Am Ende des Herbstes
Gelb. Die Farbe des Blattes, das direkt vor meinen Füßen sanft auf den Boden segelt. Das Nächste ist bis auf einen kleinen Stich ins Grüne braun. Achtlos treten meine glatten, weißen Schuhe das verwelkende Laubwerk zur Seite auf die graue Straße. Viele weitere Blätter unterschiedlicher Farbvariationen folgen, der Herbst endet langsam. Mit wehenden Gedanken gehe ich die Straße entlang, grauer Nebel trübt die Sicht. Gedankenverloren fahre ich mir durch die Haare.
Streiche die sturen, dunkelblonden Strähnen zurück. Weiche den Menschen um mich herum aus und gehe weiter. Ich bin also angekommen, lange war ich nicht hier. Kurz betrachte ich das Gebäude.
So einsam. Kalt. Steril.
Das durchgängige Weiß beunruhigt mich, es macht mich wahnsinnig. Schnell schüttele ich den Kopf, um mich mit so etwas Nichtigem aufzuhalten fehlen mir die Gedanken und die Zeit. Mit kühlen Fingern umfasse ich die kalte, dunkelgraue Klinke der Kliniktür. Auch innen ist alles weiß. Diese Eintönigkeit lässt mich frösteln. Ich beiße mir auf die Lippen, so was hat mich nicht zu interessieren. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.
„Sie suchen ihre Frau, richtig? 4. Etage, Zimmer 4. Soll ich ihnen sagen, wo sie hinmüssen, Herr- “
Weiter kommt sie gar nicht. Von ihr abgewandt gehe ich auf die Treppe zu, die mich in den nächsten Stock führt. Jede Stufe ist ein schwerer Schritt, nur langsam gelange ich nach oben.
Mit ausdruckslosem Gesicht stehe ich vor der verschlossenen Tür. Zimmer Nummer 4. Vierter Stock. Vorsichtig klopfe ich an, der Ton verhallt nur langsam in den leeren Gängen dieser toten Klinik. Von innen ist nichts zu vernehmen. Einmal noch atme ich tief durch, drücke die Klinke herunter, die Tür schwingt mit dumpfen Ächzen ein Stück weit auf. Einen Schritt trete ich in das Zimmer, keine Reaktion, keine Worte, keine Töne sind zu hören, nur die eisige Luft des offenen Fensters schlägt mir entgegen, lässt mich kurz zittern. Kurz schaue ich mich im Raum um, verändert hat sich seit dem letzten Mal nichts. Fast muss ich lachen. Ist ja auch erst eine Woche her, was soll da schon groß passieren. Doch mir ist nicht nach Lachen zumute, die Zeit schleicht dahin, mutiert zur Ewigkeit, eine Ewigkeit, die ich gerne mit dir verbracht hätte. Zaghaft, langsam, vorsichtig wandert mein Blick zum Bett, wo du liegst. Angeschlossen an Schläuche, das Kissen ist dein Knebel, die Decke deine Kette. Der kalte Wind fährt über deine blasse Haut, früher ließ dich das immer schaudern, doch jetzt passiert nichts. Schade eigentlich. Wenn du früher gezittert hast, war ich da, zum Kuscheln, deine ganz persönliche Decke.
„Warte kurz...“, flüstere ich, wende mich ab, gehe, nein, schlurfe eher lustlos zum Fenster, schaue hinaus.
Noch immer fallen die Blätter. Der Herbst währt nicht mehr lange, der Winter wird anbrechen. Die ersten Schneeflocken werden noch diese Woche fallen, ich sehe es kommen.
Kurz muss ich lächeln, schaue zu dir.
„Na, was meinst du? Wann fällt die erste Schneeflocke?“, spreche ich langsam und deutlich in den kalten Raum hinein, wundere mich fast über die Wärme in meiner Stimme.
Kaum habe ich ausgesprochen, drehe ich mich wieder zum Fenster, starre hinaus.
Du wirst nicht antworten. Du kannst nicht antworten. Ich hoffe nur, dass du wenigstens hättest antworten wollen, wenn du es könntest.
„Koma...“
Leise flüstere ich diese Worte, gebe ihnen fast eine neue Bedeutung, es fühlt sich seltsam an, wenn diese Worte über meine Zunge rollen. Alles hat sich verändert. Durch diese eine Wort verwischte mein Leben, verschwamm deines, vernebelte das unserer Kinder. Jeden Tag fragen sie mich, wann du von deiner Auslandsreise denn zurückkehrst. Bald, so sage ich immer, bald ist Mama wieder da, bald wird Mama wieder mit euch spielen, wieder lachen.
Wieder schaue ich zu dir hinüber. Ich warte immer noch auf den Tag, an denen sich das Versprechen erfüllt. An dem ich meinen Kindern stolz ihre zurückgekehrte, wohlerholte Mutter präsentieren darf, die sie dann von Herzenslust umarmen können. Es wäre so schön, könntest du sie jetzt anlächeln. Oder wenigstens mich. Ich weiß, es war nicht immer eitel Sonnenschein, ewig Einigkeit vorzutäuschen wäre meine größte Lüge. Das wusstest du auch.
Du hast auch gewusst, dass die Kinder darunter litten. Dass uns die Leute wütend nachsahen, stritten wir mal wieder auf der Straße. So viel hast du gewusst. Aber hast du auch meine Liebe gewusst? Ich wünschte, dein schönes Gesicht könnte sprechen, so wie es früher konnte. So viel konntest du sagen, ohne die Lippen zu bewegen, ohne eine Berührung, ohne einen Wandel konntest du reden, schreien, lehren, lieben. Blicke reichten, Fingerzeige voller Deutlichkeit, Mine lauten Schreiens ohne Ton. Du konntest so viel. Konntest aufheitern, wie es niemand anders konnte, kanntest Dinge, die kein Wissenschaftler je wissen zu können vermag, gelehrt hast du so vieles, Großes, stets von unschätzbaren Wert. So vieles, was ich nicht konnte, was ich nicht wollte, was ich nie zeigte. War dir meine Ehrfurcht gegenwärtig?
Weiter fallen die Blätter, ein Grünes segelt hinein, dreht sich in der Luft, landet auf deinem starren Gesicht. Das erste wirkliche Leben in diesem Raum, denke ich mir, das erste Grün, das Erste mit Seele, vielleicht auch mit Herz, wer weiß schon über die unergründliche Natur Bescheid, was wissen wir Menschen überhaupt schon von der Welt außer Krieg, Hass, Mord und Zerstörung. Kopfschütteln. Nein, so darf ich nicht denken, niemand darf so denken, diese Gedanken schüren nur das ewige, schmerzliche Feuer der menschlichen Wut. Fast ist mir, als würde der Raum für die Sekunde meiner schweren Gedanken kälter. Aus den Augenwinkeln blicke ich zu dir, unbewegt liegst du da, du willst auch nicht, dass ich mich solchen Gedanken hingebe, stimmt´ s? Wir haben es auch so schon schwer genug, jaja, brauchst du mir nicht zu sagen. Ich stütze meine Ellbogen auf der Fensterbank, sehe hinaus, so oft hast du mir gesagt, das ist zu gefährlich, ich weiß es ja, aber das ist einfach, was ich jetzt brauche. Kinder, Erwachsene, alte Damen in Kleidern, alte Herren in Anzügen, Autos, Motorräder, Fahrräder, so viel zieht unten an der Straße vorbei, nur auf ihre ganz persönlichen Ziele fixiert, schauen sich nicht einmal um.
„Du hast hier einen tollen Blick. Schaust du oft hinaus?“, spreche ich in die kalte Luft, presse noch einen Nachsatz hinaus,
„Aber das wäre dir auf Dauer wahrscheinlich sowieso viel zu eintönig, du hast den Wandel geliebt, eine stillstehende Windmühle anzuschauen hat dich nie beruhigt, sondern genervt.“
Leise muss ich lachen, du warst ja immer anders, das hat dir auch jeder gesagt.
Ich höre einen kleinen Jungen lachen, der von der Straße nach oben schaut und mich fragend ansieht, lächelnd winke ich, er winkt überglücklich zurück und läuft zu seiner wartenden Mutter.
„Lässt dir dein Schicksal überhaupt Zeit für einen derartigen, kurzen Spaß, mein Junge?“,
murmele ich gedankenverloren und sehe dem Jungen hinterher, der lachend den Kinderwagen seines kleinen Schwesterchens schiebt und dabei stolz der Mutter Geschichten erzählt, wild mit den Armen gestikuliert und dabei fröhlich hin- und herspringt.
Ja, auch du hast dein Schicksal, jeder von euch hat es, jeder Schritt, den ihr geht, jedes Wort, das ihr sprecht beeinflusst eure Wege, tut alles stets mit Bedacht, hört auf einen weisen Mann, der vom Leben schon so oft gestempelt wurde.
„Und was ist dein Schicksal, Schatz? Worum drehen sich des Nachts deine Träume, Liebes?“
Ich beiße mir auf die Lippen, in mir steigt einmal mehr die Begierde, es irgendwie erfahren zu können, das Einzige, was mich interessiert.
Meine Blicke schweifen wieder ab, schweifen auf die Straßen, die unendlichen Bewegungen, der eindringliche Lärm, der Duft einstiger Blüten am Wegesrand ist unter brutalen Abgasen zerpresst, langsam blasst das Grün, mir scheint fast, im Herbst stürbe die Welt.
Ein leises Piepen reißt mich aus meinen Gedanken, tönt unscheinbar, mutiert, tickt, laut, durchdringend, ich starre auf meine Uhr, genervt drücke ich den schwarzen Knopf an der Seite, das Geräusch erstirbt, das Echo in diesem kalten Raum gleitet davon, versickert langsam in den aschfahlen Wänden.
Langsam richte ich meinen gebuckelten Körper auf, strecke mich, sehe noch einmal kurz zur Straße, dann zu dir.
„Ich muss fort. Die Kinder warten, die Aktenstapel schreien nach der Feder der Erlösung und auch die Müdigkeit übermannt mich langsam, meine Augenlider wiegen Tonnen schweren Bleies. Aber...warte auf mich. Ich bin bald zurück. Ich verspreche es. Ich...liebe dich. So sehr. Wir sehen uns schon bald wieder.“
Mit diesen Worten beuge ich mich langsam zu dem Bett hinunter, betrachte dein schönes Gesicht, inhaliere die zierlichen Gesichtszüge, trinke deinen Duft so intensiv wie ich kann, streiche sanft über deine Wange und küsse dich liebevoll auf die blassroten Lippen.
Salzige Tränen laufen meine Wangen entlang, ich wische mir mit dem kratzigen, schwarzen Ärmel über die Augen, doch das kleine Meer aus Trauer läuft weiter, läuft in einer geraden Spur über meine Lippen, perlt an meinem Kinn ab und tropft auf deine fast weißen Wangen.
„Wo du auch bist...vergiss mich nicht. Mich, die Kinder, unsere Erlebnisse, alles, was im Leben je wichtig war, bitte.“
Wie in geheimer Einverständnis weht ein schwacher Wind durch das Zimmer, streichelt die Decke schwach, lässt den Zipfel des Kissens leicht tanzen, trägt das kleine Blatt auf deiner Wange über eine unsichtbare Sänfte aus Luft direkt in meine geöffneten Hände und setzt es dort ganz sacht ab, dann erstirbt auch der kalte Herbstwind, alles legt sich wieder heimlich, still und leise an seinen Platz, die Bewegung erstarrt zwischen vier weißen Wänden.
Das Blatt in meiner Hand mit allen zehn Fingern fest umschließend, vorsichtig, stets bedacht, es nicht zu quetschen, werfe ich noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick zu dir und drücke die Klinke herunter, diesmal gibt die Tür ein gestöhntes Knarren von sich, während ich leise das Zimmer verlasse und still die Tür wieder hinter meinem Rücken schließe.
Langsam taumele ich den Flur entlang, streiche die kühle Wand entlang, die unter meinen zitternden Fingern zu beben scheint, bleibe vor dem Fenster stehen, lege meine schweißfeuchten Hände an das eisige Glas der mattglänzenden Scheibe.
Dann fängt es an, salzige Tränen laufen über meine Wange, spiegeln ein letztes Mal meinen gebrochenen Blick in sich, bevor sie auf meiner fahlen Hand aufschlagen, verpuffen, sie verwischen meinen Blick, mein Spiegelbild verschwimmt, verzerrt im ewigen Weiß dieser toten Klinik.
Währenddessen segelt draußen langsam das letzte Blatt zu Boden, das kleine, braune Stück Natur wird sanft von einem kurzen Windstoß nach oben getragen, streift noch einmal den alten Baum, der es gebar und so lange Zeit an seiner Brust nährte, dann wird der Sturz steiler, hart, aber vollkommen lautlos berührt es die Straße, wirbelt über die Fahrbahn, ein schwarzer Motorrad fährt über es, zerstört es, vernichtet die letzte Harmonie dieser dunklen Jahreszeit.
Langsam schleicht sie sich an, es ist die schwarze Glätte der Ohnmacht, ich rutsche in sie hinein, kann ihr nicht länger entkommen, bevor ich davon gleite, spüre ich ihn, fühle den letzten Herzschlag, deinen finalen Atemzug, alles erstirbt, das Weiß um dich herum, das Grün in meiner Hand, dann verschwimmt meine Welt, mein Kopf schlägt auf den harten, hellen Backstein der Wand, meine Hände entgleiten dem glatten Marmor der Fensterbank, ich schlage auf den Boden auf, bleibe liegen, schließe die Augen, atme still, alles verwischt...
...
Für manche endete der Herbst in diesem Jahr mit dem letzten fallenden Blatt.
Für viele begann der Winter bereits, die erste Schneeflocke fiel, das dünne Wasser benetzte langsam die Stelle, wo kurz zuvor noch die letzte grüne Harmonie am Baum gehangen hatte.
Doch für ihn endete der Herbst mit ihrem letzten Herzschlag, dem letzten Atemzug ihres Lebens für immer. Nie wieder würden ihre Herzen so im Einklang schlagen, wie sie es hatten einst getan. Der letzte September für einen stolzen, jungen Mann. Alles würde sich nun verändern. Auch die Welt würde sich ändern. Zum Besseren...?
Das weiß niemand.
Stille.
-Owari-
Texte: Das Copyright, sowie sämtliche Ideen, Schauplätze und Personen sind frei erfunden und gehören der Autorin ZoraTamashii. Ich möchte nicht, dass meine Geschichte ohne meine Erlaubnis an Dritte weitergegeben wird, bei Zuwiderhandlung erfolgt Anzeige.
Cover: http://www.oppisworld.de/natur/herbst.jpg
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen, die mir wichtig sind.