In Gedenken an Cecilia Troncho
Ein geschätztes Mitglied unserer Autorengruppe
musste sich Ende des Jahres 2015 dem ungerechten Kampf
gegen eine tückische Krankheit geschlagen geben.
Cecilia, Du fehlst uns!
Ebenso Deine tiefgründigen Geschichten und Essays,
Deine stets ehrlichen, intelligenten und treffenden
Beiträge und Kommentare.
Durch Deine Texte wirst Du in unseren
Gedanken und Herzen weiterleben ...
*****
Der Tod, ein kalter Geselle,
schleicht um das Haus.
Er blickt durch die Ritzen der Fenster
und durch die Schlüssellöcher.
So bleiben die Geschichten im Köcher
und die Worte im Halse stecken.
Cecilia Troncho, im Herbst 2015
1. Im Schatten schwerer Flügel (Bert Rieser) |
2. Rechts gedreht (Karin Hufnagel) |
3. Miguel (Andreas Jurat) |
4. Spektrum (Emma Nentwig) |
5. Impuls gleich Masse mal Geschwindigkeit (Marcel Porta) |
6. Universitärer Katzenjammer (JHD Spreemann) |
7. Der Mondmann (Karin Hufnagel) |
8. Zurück auf Los (Bert Rieser) |
9. Sobibor – Fragmente einer vergessenen Flucht (Ralf von der Brelie) |
10. Der Engel (Andreas Jurat) |
11. Kleinstadtidylle (Viola Senkel) |
12. Mila (Karin Hufnagel) |
13. Perpetuum (Marcel Porta) |
14. Ein ganz normaler Tag (Ute Look) |
15. Ich heiße Abdul (JHD Spreemann) |
16. Zufälle (Bert Rieser) |
17. Franziska kündigt (Andreas Jurat) |
18. Hoffnung (Saskia Kruse) |
19. Heute ist ein guter Tag (Karin Hufnagel) |
20. Schneebedeckt (Marcel Porta) |
21. David von Michelangelo und sein Stellvertreter (Phil Humor) |
22. Neuordnung (Bert Rieser) |
23. Rückwärts in die Ewigkeit (Karin Hufnagel) |
24. O Fortuna velut luna (JHD Spreemann) |
25. Nur fünf Sekunden (Andreas Jurat) |
Unsere Autoren im Überblick |
Auch im Jahr 2015 hat es sich unsere Autorengruppe wieder zum Ziel gesetzt, eine Anthologie als Gemeinschaftsprojekt in monatlichen Schreibwettbewerben entstehen zu lassen.
Nachdem wir die Verkaufserlöse unserer Anthologie »LEBENSBUNT – Löwenherz-Geschichten« aus dem Jahr 2014 komplett dem Kinderhospiz Löwenherz zufließen lassen, haben wir uns für unser diesjähriges Werk als Spendenziel für die Flüchtlingsorganisation PRO ASYL entschieden.
Mein besonderer Dank gilt wiederum der Künstlerin Heike Helfen. Wie bereits im Vorjahr setzte sie sich bei der Abstimmung um das Coverbild mit einem wunderschönen Aquarellgemälde durch. Ihr Statement hierzu:
»Es gibt immer wieder Katastrophen auf dieser Welt. Meistens sind sie hausgemacht und weit weg. Jetzt aber zwingen Krieg und Terror Menschen aus einem anderen Land, Zuflucht zu suchen. Und viele kommen in unsere, bisher friedliche, Heimat.
Dieses Cover ist den Menschen gewidmet, die Frieden und Menschlichkeit in der Welt suchen und denjenigen, die diese Werte zurzeit unermüdlich verbreiten.«
Ein tief von Herzen kommendes DANKESCHÖN an unsere Anthologie-Gruppe auf BookRix darf natürlich nicht fehlen! Dieses Buch konnte nur durch eure unermüdliche Kreativität beim Schreiben entstehen. Und natürlich durch euer Engagement beim Lesen, Bewerten und Auswählen der Beiträge für diese Anthologie. Es war wieder eine sehr schöne Runde mit euch – ein Grund dafür, dass bereits das nächste Projekt für 2016 gestartet ist!
Saskia Kruse,
im Januar 2016
2015
Schwitzen war gar kein Ausdruck. In Strömen rann der Schweiß, und er legte nahe, dass der Begriff ›Funktionswäsche‹ vom zweiten Teil des Ausdrucks kam – von Wäsche. Gewaschen mit Schweiß. Aber egal. Beatrice Ullmann war glücklich. Ja, es war eine Schinderei, durch die Bärbachklamm und dann den Algay-Steig hoch, aber jetzt, 800 Höhenmeter näher am Himmel, öffnete sich der Blick durch die tiefliegenden Wolken, und ein gewaltiges Bergpanorama bis nach Österreich hinein lag vor den beiden Frauen. Mit etwas Phantasie konnte man in der anderen Richtung sogar den Bodensee blinken sehen.
Beatrice atmete tief durch, wischte sich mit dem nassen Halstuch übers Gesicht und blickte ihre Freundin Magdalena strahlend an.
»War eine gute Idee, in die Berge zu gehen; danke, dass du mich faules Stück motiviert hast.« Magdalena nickte nur und starrte weiter gedankenverloren in die Ferne. »Da vorne«, Beatrice deutete auf eine Felsgruppe, »da scheint mir ein guter Platz zum Brotzeitmachen zu sein, was meinst du?« Wieder nickte Magdalena, rückte ihren Rucksack zurecht und stiefelte los.
Und es war wirklich ein guter Platz.
1965
»Geh zu, du Schoofdippl!«, schimpfte der Mann und stampfte wütend mit seinem Stock auf den Fels. »Wenn’s dunkel wird, bevor wir auf’m Hof sind, kannst schaun, wos’d bleibschd. Tragen tu ich dich nit.«
»Aber ... aber ich bin so müde, mir tun die Beine weh, ich hab Durst!«, jammerte das Mädchen. Tränen flossen über ihre Wangen.
»Beine weh, Durst, müde«, äffte der Mann nach. »Das kimmt davon, dass dein ganzes Leben, dass dreizehn Jahr lang auf der faulen Haut g’legen bist. Ab heut pfeift für dich ein anderer Wind, kannst dich gleich gewöhnen, Bankert. Und jetzt weiter, aber flütt, sonst kriegst mein’ Stecken z’spüren!«
2015
Die Sonne verschaffte sich immer mehr Raum, und Beatrice und Magdalena genossen die warmen Strahlen, die ihre schweißgetränkten Klamotten trockneten.
»Das war ganz schön anstrengend«, sagte Beatrice und schob das letzte Brezenstück in den Mund. »Iff mein, pforhin, daff ...«
»Was?«
Beatrice schluckte und lachte. »Entschuldige. Ich meine, die letzte Wegstrecke war schon heftig. Die alten, rutschigen Bahnschwellen waren bei dem Nebel nicht gerade hilfreich, und wenn’s auch kalt war, habe ich trotzdem geschwitzt wie ein Kamel.«
»Das ist wohl wahr«, stimmte Magdalena zu, nahm noch einen Schluck vom alkoholfreien Weißbier und verzog das Gesicht. Ja, es war isotonisch, aber eigentlich brauchte sie etwas anderes. Etwas Stärkeres. »Das ist ein uralter Weg. Da sind die Bergbauern ständig rauf und runter gelaufen, vom Dorf zu den Höfen, von den Höfen hoch zu den Sennen und zurück. Ohne Funktionskleidung und Meindl-Schuhe. Bei Nebel und Regen und Schnee.«
»Stimmt schon. Heute sind wir alle so – denaturiert.«
»Denaturiert? Willst du wieder zurück in die gute, alte Zeit?«
»Keine Ahnung. Vielleicht war da einiges besser. Aber definitiv froh bin ich um meine guten Bergschuhe und um meinen Rucksack, das kannst du mir glauben!«
»Davon bin ich überzeugt. Du ahnst ja gar nicht, wie. Los, lass uns weitergehen. Es liegt noch viel Weg vor uns.«
1965
Das Mädchen biss die Zähne zusammen, wechselte ihr Bündel auf die andere Schulter und stapfte weiter. Sie fürchtete den Zorn des Mannes hinter ihr, seine Bosheit, seinen Stock. Und gleichzeitig spürte sie seine Blicke, die wie heiße Glutfunken über ihren mageren Körper stoben.
Endlich wurde der Steig flacher, und im letzten Licht, das sich an den Berggipfeln brach, erkannte sie die düsteren Gemäuer eines Bergbauernhofes. Geduckt, lauernd, unfreundlich. Sie seufzte, war aber doch froh, endlich da zu sein. Der Mann stapfte an ihr vorbei, stieg die Stufen zum Eingang hoch und schlug mehrfach mit seinem Prügel an die Tür. Kreischend öffnete sie sich, und eine mit einer Kuttenschürze bekleidete Frau erschien im Gang.
»Was machst für einen Lärm?«, blaffte sie. »Kannst die Tür nüt selber aufmachen?«
»Geh auf’d Seit’n, Weib!«, knurrte der Mann zurück und drängte ins Haus. »Und das, das isch d’Walli. Zeig ihr die Menscherkammer, und dann machst mir was z’Essen, hast g’hört?«
»Schon recht«, raunzte die Frau und musterte das Mädchen wie ein Stück Vieh. »Na kräftig schaut’s ja nüt grad aus, und blass isch sie. Wie alt isch sie denn, und was hast zahlt?«
»Dreizehne isch’s, und zahlt hab i wie immer viel z’viel. Aber sie wird’ ihr Kostgeld scho abarbeiten, da sorg i scho d’für.«
»Des glaub’ ich dir«, antwortete die Frau. »Aber ersteigert hast des Ding für mi, od’r, jetzt, wo bald unser Kind kimmt!« Sie klopfte auf ihren Bauch, packte Walli am Arm und watschelte mit ihr durch den Gang zum Stall, wo sie auf einen Verschlag deutete. »Do kannst schlaf’n. Jetzt holsch dir noch aus der Kuchl a Stückl Brot und a Tass Milli, damit bei Kräft’n bleibst, und morgen, beim Melken, gehsch mir zur Hand, verstehsch?« Walli nickte nur eingeschüchtert und schrie auf, als sie eine Ohrfeige einfing. »Obs’t mi verstand’n hasch, hab i g’fragt.«
»Ja, ja, Frau Bäuerin«, stammelte sie. Die Frau grummelte etwas und verschwand im Haus.
2015
Nach einer kurzen, erholsameren Wegstrecke stieg der Pfad wieder an, und die mühsame Plackerei begann von vorn. Dann wurde es erneut flacher. Die letzten Nebelfetzen wurden durch einen beständigen Luftstrom vertrieben. Von weitem hörte man das Läuten von Kuhglocken, ein Murmeltier stieß warnende Pfiffe aus und Beatrice deutete nach oben. »Schau, ein Geier!«
Magdalena lachte auf. »Warum nicht gleich ein Kondor? Das ist ein Steinadler, meine Liebe!« Sie begann zu singen:
Der Kondor hackt der Sonne Augen aus und fällt.
Feuer fällt auf das Land.
Im Schatten schwerer Flügel ruft kein Schrei zum Kampf ...«
»Hey, El Cóndor Pasa!«, keuchte Beatrice. »Wo nimmst du nur die Luft zum Singen her, alte Frau?«
»Frechheit! Mit deinen 25 Jahren bist du zwar drei Jahre jünger als ich, aber momentan bist wohl du diejenige, die auf dem letzten Loch pfeift! Aber, wenn ich die Karte recht im Kopf habe, sind wir gleich da. Nur noch über die Anhöhe dort.«
Das gleich da zog sich zwar noch, aber dann erreichten die beiden Frauen eine weite Hochebene. Beatrice kniff die Augen zusammen und deutete auf einen schwarzen Haufen in der Ferne.
»Was ist das?«
»Wow«, antwortete Magdalena, »das ist es also. So habe ich mir das nicht vorgestellt.«
»Was vorgestellt?«
»Komm, lass uns hingehen. Ich hab’ dir zwar gesagt, der Weg ist das Ziel, aber ich hatte das dort im Auge. Ich erkläre es dir gleich.«
1965
Vom ersten Morgen an war das Leben auf dem Hof für Walli die Hölle. Sie musste den ganzen Tag schuften. Kühe melken, Molke rühren, Feuer machen, mit den schweren Laiben runter ins Dorf, wo sie mal scheel, mal mitleidig angesehen wurde, dann mit den Einkäufen zurück, hoch zur Senne und dann wieder zum Hof, in die Küche. Nie wurde sie gelobt, nur geschimpft und geschlagen. Am liebsten war sie bei den Kühen im Stall oder auf der Hochweide.
Die Tiere beschimpften sie nicht, ja, sie schienen Walli sogar zu mögen. Von ihr wurden sie nicht geprügelt, sie striegelte ihr Fell und drehte vorsichtig die Zecken aus, und sie streichelte sie. Auch war sie beim Melken nie grob, wie die Bauersleut.
Walli bekam täglich vorgehalten, dass sie ein unnützes, faules Blag sei, dass ihre Mutter eine Säuferin gewesen und Walli ihr deshalb weggenommen worden sei. Und froh und dankbar solle sie sein, dass er, der Flueger-Bauer, sie in Uriswägli auf dem Verdingmarkt gekauft habe. Für viel zu viel Geld. Und dass sie ihnen die Haare vom Kopf fressen würde. Und den Standardspruch konnte sie im Schlaf rezitieren: »Du chasch nüt, du bisch nüt, us dir git’s nüt!«
Ein wenig besser wurde es, als die Bäuerin kurz vor der Entbindung stand. Und als das Kind endlich da und unten in der Dorfkirche auf den Namen Agnes getauft worden war, musste Walli sich hauptsächlich um das Baby kümmern. Eigentlich hätte sie froh sein müssen, weil diese Arbeit wesentlich leichter war als die Schinderei vorher. Und eigentlich war die kleine Agnes ein hübsches, unschuldiges Kind. Aber Walli konnte dennoch keine Gefühle für sie entwickeln. Denn sie war die Tochter der Bauersleut. Die Bauersleut, die Walli so hasste wie nichts anderes in ihrem jungen Leben.
2015
Ein Haufen rußgeschwärzter Steine. Verkohlte Balken, Dachschindeln, eingestürzte Mauern – es war ein trostloser, gottverlassener Ort.
»He, Magdalena, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Das war dein Ziel?« Beatrice schüttelte ihre Freundin, die wie versteinert vor dem Trümmerhaufen stand. Es waren wieder Wolken aufgezogen, und die grauen Schatten tauchten das trostlose Bild in ein noch trostloseres Licht.
»Ja«, antwortete Magdalena nach längerem Schweigen, »das war mein Ziel. Und deines.«
»Meines? Was meinst du damit? Hallo? Wir wollten nur eine Bergwanderung machen, oder?«
»Wir? Aber ja, du hast recht. Wir gemeinsam. Und jetzt stehen wir hier an einem Ort, der dir nichts sagt, aber uns doch verbindet, mehr, als du denkst.«
»Was redest du denn da?«, fragte Beatrice und schüttelte Magdalena noch einmal. Und als sie ihr dabei direkt in die Augen sah, wich sie erschrocken zurück.
1967
Walli hatte nicht gedacht, dass ihr Hass noch größer werden könnte. Aber er wurde noch viel größer. Schon lange hatte sie bemerkt, dass der Bauer immer hinter ihr herstierte. Er glotze sie an wie die gebratene Gans an Weihnachten. Und eines Tages tat er Walli das an, was der Pfarrer im Dorf beim Sonntagsgottesdienst immer als ›Das Böse‹ bezeichnete. Sie hatte keine Ahnung, kein Wort für das, was der Bauer ihr immer und immer wieder antat, aber es musste das Böse sein. Als Walli mit der Bäuerin darüber reden wollte, erhielt sie zur Antwort nur ein paar Backpfeifen. Und das waren ein paar Backpfeifen zu viel. Sie wollte fort aus dieser Hölle, egal wie. Weg, nur weg.
Und dann, eines Nachts, drang Geschrei durch das Haus bis in den Stall und in die Menscherkammer. Und Scheppern von zerbrochenem Geschirr. Und dumpfe Schläge. Und dann nur noch das Weinen eines kleinen Mädchens.
2015
Magdalena starrte Beatrice an. Dann lachte sie. »Du fürchtest dich vor mir? Das ist gut, sehr gut. Du hast ja recht, vielleicht spürst du meine bösen Gene. Du musst das wissen, schließlich haben wir zusammen genug von diesen bescheuerten Pseudopsychologiekursen gemacht. Familienaufstellung, Rebirthing, Channeling und anderen Schwachsinn. Wir wissen beide immer noch nicht, warum unsere Mütter so sind, wie sie sind. Aber diese Workshops hatten wenigstens einen guten Effekt: Wir beide sind uns begegnet. Eine jede auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Eine sehr seltsame Fügung des Schicksals.«
Sie drehte sich um, ging zu einem Felsblock und setzte sich. »Weißt du, wie dieser Hof heißt? Nein? Das war der Flueger-Hof. Klingelt da was? Natürlich nicht. Ich habe auch lange gebraucht, um das herauszufinden. Aber es war gut, dass ich an der UHZ in Zürich Geschichte studiert habe, wie du weißt. Das hat mir sehr geholfen, denn da bin ich an Informationen gekommen, die ich sonst nie gefunden hätte. Es hatte auch lange keiner ein Interesse an dem Thema, es wurde einfach unter den Tisch gekehrt. Der Ausdruck ›Verdingkinder‹ sagt dir wahrscheinlich ebenso wenig wie den meisten Schweizern. Erst in den letzten Jahren haben ein paar Zeitungen in kleinen Artikeln darüber berichtet, obwohl die Politiker das am liebsten unterbunden hätten. Verdingkinder waren Kinder, die entweder mittellose Waisen waren, oder von den Behörden ihren Eltern einfach weggenommen wurden. Weil sie Landstreicher oder Trinker waren, oder ganz einfach arm. Zu arm in den Augen der amtlich bestellten Vormunde, um ein Kind zu erziehen. Und dann wurden diese armen Würmer auf öffentlichen Verdingmärkten einfach an den Meistbietenden versteigert wie Vieh.«
»Was? Wann war denn das, im Mittelalter?«
»Von wegen Mittelalter. 500.000 Kinder sind wie Sklaven als Mägde oder Knechte verdingt worden, eine halbe Million! Und das bis in die 70er Jahre hinein. Nicht 1670, sondern 1970!«
»Das ... das ist ... ich kann’s kaum glauben. Aber sag, was habe ich, was haben wir damit zu tun?«
Magdalena seufzte und sagte dann: »Fluegerhof. Weißt du, wie dein Großvater geheißen hat?«
»Nein, verdammt, du weißt, dass ich das nicht weiß, du weißt, wie sehr ich darunter leide, dass ich meine richtigen Großeltern nicht kenne. Ich habe – vor allem auch für meine Mutter – lange versucht, es herauszubekommen, aber ...«
»... aber die Behörden haben es verhindert, ich weiß. Dein Großvater hieß Flueger. Uri Flueger. Ich habe das bei meinen Recherchen herausbekommen. Es tut mir leid, Beatrice, aber deine Großeltern sind bei einem Brand hier in diesen Trümmern ums Leben gekommen. Deine Mutter hatte Glück, sie ist im Alter von zwei Jahren adoptiert worden, und sie konnte sich an das Unglück nicht mehr erinnern, zum Glück. Aber du hast mir erzählt, dass sie lange Zeit in der Schweiz Urlaub gemacht hat, obwohl sie die Berge nicht mochte. Und dass sie sich das selbst nicht erklären konnte. Aber diese Unsicherheit hat sich auf dich übertragen. Deshalb hast du – so wie ich auch – diesen ganzen Psychokram gemacht.«
»Puh. Wenn du dir da sicher bist, ich meine das mit meinen Großeltern, dann wird mir einiges klar. Aber jetzt kann ich mit meiner Mutter endlich reden, ihr alles erklären, ich weiß nur noch nicht wie. Aber ... was hast du damit zu tun?«
1967
Hoch loderten die Flammen, Funken stoben die Berghänge entlang und beleuchteten die Krüppelkiefern wie tanzende Gespenster.
Walli schluckte, als sie sich noch einmal umblickte. Sie wusste nicht, was vor ihr lag, aber sie wusste, was sie zurückließ.
Schwer lastete die Zweijährige an ihrer Brust. Sie schlief, Gott sei Dank, den Schlaf, der allen Zweijährigen scheinbar barmherziges Vergessen beschert. Aber Walli dachte nicht an das Kind in ihren Armen. Sie dachte nur an das Kind, das sie unter dem Herzen trug. Ihr Kind und das ihres Vergewaltigers. Des Flueger-Bauern. Zwei Kinder also schleppte Walli in der Dunkelheit hinunter ins Dorf. Und keines davon konnte sie lieben.
2015
»Was ich damit zu tun habe? Ach, Beatrice, so wie du habe auch ich mein Leben lang mein eigenes Leben gesucht. Meine Vergangenheit, meine Familie, meine Geschichte. Meine Mutter wurde immer eisig wie ein Grab, wenn ich sie gefragt habe. Seit sieben Jahren ist sie tot, aber ich habe immer weiter nach meiner Vergangenheit gesucht. Jetzt, durch meine Kontakte aus dem Studium, konnte ich sie finden. Und ich fand Vorkommnisse, die den Politikern peinlich sind, peinlicher als das Bankengeschacher mit Steuersündern, Geldwäsche und Diktatorengeschmuse. Obwohl denen anscheinend nichts peinlich ist. Weißt du eigentlich, wann Frauen endlich in allen Kantonen das Recht bekamen, wählen zu dürfen?«
»Ja, das weiß ich sehr genau, weil ich an diesem Tag geboren wurde. Am 29. April 1990. Ein halbes Jahr nachdem in Berlin die Mauer fiel und 200 Jahre nach der Französischen Revolution führte die Schweiz das Frauenwahlrecht ein. Was für ein fortschrittlicher Staat!«
»Du sagst es! Und deshalb ist es nicht verwunderlich, was hier, in diesem Staat, meiner Familie passiert ist. Unserer Familie.«
»Unserer Familie?«
Die Wolken verzogen sich wieder, und grelle Sonnenstrahlen fielen auf das Bergplateau.
Magdalena kramte in ihrem Rucksack und zog eine Flasche Champagner hervor. Und zwei Plastikkelche.
1967
»Luder!«, knurrte der Gemeindeammann und deutete auf Wallis Bauch. »Hast wohl vom letzten Johanni-Fest, das Balg. Und die kleine Agnes vom Flueger-Bauer willst g’rettet haben? Vorm Feuer? Wirst wohl selbst g’legt haben. Schafft’s mir die Schlamp’n aus de Aug’n!«
Und dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Die kleine Agnes wurde sofort zur Adoption freigegeben und landete zu ihrem großen Glück bei einem liebevollen Ehepaar aus Frankfurt, das gerade in der Schweiz Urlaub machte.
Walli kam wieder in die Fänge des behördlichen Fürsorgesystems, das hieß: Verdingung. Aber zu ihrem Glück wollte niemand eine Schwangere ersteigern. Als sie entbunden hatte, nahm man ihr sofort das Kind weg und gab es ebenfalls zur Adoption frei.
Und wieder drohte die Verdingung. Doch im letzten Moment gelang ihr die Flucht nach Schwaben. Ausgerechnet nach Schwaben. In das Land, in das vor 50 Jahren Kinder von armen Schweizern als Arbeitssklaven, sogenannte Schwabenkinder, verschachert worden waren. Welche Ironie des Schicksals. Aber es war Wallis Glück. 1987 lernte sie einen ›anständigen‹ Mann kennen, etwas, was sie nie erhofft hatte. Sie hatte nie mehr ein Kind haben wollen. Niemals. Doch mit 35 Jahren, kurz bevor ihr Mann tödlich verunglückte, brachte sie ein Mädchen zur Welt. Magdalena.
2015
»Auf unsere Familie«, sagte Magdalena und goss die Gläser voll. Sie deutete auf das verkohlte Trümmerfeld. »Sie hat hier ihren Kreuzungspunkt. Oder ihren Kreuzigungspunkt, wenn man so will.« Sie machte eine Pause, schien ihre Gedanken ordnen zu wollen und fuhr dann fort: »Der Flueger-Bauer hat für sein Weib im Jahre 1965 eine gewisse Walli auf dem Verdingmarkt ersteigert. Ein 13-jähriges Mädchen, das die Behörden ihrer Mutter wegen ›Unzulänglichkeiten‹ weggenommen hatten. Sklavenmarkt im Jahre 1965! Wenn man bedenkt, dass ausgerechnet die USA schon 1908 gegen die Praxis der Verdingung der Schwabenkinder protestiert haben, sollte sich die Gesellschaft in Grund und Boden schämen, das nur nebenbei. Also, die Flueger-Bäuerin bekam eine Tochter, die Agnes. Deine Mutter. Und dann, zwei Jahre später, geschah das Unglück. Der Hof brannte nieder, das Bauernpaar kam in den Flammen um, aber Agnes wurde von der Walli gerettet. Die Beamten glaubten, dass Walli den Hof angezündet hat – einem Verdingkind traute man alles zu – aber sie konnten es nicht beweisen. Oder sie wollten es nicht, weil Walli schwanger war. Und als Vater kam ernsthaft nur der Bauer Uri Flueger in Frage. Man wusste schon, was die Sklavenhalter oft ihren Verdingkindern antaten. Aber das konnte und durfte nicht sein, also wurde es vertuscht. Aber ich ... ich ... ich glaubte mein ganzes bisheriges Leben lang ... ich habe dir nie gesagt ...«
»Was, was hast du geglaubt, was hast du mir nie gesagt, Magdalena?«
»Walli – war meine Mutter. Und ich glaube, dass meine Mutter den Hof angezündet hat. Dass sie eine Mörderin war. Deshalb versuchte ich, in diesen Kursen und Workshops einen Weg zu finden, damit fertig zu werden, und deshalb wollte ich hierher kommen, kannst du das verstehen?«
Längere Zeit herrschte Schweigen zwischen den Freundinnen. Dann sagte Beatrice: »Du meinst, dass deine Mutter eine Mörderin war, dass ... Ah, jetzt begreife ich erst. Deine Mutter war die Mörderin meiner Großeltern. Und meine Mutter wusste nichts davon, weil sie noch so klein war. Aber im Unterbewusstsein hat sie etwas davon vergraben. Das erklärt ihre ständigen Urlaube in der Schweiz. Ist das wahr?«
»Ja, so wird’s wohl gewesen sein.«
»Und jetzt? Was ist mit uns? Willst du dich an mir rächen? Zerbricht unsere Freundschaft daran, dass meine Ahnen deine Mutter als Sklavin gehalten und damit zur Mörderin gemacht haben?«
»Ach Bea, Bea, jetzt spinn doch nicht. Umgekehrt! Ich habe Angst, dass du mit der Tochter der Mörderin deiner Großeltern nichts mehr zu tun haben willst! Aber wir können doch beide nichts für das verkommene Rechtssystem der Eidgenossen.« Verächtlich spuckte sie aus. »Nur unter Druck fangen sie jetzt an, den Opfern, immerhin 50.000, die heute noch leben, so etwas wie Gerechtigkeit erfahren zu lassen. Es sind hoch traumatisierte Menschen, und noch ihre Nachkommen leiden bewusst oder unbewusst darunter, wie wir an uns selbst feststellen müssen. Es gab ja auch öffentlich bestellte Vormunde, die den Hungerlohn, den die Verdingkinder offiziell für ihre Sklavenarbeit bekommen sollten, verwaltet haben. Oder veruntreut. Oder die Gelder liegen als sogenannte nachrichtenlose Vermögen auf den Banken. Und noch heuer sollen 400 Millionen davon an den Staat fallen, der im Gegenzug dafür an die Opfer ein paar Fränkli auszahlt. Almosen als symbolische Geste. Nein, liebe Beatrice, wenn ich jemanden verantwortlich machen will, dann ist es das verkommene System der Jahrhunderte. Und ich, ich kann dich nur um Verzeihung bitten für das, was meine Mutter vielleicht deiner Familie angetan hat.«
»Was sagen die Leute denn dazu, ich meine, die hier unten im Dorf noch leben, die Alten, die die Walli und den Flueger-Bauern noch gekannt haben müssten?«
»Ich weiß nicht, Bea, ich habe nur in Archiven recherchiert. Mit den Leuten habe ich mich nicht reden getraut. Tochter einer Brandstifterin und Mörderin.«
Jetzt schwiegen beide und starrten vor sich hin. Endlich sagte Beatrice: »Wie geht’s dir jetzt? Ich meine, ich weiß jetzt, dass meine Großeltern Sklavenhalter waren, und mein ... mein Alm-Öhi ein Vergewaltiger, ich glaube dir das. Und dass deine Mutter sich an ihnen gerächt hat, könnte ich auch verstehen, falls – falls es denn so war, was, wie du gesagt hast, ja nicht bewiesen ist. Aber auch wenn das alles stimmt, dann muss ich auch gestehen: Es berührt mich nicht persönlich. Vielleicht bin ich seelisch schon so abgestumpft, dass ich das nicht an mich heranlasse. Es ist wie eine schlimme Geschichte, die ich in einem Geschichtsbuch lese. Sie macht mich betroffen, aber die Wahrheit berührt mich nicht wirklich, obwohl auch ich von einer Mutter erzogen worden bin, die, offenbar ohne es zu wissen, schwer traumatisiert ist. Es ist vorbei, ich weiß, dass etwas Furchtbares passiert ist, aber jetzt ist es für mich Vergangenheit. Und ich glaube, du solltest auch so denken. Es ist schon Wahnsinn, was das Unterbewusste mit einem anstellen kann.«
»Na ja«, antwortete Magdalena, »ich würde das auch gerne so empfinden können. Mir hat schon geholfen, hierher zu kommen, zu sehen, wo das alles passiert ist. Und ich bin dir so dankbar, dass du dabei warst und so fühlst. Auch wenn meine Mutter vielleicht ...«
»Ach komm, liebe Magdalena«, sagte Beatrice und stand auf. »Schau, dort oben fliegt wieder der Kondor-Adler. Und er hat keine schweren Flügel, er schwebt ganz leicht und lebt einzig im Hier und Jetzt. Lass es uns auch so machen. Los, wir gehen wieder runter ins Hotel und trinken uns an der Bar einen an. Morgen Abend geht eh unser Zug zurück, und die nächste Bergtour machen wir auf den Brocken – zum Hexensabbat.«
Jetzt lachte Magdalena. »Guter Plan, sehr guter Plan!«
2015, nächster Tag
Als Magdalena gegen zehn Uhr erwachte, war das Bett des Hotelzimmers, in dem ihre Freundin geschlafen hatte, leer. Auch im Frühstücksraum war sie nicht. Der Portier sagte ihr dann, dass Beatrice das Hotel schon sehr früh verlassen habe und nein, Gepäck habe sie keines dabei gehabt.
Sehr seltsam. Magdalena frühstückte erst, und als Beatrice gegen Mittag, also zu einer Zeit, zu der sie das Zimmer räumen mussten, noch immer nicht da war und ihr Handy noch immer nur den AB-Text plapperte, begann sich Magdalena ernsthafte Sorgen zu machen. Sie ging aufs Zimmer und bemerkte, dass Rucksack und Reisetasche ihrer Freundin komplett gepackt im Schrank standen. Wenigstens das.
Das hätte sie doch wohl nicht gemacht, wenn ...
Doch dann kam eine SMS.
alles ok, bitte check ohne mich aus, bin spätestens bis zur abfahrt am bahnhof. nicht böse sein, erkläre alles, lg bea
Einsam stand Magdalena im zugigen Dorfbahnhof, umgeben von Rucksäcken und Taschen, und sah hundertmal auf die Uhr. Und sie fasste einen Entschluss. Egal, Zug hin oder her. Sie würde ohne ihre Freundin nicht fahren. Punkt.
Und dann war Beatrice plötzlich da. Kurzatmig und mit hochrotem Gesicht. »Tut mir so leid, Magdalena«, keuchte sie, »aber bevor du mir den Kopf abreißt, hör mir bitte zu. Ich habe das getan, wovor du dich gefürchtet hast. Ich habe mir im Büro des Gemeindeammanns die Adressen von allen alten Leuten geben lassen, die deine Mutter Walli gekannt haben konnten und die noch hier leben. Es waren vierzehn. Man wird in diesem Tal anscheinend sehr alt.«
»Was hast ...«
»Lass mich bitte ausreden, bevor du mich erschlägst. Ja, ich habe das getan, was du nicht konntest. Ich habe sie alle nach Walli gefragt. Zwei haben mich von der Tür gewiesen, vier waren so daneben, dass sie nicht checken konnten, was ich wollte, aber acht haben mit mir geredet. Und alle haben Walli gekannt. Alle konnten sich an das Feuer erinnern. Alle wussten, wie schwer es Walli auf dem Flueger-Hof hatte. Aber kein Einziger von ihnen hat jemals geglaubt, dass das Verdingkind das Feuer gelegt hat. Magdalena, deine Mutter Walli war keine Mörderin. Im Gegenteil. Sie hat meiner Mutter das Leben gerettet!«
»Das ... das ... wie kannst du dir so sicher sein?«
»Genau das habe ich die alten Leute auch gefragt. Und alle, wirklich alle, gaben die gleiche Antwort:
Die Walli, die Walli war wirklich ein bedauernswertes Kind. Das Einzige, das sie geliebt hat, waren die Kühe. Vier von ihnen waren damals im Stall und sind bei dem Brand mit umgekommen. Und Walli hätte nie, nie zugelassen, dass die mit verbrennen, wenn sie es hätte verhindern können. Nie hätte sie den Hof angezündet, wenn die Kühe noch im Stall gestanden wären!
Das haben alle gesagt, und das haben sie auch damals gesagt. Und deshalb hat es auch keine Mordanklage gegeben, verstehst du?«
Beatrice blickte ihre Freundin an und sah, dass ihr Gesicht nass von Tränen war. Sie nahm sie in den Arm, drückte sie und sagte: »Die Suche nach den Wunden unserer Vergangenheit hat ein Ende, oder fast.«
Magdalena schluckte. »Fast?«
»Na ja«, antwortete Beatrice, »du bist so eine gute Reschersch... Regerer... Herrgottnochmal Ermittlerin!« Jetzt lachten beide unter Tränen. »Also, du bist so eine gute Ermittlerin, dass wir Tonio finden können. Ich fürchte, wenn er noch lebt, aber er dürfte ja noch nicht einmal 50 sein, dann trägt er die gleichen Fragen und Zweifel in sich herum wie wir.«
»Tonio? Wer soll das sein?«
»Ich habe ihn einfach mal so getauft. Ich meine das Kind, das Walli geboren hat und das ihr sofort weggenommen worden ist. Ich meine deinen Halbbruder und gleichzeitig meinen Onkel. Verstehst du?«
Magdalena nickte mit weit aufgerissenen Augen. »Mein Halbbruder, oh Gott, stimmt, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Das wird eine gute Aufgabe, auch wenn ich nicht weiß, welcher Spur wir folgen sollen.«
»Na, notfalls folgen wir dem Kondor-Adler!«
Und das Lachen trocknete die Tränen.
Laut schrillt der Wecker. Hektisch sucht seine Hand den Abstellknopf. Der grelle Ton zieht von seinen Ohren in die Zähne, schiebt sich unter die brüchigen Amalgamfüllungen. Der ganze Kiefer schmerzt. Für einen kurzen Moment wünscht er sich einen anderen Wecker, so einen mit Musik. Aber etwas Neues passt nicht in sein Leben – es würde dadurch aus den Fugen geraten. Endlich herrscht Stille. Rupert schwingt die Beine aus dem Bett. So geschickt, dass er mit beiden Füßen gleichzeitig den Boden berührt. Das Ergebnis jahrelanger Übung.
Die Sonne klettert erwartungsvoll über den Horizont in den neuen Tag und zaubert einen rötlichen Schimmer auf den Himmel. Er verspürt einen Hauch Lebenslust. Fast hätte er unbekümmert die Lippen gespitzt, um ein Lied zu pfeifen. »Singt am Morgen der Spatz, holt ihn abends die Katz«, erklärt er seinem Spiegelbild. Die Augen, die ihm entgegenschauen, haben einen erschreckten Ausdruck angenommen. Die aufflackernde Freude fällt traurig in sich zusammen und schleicht still in sein Herz zurück.
Er rührt den Kaffee immer rechtsherum. Seit Jahren trägt er denselben Mantel, sommers wie winters. Einen Mantel aus dunkelbraunem Noppen-Tweed. Die mit Leder überzogenen Knöpfe sind so abgegriffen, dass graues Plastik durchschimmert. Ihn gegen einen Neuen einzutauschen, wäre jedoch undenkbar. Die Wohnung verlässt er immer mit dem rechten Fuß zuerst. Zwänge und unsinniger Aberglaube regieren Denken und Handeln. Sein Leben ist eng geworden. Für Rupert gibt es so gut wie keinen Platz mehr darin.
Der Höhepunkt der Woche ist der Mittwoch. Rupert liebt diesen Tag. Pünktlich um 16.00 Uhr betritt er das kleine Café ... mit dem rechten Fuß zuerst. Er atmet auf, sein gewohnter Platz ist frei. Zielstrebig durchquert er den Raum und nimmt an dem runden Tisch Platz. Mit leiser Stimme bestellt er einen Milchkaffee. So wie immer. Und dann sitzt er da und starrt in den hellbraunen Strudel seiner Tasse, der sich eilig rechts um sich selber dreht, und den er mit dem Löffel ständig in Bewegung hält. Verstohlen beobachtet er die Menschen. Er wäre gerne einer von ihnen. Einfach in eine andere Haut schlüpfen. Endlich frei sein von jeglichen Zwängen.
Wie oft hat er sich schon gewünscht, diesen stählernen Panzer zu sprengen. Was wäre, wenn der Tag tatsächlich links beginnen würde? Einmal nur wild in der Kaffeetasse rühren. Hin und her und rundherum, bis die hellbraune Brühe überschwappt ... auf den sauberen Unterteller oder gar auf die weiße Tischdecke. Endlich diesen widerlichen Mantel verbrennen. Zusammen mit seinen Zwängen würde die Noppen-Tweed-Rauchsäule in den Himmel aufsteigen, sich mit den Wolken vermischen und davonsegeln. Rupert versucht, die ketzerischen Gedanken von sich zu schieben. Er wird früher oder später dafür bestraft werden – davon ist er überzeugt.
Ein süßlicher Duft zieht an ihm vorbei. Aus dem Augenwinkel beobachtet er, wie eine Frau drei Tische weiter Platz nimmt. Eine atemberaubende Frau. Braune Locken, kurzer Lederrock und ein enges, rotes Oberteil. Sein Blick saugt sich an ihrem Gesicht fest. Ein Engel – so zart, so durchsichtig. Er hat aufgehört, in seiner Tasse zu rühren. Der hellbraune Sog dreht sich immer langsamer. Schwerfällig umrundet er sich selbst ein letztes Mal. Dann herrscht Stille. Die kleinen Schaumblasen sterben lautlos. Der Sturm ist vorüber. Dafür tobt er jetzt in seinem Inneren ... ein jauchzendes Gefühl saust von den Haarspitzen bis in die Zehen und lässt ihn alles vergessen – für einen seligen Moment. Zu gern wäre er noch geblieben. Aber es ist Zeit zu gehen. Die Abhängigkeit katapultiert ihn wieder in seine Spur. Widerwillig legt er das Geld auf den kleinen Tisch. So wie jedes Mal ...
Ein Engelsgesicht trägt ihn durch die Woche. Wilde Fantasien rauben ihm den Schlaf, aber sie zaubern auch einen besonderen Glanz in seine Augen. Und dann ist es wieder Mittwoch.
Aufgeregt drückt er die verglaste Tür zum Café auf, setzt sich an den Tisch und wartet. Plötzlich ist alles anders ... die düstere Starre gerät ins Wanken. Grau blättert es von der Fassade. Leben kommt zum Vorschein. Verlockend schimmert es in allen Farben. Nervös rührt er in seinem Kaffee, und für Sekunden hat er den Wunsch, gegen den Strudel zu arbeiten. Sehnsüchtig schaut er zum Eingang und erstarrt in der Bewegung.
Sie lässt sich lächelnd zwei Tische entfernt von ihm nieder – doch es bleiben nur wenige Minuten, um sie anzuschauen. Die Zeit mahnt. Mit klopfendem Herz betrachtet er das zarte Gesicht, ihren schlanken Hals. Verschämt lässt er einen Moment den Blick tiefer gleiten. Üppige Weiblichkeit, die sich keck aus dem Ausschnitt des roten T-Shirts presst, nimmt ihm den Atem. Seine Wangen glühen, als ihn der Zwang an die Hand nimmt und mit dem rechten Fuß voraus in sein gewohntes Leben drängt. Kurz genießt er diese Sicherheit. Fühlt sich darin geborgen. Aber nicht lange. Ungekanntes Verlangen nagt Löcher in sein rechts gedrehtes Dasein. Durch diese kleinen Ritzen kriecht Unzufriedenheit, die Gier nach Leben.
Der heißersehnte Mittwoch. Endlich! Die ganze Woche über kämpfte er mit seinen Zwängen. Er hoffte, einen kleinen Schritt aus seinem Käfig zu machen, den Panzer um seine Brust ein wenig zu lockern, doch die Schlinge der Angst schneidet tief ins Fleisch.
Trotzdem sitzt er erwartungsvoll an seinem Tisch. Der silberne Löffel liegt neben der Tasse. Er hat es satt, ständig in seinem Kaffee zu rühren. Eisern ignoriert er die innere Stimme, die leise in sein Ohr quengelt. Seine Gedanken verlieren sich in rotgekleidete Träume. Ob sie dieses Mal noch näher rückt? Und dann setzt sie sich tatsächlich an den Nebentisch. Neugierig mustert sie ihn. Das warme Braun ihrer Augen kriecht bis auf den Grund seiner Seele. Atemlos lässt er es geschehen. Sie bestellt einen Tomatensaft – blutrot ... so wie immer.
Er kann ihre Nähe spüren. Ein nie gekanntes Gefühl nimmt Besitz von ihm. Heiß steigt es seinen Körper empor. Unbarmherzig hetzt der Sekundenzeiger über das Ziffernblatt. Wieder bleibt ihm nur kurze Zeit, sie zu betrachten. Er ertappt sich dabei, wie er sie unverhohlen anstarrt, jedes Detail aufsaugend, jede ihrer Bewegungen. Unvermittelt schiebt sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Autorengemeinschaft der Anthologie-Gruppe auf BookRix
Bildmaterialien: Coverbild Heike Helfen; Privatfotos der beteiligten Autoren
Lektorat: Saskia Kruse
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3732-7
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