Dr. Schneider wandte seinen Blick von den Aufzeichnungen ab, die er in seinen Händen hielt und musterte die vor ihm im Sessel sitzende Frau. Sie sah blass und abgespannt aus, auf ungesunde Weise abgemagert. Aber bei ihrer Vorgeschichte war das kein Wunder. Sabine Bachmann war vor knapp vier Wochen aus einem fast dreimonatigem Koma erwacht und befand sich nun auf dem beschwerlichen Weg der Genesung, wobei die körperliche Gesundung um einiges besser voranschritt als die psychische.
„Ja, ich muss heute etwas eher zu Hause sein“, führte Sabine das zuvor begonnene Gespräch fort. „Carina kommt früher aus der Schule heim und wir wollen dann zusammen Max aus dem Kindergarten abholen. Und nach dem Mittagessen backen wir gemeinsam. Einen Kuchen für Christoph“, fügte sie flüsternd hinzu, als wollte sie ein aufregendes Geheimnis für sich bewahren. „Donauwellen, die liebt er.“
„Ihr Mann“, entgegnete Dr. Schneider, mehr feststellend als fragend.
Sabine nickte. „Genau, er hat heute Geburtstag.“
„Und, wie sehen Ihre weiteren Pläne dann für heute aus?“, erkundigte sich Dr. Schneider im beiläufigen Plauderton.
„Wir werden Christoph am Nachmittag gemeinsam von der Arbeit abholen und Kuchen essen. Danach steht ein Besuch im Freibad an - das haben die Kinder sich als gemeinsame Unternehmung gewünscht.“ Sabine lächelte.
„Das ist schön. Die Kinder dürfen sich zum Geburtstag des Vaters etwas wünschen?“, warf Dr. Schneider ein, um das Gespräch am Laufen zu halten. Sabine hatte heute einen ungewöhnlich ausgeprägten Redefluss; sonst saß sie meist recht still und teilnahmslos vor ihm und wirkte desorientiert und verloren.
„Ja, das ist bei uns so Sitte“, bestätigte sie und fügte mit besorgtem Unterton hinzu: „Ausgerechnet das Freibad haben sie sich ausgesucht. Ich wäre lieber in den Zoo gegangen! Ich habe in der letzten Zeit einige Kilos zugelegt und noch gar nicht getestet, ob mir der Badeanzug überhaupt noch passt. Aber die sind ja zum Glück sehr elastisch“, ermutigte sie sich selber scherzend und schaute an ihrem ausgemergelten Körper herunter, der von einer Bluse umspielt wurde, die ihr eindeutig ein paar Nummern zu groß war. Offensichtlich hatte diese vor nicht allzu langer Zeit einen deutlich weiblicher gerundeten Körper gekleidet. Sie zupfte an ihrer Kleidung und ihre Stirn zog sich kraus, als wäre sie soeben auf ein unerwartetes Rätsel gestoßen.
Dr. Schneider mischte sich ein: „So so, ein Freibadbesuch ist also geplant?“
„Ja, als Juli-Kind hat mein Mann immer Glück mit dem Wetter an seinem Ehrentag. Deswegen wollen wir heute Abend auch noch mit den Nachbarn und ein paar Freunden grillen“, setzte Sabine eifrig hinzu.
„Der Juli ist ja der Monat mit den meisten Sonnenstunden im Jahr“, konstatierte Dr. Schneider, stand von seinem Stuhl auf und ging Richtung Fenster. Dort legte er eine Hand auf die Heizung und drehte mit der anderen den Heizkörper ein wenig höher auf. Dabei ließ er seinen Blick nach draußen in die weiße, gefrorene Ferne schweifen und realisierte, dass erneut Schneefall eingesetzt hatte. Dieses tat er mit den Worten „Oh, es schneit wieder“ kund.
Sabine drehte ihren Kopf Richtung Fenster und ein Schatten huschte über ihr Gesicht, der ihre Miene unter einem kurzfristigen Anflug von Irritation verdüsterte. Sie wandte ihren Kopf schnell wieder vom Fenster ab und schüttelte ihn zweimal ruckartig und fast unmerklich. Mit einer Hand wedelte sie dabei wirr in der Luft herum, als wollte sie einen störenden Gedanken wie ein lästiges Insekt verscheuchen.
Dr. Schneider starrte nachdenklich in das hypnotisierend wirkende Schneetreiben. Er hatte in seiner langen Karriere als Psychiater schon etliche Patienten behandelt, die sich aufgrund traumatischer Erlebnisse in eine Scheinwelt geflüchtet hatten, aber Sabine Bachmann war wohl der hartnäckigste Fall. Unbeirrt beging sie jeden beginnenden Tag erneut als den Geburtstag ihres Mannes Ende Juli, der für ihre Familie in diesem Jahr zum grausamen Schicksalstag geworden war: Auf dem Weg von der Badeanstalt nach Hause war ein entgegenkommendes Auto aus unerfindlichen Gründen auf ihre Fahrbahnseite ausgebrochen, hatte sie scharf gerammt und der Versuch eines Ausweichmanövers endete darin, dass Christoph Bachmann mit hoher Geschwindigkeit die Leitplanke durchbrach und sein Auto erst gestoppt wurde, als es sich um eine Eiche wickelte. Er und die Tochter starben direkt am Unfallort, der Sohn bei der Not-OP im Krankenhaus. Während das Leben seiner schwer verletzten Frau Sabine einige Monate am seidenen Faden hing, kam der Unfallverursacher mit leichten Verletzungen davon.
Dr. Schneider griff erneut nach der Patientenakte und blätterte darin. Das war eher eine routinemäßige Geste. Er würde hier auf nichts Neues stoßen; schließlich kannte er den Fall in- und auswendig.
Seine Gedankengänge wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Direkt darauf öffnete sich diese und Schwester Beate steckte ihren Kopf ins Zimmer: „Dr. Schneider - Zeit für das Mittagessen. Kommen Sie?“
Verärgert herrschte der Angesprochene die Schwester an: „Sie wissen doch, dass ich nicht gestört werden möchte, wenn ich eine Sitzung habe. Das empfinden die Patienten als empfindlichen Eingriff in ihre Privatsphäre und das kann den erfolgreichen Verlauf der Behandlung erheblich ins Stocken bringen.“ Während die junge Schwester nach diesem Tadel ihren Kopf aus dem Türspalt zurückzog und die Tür wieder schloss, drehte Dr. Schneider sich dem Sessel zu und wollte Frau Bachmann ein paar Worte der Entschuldigung zukommen lassen. Verwundert starrte er auf den leeren Sitz und ließ seinen Blick hektisch durch den Raum schweifen. Wie hatte seine Patientin jetzt so schnell und unbemerkt den Raum verlassen können? Das war doch unmöglich! Dr. Schneider griff sich mit einer Hand an die Schläfe und versuchte, den aufkeimenden Kopfschmerz, der sich durch ein dumpfes Pochen ankündigte, weg zu massieren. Dabei blickte er irritiert auf die Papiersammlung in seiner anderen Hand - eine Tageszeitung. Hatte er nicht eben noch ...?
„Und? Dürfen wir mit Dr. Schneiders Anwesenheit im Speiseraum rechnen oder müssen wir ihm sein Essen nachher aufs Zimmer bringen?“, erkundigte sich draußen auf dem Flur Pfleger Patrick bei seiner neuen Kollegin Beate.
„Ich weiß nicht. Ich glaube, eher nicht. Er wirkte sehr verärgert über die Störung“, gab diese nachdenklich zur Auskunft.
„Ach, war er wieder in einer Sitzung? Wahrscheinlich mit Frau Bachmann ...“, erwiderte Patrick kopfschüttelnd.
„Klär mich mal eben auf - was ist denn mit ihm los?“, hakte Beate nach, die Dr. Schneiders Patientenakte noch nicht näher eingesehen hatte. „Es wirkt schon sehr befremdlich, dass ein Psychiater selber zum Patienten wird.“
„Ach, er hatte im Sommer dieses Jahres einen schweren Autounfall verursacht. Dabei haben der Familienvater und die beiden Kinder ihr Leben verloren, die Mutter liegt bis heute im Koma. Bei Dr. Schneider ist danach irgendetwas durchgeknackt, er ist mit den Schuldgefühlen nicht klargekommen. Seitdem therapiert er täglich in seiner von ihm erschaffenen Scheinwelt die Mutter, Sabine Bachmann ...
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2016
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