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Herzensschlüssel

Werner ließ sich auf seinem Stuhl am Küchentisch nieder und blätterte lustlos durch den Stapel Post, den er soeben aus dem Briefkasten geholt hatte. Das Übliche, Rechnungen und Werbeprospekte. Doch plötzlich hielt er inne und blickte erstaunt auf einen Briefumschlag, der sich von den anderen abhob. Und zwar dadurch, dass seine Adresse dort in einer wunderschönen Handschrift geschrieben stand und nicht wie gewohnt maschinell aufgedruckt war. Neugierig wendete er den Brief, auch dort war kein Absender zu finden. Die Schrift kam ihm ebenfalls nicht bekannt vor. Aber wie lange hatte er schon nichts Handschriftliches von anderen Menschen mehr gesehen, geschweige denn so einen Brief bekommen? Das war wohl der natürliche Lauf der Dinge, dass man im Alter recht isoliert lebte, wenn man in seinem Leben keine Familie gegründet hatte. Und auch sonst nie im besonderen Maße Freundschaften und Kontakte gepflegt hatte. Er hatte fest im Berufsleben gestanden und war sicherlich ein angesehner Kollege gewesen, aber zwischenmenschliche Beziehungen waren nie sein Ding. Mit den Frauen hatte es meist nur zu flüchtigen Bekanntschaften gereicht, wenn man einmal von einer knapp zweijährigen Ehe absah. Beziehungsweise dem Versuch einer Ehe, der eigentlich nur ein Bestreben danach war, normal sein zu wollen. Darum hatte er besonders in ganz jungen Jahren gekämpft, wobei das einzig Unnormale an ihm sein afroamerikanisches Aussehen war. Jetzt fiel er dadurch natürlich schon lange nicht mehr auf, aber in seiner Kindheit in der Nachkriegszeit war er damit der Schandfleck schlechthin gewesen. Der Sohn einer deutschen Frau, der doch offensichtlich nicht von ihrem Ehemann stammen konnte, der zu dem Zeitpunkt im Krieg war und nie mehr wiederkehrte. Eins der zahlreichen Kuckuckskinder dieser Zeit; leider durch sein Äußeres gebrandmarkt.

Gespannt öffnete Werner den Briefumschlag und ging dabei vorsichtig mit einem Messer zu Werke. Diesen Brief umgab eine Aura des Besonderen und die wollte er nicht durch achtloses Aufreißen zerstören. Als er den gefalteten Zettel aus dem Inneren befreite, rutschte daraus ein kleiner silberner Schlüssel hervor und landete klirrend auf der Tischplatte vor ihm. Werner betrachtete den augenscheinlich sehr alten Schlüssel und ihn durchfuhr ein Blitz der Erinnerung. „Ach Werner, Unsinn, das kann doch nicht sein“, brummelte er sich selber zu und schalt sich gedanklich einen alten Narren. Zitternd öffnete er den gefalteten Bogen und blickte auf folgende Zeilen:

 

Lieber Werner,

hier ist dein Schlüssel, vielleicht möchtest du mal wieder nachschauen.

Meinen trage ich nach wie vor an meinem Herzen ...

 

Das war alles. Eine Unterschrift stand nicht darunter, aber die stattdessen gezeichnete Rose und der Inhalt dieser Nachricht sprachen für sich.

„Röschen“, kam es Werner wehmütig über die Lippen. Während die Zeilen, auf die er gebannt starrte, vor seinen Augen allmählich verschwammen, brach eine Flut von Erinnerungen über ihn herein …

 

Als Werner zehn Jahre alt war, starb seine Mutter. Obwohl nie über die Todesursache gesprochen wurde, erschloss es sich ihm später, dass sie den Freitod gewählt hatte. Dafür war sicherlich auch er verantwortlich beziehungsweise die Schmach, mit der sie durch seine Existenz leben musste. Erstaunlicherweise erklärten sich aber sein Onkel Rudolf und dessen Frau Anna bereit, ihn zu sich zu nehmen. Also verschlug es ihn anstatt in das örtliche Waisenhaus in ein entferntes bayerisches Dörfchen. Seine neuen Pflegeeltern waren im Dorf recht angesehene Leute, sodass man in erster Linie nur hinter vorgehaltener Hand über diesen doch ungewöhnlich dunkel geratenen Sprössling munkelte. Und den Eheleuten vielmehr in bewunderndem Staunen ein besonders großes Herz zusprach, da sie es auf sich nahmen, sich sogar um „so einen“ zu kümmern. Anna und Rudolf aber, die selber kinderlos waren, nahmen sich seiner mit so viel Liebe und Zuwendung an, wie Werner es in seinem Leben bislang noch nie erfahren durfte.

Es kam der Tag, an dem Werner in die kleine Dorfschule eingeführt werden sollte und vom Lehrer seinen Mitschülern vorgestellt wurde. Da saßen also über 30 Kinder der unterschiedlichsten Altersstufen in einem kleinen Nebenraum der Kirche und starrten Werner unverhohlen erstaunt, ablehnend oder sogar ängstlich an. Auf die Nennung seines Namens folgte spontanes Kichern; wahrscheinlich hatten sie einen anderen Namen erwartet, der zu seiner ungewöhnlichen Erscheinung passte. Als der Lehrer dann mit einem Stuhl in der Hand fragte, zu wem man diesen denn für Werner an den Tisch stellen könnte (es war ein kleiner Raum und die Kinder saßen schon recht dicht gedrängt), schauten alle entsetzt und breiteten sich so weit wie möglich aus, um zu demonstrieren, dass neben ihnen nun wirklich kein Platz mehr sei. Werner, der die ganze Zeit über kaum gewagt hatte, den Blick zu heben, starrte weiter betreten vor sich auf den Fußboden, in dem sich leider kein Loch zum Versinken für ihn auftat.

Doch plötzlich erklang eine zarte, aber bestimmte Mädchenstimme: „Hier neben mir ist Platz. Ich kann noch ein wenig aufrücken.“

Werner blickte auf und sah ein Mädchen mit zwei dicken goldblonden Zöpfen mit ihrem Stuhl ein Stückchen zur Seite rücken. Große himmelblaue Augen blickten ihn freundlich an und sie lächelte ihn schüchtern an. Das musste ein Engel sein!

Gut“, entgegnete der Lehrer und brachte den Stuhl kurzerhand bei diesem Mädchen hinten im Raum in Position, „dann sitzt du jetzt neben Rosemarie.“

Nachdem einige Schüler ihn misstrauisch beäugten oder sogar offensichtlich vor ihm zurückwichen, als er verschüchtert nach der Aufforderung des Lehrers den Weg zu seinem neuen Sitzplatz antrat, streckte ihm Rosemarie ihre Hand entgegen, die er dankend annahm; sie fühlte sich wie ein Rettungsanker an. „Ich bin die Rosemarie. Aber meine Freunde nennen mich Marie. Also sag einfach Marie.“

Hätte Werner in seinem zarten Alter schon etwas von der Liebe gewusst, hätte er sich eingestehen müssen, dass er sich in diesem Augenblick bereits schlagartig und unsterblich in Marie verliebt hatte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Tischnachbarin immer wieder verstohlen und dankbar von der Seite zu mustern und festzustellen, dass er noch nie ein so hübsches Mädchen gesehen hatte.

Marie nahm sich seiner in den nächsten Tagen an und zeigte und erklärte ihm alles Wissenswerte über die Schule und das Dorf. Während Werner das munter drauflos plappernde Mädchen die meiste Zeit über still anhimmelte und sich aufgrund ihrer engelsgleichen Gestalt Gedanken darüber machte, ob sie unter dem hübschen Kleidchen wohl Flügel verbarg, konnte er sich davon überzeugen, dass sein persönlicher Engel auch über schlagkräftige Argumente verfügte. Als sie in einer Pause mit ihm gemeinsam über die Schulwiese lief und begeistert von ihrer Katze erzählte, die fünf Junge bekommen hatte, ließ sie plötzlich seine Hand los und stapfte zu zwei Mitschülern, die unweit von ihnen standen. Sie baute sich vor den beiden auf, stemmte ihre Hände in die Seiten und verlangte in scharfem Tonfall: „Wiederhol das, was du da gerade gesagt hast!“

Werner war irritiert, da er ob seiner Bewunderung für Marie gar nichts anderes als ihre Stimme wahrgenommen hatte, und beobachtete, wie der angesprochene Junge ein spöttisches Grinsen aufsetzte und verächtlich ausspuckte: „Neger-Liebchen!“

Werner konnte die Bedeutung dieser Worte kaum so schnell erfassen, wie Marie ausholte und gar nicht engelsgleich mit aller Kraft ihre Faust dem Widerling frontal ins Gesicht rammte. Entschlossen stapfte sie zu dem erstaunten Werner zurück, nahm ihn mit einem „Komm, wir gehen“ bei der Hand und ließ den anderen Jungen jammernd mit blutiger Nase zurück. Sie bekamen nicht mehr mit, dass sich Maries älterer Bruder im Anschluss noch drohend an den heulenden Jungen wandte: „Wag es nicht, meine Schwester noch einmal zu beleidigen. Dann bekommst du es mit mir zu tun. Und glaube mir: Ich kann noch fester zuschlagen.“ Das Ganze zog zwar eine Standpauke und Strafarbeit von Seiten des Lehrers für Marie nach sich, aber von dem Tag an wagte es keiner mehr, Marie oder auch Werner öffentlich anzugreifen.

Das Einzige, was die innige Freundschaft zwischen Marie und Werner trübte, war die Tatsache, dass Maries Stiefvater ihr am liebsten den Kontakt mit „so einem“ verboten hätte. Aber da hatte Maries Mutter, von der die Tochter offensichtlich ihre Durchsetzungskraft geerbt hatte, zum Glück ein Wörtchen mitzureden. Schließlich war Marie „ihre“ Tochter und so blieb es dabei, dass Werner nur in dem Haus nicht erwünscht war, in welches der Stiefvater seine neue Familie aufgenommen hatte.

Aber das störte die beiden wenig, konnten sie sich doch bei Werner zuhause treffen oder an ihrem Lieblingsort, unter einer riesigen alten Eiche, die etwas außerhalb des Dorfes auf einer großen Wiese stand. Hier waren sie stets ungestört, da sich kaum ein Dorfbewohner je hierhin verirrte und auch die Kinder des Dorfes andere bevorzugte Plätze zum Spielen hatten. Sie spielten auf der Wiese, erfanden gemeinsam Geschichten oder saßen ganz einfach im Schatten des Baumes und unterhielten sich.

Ich mag Onkel Rudolf und Tante Anna. Ich bin froh, dass ich sie habe. Sie sind wie richtige Eltern für mich. Es fühlt sich für mich zum ersten Mal wie Familie an ...“, sinnierte Werner vor sich hin.

Marie knuffte ihn spielerisch in die Seite: „Ja, ich finde auch toll, dass es sie gibt. Stell dir mal vor – ohne sie hätten wir uns nie kennengelernt!“ Aber sogleich wurde sie ernst: „Ich würde meinen Stiefvater gerne eintauschen. Oder einfach weghexen. Ich hasse den.“

Sofort wurde Werner hellhörig: „Ist der gemein zu dir? Schlägt der dich etwa?“ Von so etwas hatte er schon öfter gehört; auch seiner Mutter hatte die Hand stets recht locker gesessen.

Nein, das nicht“, beschwichtigte seine Freundin ihn. „Aber er ist irgendwie komisch ... unheimlich. Ich kann das nicht erklären. Mein echter Papa war toll, den habe ich richtig lieb gehabt.“ Traurig blickte das Mädchen in die Ferne.

Ist er tot?“, fragte Werner vorsichtig.

Ja, er ist im Krieg gestorben. Ich war noch ziemlich jung damals, aber ich kann mich trotzdem noch ganz genau an ihn erinnern. Er hat immer Röschen zu mir gesagt. Kein anderer hat mich je so genannt.“ Unvermittelt riss sie sich aus ihren Tagträumereien: „Soll ich dir was zeigen? Das zeige ich sonst nie jemandem.“

Auf Werners neugieriges „Ja, klar“ zog Marie an ihrer Halskette und unter dem Kleid kam ein Anhänger zum Vorschein, ein silbernes Medaillon. Ehrfürchtig strich Marie einmal darüber und ließ es vorsichtig aufschnappen. Sie hielt ihrem Freund das geöffnete Medaillon entgegen und gab so einen Blick auf das eingefasste Foto frei. „Das ist mein Papa“, verkündete sie mit Stolz und Wehmut. „Den trage ich immer an meinem Herzen.“

Oh, er sieht sehr nett aus“, bekräftigte Werner, der spürte, wie wichtig Marie dieses Medaillon mit dem Foto des geliebten Vaters war und sich freute, dass sie es ihm gezeigt hatte. „Er wird von oben runtergucken und auf dich aufpassen. Und sich freuen, dass du ihn immer bei dir trägst.“

Ja, du verstehst mich“, entgegnete Marie, lächelte Werner glücklich an und ließ den Anhänger wieder sicher unter ihrem Kleid verschwinden.

So zog das erste Jahr für Werner in dem kleinen Dorf ins Land und er wurde mit der Zeit nur noch von wenigen Menschen schief angesehen, zumal er schnell für seine Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft bekannt war. Marie und er waren nach wie vor unzertrennlich.

Eines Tages war er mit Marie nach der Schule im kleinen Lädchen im Dorf, um ein paar Bonbons zu kaufen. Plötzlich hörte er von ihr ein beglücktes „Ohhh“ und wurde an der Hand gepackt und zu dem Schaufenster gezogen. „Schau mal“, rief Marie aufgeregt. „Ist das nicht wunderschön?“

Werner, der nicht genau orten konnte, welches Teil der Auslegeware das Objekt von Maries Begierde war, schaute verwirrt umher, bis Marie mit einem eindeutigen Fingerzeig auf eine kleine silberne Schmuckschatulle wies.

Ja, die Kiste ist ganz schön. Aber wofür ist die?“, fragte Werner ratlos und fast peinlich berührt, dass er Maries Aufregung nicht teilen konnte.

Pfff, Jungs ...“, pfiff Marie verächtlich durch ihre Zähne und die Verkäuferin, Frau Huber, kam ihr lächelnd zur Hilfe: „Das ist eine Schmuckschatulle, da kann man wertvolle Sachen sicher drin aufbewahren. Und sogar abschließen.“

Ach so“, kam es von Werner, für den diese Kiste nun einen praktischen Nutzen und somit Sinn bekommen hatte.

Zur Demonstration schloss Frau Huber das Kästchen auf und ließ die beiden kurz ins gepolsterte Innere schauen. Kurz darauf verschloss sie es wieder und stellte es zurück in das Schaufenster, um den soeben eingetretenen Kunden zu bedienen. Marie starrte unverwandt auf die Schatulle und flüsterte: „Herrje, ist die schön.“ Sie blickte Werner an, zog ihren Anhänger unter dem Kleid hervor und sagte fast tonlos: „Guck.“

Nun verstand Werner Marie endlich. Das Muster auf der Schatulle war dem auf ihrem geliebten Anhänger täuschend ähnlich; als wären beide Gegenstände aus demselben Guss gemacht. Aber sogleich verdüsterte sich Maries Miene, da sie zum ersten Mal das Preisschild neben der Schatulle wahrnahm. „Ach Mann, die ist aber teuer. So viel Geld habe ich ja in fünf Jahren nicht gespart.“

Werner streckte seinen Hals und pflichtete ihr bei: „Ja, das ist ein stolzer Preis.“ Er versuchte zu trösten: „Aber du kannst sie doch jeden Tag auf dem Weg zur Schule und zurück hier im Schaufenster bewundern.“

Ja, das kann ich wohl“, gab Marie zur Antwort. „Bei dem Preis wird sie bestimmt noch lange hier stehen.“

Werner ging dieses kleine Kästchen den restlichen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Oder vielmehr Maries strahlende Augen und Begeisterung, die es ausgelöst hatte. Er verstand sehr gut, warum diese Schatulle für seine Freundin so einzigartig schön war und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie ihr schenken zu können. In einer Woche würde sie zwölf Jahre alt werden und das wäre das ideale Geschenk. Er zählte seine Ersparnisse zusammen, die schon auf eine beachtliche Summe angewachsen waren. Er half regelmäßig bei einigen Bauern nach der Schule aus und hatte sich das Geld stets an die Seite gelegt. Aber er bekam doch nur knapp die Hälfte der erforderlichen Summe zusammen. Das würde er bis zur nächsten Woche niemals schaffen und dann bestand auch noch die Gefahr, dass jemand anderes ihm die Schatulle vor der Nase wegschnappte. In seiner Verzweiflung wandte er sich an Onkel und Tante, die ganz gerührt von dem Eifer des Jungen waren und ihm zusagten, dass sie sein Geld mit ihren Ersparnissen aufstocken würden. Unter der Bedingung, dass Werner weiterhin fleißig nebenbei Geld verdiente und es ihnen langsam abbezahlen würde. An diesem Abend war Werner der glücklichste Junge der Welt und malte sich ständig aus, wie überwältigt Marie von diesem Geschenk sein würde. Was hatte er doch für ein Glück mit seiner Familie!

Am nächsten Morgen, einem schulfreien Samstag, lief er direkt zur Ladenöffnungszeit zu Frau Huber. Strahlend legte er ihr das Geld auf den Tresen und sagte feierlich: „Dafür möchte ich gerne das Schmuckkistchen kaufen.“

Ach, für deine kleine Freundin, die Rosemarie?“, fragte die Verkäuferin lächelnd. Sie war ebenfalls berührt von der Großherzigkeit des Jungen, dessen Onkel und Tante sie gut kannte. Außerdem wusste sie Werner auch sehr zu schätzen, da er immer der erste der Jungen im Dorf war, der ihr beim Heben einer großen Kiste oder eines schweren Sackes behilflich war. „Die Rosemarie war aber auch begeistert von der Schatulle. Wo hast du denn das ganze Geld so schnell her?“

Werner erzählte ihr aufgeregt die Geschichte. Daraufhin schob Frau Huber zwei der Geldstücke über den Tresen zurück und entgegnete augenzwinkernd: „Und die darfst du behalten und bei Rudolf und Anna schon einen Teil der Schulden zurückbezahlen. Wenn ich dich auch in Zukunft darum bitten darf, dass du mir bei schweren Sachen zur Hand gehst.“

Aber sicher!“, rief Werner begeistert aus und konnte sich nicht bremsen, lief um den Tresen herum und schloss Frau Huber fest in die Arme. Etwas verlegen und zugleich erfreut tätschelte diese den Kopf des Jungen und sagte: „Na, dann lass uns das Kästchen mal schön einpacken.“

Werner nickte glücklich, hielt dann aber plötzlich nachdenklich inne. „Hm, Marie hat ja erst in einer Woche Geburtstag. Und das soll doch ihr Geburtstagsgeschenk werden. Aber wie traurig wird sie denn sein, wenn sie heute ins Schaufenster guckt und die Kiste schon weg ist?“

Da hast du natürlich recht“, stimmte Frau Huber zu, um sogleich vorzuschlagen: „Weißt du was? Wir lassen das Kästchen einfach bis zu ihrem Geburtstag im Fenster stehen. Dann kann sie es weiter bewundern, und wenn jemand kommt und es kaufen möchte, sage ich, dass es schon vergeben ist.“

So setzten sie den Plan auch um und Werner konnte die Nacht vor Maries Geburtstag vor Aufregung kaum schlafen. Wie sie sich freuen würde! Täglich hatte sie ihm vor dem Laden von der Schatulle vorgeschwärmt und Frau Huber hatte Werner stets verschwörerisch zugeblinzelt, wenn sie sicher war, dass Marie es nicht sah.

Am Tag ihres Geburtstages hatten sie sich für den späten Mittag an der alten Eiche verabredet. Da es auch ein Samstag war, hatten sie sich zuvor in der Schule nicht gesehen. Werner holte sein Geschenk mit stolzgeschwellter Brust von Frau Huber ab, die ihm die Schatulle besonders schön eingepackt hatte. Er wartete unter der Eiche auf seine Freundin und wurde ganz zappelig vor Aufregung, als er sie aus der erwarteten Richtung heranlaufen sah. Er nahm sie fest in die Arme und sagte: „Herzlichen Glückwunsch, Marie!“ Danach hielt er ihr grinsend das Geschenkpaket entgegen.

Oh, du hast sogar ein Geschenk für mich?“, entgegnete Marie überrascht. „Das ist aber lieb von dir.“

Ganz vorsichtig befreite sie ihr Geschenk von dem Papier und merkte dabei an, dass das Papier schon so wunderschön sei, dass sie es sich auf jeden Fall aufbewahren wollte. Als sie dann den kleinen Pappkarton öffnete, traute sie ihren Augen kaum und starrte unverwandt hinein, nicht in der Lage, sich zu rühren. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit blickte sie zu Werner hoch: „Aber das ist ja ... Das kann doch nicht ... Ist die für mich?“ Schnell schaute sie wieder hinunter auf das Päckchen in ihren Händen, als hätte sie Angst, dass sie sich verguckt hatte.

Na klar, oder hat hier sonst noch jemand Geburtstag?“, rief Werner fröhlich.

Marie hob ihren Kopf wieder und Werner sah, dass sich dicke Tränen in ihren Augen bildeten. „Aber Werner, die ist doch viel zu teuer ...“, flüsterte sie.

Pscht, das passt schon“, beschwichtigte Werner sie. „Ich habe mir das Geld ehrlich verdient und für dich ist mir dieses Geschenk gerade kostbar genug.“

Marie, der mittlerweile Tränenströme die Wangen herunterflossen, fiel ihrem Freund in die Arme und bedankte sich überschwänglich. Als sie sich wieder löste, guckte sie ihm fest in die Augen und gab ihm unvermittelt einen Kuss. Mitten auf den Mund. Ganz sanft. Nun war die Reihe an Werner, verdutzt dazustehen. Dies war sein erster Kuss von einem Mädchen und er sollte ihn zeitlebens als den süßesten in Erinnerung behalten.

Die beiden setzten sich gemeinsam unter die Eiche und Marie konnte gar nicht genug davon bekommen, die Schatulle vorsichtig in ihren Händen zu drehen und von allen Seiten zu inspizieren. Begleitet wurde das von zahlreichen „Oh“, „Guck mal“ und „Schau“, während Werner sich immer wieder klammheimlich mit den Fingern vorsichtig die Lippen betastete.

Irgendwann verdüsterte sich Maries Blick. „Hm, wenn mein Stiefvater die sieht, gibt es bestimmt Ärger. Der will dann wissen, wo ich so etwas Wertvolles herhabe und nimmt mir die weg. Erst recht, wenn er hört, dass ich sie von dir bekommen habe.“ Verzweifelt blickte sie Werner an.

Stimmt“, warf dieser nachdenklich ein. „Dann musst du sie eben gut verstecken. Wo er sie nie finden kann.“

Der findet ALLES“, betonte Marie mit einem tiefen Seufzer. „In seinem Haus gibt es kein Versteck, dass er nicht finden würde.“

Dann musst du sie halt woanders verstecken“, schlug Werner vor. „Ich habe auch schon eine ganz tolle Idee. Komm, ich zeig dir was.“ Er stand auf, nahm seine Freundin bei der Hand und zog sie hoch. Gemeinsam liefen sie zu der langen Mauer, die dicht bei der alten Eiche stand und quer über die Wiese verlief. Werner ließ seinen Blick prüfend über das Mauerwerk schweifen, zog Marie ein paar Schritte weiter mit sich und bückte sich. „Da!“, rief er triumphierend und löste einen Stein aus der Mauer, der nur noch die Hälfte seiner ursprünglichen Größe hatte und so einen Hohlraum hinter sich verbarg. „Da passt das Kästchen doch rein! Lass einfach den Karton drum herum, dann ist es auch gut geschützt.“

Maries Miene hellte sich schlagartig wieder auf. „Das ist eine super Idee! Ganz nah bei unserer Eiche. Da kann ich sie mir jeden Tag herausholen.“

Bestätigend nickte Werner.

Aber jetzt muss ich auch schon wieder nach Hause. Wir bekommen gleich Besuch von der Familie zu Kaffee und Kuchen, meine Geburtstagsgäste“, erklärte Marie entschuldigend und fügte sogleich hinzu: „Es tut mir leid, ich hätte dich auch gerne eingeladen ...“

Ich weiß, ist schon gut“, winkte Werner ab. „Dann lass uns dein Kästchen schnell verstauen.“

Marie legte drei Bonbons hinein, die sie noch in der Kleidschürze mit sich trug. „Damit wenigstens schon einmal etwas da drin ist“, erklärte sie, schloss die Schatulle gewissenhaft ab und ließ sie von Werner fachmännisch in dem Hohlraum verstauen und diesen mit dem Stein verschließen. Sie hielt die beiden Schlüssel in den Händen, schaute sie kurz nachdenklich an und übergab sie Werner mit einem „Halt mal eben“. Sie fasste sich am Hinterkopf unter die Haare, öffnete ihre Kette und nahm einen der Schlüssel wieder von Werners Handfläche, um ihn dort aufzuziehen. Flink legte sie sich die Kette wieder um den Hals und ließ sie demonstrativ über dem Kleidchen baumeln. „So“, bestätigte sie ihr Werk. Werner starrte sie ehrfürchtig mit großen Augen an: „So wichtig ist dir das Kästchen, dass du den Schlüssel dafür sogar zu deinem Vater an die Kette hängst?“

Mit ernstem Blick erklärte Marie: „Ja, das ist es. Aber nicht nur das Kästchen. Der, der es mir geschenkt hat, ist mir noch wichtiger. Und deswegen darfst du mich auch Röschen nennen.“

Während Werner zum ersten Mal in seinem Leben Tränen der Rührung in die Augen stiegen, drückte ihm Marie noch einen Kuss auf die Lippen. Sie hielt ihm den zweiten Schlüssel hin: „Und der ist für dich. Dann kannst du dir jederzeit auch ein Bonbon holen“, grinste sie.

 

In den folgenden Jahren trafen sich die beiden weiterhin nahezu täglich an ihrer alten Eiche; oft holte Marie das Kästchen aus dem Versteck, nahm eine kleine Leckerei heraus und legte einen anderen kleinen Schatz hinein. Und erfreute sich nach wie vor an der Schönheit des Kästchens.

Als beide mit 15 Jahren die Schule beendet hatten, begann Marie eine Lehre zur Hauswirtschafterin auf einem großen Bauernhof im Nachbardorf, bei dem reichsten Bauern im weiten Umkreis, der zugleich ein guter Freund ihres Stiefvaters war. Und Werner, um den sich die Bauern aufgrund seines Fleißes förmlich rissen, arbeitete gleich auf zwei verschiedenen Höfen als Knecht. So kam es, dass die beiden sich nur noch selten sehen konnten, da sie kaum einmal zur gleichen Zeit frei hatten. Sie sahen sich ab und zu sonntags, aber selbst das nicht regelmäßig, da auf Bauernhöfen eben auch sonntags gearbeitet werden musste. Aber diesen Umstand machten sie für sich erträglicher, indem sie sich angewöhnten, einander täglich kleine Zettelchen in das geheime Kästchen zu legen. Also ging jeder zu einer für ihn passenden Tageszeit zu der Mauer und öffnete erwartungsfroh die Schatulle, in der auch immer ein Bleistift lag und stets dafür gesorgt wurde, dass ein kleiner Zettelvorrat nicht zur Neige ging. So konnte der Empfänger des Briefchens gleich eine neue Botschaft für den anderen hinterlegen, falls er nicht schon selber eine vorbereitet und mitgebracht hatte. Werner bewahrte jeden Zettel von Marie fein säuberlich in einem Schuhkarton unter seinem Bett auf. Sein ganz persönlicher Schatz. Mittlerweile sah er Marie auch als seine „feste“ Freundin an. Außer Händchenhalten und einem Kuss zur Begrüßung und zum Abschied lief zwar nichts, aber gelegentlich malten sie sich eine gemeinsame Zukunft aus – wo sie leben würden, was sie machen würden.

Umso mehr beunruhigte es Werner, als Marie sich nach etwa einem Jahr veränderte. Sie wirkte plötzlich traurig und bedrückt, wollte aber nicht darüber reden und spielte alles damit herunter, dass die Arbeit momentan sehr anstrengend sei. Auch hinterließ sie nicht mehr täglich eine Nachricht für Werner im Schmuckkästchen, oft lief er mehrere Tage in Folge ergebnislos zu dem gemeinsamen Versteck. Auf dem letzten Zettel, den er von ihr vorfand, stand:

 

Komm bitte am Sonntag um 18 Uhr hierher.

Ich muss mit dir reden. Es ist ganz dringend.

Marie

 

Werner wurde nervös. Hier musste etwas ganz und gar nicht stimmen! Diese kurze unpersönliche Botschaft, noch dazu unterschrieben mit „Marie“ und nicht wie gewohnt „Dein Röschen“ oder „In Liebe, Röschen“.

Daher saß er an besagtem Sonntag schon ab 17 Uhr unter der alten Eiche und wartete mit einem flauen Magengefühl auf seine Freundin. Als diese kam, sah er, dass es ihr richtig schlecht ging. Sie war blass, sah abgespannt aus und hatte stark gerötete Augen. Als er sie besorgt in den Arm nehmen und zur Begrüßung küssen wollte, hielt sie ihn auf Abstand. „Werner, ich muss mit dir reden. Ich wollte es dir persönlich sagen.“ Die ersten Tränen kullerten ihr schon wieder die Wangen hinunter. „Hör mir bitte einfach zu und unterbrich mich nicht.“ Sie atmete einmal tief durch und führte fort: „Ich werde heiraten. Noch diesen Monat. Karl, den ältesten Sohn des Bauern, bei dem ich arbeite.“

Werner fühlte sich, als ob soeben eine Abrissbirne in seinen Magen eingeschlagen wäre, ihm wurde schwummerig. „Du ... was?“

Bitte frag nicht, Werner. Es tut mir leid, ich möchte dich nicht verletzen. Aber solche Dinge passieren eben.“ Wie zur Bestätigung fügte sie hinzu: „Ich habe mich in Karl verliebt.“

Werner stand wie vom Donner gerührt vor Marie und war nicht in der Lage, irgendetwas zu erwidern. Unter Schluchzern ergänzte Marie: „Und da ich nun verlobt bin, kann ich mich natürlich nicht mehr mit anderen Männern treffen. Deswegen wollte ich mich von dir verabschieden, für immer.“

Werner schwieg noch immer und hoffte, gleich aus diesem bösen Traum zu erwachen. Marie neigte sich ihm zu und wollte ihn offensichtlich umarmen, entschied sich im letzten Moment aber doch anders. Sie sagte im Umdrehen heiser „Leb wohl“ und rannte weg. Fort aus Werners Leben.

Werner verstand das alles nicht. Nicht einmal ansatzweise. Aber er hatte begriffen, dass Maries Entscheidung unabwendbar feststand. Daher kehrte er in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages, nach einer schlaflosen Nacht, noch ein letztes Mal zu der alten Eiche zurück. Er verstreute auf der Wiese die winzigen Schnipsel, in die er die Zettel aus seinem Schuhkarton zerrissen hatte, und legte anschließend seinen Schlüssel in die kleine Schatulle in der Mauer.

Als er ein paar Monate darauf durch den Dorftratsch erfuhr, dass Marie schon einen unübersehbaren Babybauch vor sich trug und dies wohl der Grund für die frühe und überstürzte Heirat gewesen sei, fasste er einen Entschluss. Schon direkt nach der Schule hatte der Bruder seines Onkels ihm vorgeschlagen, dass er zu ihm kommen könne. Er wohnte 400 Kilometer entfernt und hatte eine recht große Firma, in der er ihn gerne zum Kaufmann ausgebildet hätte, zumal Rudolf und Anna stets in höchsten Tönen von seinem Arbeitseifer und seinen ebenso guten Schulnoten schwärmten. Da wäre ein Leben als Knecht eine Verschwendung seiner Fähigkeiten. Aber für Werner war es zum damaligen Zeitpunkt nicht vorstellbar gewesen, so weit von seinem Zuhause (und Marie!) fortzugehen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt dafür ...

 

Seufzend tauchte Werner aus seinen Erinnerungen wieder auf. Sein Röschen ... Sie war der Grund dafür, warum es in seinem späteren Leben mit den Frauen einfach nie klappen wollte. Keine war wie sein Röschen, keine konnte sein Herz und seinen Geist so rühren, die Küsse keiner anderen Frau waren so sanft und lieblich. Mit keiner konnte er gemeinsam so lachen oder auch weinen, oder in stillem Einverständnis wortlos beieinandersitzen. Und keine hatte ihn je so verletzt. Nicht einmal annähernd. Vielmehr war wohl er derjenige, der unbeabsichtigt einige Frauenherzen gebrochen hatte.

Er betrachtete die Zeilen auf dem Zettel vor ihm, wobei er den kleinen Schlüssel sanft in seiner Hand wiegte. Sollte Röschen tatsächlich die alte Schmuckschatulle von früher wieder in der Mauer deponiert haben? Für ihn? Sollte er die weite Reise in das Dorf seiner frühen Jugend auf sich nehmen, nur um vielleicht festzustellen, dass die Mauer oder die Schatulle gar nicht mehr existierten? Aber Röschens Botschaft war doch eindeutig ... Ihm war es ganz egal, ob er hinterher als törichter alter Narr dastand. Wem war er schon Rechenschaft schuldig?

Am übernächsten Tag machte er sich mit der Bahn auf die Reise. Als er nach einem längeren Fußmarsch recht erschöpft an der Wiese ankam, auf der immer noch die alte Eiche sowie die Mauer standen, fühlte er sich augenblicklich in seine Jugend versetzt. Hier hatte sich nichts verändert. In der Mauer fand er auch tatsächlich den losen Stein und die Schatulle dahinter. Mit zitternden Händen schloss er sie auf und nahm einen Briefbogen heraus, mit dem er sich an der Eiche schwerfällig niederließ.

 

Lieber Werner,

ich hoffe inständig und bete, dass du diesen Brief liest, wenngleich mich der Gedanke auch sehr nervös macht. Ich wollte ihn dir zunächst per Post schicken, habe mich aber entschieden, dass er dich auf diesem Wege nur dann erreichen soll, wenn du wirklich Interesse daran hast.

Ich habe dich damals angelogen. Ich hatte mich nicht in Karl verliebt; nie hätte ich einen anderen Mann als dich für mich gewählt!

Was ich dir jetzt schreibe, habe ich in meinem ganzen Leben keiner Menschenseele anvertraut, zu tief war meine Scham darüber, obwohl ich weiß, dass mich keine Schuld trifft. Ich musste heiraten. Das wurde von meinem abscheulichen Stiefvater und dessen widerwärtigem Freund, dem Bauern, bei dem ich arbeitete, so beschlossen. Ich war nämlich schwanger. Von wem weiß ich nicht. Mein Stiefvater und der alte Bauer hatten mich gemeinsam vergewaltigt. Da schien der älteste Sohn Karl ein passender Ausweg für die missliche Situation zu sein. Dieser wunderte sich scheinbar im Nachhinein auch nie über unsere bereits nach knapp sechs Monaten geborene Tochter, welche mit einem schweren Herzfehler zur Welt kam und mit zwei Monaten gestorben ist. Gott möge mir verzeihen, aber ich habe ihr nicht hinterher getrauert.

Karl, den ich nie geliebt habe, aber der kein schlechter Mann war, ist letztes Jahr gestorben. Ich habe den Hof verkaufen lassen und lebe jetzt in der kleinen Wohnung hinter dem Laden, den Frau Huber früher hatte. Wenn du magst, steht meine Tür jederzeit offen für dich!

In unvergänglicher Liebe, dein Röschen

 

Schwerfällig erhob sich Werner vom Boden, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und machte sich entschlossenen Schrittes und mit klopfendem Herzen auf den Weg zu Frau Hubers altem Laden ...

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.11.2016

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