Kati ließ sich auf den Sitzsack in meinem Zimmer plumpsen und schaute mich erwartungsvoll an. „Und? Was gibt es so Dringendes, dass ich unbedingt sofort herkommen musste?“
Sie hoffte bestimmt auf den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Freundeskreis, auf brisante Neuigkeiten, aber da musste ich sie enttäuschen.
„Ja, also ... ich ... also der Harald ... ähh“, druckste ich herum, bevor es aus mir herausplatzte: „Der Harald ist nicht mein Vater!“
Kati sah mich irritiert an. „Anja, ich weiß, dass du Probleme mit ihm hast und ihn nicht einmal ‚Papa’ nennst. Aber was ist denn jetzt wieder passiert, dass du so etwas sagst?“
„Nein, du verstehst mich nicht.“ Hilflos sah ich meine beste Freundin an. „Es ist biologisch unmöglich, dass er mein Vater ist. Unsere Blutgruppen passen nicht.“
„Ach, das gibt’s doch nicht! Echt?“ Kati schaute noch verwirrter. „Mir war das heute in Bio ja alles viel zu kompliziert mit dem Vererbungskram ... Bist du dir sicher? Woher weißt du überhaupt eure Blutgruppen?“
„Tja, meine kenne ich, weil letztes Jahr nach der blöden Krankheit bei mir umfassende Blutuntersuchungen gemacht wurden. Und Mama und Harald haben beide einen Blutspendeausweis. Die liegen hier im Schrank bei den wichtigen Unterlagen. Da habe ich draufgeschaut: Absolut ausgeschlossen, dass er mein Vater ist.“
„Das ist ja ein dickes Ding!“, rief Kati aufgeregt. „Aber hast du denn schon weitergeforscht? Ich meine, so etwas muss doch auch in der Geburtsurkunde stehen. Und im Familienstammbuch.“
Mit einem Seufzer schaute ich sie an. „Das ist es ja. Solche Dokumente sind hier nirgends zu finden. Nichts, wo offiziell drinsteht, dass Harald mein Vater sein könnte. Und Mama hat doch sonst immer alles so ordentlich an Ort und Stelle.“
Einen Moment herrschte Schweigen und ich konnte sehen, wie es in Katis Kopf arbeitete. Bis sie mich mit großen Augen ansah und hauchte: „Und was ist, wenn Bettina auch gar nicht deine Mutter ist?“
„Mensch, Kati, was soll das denn jetzt? Wie kommst du denn auf so etwas?“ Ich war mittlerweile vom Bett aufgestanden und lief nervös im Zimmer auf und ab.
„Na, ihr seid doch vor 14 Jahren aus Süddeutschland hierher in den hohen Norden gezogen, als du noch ein Baby warst. Und ihr habt überhaupt keine Kontakte mehr in eure Heimat. Keine Familie, nichts. Das ist doch schon merkwürdig.“ In Katis Augen blitzte es, so als ob sie eine ihrer heißgeliebten Kriminalstorys aufklären wollte. „Vielleicht haben deine Eltern dich ja als Baby geklaut!“
Manchmal konnte sie echt nerven. Anstatt mich zu beruhigen, weitete sie das Ganze zu einem kompletten Schreckensszenario aus. Ich entgegnete gereizt: „Na, das mit der Familie ist halt so. Harald hat keine Geschwister und den Kontakt zu seinen Eltern aus irgendwelchen Gründen schon früh abgebrochen. Und die Geschichte mit Mamas Familie kennst du ja. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, als Mama noch zur Schule ging. Und meine einzige Tante habe ich nie kennengelernt – die ist auf Nimmerwiedersehen nach Indien durchgebrannt.“
„Ist ja gut, war nur so eine blöde Idee. Du weißt ja, manchmal geht es einfach mit mir durch.“ Kati stand auf und nahm mich beschwichtigend in die Arme. „Und deswegen gehen wir der Sache jetzt auf den Grund und suchen nach deiner Geburtsurkunde.“
„Aber wo denn? Ich habe hier heute echt schon alle Schränke und Schubladen durchwühlt. Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Esszimmer – bis in die letzten Ecken.“ Resignierend hob ich die Schultern.
„Und auf dem Dachboden?“, fragte meine Freundin, während ihre Augen wieder dieses unternehmungslustige Funkeln annahmen.
„Der Dachboden? Daran habe ich gar nicht gedacht ... den nutzen wir eigentlich so gut wie gar nicht.“
„Eben drum“, bekräftigte Kati und zog mich in Richtung der Luke zum Dachboden.
Nachdem wir den alten Holzschrank und die beiden Kommoden auf dem Dachboden erfolglos abgesucht hatten und auch sonst jede verstaubte Ecke inspiziert hatten, schauten wir uns ratlos an. Kati hatte sogar alle Schrankfächer und Schubladen akribisch nach doppelten Böden durchsucht und abgeklopft. „Das war wohl nichts“, stellte ich enttäuscht fest.
„Warte, eben noch hinter die Schränke schauen! Komm, hilf mir mal, den schweren Schrank vorzurücken.“ Es war Kati anzumerken, dass sie sich nicht geschlagen geben wollte.
Kaum hatten wir den Schrank ausreichend von der Wand abgerückt, verschwand sie auch schon in dem Spalt. Sie hustete und spuckte. „Scheiß Spinnennetze! Bah, ist das eklig.“ Aber Kati ließ sich nicht beirren und kurz darauf vernahm ich ein Klopfen und Abtasten der hinteren Schrankwand. „Los Anja, komm mal schnell mit der Taschenlampe um die Ecke! Ich brauche mehr Licht. Hier ist irgendwas hinter den Schrank geklemmt. Eine Platte oder so“, rief sie aufgeregt.
Kurz darauf kam sie mit einem Gegenstand hinter dem Schrank hervor. Es sah wirklich aus wie eine Platte, die mit einer blickdichten Plastikfolie umwickelt war. „Nun bin ich aber gespannt“, frohlockte Kati und machte sich ans Auswickeln. Kurz darauf hielt sie ein Gemälde in den Händen. „Hm, toll. Warum war das jetzt so sorgfältig versteckt? Sie drehte es um, legte es auf den Boden und inspizierte die Rückwand. „Hier ist auch nichts verborgen. Mist! Das wäre es jetzt doch gewesen.“
Ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Der erste flüchtige Blick, den ich auf das Gemälde erhaschen konnte, hatte mich umgehauen. „Dreh es wieder um“, flüsterte ich, „schnell.“
Mit ehrfürchtigem Staunen betrachtete ich das Bild. „Es ist so schön. So wahnsinnig schön“, hauchte ich.
Ich nahm den argwöhnischen Blick meiner Freundin gar nicht wahr, ihr Gerede drang wie durch Watte gedämpft zu mir. „Naja, es ist ganz ok. Halt ein Raum mit einer offenen Tür. Aber was soll das hinter der Tür sein? Ein Ozean? Ein grünlicher Himmel? Verstehe ich nicht. Hm, ich habe auch gar keine Ahnung von Kunst. Ähm, Anja, heulst du etwa? Warum weinst du?“
Jetzt bemerkte ich auch, dass mir Tränen die Wangen herunterliefen. „Weil es so überwältigend schön ist“, gab ich mit zitternder Stimme zur Antwort.
„Also Anja, jetzt mal ganz im Ernst. Wir wühlen hier über eine Stunde auf dem staubigen Dachboden rum, weil du der Überzeugung bist, dass dein Vater nicht dein Vater ist. Und jetzt heulst du, weil du irgendein Bild so schön findest? Das kann ...“
Der Rest der Ausführungen meiner Freundin verlor sich im Wattenebel. Ich starrte wie gebannt auf das Bild, das türkisfarbene Etwas hinter der Tür fing an sich zu bewegen. Ich fühlte mich ganz warm und wohlig und konnte mich dem Geschehen hinter der Tür nicht entziehen; ich ließ mich gleiten. Plötzlich lichtete sich der blaugrüne Strudel und vor mir stand eine wunderschöne Frau in weißem Gewand. Das musste ein Engel sein! Sie strahlte mich mit einem überwältigenden Lachen an und streckte die Arme nach mir aus. Ich lief ihr glücklich entgegen ...
„Anja, ANJA!!! Verfluchte Scheiße, wach auf!“
Gerade war alles noch so unbeschreiblich schön gewesen, jetzt wurde ich von heftigen Ohrfeigen meiner Freundin wieder in die Realität des Dachbodens zurückgeholt. Ich lag auf dem Boden. „Was ... was ist passiert?“
„Gott sei Dank, du lebst!“ Jetzt war es Kati, der Tränen das Gesicht herunterliefen. „Ich hatte solche Angst. Du hast die Augen im Kopf verdreht und bist einfach umgekippt.“
„Das Bild ...“, murmelte ich.
„Ja, das Bild. Das scheint dir irgendwie gar nicht gut bekommen zu sein. Los wir gehen jetzt wieder runter und du trinkst erst einmal was. Wahrscheinlich hast du heute vor lauter Aufregung auch noch gar nichts gegessen, ich kenne dich doch. Das war heute alles zu viel für dich. Keine Widerrede – wir gehen.“
Kati päppelte mich in der Küche mit Cola und Käsebrot wieder auf. Ich konnte ihr nicht erklären, was da gerade auf dem Dachboden mit mir passiert war, verstand ich es doch selber nicht. Wahrscheinlich hatten mir meine angespannten Nerven einfach etwas vorgegaukelt. Meine Freundin blieb bei mir, bis zwei Stunden später meine Mutter von ihrem Dienst im Krankenhaus zurückkehrte. Kati wollte sichergehen, dass ich alleine keinen Unsinn machte, und nahm mir das Versprechen ab, noch am selben Abend mit meiner Mutter über die merkwürdigen Geschehnisse auf dem Dachboden zu sprechen. Denn irgendetwas schien es zweifellos mit dem gut versteckten Gemälde auf sich zu haben. Außerdem meinte sie, ich sollte meine Mutter frei heraus auf meine Vaterschaftszweifel ansprechen. Wir hätten doch so ein gutes Verhältnis zueinander, dass sie sicher mit mir darüber sprechen würde.
Innerlich widerstrebte es mir, meine Mutter darauf anzusprechen. Das würde doch zweifelsohne Stress und negative Gefühle auslösen. Dabei hatte ich mich so auf heute Abend und die kommenden drei Tage gefreut, in denen Harald auf Geschäftsreise war. Weit weg in Österreich. Ohne ihn war es immer so entspannt, Mama schien stets losgelöst von allen Sorgen und es waren herrliche „Mädels-Tage“ ohne ihn. Aber komischerweise war mir das Gemälde momentan viel wichtiger als Harald.
So ergriff ich beim Abendbrot bei entspannter Stimmung die Gelegenheit: „Du, Mama – Kati und ich haben heute ein wenig auf dem Dachboden herumgestöbert.“
„Auf dem Dachboden? Da ist doch nicht viel außer Staub und alten Sachen“, kam die fragende Entgegnung.
„Wir ... wir haben ein Bild gefunden. Ein wunderschönes Gemälde mit einem offenen Tor.“
Mutter verschluckte sich an ihrem Brot, fing heftig an zu husten und herrschte mich hinterher an: „Gefunden? Das könnt ihr doch nicht einfach so gefunden haben! Ihr habt herumgeschnüffelt!“ Sie sprang von ihrem Stuhl auf und warf diesen beinahe um.
Entsetzt starrte ich meine Mutter an. Es war so gar nicht ihre Art, laut und ungehalten zu werden. Das war eindeutig Haralds Spezialgebiet. Als sie meinen ungläubigen Blick wahrnahm, setzte sie sich wieder und murmelte: „Entschuldigung, ich wollte dich nicht anschreien. Du hast ja nichts falsch gemacht.“
Ich sah, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten, und strich ihr besänftigend über den Arm. „Mama, ich wollte dich nicht aufregen. Aber irgendetwas ist mit dem Bild. Und ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist ...“
Daraufhin erzählte mir meine Mutter die ganze Geschichte. Zunächst zögernd und stockend, doch sie geriet zunehmend in einen Erzählfluss, sodass ich den Eindruck hatte, sie sprudelte alles hervor, was schon Ewigkeiten auf ihrer Seele lastete. Noch nie zuvor hatte sie mir ausführlich von meiner Tante Mia, ihrer Schwester, erzählt; dieses Thema wurde immer schnell abgeblockt und irgendwann hatte ich einfach auch nicht mehr nachgefragt. Mama sprach nicht gerne über ihre Vergangenheit, der frühe Tod ihrer Eltern und das Verlassenwerden durch ihre Schwester hatten ihr wohl zu sehr zugesetzt.
Nach ihren Ausführungen hatte Tante Mia, die als freischaffende Künstlerin tätig war, mir das Bild zur Geburt geschenkt. Es sollte mein persönliches Schutzbild sein, das alles Böse von mir fernhalten sollte. Tante Mia hatte eine ausgeprägte spirituelle Ader. Anfangs hatte das Bild auch über meinem Babybett gehangen, aber nachdem Mia von heute auf morgen ohne Ankündigung nach Indien verschwunden ist, hatte Harald das Gemälde abgenommen. Das Bild und alles andere, was an Mia erinnerte, hatte er weggeschmissen oder vernichtet. Daher hatte ich auch nie ein Foto von meiner Tante gesehen. Meine Mutter hatte es allerdings geschafft, das Gemälde in letzter Minute vom Sperrmüll zu retten und es hinterher gut versteckt. Harald war wohl sehr sauer auf Mia und meinte, man könnte doch schon erkennen, wie bescheuert die „esoterische Alte“ wäre, dass sie mir so ein fürchterliches Bild mit Höllenfeuer als Schutzbild schenken würde. Davon würde man doch nur Albträume bekommen.
„Höllenfeuer?“, unterbrach ich meine Mutter stirnrunzelnd. „Wo ist denn da ein Feuer?“
„Tja, das war immer das Unerklärliche bei Mias Bildern“, antwortete meine Mutter und schaute wie entrückt auf einen imaginären Punkt an der Küchenwand. „Bei ihren Gemälden war es nicht nur so, wie es oft der Fall ist, dass jeder sie anders interpretiert. Die hat auch jeder anders GESEHEN. Es klingt absolut unglaublich, aber Harald hat das Bild offensichtlich wirklich in ganz düsteren Farben mit einem lodernden Feuer hinter der Tür gesehen.“
„Ach, das gibt’s doch nicht!“ Mehr brachte ich in meinem Erstaunen nicht heraus.
„Deswegen nannte Mia ihre Bilder auch immer Seelenbilder. Sie meinte, einige Menschen wären in der Lage, sie mit anderen Augen zu betrachten. Als Spiegel ihrer Seele.“
Eine Weile herrschte Stille in der Küche, man konnte das Ticken der altmodischen Wanduhr hören. Wir beide hingen unseren Gedanken nach. Schließlich brach ich das Schweigen: „Mama, hast du denn auch ... etwas Besonderes oder Ungewöhnliches in ihren Bildern gesehen?“, fragte ich vorsichtig nach.
„Nein, leider nicht“, entgegnete meine Mutter sehnsuchtsvoll. „Ich fand sie immer nur magisch und wunderschön – wie alles an Mia. Sie war einfach wunderbar. Eine strahlende Schönheit mit einer umwerfenden Ausstrahlung, warmherzig, intelligent und kreativ. So ganz anders als ich ...“
„Mama, war Mia groß und sehr schlank?“, unterbrach ich meine Mutter, „mit strahlend blauen Augen, einem umwerfenden Lächeln und tiefen Lachgrübchen? Und honigblonden lockigen Haaren, die ihr weit über die Schultern reichten?“
An Mamas Blick sah ich, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
„Anja, woher weißt du das? Es gibt doch keine Fotos mehr von Mia ...“
„Mama, ich habe sie gesehen“, brach es aus mir heraus, „auf dem Bild, hinter der Tür. Sie wollte mich in die Arme nehmen und es hat sich so wahnsinnig gut und richtig angefühlt. Ganz unerklärlich.“
Daraufhin fingen wir an zu weinen und trösteten uns gegenseitig. Ich merkte, wie sehr meine Mutter ihre Schwester stets vermisst hatte und mit keinem darüber reden konnte. Sie erzählte mir, dass die vier Jahre ältere Mia sich nach dem Tod ihrer Eltern wie eine Mutter um sie gekümmert hatte und sie ihr sehr viel zu verdanken hatte. Daher war es auch so unerklärlich, dass Mia ohne ein Wort einfach verschwunden war.
Wir saßen noch bis spät in die Nacht zusammen und Mama erzählte mir viele Begebenheiten aus ihrem Leben mit Mia. Ich drängte sie, mit mir zusammen auf den Dachboden zu gehen, um das Bild gemeinsam anzuschauen. Aber Mama war zu erschöpft und überwältigt von den Erinnerungen an ihre Vergangenheit und wollte das auf den nächsten Tag verschieben. Der Anblick des Gemäldes würde sie noch mehr aufwühlen, und für mich wäre es nach den Ereignissen des Tages auch an der Zeit, zur Ruhe zu kommen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass Mama mir noch nicht alles erzählt hatte. Aber für den heutigen Tag wollte ich alles erst einmal auf sich beruhen lassen.
Sobald ich im Bett lag und die Augen schloss, sah ich das Bild detailgetreu vor mir. Ich weiß nicht, ob ich bereits eingeschlafen war und träumte, oder ob ich wieder in diesen tranceähnlichen Zustand, wie zuvor auf dem Dachboden, gezogen wurde. Der Strudel hinter der Tür setzte sich erneut in Bewegung und Tante Mia erschien. Noch strahlender und schöner als am Nachmittag – wenn das überhaupt möglich war. Trotz allem Strahlen lag in ihrem Blick etwas Sehnsuchtsvolles und Trauriges. Sie streckte die Arme nach mir aus und wiederholte immer wieder: „Anjuli, meine Anjuli ...“ Dieses Mal gelang es mir, mich von ihr in die Arme nehmen zu lassen und ein einzigartiges und überwältigendes Gefühl umfing meinen Körper. Als ich gestärkt von Mias positiver Energie war, zeigte sie mir andere Bilder ... ganz fürchterliche, ungeheuerliche und verstörende Geschehnisse. Die ich nur ertragen konnte, weil ich Mias Kraft und Wärme spürte sowie ihr dringendes Bedürfnis, mir diese zu offenbaren.
Am nächsten Morgen stürzte ich nach dem Aufwachen direkt in die Küche. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, hatte ich doch die fürchterlichen Bilder im Kopf. Also fing ich vorsichtig an: „Mama, was meint Tante Mia mit Anjuli?“
Mit einem hässlichen Geräusch zerschellte die Kaffeetasse meiner Mutter auf den Küchenfliesen. Sie starrte mich an, als hätte sie soeben einen Geist gesehen, ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und begann bitterlich zu weinen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Weinkrämpfe und Schluchzer nachließen, und sie wieder mit mir sprechen konnte.
„Anja, mein Schatz. Bei allem, was ich dir jetzt sage, musst du immer daran denken, dass ich dich über alles liebe. Ich hätte schon längst mit dir darüber sprechen müssen, aber ich konnte es einfach nicht. Ich dachte, es wäre das Beste so ... Anjuli ist dein Name, also dein eigentlicher Name.“
Ich wagte nicht, sie zu unterbrechen und ließ ihr die Zeit, bis sie weiterreden konnte. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass ich ohnehin keinen Laut über die Lippen bringen könnte. Und dann erfuhr ich die ganze Wahrheit ...
Mia war meine Mutter!
Als ich acht Monate alt war, verschwand sie. Bettina, von der ich bis heute annahm, sie sei meine Mutter, fand Mias Häuschen am Waldrand verlassen vor, als sie zum verabredeten Frühstück erschien. Nur eine kurze Nachricht lag auf dem Küchentisch, offensichtlich auf die Schnelle ausgedruckt:
„Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich fange in Indien ein neues Leben an. Sucht nicht nach mir.“
Das war alles. Kein Wort von mir, die Bettina kurz darauf im Babybett sitzend vorfand, mit unverwandtem Blick auf das Schutzbild darüber. Bettina konnte das alles überhaupt nicht fassen. Sie beteuerte, nie im Leben hätte Mia mich einfach so zurückgelassen. Ich wäre ihr Ein und Alles, ihr größter Lebensinhalt gewesen. Sie hatte sich ganz bewusst dafür entschieden, mich in die Welt zu setzen – auch ohne Partner, denn den hatte sie nie erwähnt, da er nicht wichtig wäre. Sie nannte mich Anjuli, ein indischer Name, der „Gottesgeschenk“ oder „Glückbringende“ bedeutet. Sie hatte des Öfteren davon gesprochen, dass sie gerne in Indien leben würde, da sie die Kultur liebte und so oft wie möglich ihre Urlaube dort verbrachte.
Aber Bettina war überzeugt, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein müsste und diese belanglosen Zeilen auf dem Stück Papier nicht von Mia stammen konnten. Nie hätte sie mich zurückgelassen, nie wäre sie ohne ein einziges Wort an Bettina fortgegangen, da die beiden eine sehr innige Beziehung hatten.
„Und das war das einzige Mal im Leben, dass ich mich gegenüber Harald durchgesetzt habe. Ich habe gesagt, dass ich dich zu mir nehme, denn ich liebte dich von Anfang an wie ein eigenes Kind. Selber konnte ich keine Kinder bekommen. Ich habe Harald klargemacht, dass ich dich auch alleine großziehen würde, wenn er dagegen wäre. Er willigte ein, unter der Bedingung, dass wir weit wegziehen aus unserer Heimat, alle Spuren von Mia vernichten und dir gegenüber nur eine verschwundene Tante erwähnen, über die wir nicht sprechen wollen. Außerdem bestand er darauf, dass wir deinen Namen Anjuli in Anja ändern. Er wollte einen ‚ordentlichen’ Namen und nicht so ein ‚esoterisches Spinnerkram’. Dabei fand ich Anjuli so wunderschön ...“
Obwohl ich gerade mit so viel Unfassbarem konfrontiert wurde, drängten sich mir die Bilder aus dem Traum wieder auf. Oder gerade deswegen, spielte darin doch auch Harald die Hauptrolle.
„Mama“, ich stockte „ich nenne dich einfach Mama, weil du für mich immer meine Mama warst ... Ich habe was gesehen. Mia hat es mir im Traum gezeigt.“ Meine Stimme drohte zu versagen und ich wimmerte: „Harald hat Mia bedrängt und sie haben sich heftig gestritten. Als Harald sie dann wieder packen wollte und sie auswich, stürzte sie und knallte im Hinfallen mit dem Kopf auf einen dicken Stein und verlor das Bewusstsein. Dann hat Harald ihr mit beiden Händen den Hals zugedrückt. Einfach so ...“ Ich blickte Mama an und machte eine hilflose Geste mit den Händen. Ich hatte Angst, sie würde mir nicht glauben, alles als Spinnerei abtun. Aber in ihrem Gesicht sah ich, dass sie geradezu einer Erkenntnis kam. Alles ergab plötzlich einen Sinn. Also setzte ich nach: „Er hat sie vergraben. Tief im Wald, ganz in der Nähe eines alten Turms hinter einer Böschung.“
„Das war früher unser Geheimversteck. Dieses elendige Dreckschwein!“, brachte Mama unter Tränen hervor. Sie nahm mich in die Arme und sagte: „Mein Schatz, pack deine wichtigsten Sachen zusammen. Und das Bild. Wir fahren in unsere Heimat. Dort gibt es einiges zu klären. Ich rufe direkt die örtliche Polizei dort an und sehe zu, ob ich auf diese Weise schon einmal Ausgrabungsarbeiten bei dem alten Turm in die Wege leiten kann.“
Bildmaterialien: Gemälde Manuela Schauten alias schnief
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2016
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