»Was für ein Tag!« Entnervt schleuderte Mattis seinen Rucksack in die Zimmerecke und warf sich auf sein Bett. Vier Stunden Mathematik am Stück! Was für ein Start in die Woche ... Ein Albtraum, der Horror pur für Mattis. Jedes andere Fach wäre erträglicher gewesen. Warum mussten sie auch ausgerechnet bei Frau Berger Vertretung haben, die natürlich ihre eigentlichen zwei Unterrichtsstunden nur zu gerne auf die doppelte Länge ausweitete. Aber zumindest der Nachmittag und Abend könnte heute gechilled verlaufen; seit längerer Zeit der erste Tag, an dem Mattis keinem seiner beiden Nebenjobs nachgehen musste. Also heute weder ekliger Frittengestank noch stupides Einräumen von Supermarktregalen. Nur dieser eine Termin stand gleich um 16:30 Uhr an und danach könnte er sich noch seinen bereits angefangenen Geschichts-Hausaufgaben widmen. Dringend notwendig, noch einmal wollte er Herrn Volkmer nicht wie letzte Woche unangenehm wegen fehlender Hausaufgaben auffallen und so seine gewohnten 13 - 14 Punkte in diesem Fach gefährden.
Mattis stand auf und wühlte aus der untersten Schreibtischschublade den Prospekt hervor, auf dem er sich Datum und Uhrzeit für diesen Termin notiert hatte. Irgendwie beschlich ihn immer noch ein mulmiges Gefühl. Sollte er das wirklich tun? Er war vor zwei Wochen 18 geworden und Rick, sein Nachhilfelehrer für Mathe, hatte ihm diese ungewöhnliche Weise vorgeschlagen, schnell und angenehm ein paar Euro nebenbei zu machen. Es klang aus Ricks Mund auch total einleuchtend und unkompliziert. Aber schon allein diese Tatsache musste einen eigentlich stutzig machen. Was in der Weltsicht dieses Freaks »normal« war, war für Ottonormalverbraucher oft jenseits des Vorstellbaren.
Rick war 32 Jahre alt und ein Mathematik- und Physikgenie sondergleichen. Allerdings war er schon vor langer Zeit von der Elite-Universität im Ausland geflogen, für die er aufgrund seiner Genialität ein Stipendium erlangen konnte. Wegen irgendwelcher skandalöser Ereignisse, über die viel spekuliert wurde, aber niemand Genaueres wusste. Und Rick hüllte sich in Schweigen. So lebte er bis dato in einer WG, hielt sich mit Gelegenheitsjobs und staatlicher Unterstützung mehr schlecht als recht über Wasser und verstrickte sich den Großteil seiner Zeit in mathematische und physikalische Theorien, denen kein Mensch folgen konnte. Aber nichtsdestotrotz kam Mattis gut mit ihm klar und der Nachhilfeunterricht in Mathe trug Früchte. Zumindest soviel, dass er sich mit diesem Fach seinen Abi-Schnitt nicht komplett versauen würde und er nicht gefühlte 15 Jahre auf der Warteliste für sein Traumstudium der Psychologie versauern müsste.
Mattis erinnerte sich an den Tag kurz nach seinem Geburtstag, als er mit Rick zusammensaß ...
»Herzlichen Glückwunsch, Alter! Du weißt ja, meine monetäre Lage lässt keine großartigen Geschenke zu - aber ich habe einen guten Tipp für dich!«
Grinsend überreichte er Mattis einen Prospekt. Der Beschenkte schaute ratlos von dem Faltblatt in seinen Händen auf und murmelte entgeistert: »Samenspende?« Er witterte wieder einen makabren Scherz seines Gegenübers.
»Ja klar, mit 18 darfst du«, grinste dieser erfreut. »Und ich muss dir doch wohl nicht die Vorzüge dieser Tätigkeit im Gegensatz zum Burgerwenden oder Ravioli-Dosen-Stapeln erläutern, oder?«
»Bitte nicht ...«, Mattis machte eine abwehrende Geste. »Willst du mir jetzt erzählen, dass du das regelmäßig machst?«
»Nicht mehr, leider. Das war eine gute Einnahmequelle für mich. Damals mit 18, 19.« Fast wehmütig ließ Rick seinen Blick in die nicht vorhandene Ferne seines muffigen WG-Zimmers schweifen.
Mattis war sich nicht sicher, ob er überhaupt Näheres hören wollte, ermutigte Rick dann mit einem »Und?« aber doch zum Weitersprechen.
»Naja, neben Sperma- und bezahlten Blutspenden habe ich mich damals auch als Versuchsperson zur Verfügung gestellt. Zunächst für psychologische Experimente und Arzneimitteltests ... und dann bin ich in nicht ganz so legale Testreihen gerutscht. Die aber außerordentlich gut bezahlt wurden! Nur leider hat mich das Zeug, was da verabreicht wurde, auf lange Sicht untauglich dafür gemacht, Körpersäfte irgendwelcher Art gewinnbringend loszuwerden«, führte Rick sachlich aus und ergänzte mit einem Grinsen: »Aber so what? Ich habe danach eh ausgiebig mit Pilzen und sonstigen bewusstseinsverändernden Dingen experimentiert. Das hätte die Sache dann wohl auch allein besiegelt.«
Ungläubig starrte Mattis ihn an. Vielleicht war der früher mal ganz normal gewesen? Vor den ganzen Experimenten. Das würde auch viel erklären ...
Rick klopfte Mattis auf die Schulter: »Hey, ich wollte dich nicht verschrecken. Die Samenspenden waren definitiv mit das Harmloseste, was ich je gemacht habe. Ganz im Ernst - denk mal darüber nach! Das Institut hier ist absolut seriös und du musst dir wirklich keine Gedanken machen.« Und er konnte sich einen Zusatz nicht verkneifen: »Da wird deine DNA nicht mit der von Aliens gekreuzt. Keine kleinen grünen Männchen, die in 18 Jahren bei dir klingeln und ihrem Papi in die Arme fallen.« Er begann, zischend und röchelnd zu intonieren: »Luke, ich bin dein Vaaater. Ach nee ... Mattis, ich bin dein Sooohoooohn.«
»Mensch, du hast wirklich einen ganz gewaltigen Sprung in der Schüssel!« Mattis versuchte, ernst zu bleiben, konnte sich ein Auflachen aber doch nicht verkneifen. Um die Sache erst einmal vom Tisch zu bringen und sich dem eigentlichen Anliegen seines Kommens, der Mathe-Nachhilfe, zu widmen, steckte er die Broschüre in die Tasche, bedankte sich und versprach, sich das Ganze später in Ruhe anzuschauen.
Nun ja, kurz darauf hatte Mattis sich mit der Thematik tatsächlich intensiver auseinandergesetzt und fand diese Einnahmequelle doch recht verlockend. Wenn man überhaupt dafür in Frage kam; laut seiner Recherchen traf das nur etwa auf jeden achten der Spendewilligen zu. Um das abzuchecken, hatte er sich dazu durchgerungen, einen Ersttermin im Institut zu vereinbaren. Sollte doch das Schicksal entscheiden, ob er so Geld nebenbei verdienen könnte.
Gerade, als Mattis den Prospekt in seine Jackentasche stecken wollte, klingelte sein Handy. Kaum hatte er sich gemeldet, sprudelte die Stimme von seinem Onkel Georg, dem Imbiss-Besitzer, hektisch aus dem Gerät: »Mattis, Junge, Gott sei Dank bist du da! Katastrophe, große Katastrophe! Sebastian hat sich gerade krankgemeldet, der hat sich einen ganz fiesen Magen-Darm-Virus eingefangen. Helena erreiche ich nicht, Miroslav und Peter haben heute Spätschicht und können nicht einspringen. Und mit meinem Fuß ist es wieder schlimmer geworden, ich kann kaum noch auftreten. Junge, du musst uns helfen! Ohne dich geht hier alles den Bach runter! Wo wir heute doch auch die Doppelkopfrunde nebenan im Saal mitverpflegen müssen. Das schaffen Tante Anna und ich alleine nicht!«
Was gab es da zu überlegen? Onkel in Not - Mattis sagte zu, sich direkt auf den Weg zu machen. Anstatt den Prospekt in seine Jackentasche zu stecken, blickte er kurz darauf und dachte sich, dass das wohl bereits ein Wink des Schicksals gewesen sei und so bereits entschieden wurde, ob dieses Unterfangen für ihn das Richtige wäre. Er knüllte das Faltblatt entschlossen zusammen, warf es in den Papierkorb unter seinem Schreibtisch und buddelte es vorsorglich noch ein wenig unter, falls seine Mutter doch zufällig einen genaueren Blick in seinen Abfall werfen sollte. Dabei fiel sein Blick auch flüchtig auf das kleine deckenverhüllte Monstrum, welches neben seinem Schreibtisch in der hintersten Ecke des Zimmers stand. Noch so ein verrücktes Ding von Rick! Dieses kleine Gerät hatte er am Wochenende vorbeigebracht, ganz geheimnisvoll getan und gesagt, er müsse für ein paar Tage dringend weg und könne das nicht bei sich im Zimmer lassen. Er hatte wohl Angst, dass seine Mitbewohner in seiner Abwesenheit sein Zimmer näher inspizieren und irgendetwas zu Geld machen wollten, da er schon seit ein paar Monaten mit seinem Mietanteil im Rückstand war. Aber wer würde sich an so einem undefinierbaren Ding vergreifen? Auf Mattis‘ Frage, was das denn überhaupt sei, erwähnte Rick nur etwas von einer Art Teilchenbeschleuniger, welcher aber noch nicht ganz fertig sei. Und mit einem hämischen Seitenblick auf Mattis ergänzte er, dass dieser das sowieso nicht verstünde mit seinem begrenzten naturwissenschaftlichen Horizont und er solle lieber die Finger davon lassen. »Verrückter Kerl«, murmelte Mattis bei dem Gedanken kopfschüttelnd und verließ eilig die Wohnung.
Als Mattis nachts um kurz nach zwei von einer wirklich stressigen Schicht im Imbiss zurückkehrte, wollte er nur noch schlafen. Der Doppelkopfverein hatte ihn ganz schön auf Trab gehalten - vor allem viel länger als geplant. Ursprünglich war sein Plan gewesen, nach der Schicht seine Geschichts-Hausaufgabe fertigzustellen und natürlich zu duschen. Die Bratfett-Duftwolke, die ihn umgab, war einfach mörderisch. Aber er war schlichtweg zu platt. So beschloss er, den Gestank zu ignorieren und sich direkt schlafen zu legen. Er packte noch schnell vorsorglich die Schulsachen für den Dienstag in seinen Rucksack und stellte sich den Wecker auf sechs Uhr anstatt auf Viertel nach sieben. Dann könnte er erst schnell duschen zum Wachwerden und sich noch der Hausaufgabe widmen.
Am nächsten Morgen kämpfte Mattis gegen den sich wiederaufdrängenden Schlaf nach dem Weckerklingeln an und dachte sich: Nur noch fünf Minuten ... Als er dann zu sich kam, hatte er direkt das blöde Gefühl, dass die fünf Minuten ausgeufert waren. Ein entsetzter Blick auf die rotleuchtende 7:57 auf seinem Radiowecker bestätigte dieses. Verdammt! Er musste in einer Viertelstunde in der Schule sein, war ohne Geschichts-Hausaufgaben und ungeduscht. Während er noch mit seinem Schicksal haderte und überstürzt aus dem Bett sprang, wunderte er sich darüber, dass ihn gar nicht die erwartete Miefwolke umgab. Er hielt kurz inne und streckte seine Nase in die Luft, wie ein Raubtier, das Witterung aufnehmen wollte. Nichts. Komisch ... Ein kurzer Griff in seine Haare ließ ihn auch bemerken, dass diese sich eher frischgewaschen und fluffig und nicht fettig und verklebt anfühlten. Merkwürdig war auch, dass seine Mutter nicht spätestens um halb acht bei ihm im Zimmer erschienen war, um ihn zum Aufstehen zu animieren. Dienstags war der einzige Tag, an dem sie erst später anfing zu arbeiten und gerne morgens noch einen Kaffee gemeinsam mit ihrem Sohn trank und dabei einen kurzen Schwatz hielt.
Aber Mattis hatte jetzt keine Zeit, sich Gedanken zu machen. In Windeseile verließ er nach einer Katzenwäsche das Haus und schwang sich auf sein Fahrrad. Sein einziger Gedanke war, dass er sich gleich von Lucas die Geschichts-Hausaufgaben geben lassen würde und diese irgendwann in den ersten beiden Unterrichtsstunden abschreiben würde. Zum Glück hatten sie da Deutsch bei Herrn Fröhlich, der würde davon nichts mitbekommen.
Als er sich kurz nach dem Klingeln der Schulglocke abgehetzt auf seinen Stuhl im Klassenzimmer sinken ließ, wollte er sich gerade an seinen Sitznachbarn und besten Kumpel Lucas wenden mit der Bitte um die Geschichts-Hausaufgaben. Ein Blick auf Frau Berger, die soeben die Klasse betrat, ließ ihn aber aufseufzen. Nicht die schon wieder! Die hatte sie gestern doch erst mit vier Stunden Mathematik gefoltert. War die etwa heute schon wieder in Vertretung, jetzt für Herrn Fröhlich? Lucas, der Mattis‘ Aversion gegen Mathe im Allgemeinen und Frau Berger im Speziellen nur zu gut kannte, knuffte ihm aufmunternd in die Seite. »Ja, die müssen wir heute vier Stunden überstehen. Sei tapfer!«
Verwirrt schaute Mattis seinen Kumpel an. Heute schon wieder vier Stunden? Das konnte doch nicht sein. Aber er hatte natürlich keine Zeit mehr gehabt, auf den Vertretungsplan zu schauen. Für was übernahm sie denn noch alles Vertretung? Für Geschichte auf jeden Fall nicht, Herr Volkmer war heute da. Den hatte er eben fast schon über den Haufen gerannt, als er ins Schulgebäude gestürzt war. Also wisperte er Lucas zu: »Gib mir mal bitte Geschichte. Ich hab’s nicht mehr geschafft gestern.«
»Was willst du?«, kam es von Lucas zurück.
»Geschichte. Die Hausaufgabe«, bekräftigte Mattis.
»Alter, wie bist du denn drauf? Mutierst du jetzt zum Super-Streber? Die habe ich heute auch noch nicht.«
»Wie ... Heute auch noch nicht? Wir haben doch gleich Geschichte.« Mattis war irritiert.
»Ist bei dir alles klar? Geschichte ist dienstags, nicht montags. So langsam solltest du den Stundenplan im Kopf haben«, tadelte ihn Lucas.
»Mattis, Lucas, Ruhe bitte. Der Unterricht hat bereits begonnen«, zischte Frau Berger ihnen dazwischen. Und mit Blick auf Mattis: »Sollte dein Mitteilungsbedürfnis dermaßen groß sein, kannst du gerne die erste Aufgabe an der Tafel lösen und für alle erklären.«
»Nein, schon gut, ich bin ruhig«, beeilte sich Mattis zu sagen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Laut Lucas war heute Montag, die vier Stunden bei Frau Berger sprachen auch dafür. Heute Morgen der fehlende Frittengestank und seine nicht anwesende Mutter. Er warf einen Blick in seinen Rucksack und stellte fest, dass sich dort auch seine Schulsachen für einen Montag drin befanden. Aber er hatte die doch nachts noch ausgetauscht. Irgendetwas stimmte hier nicht. War er über Nacht bekloppt geworden? Er kramte sein Handy hervor und starrte entsetzt auf das Datum. Montag, 20. April.
»Mattis, wie oft muss ich mich wiederholen? Wenn das Ding nicht sofort in deiner Tasche verschwunden ist, kassiere ich das ein!«, kam es schneidend von Frau Berger.
Mattis erlebte den gesamten Schultag wie in Trance. Exakt diesen Tag hatte er gestern doch schon erlebt. Er zerbrach sich die ganze Zeit den Kopf, wie das sein konnte. Woran das lag. Stimmte etwas mit ihm nicht - oder mit der Zeit? Aber alle anderen verhielten sich völlig normal, und Lucas begann offensichtlich, sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen, als er vorsichtige Andeutungen machte, ob ihm der Verlauf des Tages nicht auch irgendwie bekannt vorkommen würde. Daher hielt sich Mattis mit weiteren Äußerungen in dieser Richtung lieber zurück und verbrachte den größten Teil des Tages in stillem und ratlosem Grübeln.
Als er nachmittags nach Hause kam, setzte er sich zunächst resigniert auf sein Bett. Da waren zu viele wirre Gedanken, die durch seinen Kopf kreisten. Was hatte er am vorhergehenden Tag zuhause getan? Nicht viel, er war ja kaum zuhause gewesen. Mattis grübelte ... Er hatte den Prospekt von der Samenspende in den Mülleimer geworfen! Sofort stürzte Mattis sich auf seinen Papierkorb und wühlte ihn wild durch. Keine Broschüre. Er schaute in die Schublade, aus der er das Faltblatt am Tag zuvor herausgeholt hatte. Dort lag es. Absolut unversehrt und knitterfrei. Alles war wie am Tag zuvor. Als Mattis gerade meinte, durch die Decke, unter der das komische Gerät von Rick verbuddelt war, ein leichtes grünes Flackern wahrzunehmen, rappelte sein Handy. Noch während er es aus seiner Jackentasche befreite, dämmerte ihm: Sollte das jetzt Onkel Georg sein? Ein Blick auf das Display bestätigte den Verdacht. Die Gedanken fuhren Achterbahn in seinem Kopf. Er sprach wie mechanisch mit seinem Onkel und hörte sich ihm seine Hilfe zusagen. Verdammt! Ernsthaft die gleiche Scheiße wie gestern?!? Das konnte und durfte doch nun wirklich nicht sein! Aber was blieb ihm anderes übrig? Er konnte seinen Onkel nicht hängenlassen und würde einfach während der Arbeit über diese unmögliche Situation nachdenken.
Mattis kehrte um kurz nach zwei von der Arbeit zurück. Alles wie gestern. Na gut, die eine oder andere Sache hatte er heute optimieren können. Zum Beispiel hatte er nicht den Ketchup-Eimer umgetreten, den Tante Anna zuvor von ihm unbemerkt an die Thekenecke gestellt hatte und sich somit langwierige und eklige Reinigungsarbeiten erspart. Er hatte sich an den Moment erinnert. Erinnert an einen Moment, der folgen würde. Wie absurd!
Obwohl sich Mattis genauso erschlagen wie am Vortag fühlte, war er zu aufgekratzt, um zu schlafen. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf und er hatte auch nicht den Ansatz einer Idee gefunden, was da passiert war. Und warum überhaupt. Und wieso gerade ihm und scheinbar nur ihm? Während er sich das Hirn zermarterte und ihm noch kurz der Gedanke durch den Kopf huschte, dass er seine Geschichts-Hausaufgabe jetzt immer noch nicht hatte, schlief er vor Erschöpfung doch ein.
Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte und Mattis verschlafen dachte: Nur noch fünf Minuten ..., schreckte er doch abrupt auf. Hektisch schaute er um sich und griff nach seinem Handy. Montag, 20. April. Nein! Nein, nein, nein und nochmals nein!!! Ein erstickter Schluchzer entrang sich Mattis‘ Kehle und er boxte ein paar Mal verzweifelt auf sein Kopfkissen ein. Das war also keine einmalige verrückte Sache gewesen, sondern offensichtlich irgendetwas von Dauer. Das war alles so irre, da könnte er nur mit Rick drüber sprechen. Aber der hatte sich am Wochenende für ein paar Tage verabschiedet. Panisch rief Mattis Ricks Nummer in seinem Handyspeicher auf und wählte sie an. Um kurz darauf zu erfahren, dass der gewünschte Gesprächspartner temporarily not available sei. Na herzlichen Glückwunsch. War ja zu erwarten gewesen. Was sollte er nun tun?
Wenn man schon in so einer beknackten Zeitschleife hing, warum um Gottes willen musste das so ein beschissener Montag sein, an dem man acht Schulstunden hatte, noch dazu vier davon bei Frau Berger, und im Anschluss eine fast zehnstündige Schicht im Imbiss? Warum nicht an einem schönen gechillten Sonntag? An dem man tolle Sachen macht? Auspennen und den ganzen Tag mit geilem Sex mit Eva verbringen. Nicht, dass er schon jemals Sex mit seiner heimlich Angebeteten gehabt hätte ... also, außer in seiner Phantasie. Aber das wäre was! Das würde er sich gefallen lassen. Aber nicht diese Scheiße hier. Beim besten Willen nicht. Pflichtbewusstsein hin oder her, aber er würde heute nicht zur Schule gehen. Er musste zusehen, dass er irgendetwas tat, um da herauszukommen. Wenn ihm auch schleierhaft war, was das sein könnte. Er würde jetzt Lucas anrufen und ihm sagen, dass er eine ganz fiese Magenverstimmung hätte und heute nicht zur Schule kommen könnte. Wozu auch der Aufwand? Mit etwas Pech und hoher Wahrscheinlichkeit war morgen sowieso wieder Montag und es wäre piepegal, was Mattis an dem heutigen Montag getrieben oder auch nicht getrieben hätte.
Noch während er Lucas‘ Nummer anwählte, kam ihm eine Idee. Und nachdem er Lucas darum bat, ihn in der Schule zu entschuldigen, fragte er gleich nach, ob dieser am Nachmittag eventuell für ihn im Imbiss einspringen könnte. Für den Fall der Fälle. Es könnte sein, dass sein Onkel heute anfragt. Lucas hatte schließlich auch schon ab und zu dort ausgeholfen, wenn Not am Mann war, und kannte sich daher aus. Als Lucas zusagte, grinste Mattis dümmlich vor sich hin bei dem Gedanken an sein Telefonat heute um kurz nach vier mit seinem Onkel. Wenn schon eine beschissene Lage, dann zumindest eine gut durchorganisierte!
Mattis hatte bereits am Vortag beiläufig an den Film »Und täglich grüßt das Murmeltier« denken müssen. Bill Murray, gefangen in einer Zeitschleife. Warum war das bei ihm geschehen? Mattis hatte den Film nur mal beiläufig geschaut, wusste aber, dass seine Mutter ihn in ihrer Sammlung hatte. Also begann er seinen Tag mit einem Frühstück vor dem Fernseher.
Schlauer wurde er durch den Film allerdings auch nicht. Der Protagonist war ein verbitterter, unsympathischer Mensch, der durch die Zeitschleifen-Geschichte zu einem besseren Menschen wurde. Zu einem Sympathiebolzen sondergleichen. Das hatte mit ihm nun wirklich nichts gemeinsam, das konnte kein Grund sein. Da gäbe es andere, bei denen anzusetzen wäre. Frau Berger zum Beispiel.
Etwas abschreckend waren auch die zahlreichen Selbstmordversuche des Schauspielers, der die Situation einfach nicht mehr ertragen konnte. Aber das war ja nur ein Film, nicht wahr? War es nicht überhaupt armselig, die Lösung seines Problems in einem Film zu suchen? Einer Geschichte, die sich irgendein Drehbuchautor erdacht hatte? Aber da Mattis absolut keine Ahnung hatte, was er tun könnte, war das wohl auch nicht schlechter, als nichts zu tun.
Mattis ging nach draußen und entschloss sich, ein wenig in der Gegend herumzulaufen. Vielleicht würde ihm da irgendetwas auf die Sprünge helfen. Oder er bekäme zumindest einen freieren Kopf an der frischen Luft. Und er könnte mal direkt bei Rick vorbeischauen - vielleicht war er doch da.
Am Nachmittag war er immer noch nicht auch nur ansatzweise näher an der Lösung seines Problems. Rick hatte er natürlich nicht angetroffen und soeben seinen Onkel telefonisch an Lucas verwiesen. Da brauchte er sich zumindest kein schlechtes Gewissen zu machen. Er kehrte resigniert nach Hause zurück, und während er wieder in Richtung seines Zimmers ging, spielte er gedanklich noch ein paar Szenen aus dem Film vom Vormittag durch und verglich diese mit seiner Situation. In seinem Zimmer fiel ihm erneut das verdeckte grünliche Leuchten in der Zimmerecke auf. Da war er gestern ganz drüber hinweggekommen ... Gestern? Heute? Was hatte das gerade schon für eine Bedeutung!
Vorsichtig befreite er das Gerät von der Decke und wurde von einem grellen grünen Blinken regelrecht geblendet. Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, konnte er eine Zeitung auf dem Boden des merkwürdigen Gebildes erkennen. Die war doch zuvor nicht darin gewesen? Merkwürdig. Ganz vorsichtig, als könnten die Lichtstrahlen ihn verletzen, fischte er die Zeitung heraus und warf einen Blick darauf. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung - datiert vom 7. Oktober 2053. Ja, alles klar. Obwohl - auch nicht verrückter als diese Zeitschleife. Vielleicht sollte dieses Paradoxon die Lösung des anderen Paradoxons darstellen? Einen Hinweis geben? Das Gerät hatte aufgehört zu blinken. Mattis setzte sich mit der Zeitung auf sein Bett und begann, diese eingehend zu studieren.
Zwei Stunden später rauschte ihm der Kopf. Meine Güte, was in dieser Welt in knapp 40 Jahren doch alles los war! Er konnte kaum die Hälfte davon überhaupt gedanklich erfassen. Die technischen Entwicklungen, von denen dort die Rede war, überstiegen seinen Horizont um ein Vielfaches, die meisten anderen Meldungen waren allerdings weniger schockierend, als er erwartet hätte. Er hätte mit wirtschaftlichen, nuklearen oder sonstigen Katastrophen in Hülle und Fülle gerechnet. Aber scheinbar hatte sich die Welt im Laufe der Jahrzehnte tatsächlich zu einer besseren Welt entwickelt. Unglaublich, aber wahr. Vorausgesetzt, man könnte diesem Dokument Glauben schenken. Das Einzige, was die Welt offensichtlich in Atem hielt, war ein von Menschenhand gezüchteter Killervirus, der den Nachrichten zufolge eine verheerende Pandemie verursacht hatte und bereits rund 400 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Aber dieses Übel war nun auch gebannt, da ein brillanter Forscher, der in dieser Ausgabe ausführlich vorgestellt wurde, ein zuverlässiges Impfserum entwickelt hatte.
Schön und gut, aber aus dieser Fülle an Informationen konnte Mattis nichts ableiten, was irgendeinen Bezug zu seiner Situation oder seinem derzeitigen Problem hatte. Unter diesem Aspekt las er sich noch einmal die komplette Zeitung durch. Kurz hatte er überlegt, ob er seine Mutter damit konfrontieren sollte, die zwischenzeitlich den Kopf in sein Zimmer gesteckt hatte, um ihn zu begrüßen und zu fragen, ob er nicht mit ihr zu Abend essen wolle. Aber er entschied sich doch dagegen, seine Mutter einzuweihen. Er würde erst einmal alleine weiterrätseln. Vielleicht morgen, dachte er bei sich. Also das morgige Heute. Er seufzte und tischte seiner Mutter ebenfalls die Story von der Magenverstimmung auf.
Irgendwann schlief er über der Lektüre der Zeitung ein, ohne einen brauchbaren Ansatz gefunden zu haben.
Als er vom Weckerklingeln wach wurde, griff er direkt zu seinem Handy und der obligatorische Blick aufs Display bestätigte seine Erwartung. Montag, 20. April. »Auf ein Neues«, versuchte Mattis sich selbst zu motivieren und ließ sich erst einmal zurück in sein Kissen sinken. Eben Lucas anrufen und die Geschichte von der Magenverstimmung gekoppelt mit der Bitte um Aushilfe bei seinem Onkel ... blablabla. Das nervte ihn jetzt schon. Gab es eigentlich irgendetwas Aufregendes, Tolles, Bahnbrechendes, was er anstellen könnte? Mit dem Gedanken, dass es morgen bereits wieder ungeschehen wäre und er sich über Konsequenzen keine Gedanken machen müsste? Hm, da eröffneten sich ja Möglichkeiten ... Aber jetzt erstmal keine Energien auf derartige Gedankenspielereien verschwenden - die Lösung seines Problems war essenziell. Und musste irgendwie in der Zeitung zu finden sein. Mattis schaute sich um und konnte die FAZ nicht entdecken. Sie konnte doch nur in der Nacht vom Bett gerutscht sein ... Er schaute sich suchend im Bett und auf dem Boden davor um. Ach, Moment, durchfuhr es ihn. Heute war ja wieder gestern. Und gestern lag die Zeitung morgens natürlich noch nicht vor seinem Bett. Er stand auf und steuerte auf die verborgene Ecke hinter dem Schreibtisch zu, in der ihn das gedämpfte grüne Blinken erneut begrüßte. Wenigstens darauf ist Verlass, dachte Mattis grimmig lächelnd und enthüllte das Gerät, in dem er auch wieder die Zeitung vorfand, die gleiche Ausgabe wie am Vortag.
Er fläzte sich erneut mit der FAZ auf sein Bett; bereit, sie erneut Wort für Wort zu studieren und eine Lösung zu finden. Wie erwartet, fand er exakt die gleichen Nachrichten vor. Was hätte sich auch ändern sollen? Bestimmt nichts dadurch, dass er gestern den halben Tag ziellos durch die Gegend gelaufen war und die andere Hälfte mit der Lektüre der Zeitung verbracht hatte!
Beim erneuten Umblättern stutzte er. In der Zeitung befand sich ein Faltblatt. Der Prospekt von der Samenspende! Wie kam der denn nun hier hinein? Überrascht musterte Mattis den Flyer. Moment, das war aber nicht sein Exemplar! Schnell sprang er auf und wühlte in der Schreibtischschublade nach dem Prospekt. Aha, da war er. Der einzige Unterschied war der darauf notierte Termin: Montag, 20. April, 16:30 Uhr.
Aber was sollte das jetzt? Was hatte der Flyer mit der Zeitung aus dem Jahr 2053 zu tun? Und was das Ganze mit seiner Situation? Mattis entschied sich, die beiden Seiten, zwischen denen er die Broschüre gefunden hatte, noch eingehender zu studieren. Die Platzierung in der Zeitung musste doch einen Sinn ergeben. Vorausgesetzt, hier stünde überhaupt irgendetwas in einem logischen Sinnzusammenhang.
Ein ausführlicher Bericht über eine technische Neuerung, das Porträt über den genialen Wissenschaftler und eine Reportage über die politische Entwicklung in Nordkorea beherrschten diese beiden Seiten. Sonst eher Randnotizen, die keine große Bedeutung haben konnten. Mit grimmiger Entschlossenheit las er diese drei größeren Berichte wieder und wieder und zwang sich stets dazu, langsam Wort für Wort zu lesen und alles auf die Goldwaage zu legen, sodass ihm nichts entgehen möge.
Irgendwann durchfuhr es ihn. Ein Kribbeln, eine nicht zu fassende Ahnung erfasste ihn. Der brillante Forscher, der den Impfstoff entwickelt hatte - Marcel Schnitzler. Im Jahr 2053 war der 36 Jahre alt. Der musste also irgendwann 2016/2017 geboren worden sein. Und er dankte in seiner zitierten Rede zu Ehren seiner Person überschwänglich seiner Mutter, die ihn ganz alleine großgezogen hatte und ihm alles im Leben ermöglicht hatte. Das jetzt in Verbindung mit dem Prospekt ...
Herrje, jetzt drehe ich komplett durch, dachte Mattis und schlug sich wie zum Aufwecken ein paar Male selber mit der flachen Hand an die Wange. Aber es erschien ihm absurderweise plötzlich alles so klar und greifbar. Er hatte den Termin zur Erstuntersuchung im Institut nicht wahrgenommen und somit direkt den ganzen Plan einer Samenspende komplett verworfen. Daraufhin befand er sich in einer Zeitschleife und wurde durch dieses ominöse Gerät und eine Zeitung aus der Zukunft auf den Menschen gestoßen, der die unaufhaltsame Ausrottung der Menschheit durch seine geniale Erfindung verhinderte. Und dieser Herr Schnitzler sollte definitiv in den nächsten ein bis zwei Jahren geboren werden. Und bei dem seinen Ausführungen zufolge zumindest die Chance bestand, dass er mithilfe einer Samenspende gezeugt wurde.
Man könnte es auch als Größenwahn abtun, dass Mattis ernsthaft in Erwägung zog, dass er mit seinen Genen einen Nachfolger zeugen sollte, der naturwissenschaftlich dermaßen etwas auf dem Kasten hatte ... aber was gab es schon zu verlieren? Ein Blick auf die Uhr ließ Mattis zu seiner Jacke greifen und sich auf den Weg zu dem Institut machen. Nicht, ohne das Handy mitzunehmen, in ein paar Minuten würde schließlich Onkel Georg anrufen, dem er mit der Vermittlung an Lucas aus der Patsche helfen musste. Wenn der wüsste, was für bahnbrechende Entwicklungen jetzt in meinen Händen liegen, dachte Mattis und begann, leicht hysterisch vor sich hin zu kichern ...
Am nächsten Morgen fiel Mattis‘ Blick nach dem Weckerklingeln direkt auf sein Handy. Dienstag, 21. April. Er begann zu lachen, sprang aus dem Bett und rief fröhlich in den Raum hinein: »Scheiß‘ auf die Geschichts-Hausaufgaben!«
Er schwor sich, bei nächster Gelegenheit das eine oder andere Wörtchen mit Rick zu sprechen und in der Zukunft genauer auf einen Marcel Schnitzler zu achten ...
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Tag der Veröffentlichung: 06.02.2015
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