November Rain geben.“
„Aber es klingt sehr schön.“
Du entgegnest dem Kompliment mit Gleichgültigkeit. Der Klang ist bedeutungslos.
Sie löst sich von deinem Griff und verschränkt die Arme hinter dem Rücken. „Ich habe alles sauber gemacht. Brauchen Sie mich noch?“
„Nein, du kannst gehen. Und vielen Dank, für alles.“
Irritation und Angst mischt sich in ihr stets höfliches und zuvorkommendes Antlitz. Ihre Augen rauben dir die Illusion, das einzige Menschenopfer zu sein.
„Tut mir leid“, flüsterst du und siehst zu, wie sie dich schnellen Schrittes verlässt.
In aller Gemütlichkeit gönnst du dir Kippe und Kaffee, stöhnst vor dich hin und befindest die Zeit für reif, deinen geschundenen Körper aus dem Bett zu manövrieren.
Mit einem Ruck entblößt du einen weiten Spalt zwischen den Gardinen. Tatsächlich log Maria nicht, als sie von einem herrlichen Tag erzählte. Die Sonne spiegelt sich in den feinen Wellenzügen des Wassers und verzaubert dich mit intensiv auffunkelnden, winzigen Perlen auf der Oberfläche.
Könnte dich bloß jemand sehen, wie du in aufmüpfiger Pose hinter dem Fenster stehst und dem Meer zuflüsterst, es möge ruhig zu dir kommen; du könntest es weise lenken, jetzt, da ihr beide das Unvergängliche erblicktet und du keine Angst mehr davor hättest, ohne einen Leuchtturm in der Ferne unterzugehen.
Jedoch schaut dir natürlich niemand zu. Auch an den Gedanken wirst du dich noch gewöhnen.

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Tag der Veröffentlichung: 05.04.2009

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