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Ungesagtes

Lieber Papa,

 

jetzt ist es schon viereinhalb Jahre her, dass du von uns gegangen bist. Ich denke viel an dich und mir schwirrt dabei oft durch den Kopf, dass so vieles zwischen uns ungesagt blieb.

Aber du warst nie ein Mann der großen Worte, sondern der Taten. Das liegt wohl an deiner Vergangenheit: Dein Vater zog in den Krieg, als du und dein Zwillingsbruder Hermann ein halbes Jahr alt waren, und kehrte nie zurück. Er galt als verschollen. Dein etwas älterer Bruder starb mit zwei Jahren an seinem angeborenen schweren Herzfehler, und eure Mutter musste euch fortan alleine durchbringen. Sie war damals Mitte 20 und hat zeit ihres Lebens nie wieder einen anderen Mann angeschaut. „Ich liebe meinen Mann, den hat mir der Krieg genommen. Da kann ich doch keinen anderen nehmen.“ Das waren ihre Worte. Sein Foto stand noch auf ihrem Nachttisch, als sie mit über 80 Jahren starb. Ich fand es als Kind komisch, dass dieser junge Mann in Uniform mein Opa sein sollte.

 

Deine Mutter arbeitete als Näherin, sodass du und Hermann nach der Schule stets zu dem Bauernhof gingen, auf dem sie gerade tätig war. Während sie sich um die Kleidung und sämtliche Textilien der Großfamilien kümmerte, habt ihr zwei Jungs den Bauern auf den Feldern geholfen und durftet dafür bei den Familien mitessen. Schule war zweitrangig, ihr musstet anpacken. Mit 13 beendetest du die Schule und fingst eine Lehre als Hufschmied an.

Du lerntest meine Mutter mit knapp 20 Jahren kennen und es prallten zwei Welten aufeinander. Ihr passtet überhaupt nicht zusammen, viel gegensätzlicher können zwei Menschen nicht sein. Aber meine Mutter, die in einem Nachbardorf lebte, hatte sich in den Kopf gesetzt, sich einen der eineiigen Zwillinge zu schnappen, die schon Aufsehen dadurch erregten, dass sie nicht voneinander zu unterscheiden waren. Noch dazu galten sie als hübscheste Männer im weiten Umkreis. Ihr habt einander nie gutgetan; du warst derjenige, der dabei auf Dauer den Kürzeren zog. Auch hier hast du nie Worte gefunden, dich durchzusetzen, dich zu wehren. Du warst den Demütigungen und Erniedrigungen meiner Mutter hilflos ausgeliefert und hast zum Alkohol gegriffen.

 

Mutter hat sich von dir getrennt als ich fünf Jahre alt war, und für mich brach eine Welt zusammen. Du warst mein Ein und Alles, ich war das „Papa-Kind“, zu meiner Mutter hatte ich nie eine wirkliche emotionale Bindung aufgebaut. Und jetzt warst du einfach weg, ich verstand die Welt nicht mehr. Natascha, meine 13-jährige Schwester und das „Mama-Kind“, pestete nur herum, wir könnten froh sein, dass „der alte Suffkopp“ weg ist. Ich verstand das nicht. Du warst doch derjenige, der immer für mich da war, mit mir gespielt hat, mit mir gescherzt hat, mich getröstet hat, mich mit einem Gute-Nacht-Kuss ins Bett gebracht hat.

Da ich jeden Abend weinend im Bett lag und zu dir wollte, machte meine Mutter in ihrer Hilflosigkeit den Fehler, mir zu sagen, dass du vielleicht doch zurückkommen würdest und bestärkte mich darin, dafür zu beten. Bestimmt ein Jahr lang habe ich jeden Abend mein Gebet abgeschlossen mit:

„Bitte mach, dass Papa wieder zurückkommt. Amen.“

Aber du kamst natürlich nicht zurück und ich habe seitdem nie wieder gebetet.

 

Eine wichtige Sache, die ich dir gegenüber nie ausgesprochen habe: Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, dass du mit dem Trinken aufgehört hast, als ich 18 war. Ganz allein und konsequent von heute auf morgen, ohne jemals einen Rückfall zu haben. Aber wenn ich das ausgesprochen hätte, hätte ich mir und dir eingestehen müssen, wie sehr ich zuvor unter deiner Alkoholsucht gelitten habe – oder dass sie überhaupt existiert hat. Denn auch im Nachhinein ist nie das Wort „Alkoholiker“ gefallen; du hast halt einfach keinen Alkohol mehr getrunken.

Dabei hat deine Trinkerei so viel zwischen uns zerstört, und ich glaube, du hast mein Verhalten dir gegenüber oft gar nicht wirklich verstanden. Ich glaube, du weißt nicht, warum ich nicht wollte, dass du jemals bei einem meiner Handballspiele zuschaust ...

Als Mutter sich von dir trennte, war mir mit meinen fünf Jahren nicht klar, was es mit dem Alkohol auf sich hatte. Ich habe auch nicht verstanden, warum Mutter jedes Mal, nachdem ich bei dir war, gefragt hatte, was wir denn so gegessen und getrunken hätten. Und immer noch mal explizit nachgefragt hat, ob du auch nur Wasser getrunken hättest. Später erfuhr ich, dass sie dir gesagt hatte, dass ich dich nicht mehr besuchen dürfte, wenn sie einmal von mir hören würde, du hättest in meiner Gegenwart Alkohol getrunken.

Vor meinen Augen hast du auch nur Mineralwasser getrunken. Allerdings bist du sehr oft auf Toilette gegangen. Ich hatte mich gewundert, dass du dabei nicht regelmäßig die Spülung zogst (in deinem kleinen Einzimmer-Apartment bekam man so etwas genau mit) und dann herausgefunden, dass in der Ecke der Dusche, die nie benutzt wurde, eine Flasche Korn stand, die nach jedem Toilettengang leerer wurde.

Regelmäßig nach Feierabend kehrtest du in der Kneipe ein, die auf dem Weg zu deinem neuen Zuhause lag und verließt diese erst, wenn du nicht mehr Herr deiner Sinne warst. Oft bist du mit deinem Fahrrad einfach umgekippt und hast dann ein wenig am Straßenrand geschlafen. Die Neubausiedlung, aus der die meisten meiner Mitschüler kamen, lag direkt an dieser Strecke, und mein Klassenkamerad Björn, der früher unser Nachbar gewesen war, kannte dich vom Sehen und hatte mir lachend in der Schule erzählt: „Dein Vater hat gestern im Straßengraben gepennt. Der war wohl voll besoffen.“ Das war in meinem ersten Jahr auf dem Gymnasium.

Björn fand das total lustig und wollte mir damit bestimmt nicht wehtun, denn wir mochten einander gerne leiden. Er konnte gar nicht verstehen, dass ich anfing zu weinen und ihn bat, das niemandem zu erzählen. Von da an überfiel mich eine regelrechte Panik, dass bloß niemand wissen sollte, dass das mein Vater ist, der da mitunter so auffiel. Nur Björn und meine beste Freundin Nicole kannten dich vom Sehen, und die beiden hielten dicht.

Daher sagte ich auch Mutter, als sie mich eines Tages darauf ansprach, dass du sie gefragt hättest, ob du auch mal beim Handball zuschauen dürftest: „Ich will nicht, dass Papa kommt. Wenn der einmal kommt, höre ich sofort auf mit Handball.“

Sie versprach mir, dir dieses entsprechend weiterzugeben und sagte mir hinterher, sie hätte dir ausgerichtet, dass ich nicht möchte, dass du zuschaust. Als Begründung dafür hatte sie angeblich gesagt, ich sei halt manchmal etwas komisch und eigen und ebenso wie du ein Sturkopf, wenn es um Dinge geht, die ich nicht möchte.

Wir beide haben nie über dieses „Verbot“ von meiner Seite gesprochen. Dabei warst du so interessiert an meinem Handballspiel. Sport war eine Sache, die dich sehr begeistert hat. Und ich war so glücklich, dass du so ein Interesse zeigtest und immer gefragt hast, wie das Spiel gelaufen ist und wie viele Tore ich geworfen habe. Und mit mir zusammen die Spielberichte und aktuellen Tabellenstände aus der Zeitung ausgeschnitten hast, wofür wir extra ein Heft angelegt hatten, in das wir alles säuberlich einklebten. Mutter hat sich nie dafür interessiert. Sie hat auch nie beim Handball zugeschaut. Ich war die einzige aus meiner Mannschaft, bei der nicht regelmäßig beide Elternteile auf der Tribüne standen und begeistert mitjubelten. Dabei wurde die neue große Turnhalle direkt hinter unserem Wohnblock gebaut und es wäre nur ein Katzensprung für Mutter gewesen.

Bianca, die Tochter deines Vorarbeiters, spielte manchmal bei uns mit oder saß vielmehr auf der Ersatzbank, da sie eine Klasse niedriger spielte. Du hast mir oft mit leuchtenden Augen erzählt, wie Gerd, dein Vorarbeiter, erzählt hatte, wie sehr Bianca ihm immer vorschwärmen würde, wie toll ich doch spielen würde. Wie oft stand ich kurz davor zu sagen: „Papa, komm doch einfach auch mal zuschauen!“ Und in deinen Augen sah ich, dass du nur darauf wartetest. Aber ich konnte mich nie dazu durchringen, in all den acht Jahren meiner Handball-Laufbahn nicht. Zu groß war die Angst, dass hinterher getuschelt wird.

Dabei habe ich innerlich nach Aufmerksamkeit gelechzt. Mutter hatte sich für nichts wirklich interessiert, sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als ich aufs Gymnasium wechselte, hatte meine Mutter einmal einen Spruch gebracht. Ich weiß nicht, ob sie es lustig meinte, aber sie sagte: „Jetzt müssen wir mal gucken, wie lange dein Vater überhaupt noch mit dir sprechen mag. Der hat ja Komplexe gegenüber gebildeten Leuten.“ Damit spielte sie darauf an, dass du tatsächlich einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Leuten wie Ärzten, Anwälten, Lehrern etc. hattest und dich nicht trautest, mit ihnen zu sprechen. Zumindest nicht, ohne dir vorher Mut anzutrinken.

Alle Familienmitglieder von deiner Seite hatten entweder einen Hauptschulabschluss oder gar keinen Schulabschluss, so auch sämtliche Cousins und Cousinen von mir, die im Schnitt 10 – 20 Jahre älter sind als ich. Ich glaube, es war dir irgendwie „unheimlich“, dass ich auf das Gymnasium ging und mir eine überdurchschnittliche Begabung bescheinigt wurde. Damit konntest du nichts anfangen und hast mich auch nie nach der Schule gefragt oder jemals ein Zeugnis von mir gesehen. Und ich habe nie von der Schule gesprochen, da ich immer diesen Ausspruch von meiner Mutter im Hinterkopf hatte.

Ich selber hatte wohl auch einen Minderwertigkeitskomplex: Ich war zur damaligen Zeit das einzige Kind in meiner Schulklasse, dessen Eltern getrennt waren (heute fast unvorstellbar) und tatsächlich die einzige, die nicht mit ihren Eltern in einem schicken kleinen Eigenheim lebte, sondern in einer Sozialbau-Siedlung. Aus heutiger Sicht völlig bescheuert, da ich wirklich ein beliebtes Mädchen war und mir um solche Dinge gar keine Gedanken hätte machen müssen. Daher war ich aber besonders bemüht, nach außen den Anschein von Normalität zu wahren. Auch jetzt noch fühlt es sich für mich so an, als ob über meiner ganzen Kindheit und Jugend ein Schatten gelegen hätte.

Diese Dinge gehen mir auch heute noch durch den Kopf. Gar nicht einfach, dies alles aufzuschreiben. Vor allem, da es wie eine Anklage für dich klingen muss. Aber ich möchte doch nur, dass du verstehst, was damals in mir vorging ...

 

Als du aufhörtest zu trinken, wendete sich vieles zum Besseren. Ich erinnere mich noch genau an diesen einen Moment. In der 13. Klasse hatten wir eine Theateraufführung, bei der ich die Hauptrolle spielte. Du warst da seit etwa einem halben Jahr trocken und meine Mutter, die tatsächlich auch zu dieser Aufführung kommen wollte, kündigte mir vorher an, sie würde einen „ganz besonderen Gast“ mitbringen. Einen, mit dem ich nicht rechnen würde, aber über den ich mich sicherlich freuen würde. Sie verriet mir auch nicht, wer das sein sollte und ich spekulierte eigentlich auf den Schuldirektor und Mathelehrer meiner Grundschule, zu dem ich auch nach der Grundschulzeit immer ein ganz besonderes Verhältnis hatte. Er hatte zu der Zeit einen Schlaganfall gehabt und daher nicht mehr so regelmäßig angerufen und nach mir gefragt wie früher.

Als sich dann aber der Bühnenvorhang öffnete und das Publikum angeleuchtet wurde, konnte ich neben meiner Mutter dich erkennen. Das war so surreal für mich, dich in der Schule zu sehen. Vor allem, da ich bis dahin meine ganze Schulzeit über versucht hatte, dich „geheim“ zu halten. Mir rutschte erst das Herz in die Hose, aber als ich dich über das ganze Gesicht strahlend klatschen sah, als ich in das Scheinwerferlicht trat, überkam mich auf einmal eine unbändige Freude und Erleichterung. Ich hatte das Gefühl: „Jetzt ist alles gut.“

Auch besserte sich dein Verhältnis zu Natascha, meiner Schwester, schlagartig. Sie hatte all die Jahre einen sehr sporadischen bis gar keinen Kontakt zu dir. Jetzt nähertet ihr euch wieder an und als sie ein Jahr später das erste deiner drei Enkelkinder zur Welt brachte, durftest du zum stolzesten und besten Opa der Welt werden. Obwohl du nahezu menschenscheu warst und keine nennenswerten Kontakte hattest, waren Babys und Kleinkinder schon immer deine Welt gewesen. Da gab es niemanden, der sanfter, geduldiger und einfühlsamer mit diesen kleinen Wesen umgehen konnte.

 

Im Januar 2010 bekamst du die Diagnose Blasenkrebs. Du warst bis dahin dein ganzes Leben lang ein kerngesunder Mann gewesen, nichts hat dich umgehauen. Alle sagen immer, ich hätte meine robuste Natur von dir geerbt. Du warst zu diesem Zeitpunkt 71 Jahre alt und hast noch so manchem jungen Kerl etwas vorgemacht, wenn du mühelos Zementsäcke geschultert hast oder auf Knien über den Hof gerutscht bist und Pflaster gelegt hast.

Von da an verkehrte sich die Rolle: Du warst wie ein kleiner Junge, den man an die Hand nehmen und durch alles begleiten musste. Dem man die Welt erklären musste, die er gar nicht mehr verstand.

Es begannen fürchterliche anderthalb Jahre, in denen du insgesamt 11 Operationen über dich ergehen lassen und etwa 90 Prozent deiner restlichen Lebenszeit in unterschiedlichen Kliniken verbringen musstest. In dieser Zeit lief nichts ohne Komplikationen, nach jeder OP war wieder irgendetwas schlechter als vorher. Alleine über dieses Kapitel in deinem Leben könnte man einen kompletten Roman schreiben.

Vielleicht wäre alles gut gegangen, wenn die erste OP an deiner Blase einfach hätte durchgeführt werden können. Wer konnte auch ahnen, dass du auf dem OP-Tisch noch vor Beginn des Eingriffs einen Herzinfarkt erleidest und dann durch Vernarbungen im Herzgewebe entdeckt wurde, dass du schon vor langer Zeit einmal einen weiteren gehabt haben musstest. Ganz unbemerkt hattest du diesen ersten Infarkt einfach weggesteckt. Nun galt es erst einmal, dein Herz so stabil zu bekommen, dass du eine Krebs-OP überhaupt überstehen würdest.

Egal, in welcher Klinik du lagst, Natascha und ich besuchten dich täglich. Du hattest immer so einen flehenden Blick und wir brachten es nicht übers Herz, dich einen Tag nicht zu besuchen. Nervlich und emotional gingen wir bald auf dem Zahnfleisch; ich war zu der Zeit selbständig und beruflich sehr stark eingespannt; Natascha hatte mit ihrer fünfköpfigen Familie auch alle Hände voll zu tun.

Als endlich die schwere Herz-OP durchgeführt werden konnte, gab es hier natürlich auch Komplikationen. Während der OP warst du zweimal klinisch tot und wurdest hinterher kurzfristig in ein künstliches Koma gelegt. Deinen ganzen folgenden Krankheits- und OP-Verlauf kann und mag ich hier nicht schildern. Es würde zum einen den Rahmen sprengen, zum anderen habe ich mich bemüht, diese fürchterliche Leidenszeit von dir gedanklich ganz weit von mir fortzuschieben.

 

Als du am 9. Juli 2011 nach multiplen Organversagen endlich die Augen für immer schließen durftest, war es nahezu eine Erleichterung. Natascha und ich bekamen am späten Samstagabend den Anruf der Klinik, dass wir uns jetzt auf den Weg machen sollten. Wir hatten vorher abgesprochen, dass wir jederzeit angerufen werden wollten, wenn abzusehen ist, dass es mit dir zu Ende geht. Wir waren am Vormittag noch bei dir gewesen und es war schon abzusehen, dass du nicht mehr lange durchhalten würdest.

An der Tür zur Intensivstation wurden wir vom Oberarzt mit den Worten begrüßt: „Es tut mir leid, er ist gerade gegangen.“

Wir mussten noch fast eine halbe Stunde warten, bis wir zu dir durften, da dein Herzschrittmacher dein Herz unbeirrbar weiterschlagen ließ und erst von einem Kardiologen stillgelegt werden musste.

Natascha fragte mich, ob ich denn auch wirklich mit zu dir hineinwollen würde oder ob der Anblick von meinem toten Vater zu viel für mich wäre. Aber natürlich wollte ich dich noch einmal sehen. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich mich dafür entschieden habe. Du hattest einen so entspannten Gesichtsausdruck, all die Qualen und Schmerzen schienen wie weggewischt.

 

Gerne hätte ich deine Hand in dem Moment gehalten, in dem du hinübergegangen bist. Aber Natascha sagte zu mir, du wolltest bestimmt ohne uns gehen und uns das ersparen. Deswegen seien wir auch zwei Minuten zu spät da gewesen. Das wäre Fügung gewesen.

Du weißt, dass wir in Gedanken immer bei dir waren.

Ich habe mich von dir verabschiedet, wie ich mich in der ganzen Zeit zuvor im Krankenhaus immer von dir verabschiedet habe: Ich habe deine Hand genommen und dir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Allerdings habe ich dir dieses Mal noch einen zweiten langen Kuss auf die Stirn gedrückt, da ich wusste, dass dieser jetzt ganz lange halten muss ...

 

Leider haben wir auch nie über den Tod gesprochen. Nie hattest du diesen in Erwägung gezogen und immer tapfer gekämpft. Es gab kein Testament, keine Vollmachten, keine Verfügungen. Keine Aussagen von dir, wie dein letzter Weg aussehen soll. Natascha und ich sprachen halbherzig davon, dich irgendwann bei günstiger Gelegenheit einmal darauf anzusprechen. Aber wann ist die Gelegenheit schon günstig? Wir waren uns sicher, wenn wir dieses aussprechen, hättest du das Gefühl gehabt, dass wir dich aufgeben ...

Selbst als du zum Schluss schon wochenlang künstlich ernährt wurdest, hast du davon geredet, dass du aber ganz dringend mal wieder zu deinem Wohnwagen fahren und nach dem Rechten sehen müsstest. „Wenn der ganze Scheiß hier vorbei ist ...“

Auch hattest du unsere Frage kurz vor Schluss nicht verstanden, ob wir irgendjemandem, zum Beispiel deinem Zwillingsbruder, Bescheid sagen sollten, dass er dich mal besuchen kommt. Wir ernteten nur einen überraschten Blick: „Hermann? Der muss hier nicht hinkommen. Da fahre ich bald wieder mit dem Fahrrad vorbei, wenn es mir besser geht.“

 

Ich hoffe, es hat dir gefallen, wie wir deinen letzten Weg ausgerichtet haben. Es sollte besonders und anders sein; so wie auch du es warst.

Bei allem, was wir beschlossen oder ausgesucht haben, hatten wir uns stets gefragt: ‚Wie würde es Papa am besten gefallen?’, und waren uns immer schnell einig. Die freie Trauerrednerin hat einen wunderschönen und liebevollen Rahmen für deine Trauerfeier und Urnenbeisetzung geschaffen; genau nach unseren Wünschen, die hoffentlich auch deine gewesen wären.

Maik, mein Mann, hat auf deiner Trauerfeier für dich „Tears in heaven“ auf der Gitarre gespielt. Ein Lied, das Eric Clapton für seinen vierjährigen Sohn geschrieben hat, der durch einen Fenstersturz starb.

Ich bin mir sicher, dieser letzte Gruß hat dir gefallen.

 

Beyond the door
There's peace, I'm sure
And I know there'll be no more
Tears in heaven.

Would you know my name
If I saw you in heaven?
Would it be the same
If I saw you in heaven?

 

 

Deine Tochter Saskia

 

P.S.: Ich habe noch eine ganz wichtige Sache, die auch immer unausgesprochen zwischen uns blieb. Deswegen möchte ich es dir jetzt sagen:

 

PAPA, ICH LIEBE DICH!

 

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: Eigenes Bildmaterial, mein Lieblings-Foto meines Vaters mit seinem Zwillingsbruder
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2015

Alle Rechte vorbehalten

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